Erin Bartels

Wir hofften auf bessere Zeiten

Über das Buch:
Es ist eine seltsame Bitte, mit der ein alter Mann an die Reporterin Elizabeth Balsam herantritt: Sie soll einer Verwandten, von der sie noch nie gehört hat, eine alte Kamera und eine Schachtel Fotos überbringen. Elizabeth ist wenig begeistert. Doch dann wird ihr überraschend gekündigt und sie hat plötzlich jede Menge Zeit.
Im 150 Jahre alten Farmhaus ihrer Großtante Nora stößt Elizabeth auf eine Reihe rätselhafter Gegenstände. Welche dunklen Geheimnisse verbergen sich im Leben von Mary Balsam, ihrer Vorfahrin, die während des amerikanischen Bürgerkriegs allein auf dieser Farm zurechtkommen musste? Und warum will Nora ihr nichts über sich selbst und ihre mutige Entscheidung, in den 1960ern einen Schwarzen zu heiraten, erzählen? Je tiefer Elizabeth gräbt, desto bewusster wird ihr, welch ein Schatz in ihrer Familiengeschichte lauert – und dass die Entscheidungen ihrer Vorfahrinnen bis heute Auswirkungen haben ...

Über die Autorin:
Erin Bartels ist seit über 17 Jahren in der Verlagsbranche tätig, überwiegend als Werbetexterin. Wenn sie nicht arbeitet, fotografiert, malt oder liest sie gerne. Sie ist mit einem Pastor verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Michigan. »Wir hofften auf bessere Zeiten« ist ihr erster Roman.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96362-926-6
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 by Erin Bartels
Originally published in English under the title
We Hope for Better Things
by Revell,
a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.
All rights reserved.
German edition © 2020 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
35037 Marburg an der Lahn
Deutsch von Silvia Lutz
Umschlagbild: Shutterstock
Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
nach einer Vorlage von Ram Creative
Satz und Datenkonvertierung E-Book:
Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

www.francke-buch.de

Für Calvin,
dessen Mitgefühl mir Hoffnung
für die Zukunft gibt.

Speramus meliora; resurget cineribus.
Wir hoffen auf bessere Zeiten;
mögen sie aus der Asche erstehen.

Leitspruch der Stadt Detroit

Kapitel 1

Detroit, Juli

Im Lafayette Coney Island war es am späten Vormittag ausgesprochen ungemütlich. Wahrscheinlich war es hier auch sonst niemals gemütlich. Das traditionsreiche Fast-Food-Restaurant war klein, schmuddelig und überfüllt. Einen Stuhl freizuhalten, wie ich es in der Stoßzeit versuchte, wurde nicht gern gesehen.

Ich war dankbar, als um Punkt zwölf Uhr, wie verabredet, ein älterer schwarzer Mann in einem ausgebeulten Trikot der Detroit Lions durch die Tür schlurfte. Über seiner hängenden Schulter trug er eine fleckige Ledertasche.

»Mr Rich?«, überschrie ich den hohen Geräuschpegel.

Er rutschte auf den freien Stuhl mir gegenüber. Um diesen Stuhl hatte ich schwer gekämpft. Hoffentlich würde ich für diese Mühe belohnt.

»Woher wussten Sie, dass ich es bin?«, fragte er.

»Sie hatten gesagt, dass Sie ein Lions-Trikot tragen würden.«

»Ach ja. Das hatte ich, nicht wahr? Mein Sohn hat es mir geschenkt.«

»Können wir bestellen? Ich habe nur zwanzig Minuten Zeit.«

Mr Rich drehte den Kopf zur Tür. »Ich hatte gehofft, dass … Ah, da ist er ja!« Die Tür ging auf und ein großer, athletisch gebauter Mann im eleganten Anzug und mit kurzen, schwarzen Dreadlocks trat ein. Er kam mir vage bekannt vor.

»Denny! Wir wollen gerade bestellen.« Mr Rich legte die Ledertasche auf seinen Schoß und rutschte auf seinem Stuhl zur Seite, um dem Neuankömmling Platz zu machen.

Der Mann setzte sich auf die zwanzig Zentimeter Stuhl, die Mr Rich ihm freigeräumt hatte, ragte aber größtenteils in den ohnehin schon engen Gang.

»Das ist mein Sohn Linden.«

Jetzt fiel bei mir der Groschen. Mein Blick flog zu den vielen Fotos von berühmten Persönlichkeiten hinüber, die im Laufe der Jahre hier gegessen hatten. Dort an der Wand hing er. Zwischen Eminem und Drew Barrymore thronte er über den lächelnden Mitarbeitern.

Ich richtete mich ein wenig höher auf. »Der Linden Rich, der für die Lions spielt?«

»Ja«, antwortete er. »Und Sie sind …?«

»Das ist Elizabeth Balsam«, antwortete Mr Rich an meiner Stelle, »die Journalistin, die die Skandalgeschichten in der Free Press über Korruption und Land Grabbing und die zehntausend – oder waren es elftausend? – nicht ausgewerteten Vergewaltigungsindizien, die vor einer Weile gefunden wurden, geschrieben hat. Sie hat auch über den Kilpatrick-Prozess berichtet.«

Ich setzte das dezente Lächeln auf, das ich seit meinem Studium jeden Morgen vor dem Spiegel einübe, weil ich hoffe, dass es mich gleichermaßen aufgeschlossen wie intelligent erscheinen lässt.

»Ach ja. Okay.« Linden nickte. »Ich sehe die Ähnlichkeit. In den Augen.«

»Das habe ich dir doch gesagt«, erwiderte Mr Rich.

»Ja, das hast du.«

»Entschuldigung«, mischte ich mich ein, »welche Ähnlichkeit?«

In diesem Moment kam ein Kellner in einem schmutzigen weißen T-Shirt, der zehn Teller auf einem Arm balancierte, an unseren Tisch und rief überschwänglich: »Hallo, Denny! Was darf ich euch bringen?«

Wir bestellten unsere Coney Dogs – für mich ganz klassisch mit Soße und Zwiebeln, für Linden mit allem, was sie in der Küche hatten, und für Mr Rich nur mit Soße. Er erklärte: »Ich vertrage keine Zwiebeln mehr.«

»Und ich brauche Besteck«, ergänzte ich mit Nachdruck.

Während der Kellner dem alten Mann am Grill unsere Hotdog-Bestellung zurief, wandte sich Linden an seinen Vater: »Du gibst ihr diese Kamera nicht.«

»Du hast nur von den Fotos gesprochen. Du hast gesagt, dass ich die Fotos vorerst behalten soll«, sagte Mr Rich. »Warum soll ich ihr die Kamera nicht geben? Sie gehört dir nicht, Denny.«

»Ihr gehört sie auch nicht.«

»Nein, aber sie kann sie Nora geben.«

Linden atmete tief ein und blickte beiseite. Jedem anderen wäre es wahrscheinlich peinlich gewesen, wenn in seinem Beisein über ihn gesprochen wurde, als wäre er nicht da, aber in mir hatten die Jahre im unbarmherzigen Journalismusgeschäft diese absolut natürliche Reaktion fast abgetötet.

Ungebeten schaltete ich mich in das Gespräch ein und begann, meine Fragen zu stellen. »Am Telefon sagten Sie, man habe Ihnen ein paar Dinge ausgehändigt, die in der Asservatenkammer der Polizei gefunden wurden. Dinge, die einer Verwandten von Ihnen gehören?«

»Nein, sie gehören einer Verwandten von Ihnen. Ich erzähle Ihnen die Geschichte am besten der Reihe nach.«

Ich widerstand dem Drang, mein Handy herauszuholen, um seine Worte aufzuzeichnen.

Doch bevor Mr Rich seine Geschichte erzählen konnte, wurden unsere Coney Dogs bereits in keiner erkennbaren Ordnung auf den Tisch geknallt. Wir schoben die Teller hin und her, bis jeder seinen Hotdog hatte. Die beiden Männer mir gegenüber nahmen ihren in die Hand und bissen hinein. Ich begann, meinen mit Messer und Gabel zu schneiden, wofür ich von Linden einen »Das soll wohl ein Witz sein!«-Blick erntete.

»Ich lese die Free Press seit Jahren«, begann Mr Rich. »Dabei ist mir immer wieder Ihr Name untergekommen. Ich weiß nicht, ob mir aufgefallen wäre, dass all diese Artikel von derselben Journalistin stammen, wenn ich Ihren Familiennamen nicht so gut kennen würde.«

Ich nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich ihm folgen konnte.

»Und ich habe mir überlegt: Vielleicht ist diese Elizabeth Balsam mit der Balsam verwandt, die ich kenne. Diesen Namen hört man in Detroit nicht oft. Ich weiß nicht, ob ich ihn außer in Verbindung mit Nora Balsam überhaupt schon einmal gehört habe. Sagt Ihnen ihr Name etwas?«

Ich spießte ein Stück Wurst auf und tunkte es in die Soße. »Nein, tut mir leid. Ich glaube nicht, dass ich jemanden mit diesem Namen kenne.«

Linden hob die Hand, um seinem Vater zu signalisieren: »Das habe ich dir doch gleich gesagt!«

»Nicht so vorschnell«, erwiderte der alte Mann an seinen Sohn gewandt. »Du hast selbst gesagt, dass sie genauso aussieht wie sie.«

»Ich gebe zu, dass Sie wie sie aussehen«, gestand Linden ein. »Aber – nehmen Sie es mir bitte nicht übel – irgendwie seht ihr alle gleich aus.«

Ich lachte. Als Weiße in einer Stadt, in der über 80 Prozent schwarz sind, war ich es gewohnt, gelegentlich daran erinnert zu werden, wie sich Minderheiten in den meisten Teilen dieses Landes fühlten. Das störte mich nicht. Im Gegenteil, es machte mir bewusst, dass die Leserschaft, für die ich schrieb, nicht nur aus Leuten wie mir bestand.

»Ich würde nicht sagen, dass Sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sind«, schob Mr Rich nach, »aber in der Augenpartie sehe ich eine deutliche Ähnlichkeit. Wenn Sie blonde Haare und vielleicht ein anderes Kinn hätten, würde es genau passen.«

Ich trank einen Schluck Wasser. »Ich weiß immer noch nicht, von wem Sie sprechen. Oder worum es überhaupt geht.«

Mr Rich schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. »Ja, wir sollten der Reihe nach erzählen. Sie wissen besser als jeder andere, dass vieles in dieser Stadt im Argen liegt. Es gibt zu viele Probleme, um sie alle bewältigen zu können. Ich habe etwas gesucht, das sehr lange verloren war. Ich wusste, dass die Polizei es haben musste, aber versuchen Sie mal, in einer Organisation, die in fünf Jahren fünf Polizeichefs hatte, jemanden ans Telefon zu bekommen, der sich auskennt. Und dann haben sie viel wichtigere Dinge zu tun, als irgendeine alte Tasche zu suchen, die in einem Regal verstaubt.« Er hielt inne und lächelte breit. »Aber ich habe sie endlich gefunden. Vor zwei Jahren habe ich einen Anruf bekommen und dann haben sie sie mir zurückgegeben. Und noch ein paar andere Sachen, mit denen ich gar nicht gerechnet hatte.« Er tippte auf die Tasche auf seinem Schoß, die erstaunlich sauber war und keinen einzigen Tropfen Hotdog-Soße aufwies. »Diese Kamera gehört Nora Balsam. Außerdem habe ich eine ganze Schachtel voll Fotos für sie.«

Ich merkte, dass ich die Augen zusammenkniff, während ich versuchte, die einzelnen Puzzleteile zusammenzufügen und zu kapieren, was das alles mit mir zu tun hatte. Hastig zwang ich mich, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen und eine mitfühlende Miene aufzusetzen. »Und Sie glauben, ich wäre mit ihr verwandt und könnte ihr die Sachen deshalb geben?«

»Das war meine Hoffnung.«

Ich wischte meine bereits sauberen Hände an meiner Serviette ab. »Es tut mir leid, Mr Rich, aber ich fürchte, Sie müssen woanders suchen. Ich habe diesen Namen noch nie gehört.«

Der alte Mann wirkte enttäuscht, aber ich war erleichtert. Immerhin hatte ich größere Fische an der Angel und mein Abgabetermin rückte immer näher. Ich hatte keine Zeit, um irgendjemandem alte Fotos zu überbringen. Ich warf einen Blick auf mein Handy. Ich hatte nicht einmal Zeit, um fertig zu essen.

»Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Und jetzt muss ich leider los.« Ich wollte einige Geldscheine aus meinem Portemonnaie holen, doch Linden hob die Hand.

»Das Essen geht auf mich.«

»Danke.« Ich trank mein Wasserglas leer, zog den Riemen meiner Handtasche über meine Schulter und schob meinen Stuhl fünf Zentimeter zurück. Mehr Platz war nicht. »Nur so aus Neugier: Warum lagen diese Sachen bei der Polizei? Was ist auf den Fotos zu sehen?«

Linden schaute seinen Vater an, der den Blick auf seinen Teller senkte, als stünde die Antwort auf meine Frage in der verschmierten Soße.

»Sie wurden 1967 bei den Rassenunruhen aufgenommen.«

Mein Herzschlag erhöhte sich sofort. Ich rutschte wieder an den Tisch heran und beugte mich vor. »Haben Sie die Fotos dabei?«

»Denny hat gesagt, dass ich sie lieber nicht mitbringen soll.«

»Warum nicht?«

»Genau aus diesem Grund«, sagte Linden. »Weil Sie kein Interesse an all dem hatten, bis Sie wussten, was auf den Fotos zu sehen ist. Ich wusste, dass es so laufen würde.« Er wandte sich an seinen Vater. »Habe ich es dir nicht gesagt? Habe ich dir nicht gesagt, dass sie nur die Fotos in die Finger bekommen wollen wird?«

Ich lehnte mich zurück und versuchte, cool auszusehen. Dieses umgängliche, aber doch intelligente Lächeln aufzusetzen. »Natürlich interessieren mich die Bilder. Ich setze mich seit Jahren dafür ein, Korruption und Misswirtschaft in dieser Stadt anzuprangern. Wenn Fotos von historischer Bedeutung auf einer Polizeiwache vergammeln, ist das nur ein weiteres Symptom des größeren Problems. Ich arbeite seit Wochen an einer großen Story, die im Zusammenhang mit den Rassenunruhen steht. Diese Fotos wurden nie veröffentlicht, nehme ich an. Ich bin mir sicher, dass die Free Press für das Recht, diese Bilder der Welt zeigen zu dürfen, einen guten Preis bezahlen wird. Immerhin waren das so ziemlich die größten Unruhen, die wir hier in den USA je hatten.«

Linden deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Da! Da hast du es! Genau, wie ich gesagt habe.«

Mr Rich legte eine Hand auf den Unterarm seines Sohnes. »Ist ja gut. Beruhige dich und lass mich bitte auch mal etwas sagen.«

Linden senkte seinen anklagenden Finger und lehnte sich auf seiner Stuhlhälfte zurück. Sein Millionen-Dollar-Bein war neben meinem Stuhl ausgestreckt und zwang mich, sitzen zu bleiben, obwohl er es unübersehbar nicht erwarten konnte, mich loszuwerden.

Sein Vater schaute mich mit müden Augen an. »Miss Balsam, ich trage eine schwere Last mit mir herum. Seit fünfzig Jahren belastet mich etwas, das ich loswerden möchte. Diese Kamera und diese Fotos muss Nora bekommen. Nicht eine Zeitung, nicht ein Museum, nicht eine Bibliothek. Sondern Nora. Ich kann sie ihr leider nicht geben. Aber Sie könnten sie ihr bringen. Wären Sie bereit, sich einfach zu erkundigen? Ein wenig nachzuforschen, ob Sie tatsächlich mit ihr verwandt sind, so wie wir es vermuten? Und falls Sie mit ihr verwandt sind, wären Sie dann bereit, Kontakt zu ihr aufzunehmen? Sie sozusagen langsam auf das vorzubereiten, was da auf sie zukommt? Diese Fotos werden viele schmerzliche Erinnerungen in der alten Frau wecken. Aber ich weiß in meinem Herzen – der Herr hat es mir auf die Seele gelegt –, dass ich sie ihr geben muss.«

Eine der wichtigsten Lektionen, die ich in meinen ersten Jahren als Journalistin gelernt hatte, war es, mich nicht emotional auf eine Story einzulassen. Als Journalistin muss man über zu viel Schmerzliches und Leidvolles schreiben. Wenn ich zuließe, dass ich mit dem Jungen leide, der gemobbt wird, oder mit dem Mann, der sein Geschäft verloren hat, oder mit der Frau, deren Tochter entführt wurde, obwohl ich an der Situation nichts ändern kann – außer eine Stimme zu sein, die den Betroffenen Gehör verschafft –, wäre die Last, die ich jeden Abend mit nach Hause nehmen würde, einfach zu groß. Deshalb hatte ich eine Mauer um mein Herz herum errichtet, hinter der ich mich bei meiner Arbeit grundsätzlich verschanzte.

Aber in den Augen dieses Mannes, in den gekrümmten Falten auf beiden Seiten seines Mundes, die die Vermutung nahelegten, dass es in seinem Leben genauso viel gegeben hatte, über das er sich geärgert, wie Dinge, über die er gelächelt hatte, lag etwas, das diese Mauer bröckeln ließ.

Ich tippte mit dem Finger auf den Tisch. »Warum haben Sie die Fotos, wenn Nora die Bilder aufgenommen hat?«

»Sie hat die Bilder nicht aufgenommen. Mein Onkel hat die Bilder gemacht. Aber er ist nicht mehr da. Sie gehören jetzt ihr.«

»Warum?«

»Sie ist seine Frau.«

Eine Mischehe in den 1960er-Jahren? Die Sache wurde immer interessanter. Vielleicht könnte ich diese Geschichte in meine groß angelegte Artikelserie über die Unruhen und die damalige Zeit einbauen. Sie bot einen großartigen menschlichen Ansatz, einen größeren kulturgeschichtlichen Bezug, eine Verbindung zu einem prominenten NFL-Spieler. Falls ich tatsächlich mit dieser Nora verwandt war, könnte ich das Ganze sogar als persönliche Familiengeschichte aufziehen. Die Frage war: Hatte ich dafür Zeit? Bisher war es mir immer noch nicht gelungen, den Schutzschild um Richter Sharpe zu knacken, den ich in meiner investigativen Serie überführen wollte, und mir lief allmählich die Zeit davon.

»Okay, angenommen, ich bin mit ihr verwandt. Ich kenne diese Frau trotzdem nicht und sie kennt mich nicht. Warum sollte sie mir auch nur zuhören?«

»Miss Balsam, glauben Sie an Gott?«

Diese Frage überrumpelte mich. »Ja.«

»Glauben Sie, dass er aus allem, was geschieht, etwas zu seiner Ehre machen kann?«

Meine Eltern glaubten das. Meine Schwester glaubte das auch. Ich hatte es früher auch geglaubt. Bis ich gesehen hatte, wie chaotisch und kaputt und außer Kontrolle die Welt war. Wenn der Journalismus mich etwas gelehrt hatte, dann die Erkenntnis, dass wir uns alle nur durch ein Minenfeld aus Gefahren und Raubtieren und dummen Zufällen hangeln und stolpern. Aber es war nicht zu übersehen, dass Mr Rich glaubte, Gott hätte ihm eine Aufgabe übertragen – er sollte diese Sachen zurückgeben –, und dass er keinen Frieden finden würde, solange er diese Aufgabe nicht erfüllt hatte.

Statt seine Frage zu beantworten, stellte ich eine Gegenfrage. »Warum schicken Sie ihr die Sachen nicht einfach mit der Post?«

Ich wartete auf eine logische Begründung, warum das nicht möglich war, aber er nannte mir keine.

»Würden Sie sich einfach erkundigen, ob Sie mit Nora verwandt sind?«, fragte er.

Der flehentliche Ausdruck in seinen braunen Augen löste noch mehr Steine aus meiner ohnehin schon bröckelnden Schutzmauer.

»Also gut. Ich erkundige mich«, antwortete ich.

Mr Rich nickte und schob eine Visitenkarte über den Tisch. Ich mied Lindens kritischen Blick, als ich die Karte einsteckte und mich aus meinem Stuhl zwängte.

»Es war schön, Sie kennenzulernen«, sagte ich. »Danke für das Essen.«

Ich trat in den windigen, sonnigen Nachmittag hinaus, gab dem Obdachlosen, der vor der Tür murmelnd auf und ab ging, einen Dollar und eilte die Straße hinab zu dem alten Notenbankgebäude, in dem seit 2014 die immer kleiner werdende Belegschaft der Free Press untergebracht war und in dem mich ein Berg Arbeit erwartete.

Zurück am Schreibtisch versuchte ich, mich auf die endlose Liste von E-Mails in meinem Posteingang zu konzentrieren, die als dringend markiert waren. Eine Mail stammte von meinem Chefredakteur – In mein Büro, sofort –, aber mein Gehirn war bereits vollends damit beschäftigt, sämtliche Richtungen auszuloten, die diese neue Story einschlagen könnte. Das war im Moment sehr ungünstig, da ich mein Augenmerk eigentlich voll und ganz auf meine aktuelle Recherchearbeit legen musste.

Ich spionierte Richter Sharpe seit Monaten durch meinen Kontakt zu seinem vertrauensseligen und ahnungslosen Sohn, Vic, aus und hatte endlich das Gefühl, dass ein Durchbruch kurz bevorstand. Vic hatte mir gestern Abend eine Nachricht geschickt, in der er mich zum Kaffee einlud. Er hatte, wie er es formulierte, »etwas Großes herausgefunden, das dich bestimmt interessieren wird«. Ich musste diese Fotos also dringend aus dem Kopf bekommen. Und das würde mir am besten gelingen, wenn ich schon mal nachzuforschen begann und den Ball ins Rollen brachte.

So unauffällig wie möglich verdrückte ich mich ins Treppenhaus und rief auf meinem Smartphone die Seite Ancestry.com auf. Einige Minuten und dreißig Dollar später klickte ich kleine grüne Blätter an, die mir auf dem Display entgegenwinkten. Ich fand meine Eltern und begann, den Familienzweig meines Vaters im Familienstammbaum zurückzuverfolgen. Großvater Richard, Großonkel Warner … Bingo! Da war sie: eine Großtante, deren Geburtsname Eleanor Balsam lautete.

Rasch schrieb ich meiner Schwester in L.A. eine Nachricht.

Hey, lange nichts gehört. Familienfrage: Hast du Mama
oder Papa je von einer Großtante Eleanor oder Nora
sprechen hören? Antworte mir bitte bald. Danke.

Ich wartete einen Moment auf eine Antwort. Wahrscheinlich war sie gerade bei einem Patienten. Es war auch möglich, dass sie keine Ahnung hatte, wer ihr da schrieb, denn wir hatten seit mindestens zwei Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Ich ging zu meinem Schreibtisch zurück, öffnete meinen Text über einen schwarzen Polizisten, der während der 1967er-Unruhen Dienst gehabt hatte, und las ihn mir noch ein letztes Mal durch, bevor ich ihn meinem Redakteur mailte. Es handelte sich dabei um die Fortsetzung meines Artikels über einen weißen Feuerwehrmann, den ich vor zwei Tagen abgegeben hatte. Der Artikel über Richter Sharpe, der während der Unruhen bei der Nationalgarde gewesen war, sollte die Serie vervollständigen. Falls ich ihn schreiben konnte.

Es war 14:14 Uhr. Wenn ich in fünf Minuten aufbrach, hätte ich gerade genug Zeit, um mich vor meinem Treffen mit Vic in der Starbucks-Filiale im Renaissance Center umzuziehen.

Mein Handy summte. Meine Schwester.

Typisch Grace, dass sie sich sofort Sorgen machte.

Ich will sie besuchen. Weißt du, wo sie wohnt?

Ich starrte wartend auf das Display.

Sie schrieb das, als müsste ich wissen, wo das war, als bedürfte das alte Lapeer-Haus keiner weiteren Erklärung. Selbst nach all der Zeit ärgerte es mich noch, dass meine ungeplante Geburt neun Jahre nach meiner Schwester zur Konsequenz hatte, dass ich mich oft wie eine Außenseiterin in meiner eigenen Familie fühlte, die viele alte Geschichten und Insiderwitze nicht verstand.

Adresse?

Pause.

Na toll. Meine Eltern waren seit acht Jahren Missionsärzte im Amazonas-Mündungsgebiet. Ich konnte sie nicht nach Lust und Laune anrufen. Mama rief zu meinem Geburtstag und an Weihnachten an und auch sonst hin und wieder, wenn sie zufällig in einer Stadt waren, um ihre Vorräte aufzufüllen, aber das kam nicht oft vor.

Mein Handy summte wieder.

Ich verkniff mir die Frage, wer Barb war, da ich das offensichtlich wissen sollte. Am besten rief ich diese Barb einfach an. Die Aussicht, Fotos von den Unruhen, die noch nie jemand gesehen hatte, in die Hände zu bekommen, war zu verlockend, um Zeit mit langen Fragen zu verlieren.

Apropos Zeit … Wieder warf ich einen Blick auf die Uhr. Wenn ich es pünktlich ins Renaissance Center schaffen wollte, musste ich los. Jetzt sofort. Ich schnappte meine Handtasche und die kleine Reisetasche vom Schreibtisch und lief in Richtung Treppenhaus.

»Liz!«

Mein Redakteur war der einzige Mensch auf der Welt, der »Liz« zu mir sagte.

»Ich habe es eilig, Jack. Ich komme zu dir, sobald ich zurück bin. Drei Uhr. Spätestens vier.«

Ich ließ die Metalltür hinter mir zufallen, verdrängte den Gedanken an die Schachtel mit den Fotos und konzentrierte mich ganz auf meine eigentliche Arbeit: Richter Ryan Sharpe, der dafür bekannt war, sehr vorsichtig zu sein, dazu zu bringen, etwas über seine Verstrickung in die Unruhen von 1967 zu verraten. Denn auch wenn er der Öffentlichkeit ein anderes Bild vorgaukelte, sagte mir mein Bauchgefühl, dass in seiner schwarzen Robe ein Mann steckte, der etwas zu verbergen hatte.

Kapitel 2

Detroit, März 1963

Nora stockte der Atem. Der Mann auf dem Foto trug denselben Hut, denselben Anzug, dieselbe Krawatte und dieselben auf Hochglanz polierten Schuhe. Sie erkannte die Nase, den Mund und die Augen eindeutig, auch wenn sein Gesicht wutverzerrt war. Die hohe Stirn, in die sich tiefe Falten schnitten. Die Lippen waren zu einem Schrei verzogen. Die linke Hand zur Faust geballt. Seine rechte Hand packte wie eine Klaue zu. An seinem Finger trug er einen Ring, den sie gut kannte. Er stürzte sich auf die Kamera. Besser gesagt auf die Person, die die Kamera in der Hand hielt.

»Das ist das letzte Foto, das ich mit dieser Kamera geschossen habe«, sagte hinter ihr eine samtige Stimme.

Nora fuhr herum. Ihre Augen starrten auf die Brust eines Mannes in einem lockeren, weißen Hemd, das in einer schwarzen Hose steckte. Sie trat einen Schritt zurück. Der Mann, der auf sie hinablächelte, war schlank und attraktiv, seine Haut hatte die Farbe von dunklem Mahagoni und seine Augen waren tiefbraun. Auf dem Schild, das an seiner Brust steckte, stand Aussteller.

»Dieses Bild haben Sie fotografiert?«

Der Mann nickte und hielt ihr die Hand hin. »Alle Fotos an dieser Wand stammen von mir.«

»Wo haben Sie dieses Foto gemacht?«, fragte Nora, ohne die angebotene Hand zu beachten. Sie würde ihm gewiss nicht die Hand geben.

»Dieses Foto habe ich vor einigen Monaten vor dem General-Motors-Gebäude geschossen. Der Mann war wahnsinnig wütend. Unmittelbar nachdem ich dieses Foto gemacht habe, hat er meine Kamera auf den Gehweg geschmettert. Können Sie sich das vorstellen? Ich habe sie so schnell wie möglich aufgehoben und bin weggelaufen. Den Film konnte ich retten, aber dieser Kasten wird nie wieder ein Foto machen.«

»Was haben Sie ihm getan?«

Der Mann hob in einer kapitulierenden Geste beide Hände. »Hey, ich habe diesem Typen gar nichts getan.«

»Aber Sie müssen etwas gemacht haben. Warum war er so wütend? Warum hat er Sie angegriffen?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Solche Männer brauchen keinen Grund.«

»Was für Männer?«

»Sie wissen schon. Wichtige weiße Männer. Sie brauchen für gar nichts einen Grund. Sie können machen, was sie wollen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.«

Nora merkte, dass ihre Miene sich verfinstert hatte, und zwang sich dazu, ihre Gesichtsmuskeln zu entspannen. Wer mit zwanzig Jahren finster schaut, hat mit dreißig Jahren Falten, erinnerte ihre Mutter sie regelmäßig.

»Ich verstehe einfach nicht, was ihn dazu veranlasst haben könnte, so etwas zu machen. Er ist nicht …« Sie verstummte und sah dem jungen Mann an, dass er plötzlich begriff.

Er öffnete den Mund, aber bevor er seine Frage aussprechen konnte, trat Diane zu ihr und plapperte munter drauflos.

»Hast du diese Serie mit den riesigen Zwillingen auf den kleinen Motorrädern dort drüben gesehen? Es sieht richtig unheimlich aus. Zwillinge sind ja sowieso schon ein verstörender Anblick und …«

Mit einem Mal schien sie zu merken, dass niemand ihr zuhörte. »Hey, was ist?« Sie reckte den Hals und betrachtete das Bild, das Nora mit ihrem zierlichen Körper zu verbergen versuchte. »Du meine Güte! Ist das dein Vater?« Ihre Stimme hallte in dem kahlen Gang wider.

»Könntest du bitte leiser sprechen?« Nora deutete mit dem Kopf auf den schlaksigen Fotografen.

»Oh!«, sagte Diane und zog den Riemen ihrer Handtasche über ihren Kopf.

»Er hat das Foto gemacht«, raunte Nora ihr leise zu.

Der Mann hob eine Hand zum Gruß, dann schob er beide Hände in seine Hosentaschen.

»Im Ernst?« Diane entfuhr ein leises Lachen, das auf Noras missbilligenden, finsteren Blick hin aber schnell wieder verstummte. »Ihr zwei habt sicher einiges zu besprechen. Ich bin dann einfach … irgendwo anders.«

Sie schlenderte davon und ließ Nora in dieser unangenehmen Situation allein.

»Hören Sie, Miss. Das tut mir leid. Das wusste ich nicht.«

Nora schüttelte schnell den Kopf. »Nein, nein. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Aber ich muss Sie natürlich bitten, das Bild abzuhängen.«

Er runzelte die Stirn. »Es abhängen? Es ist das beste Foto weit und breit. Die Preisrichter fällen ihre Entscheidung erst um drei Uhr. Vorher nehme ich es auf keinen Fall ab.«

Nora ballte die Fäuste und bemühte sich um ein Lächeln. »Bitte! Viele Menschen kennen meinen Vater. Bestimmt wird ihn jemand erkennen.«

»Und?« Er zuckte die Achseln.

»Und?«

»Ja, was macht es schon, wenn ihn jemand erkennt? Ich hoffe, dass man ihn erkennt. Warum sollte ihn niemand erkennen?«

Nora merkte, dass sie schon wieder eine finstere Miene aufgesetzt hatte. »Weil das unhöflich ist. Es ist äußerst unhöflich, jemanden zu fotografieren, wenn er wütend ist, und das Bild dann so aufzuhängen, dass es die ganze Welt sehen kann.«

Die Augen des Mannes weiteten sich. »Unhöflich? Und jemanden anzugreifen, ist nicht unhöflich? Das Eigentum eines anderen zu zerstören? Wissen Sie, wie viele Überstunden ich machen musste, um mir diese Kamera kaufen zu können? Ich brauche das Preisgeld. Von dem Preisgeld werde ich mir eine neue Kamera kaufen.«

Nora öffnete den Mund, wusste aber nicht, was sie sagen sollte.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte der Mann. Er wandte sich ab und wollte weggehen.

»Warten Sie! Ich kaufe Ihnen eine neue Kamera.«

Er drehte sich wieder zu ihr um, schürzte die Lippen und zog die Brauen hoch.

»Ich kaufe Ihnen eine neue Kamera«, wiederholte sie, »wenn Sie mir dieses Foto auf der Stelle geben.«

Ein schwaches, etwas verwirrt wirkendes Lächeln trat in sein Gesicht. »Sie kaufen mir eine Kamera?«

»Ja.«

»Sie kaufen mir eine Kamera?«

»Ja, wenn Sie mir dieses Foto geben.«

Der Mann lachte. »Sie werden mir ganz bestimmt keine Kamera kaufen.«

Sie trat einen Schritt vor, um ihm zu zeigen, dass es ihr ernst war. »Doch, das werde ich. Nennen Sie mir den Namen der Kamera, die Sie wollen, und ich gehe augenblicklich los und kaufe sie Ihnen. Als Gegenleistung verlange ich, dass Sie dieses Foto sofort abnehmen und es mir aushändigen, wenn ich Ihnen die Kamera übergebe.«

Nora wand sich innerlich, als sich der Mann auf die Lippe biss und sie nachdenklich von Kopf bis Fuß musterte.

»Also gut. Abgemacht. Aber Sie haben nur bis 14:30 Uhr Zeit, um mir eine neue Kamera zu bringen. Wenn Sie bis dahin nicht aufgetaucht sind, hänge ich dieses Foto wieder an die Wand, damit die Preisrichter es sehen.«

»Gut.« Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Zettel und einem Stift. »Schreiben Sie mir auf, welche Kamera Sie wollen. Die genaue Bezeichnung. Wenn Sie nicht konkret sind, müssen Sie nehmen, was ich Ihnen bringe.«

Der Mann grinste, kritzelte Nikon F auf den Zettel und reichte ihn ihr. Sie nahm den Zettel und blickte vielsagend zu dem Foto.

»Ist ja gut, ist ja gut!«, sagte er. »Ich hänge es ab.« Er nahm das gerahmte Bild von der Wand. Sein Blick wanderte zwischen dem Foto und Nora hin und her. »Jetzt kann ich die Ähnlichkeit sehen.«

Nora kniff einen Moment die Lippen zusammen und atmete langsam durch die Nase ein. »Sehr komisch. Wohin räumen Sie es?«

»Ich habe eine Kiste, keine Sorge.«

Sie steckte den Zettel in ihre Jackentasche und warf einen Blick auf die elegante, silberne Armbanduhr an ihrem Handgelenk. »In ungefähr einer halben Stunde bin ich zurück.«

Er salutierte scherzhaft. »Hey, Sie wissen schon, dass das eine teure Kamera ist, oder? Solche Kameras benutzen Profis. Sind Sie sicher, dass Sie sich diese Kamera leisten können?«

Jetzt war es an Nora zu grinsen. »Machen Sie sich darüber keine Sorgen.«

Kapitel 3

Detroit, Juli

Ich erinnerte mich nicht an den Rückweg zur Redaktion. Ich wusste nur noch, dass ich irgendwann nach dem niederschmetternden Treffen mit Vic Sharpe an der Haltestelle des People Movers vor dem Renaissance Center gestanden und darauf geachtet hatte, nicht zu nahe an die gelbe Warnlinie am Bahnsteigrand heranzutreten, damit ich für den Fall, dass ich zusammenbrach, nicht auf den Gleisen der elektrischen Hochbahn geröstet würde. Dann stand ich irgendwann vor Jack McKnights Tür.

»In dieser Aufmachung hätte ich dich fast nicht erkannt«, begrüßte er mich. »Komm rein und mach die Tür zu.«

Ich tat, was er sagte. »Es tut mir leid, Jack«, begann ich. »Ich habe einen Fehler gemacht.«

Er hob die Hand. »Nein, mir tut es leid. Ich habe bereits gestern Nacht von diesem Video Wind bekommen. Deshalb habe ich auch versucht, dich zu erwischen, bevor du gehst. Ich wusste, was kommen würde.«

»Ich kann das immer noch in Ordnung bringen«, sagte ich, obwohl mir klar war, dass das nicht stimmte.

Jack schüttelte den Kopf. »Ich tue das wirklich nur sehr ungern. Und ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit, aber ich muss an den Ruf der Zeitung denken. Du musst mir das hier unterschreiben.«

Immer noch wie im Nebel nahm ich den Stift, den er mir hinhielt, und trat zu den Papieren auf seinem Schreibtisch, auf die er deutete.

»Du bekommst eine anständige Abfindung«, sagte er.

Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. »Abfindung?«

»Natürlich. Wir schicken dich doch nicht mit leeren Händen weg.«

»Moment! Warum schickt ihr mich weg? Wegen einer einzigen verkorksten Story? Soll das ein Witz sein?«

»Liz, es tut mir leid, aber Ryan und Vic Sharpe sind mächtige Männer in dieser Stadt. Jemand muss die Schuld auf sich nehmen.«

Wieder machte ich einen Schritt, dieses Mal jedoch nach vorne, auf meinen Chef zu. »Und du gibst mir die Schuld?! Das war deine Schuld! Du hast gesagt, dass ich …«

»Liz, es lässt sich nicht mehr ändern. Du musst diese Erklärung unterschreiben und …«

»Ich unterschreibe keine Erklärung!«

»Wenn du nicht unterschreibst, dass du unter Vortäuschung falscher Tatsachen und mit erfundener Identität in Richter Sharpes direktem Umfeld recherchiert hast, und damit die Free Press von jeder Verantwortung freisprichst, bekommst du keine Abfindung. Keinen Cent.«

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich den Füller geworfen habe. Er prallte von Jacks Brust ab und fiel klappernd zu Boden. Einen Atemzug lang standen wir regungslos da. Wie durch eine Nebelwand nahm ich wahr, dass sich mein Leben innerhalb von zwei Stunden völlig verändert hatte. Dann riss ich Jacks Bürotür auf und marschierte zu meinem Schreibtisch. Köpfe drehten sich zu mir um. Augen starrten mich an. Ich nahm die letzten zwei Papierpackungen aus einem Karton unter dem Druckertisch, stellte die leere Schachtel auf meinen Stuhl und begann zu packen.

»Elizabeth?«

Ich legte ein Foto von meinen Eltern in die Schachtel.

»Was ist los? Warum bist du so angezogen?«

Eine Kaffeetasse, die seit vier Jahren nicht mit Spülmittel in Berührung gekommen war.

»Elizabeth.«

Ein hässlicher Briefbeschwerer, den mir eine Frau als Dank dafür geschenkt hatte, dass ich sie nicht falsch zitiert hatte.

»Elizabeth!«

Ich ließ meinen Blick über den Rest des Schreibtisches wandern. War das wirklich alles? Gab es nicht mehr von mir? Magere drei persönliche Gegenstände? Ich kratzte das Kleingeld aus dem flachen Fach in meiner mittleren Schublade und warf es ebenfalls in die Schachtel. Eine Hand packte mich am Arm. Erst jetzt schaute ich Desiree an. Sie musterte mich mit dem gleichen Blick wie meine Mutter damals, als ich das erste Mal meine Stelle verloren hatte.

»Haben sie dir gekündigt?«, fragte sie.

Ich begann, den Kopf zu schütteln.

»Hast du gekündigt?«

Hatte ich das?

»Ich kann im Moment nicht darüber sprechen«, sagte ich. Ich warf einen Blick in die armselige Schachtel, zog das Foto von meinen Eltern heraus und steckte es in meine Handtasche. »Ich melde mich bei dir.«

Alles andere ließ ich auf meinem Stuhl stehen. Die schrecklichen High Heels, die ich anstelle meiner gewohnten flachen Schuhe trug, schleuderte ich von meinen Füßen, marschierte zwischen den Gaffern hindurch und stürmte barfüßig die Hintertreppe hinab. Unten angekommen, lehnte ich mich an das Geländer und ließ meinen Blick über den Parkplatz wandern. Der Asphalt hatte den ganzen Tag über die Sommerhitze gespeichert und war mit Steinchen und Glasscherben übersät. Daher legte ich die zehn Meter zu meinem Auto halb laufend, halb auf Zehenspitzen zurück, setzte mich dann mit zusammengebissenen Zähnen auf den Fahrersitz, pickte die Steinchen aus meinen Fußballen und knallte die Autotür zu.

Meine Atmung war inzwischen flach und keuchend. Die letzten zwei Stunden fühlten sich surrealer an als jeder Traum, den ich je gehabt hatte.

Vor drei Monaten hatte mich Jack in sein Büro gerufen, die Tür zugemacht und sich an seinen Schreibtisch gelehnt. »Ich ziehe Roger von Richter Sharpe ab«, hatte er mir erklärt. »Und ich will dich an seiner Stelle haben.«

»Sehr gerne.«

»Aber nicht als du.«

»Wie bitte?«

»Ich will, dass du als jemand anderes auftrittst. Nicht als Reporterin. Einfach als Frau.«

»Ich soll verdeckt recherchieren?«

»Ja. Wir kommen bei dem Versuch, ihn mit den Unruhen in Verbindung zu bringen, keinen Schritt weiter. Deshalb will ich, dass du versuchst, durch die Hintertür an ihn heranzukommen. Sein Sohn Vic ist Stadtentwickler.«

»Das weiß ich, Jack. Sein Name steht auf jedem leer stehenden Gebäude in der Stadt.«

»Und er ist Single.«

Und so erfand ich Dana Bowers, kaufte ihr eine Garderobe, die ich freiwillig nie anziehen würde, und brachte sie auf Kollisionskurs mit dem Sohn des Richters. Ich war fest davon überzeugt, dass ich einer großen Enthüllungsstory auf der Spur war.

In Danas Haut zu schlüpfen, war ein wenig wie früher, wenn ich mich als Kind für den Gottesdienst zurechtmachen musste, nur dass damals meine Mutter meine Haare frisiert hatte und mein Make-up auf einen dezenten Lipgloss beschränkt gewesen war. Es war jedoch genauso mühsam und ich hatte wie damals das Gefühl, eine fremde Identität anzunehmen – in der Hoffnung, dass niemand mein wahres Ich erkennen würde.

Mein Alter Ego Dana lernte Vic Sharpe bei einer luxuriösen Hochzeitsfeier – zu der sie gar nicht eingeladen war – im Detroit Athletic Club kennen. Sie stieß mit voller Wucht vor der Herrentoilette mit ihm zusammen. Er wollte hineingehen. Sie kam gerade heraus.

»Oh! Entschuldigen Sie, Miss«, sagte er und stützte Dana, indem er seine warmen Hände auf ihren nackten Arm legte. »Bitte entschuldigen Sie vielmals. Ich dachte, das wäre die Herrentoilette.«

»Da haben Sie richtig gedacht«, erwiderte Dana kokett. »Bei den Damen war die Schlange so lang.«

Sie wandte sich mit einem koketten Lächeln von ihm ab und ging zu einem nahe gelegenen Spiegel, um ihren Lippenstift nachzuziehen. Vic zögerte einen Moment, dann verschwand er hinter der Tür zur Herrentoilette, kam aber sofort wieder heraus.

»Was haben Sie nach der Feier vor?«, fragte er.

Und schon hatte Dana einen Fuß in der Tür. Es war so leicht.

Es hatte keinen Grund gegeben zu denken, dass die heutige Verabredung zum Kaffee anders laufen würde als die anderen Male, die Dana und Vic miteinander ausgegangen waren. Aber als Dana bei Starbucks ankam, war Vic bereits da und sein Gesicht war ungewöhnlich ernst. Sie musste sich nach wie vor darauf konzentrieren, in ihren High Heels nicht umzuknicken, während sie zu dem Tisch ging, auf dem ihr Lieblingskaffee, ein Americano, bereits dampfend neben einem Mohnmuffin stand. Einem ganzen, keinem halben. Vic hatte den Muffin nicht wie sonst durchgeschnitten, damit sie ihn sich teilen konnten. Als Dana genauer hinschaute, stellte sie fest, dass Vic außer seinen gefalteten Händen überhaupt nichts vor sich auf dem Tisch hatte.

Sie setzte sich trotzdem und lächelte ihn unbeschwert an. »Entschuldige, dass ich mich ein wenig verspätet habe.«

Dana verspätete sich immer ein wenig.

Vic nickte. »Wir müssen reden.«

»Was ist passiert?«

»Ich weiß, was hier gespielt wird.«

Das Blut gefror in meinen Adern. Ich war nicht mehr Dana. Ich war Elizabeth. Und mir gefiel gar nicht, wie Vic Sharpe mich anschaute. Als wüsste er es.

Vic nahm seine gefalteten Hände auseinander. Darunter lag sein Smartphone. Er wischte über das Display, drehte es zu mir herum und tippte auf das Abspiel-Symbol. Auf dem Videobild, das sich daraufhin in Bewegung setzte, war sein privates Arbeitszimmer zu sehen. In der unteren rechten Ecke stand das Datum vom letzten Samstag. Ich wusste, was gleich kommen würde. Mit wachsendem Grauen verfolgte ich, wie Dana ins Arbeitszimmer schlüpfte, sich hinter den Schreibtisch setzte und anfing, Schubladen zu durchsuchen und einen Laptop zu benutzen, der ihr nicht gehörte.

»Dieses Video wurde mir am Sonntag übermittelt. Erst wollte ich dich gleich darauf ansprechen, aber dann habe ich mir überlegt, dass ich auch ein wenig herumschnüffeln könnte. Und weißt du, was ich dabei herausgefunden habe?«

Er wartete auf meine Antwort, aber ich konnte ihm keine geben. Ich hatte das Gefühl, der ganze Mohnmuffin würde in meinem Hals stecken, obwohl ich ihn gar nicht angerührt hatte.

»Ich habe herausgefunden, dass du ein Doppelleben führst.«

Endlich fand ich meine Sprache wieder. »Ich kann dir das erklären.«

»Das glaube ich dir gern, Elizabeth. Aber das ist nicht nötig. Ich habe mit deinem Redakteur gesprochen. Er hat mir alles erklärt. Ich nehme an, er erwartet dich in seinem Büro.«

Die E-Mail! Jacks Versuch, mit mir zu sprechen, als ich die Treppe hinabgeeilt war, um mich in Dana zu verwandeln ... Jack hatte versucht, mich vor diesem peinlichen Moment zu bewahren.

»Bevor du jetzt wegläufst«, sprach Vic weiter, »habe ich noch eine Frage. Und ich möchte eine ehrliche Antwort. Warum misstraut jeder einem Mann, dem diese Stadt so wichtig ist, dass er sie zum Positiven verändern möchte?«

»Vic, es geht nicht um dich.«

»Mir ist bewusst, dass einige Investoren Raubtiere und nur auf Profit aus sind. Sie sind Wölfe. Aber einige sind auch Hirten.«

Ich versuchte, zu Wort zu kommen und ihm zu erklären, dass ich gar nicht an einer Story über ihn dran war, aber er sprach unbeirrt weiter.

»Ich war in Bezug auf meine Geschäfte immer ehrlich zu dir. Ich verfolge keinen heimlichen teuflischen Plan, die Stadt auszusaugen. Ich stecke Geld in diese Stadt, weil ich die Hoffnung habe, dass sie aus der Asche auferstehen und wieder lebendig werden kann.«

»Vic, das weiß ich. Darum geht es auch überhaupt nicht. Es geht um deinen Vater.«

»Um meinen Vater?«

»Ich … ich habe gehofft, dass ich mehr über deinen Vater in Erfahrung bringen könnte. Für eine Story.«

»Was für eine Story?«

»Über seine Zeit in der Nationalgarde.«

Er starrte mich an. »Du meinst die 67er-Unruhen?«

»Ich schreibe eine Serie über Polizeikräfte und Staatsbedienstete, die in die Unruhen verwickelt waren. Dein Vater weigert sich, Stellung zu der Zeit zu nehmen, bevor er sich freiwillig gemeldet hat und in Vietnam stationiert wurde. Ich wollte ihn dazu bringen, etwas über diese Zeit preiszugeben.«

Vic lehnte sich zurück. »Du hast mich also nur benutzt, um an ihn heranzukommen?«

Ich biss mir in die Wange. Ja, Elizabeth. Genau das hast du gemacht. »So ist das nicht …«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

Vic stand auf und steckte sein Handy in die Innentasche seiner Anzugjacke. Dann schob er seinen Stuhl unter den Tisch und beugte sich zu mir vor. Für einen kurzen Moment stand ihm eine tiefe Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Doch dann kehrte die harte Verärgerung zurück. »Einen schönen Tag noch.«

Damit ließ er mich sitzen.

Und jetzt war ich rausgeflogen. Ich hatte meine Arbeit verloren. Meinen Verstand zwar noch nicht, aber das könnte noch passieren. Wie schnell würde sich mein Misserfolg herumsprechen? Wie viel Zeit blieb mir, um mich für eine neue Stelle zu bewerben? Wohin könnte ich gehen? Ich wollte nirgendwo anders arbeiten. Die Free Press war meine Zeitung. Meine Familie. Meine Familie hatte mich verstoßen.

Ich drehte den Zündschlüssel. Ich brauchte Luft. Frische Luft. Ich würde mich gleich übergeben müssen. Hastig riss ich die Autotür auf und beugte mich über den Asphalt, aber es kam nichts. Ich konnte diese Übelkeit nicht loswerden. Sie breitete sich wie die Fettschicht auf einer Rahmsuppe immer weiter aus.

Ich schloss die Tür, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr ziellos durch die Gegend. Dabei schlug ich den Weg des geringsten Widerstands ein, bis ich auf einem fast leeren Parkplatz am Riverwalk landete. Ich parkte, schlüpfte in die schwarze Hose und in die flachen Schuhe, die ich vor meinem Treffen mit Vic getragen hatte, zerrte Danas eng anliegendes, rotes Kleid über meinen Kopf und steckte die Arme in die Ärmel meiner weißen Bluse.

Dann stieg ich aus und schlenderte am Flussufer entlang. Ich wich Radfahrern aus, kam an Spielplätzen und Kunstwerken und dem blauen Karussell mit seinen schönen geschnitzten Fischen und Fröschen und Wasservögeln vorbei. Das Wasser in den Springbrunnen vor den glänzenden Türmen des Renaissance Centers tanzte und sprudelte. Auf der anderen Seite des Flusses lag Kanada. Flach und friedlich und bescheiden, durch die Ambassador Bridge wie durch eine Nabelschnur mit Detroit verbunden. Irgendwo unter meinen Füßen lag – Gerüchten zufolge – die Leiche von Jimmy Hoffa, dem Gewerkschaftsführer mit Mafiaverstrickungen, um den sich so viele Geschichten rankten.

So viel Geschichte. So viel Verkehr. So viel Schmerz und Schönheit und Ruhelosigkeit. Detroit war eine Stadt, die vor aufgestauten Gefühlen, die ein Ventil suchten, vibrierte: Ehrgeiz und Sehnsucht, Habgier und Zorn, Misstrauen und eine tiefe Liebe zu den Nachbarn. Alle waren auf der Suche nach einer Veränderung, nach einer zweiten Chance, nach der nächsten großen Sache.

Erschöpft setzte ich mich auf die Steinstufen.

Es hatte mich drei Jahre als freiberufliche Journalistin – und sehr viele mühsame Recherchen mit durchwachsenem Erfolg – gekostet, um eine Stelle bei der Detroit Free Press zu bekommen. Wie alle Neulinge war ich zunächst auf Kleinkram angesetzt worden. Aber es war ein Anfang. Dann war ich aus purem Zufall zur richtigen Zeit am richtigen Ort und wurde zum Gericht geschickt, um über den Zivilprozess zu schreiben, in dem es um Bürgermeister Kwame Kilpatricks angebliche Affäre und die gesetzeswidrige Entlassung seines Leibwächters ging, weil dieser zu viel wusste. Ich begann, Storys zu schreiben, die die Detroiter tatsächlich lasen.