Valentina F.
2L8 – Too late
FISCHER E-Books
Valentina F. war fünzehn, als ihr erster Roman über ihre sympathische Heldin erschien. Nun legt sie schon den vierten Band vor – mit umwerfendem Erfolg! Sie lebt in Rom und arbeitet bereits an weiteren Romanen.
Bei FISCHER sind von ihr bisher folgende Titel erschienen: ›HDGDL - Hab dich ganz doll lieb‹, ›ZDOZM - Zu dir oder zu mir?‹ und ›SGUTS - Schlaf gut und träum süß‹.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S.Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.fischerverlage.de
Liebe oder Leidenschaft?
Valentina ist am Ziel ihrer Träume: Sie ist mit dem geheimnisvollen Mirko zusammen! Er ist unberechenbar, sehr direkt und … verdammt gut! Valentina ist total verrückt nach ihm.
Und dennoch: Wenn sie ihren Ex-Freund sieht – den schönen, zuverlässigen Marco –, merkt sie, dass da mehr ist als nur Freundschaft. Aber ist es dafür nicht längst zu spät?
Nach dem großen Erfolg von ›HDGDL‹, ›ZDOZM‹ und ›SGUTS‹ ist Valentina endlich wieder da – feurig und romantisch!
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel
›TVUKDB – M'ama o non m'ama‹ bei Fanucci Editore, Rom
© 2009 by Valentina F., in agreement with Fanucci Editore s.r.l., Italy
Umschlaggestaltung: von Zubinski
Coverabbildung: Mattia Pelizzari/Stocksy
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0088-4
Für die Menschen, die wir lieben,
und für die, die uns leiden ließen.
Dieser Roman spielt zu einem kleinen Teil in den Abruzzen.
Alle Menschen, die von dem Erdbeben 2009 betroffen sind, möchte ich herzlich grüßen.
Es ist halb neun an einem Dienstagmorgen, und eigentlich müsste ich zusammen mit den anderen in der Schule sein. Wahrscheinlich setzt sich meine Englischlehrerin gerade ans Pult, nachdem sie ihre Tasche neben sich auf die Erde gestellt hat, schlägt das Klassenbuch auf und schaut, ob alle anwesend sind. Dann hängt sie ein paar Minuten irgendwelchen Gedanken nach. Was sie wohl mit meinen Mitschülern macht? Ruft sie die Leute vorne an die Tafel, oder lässt sie einen Überraschungstest schreiben? Sie liebt solche Scherze.
Dass ich heute nicht zur Schule gehe, schmeckt irgendwie lecker, aber auch verboten. Der Vormittag verwandelt sich in etwas Neues und Unbekanntes. Vier, fünf Stunden Freiheit liegen vor mir, in denen ich nach Hause gehen könnte, aber dann wäre es mit dem Spaß vorbei. Meine Mutter wäre da, und ich müsste mir irgendwelche Erklärungen ausdenken. Ich könnte stattdessen lieber ins Kino gehen, was im Grunde eine verlockende Idee ist. Aber ich glaube nicht, dass es ein Vormittagsprogramm gibt, außerdem macht es mich traurig, allein einen Film zu sehen. Die dritte und einfachste Möglichkeit ist, ziellos durch die Stadt zu streifen. Ich mag den Gedanken total, dass die Leute glauben, man sei an einem bestimmten Ort, dabei ist man ganz woanders. Das ist wie in einem Krimi, in dem die Polizei während der Ermittlungen zu einem Mord oder einem Überfall entdeckt, dass die Verdächtigten nie dort sind, wo sie sein sollten, oder nie mit denen zusammen sind, mit denen man sie vermutet hat. Ich muss kichern und ziehe mir den Rucksack zurecht. Heute bin ich irgendwie durcheinander. Der Albtraum der vergangenen Nacht schwirrt mir noch im Kopf rum. Verrückt. In diesem Traum hat mich mein Freund Mirko mit in sein Geheimversteck nach Ostia genommen, das er mir schon lange zeigen will. Und dann hat er sich plötzlich in einen schrecklichen Vampir verwandelt, und ich konnte mich gerade noch in die Arme von meinem Exfreund Marco retten.
Ich schüttele den Kopf, lasse die Schule hinter mir und gehe zum Tiberufer. Die Vögel scheinen mit dem Wind zu spielen. Ich überquere die Brücke und tauche in die engen Straßen des Zentrums ein.
»Achtung! Achtung! Der Messerschleifer und Schirmmacher ist da. Wir schärfen Messer, Scheren, große, kleine … Achtung! Der Messerschleifer ist da«, tönt es aus einem Lautsprecher auf einem kleinen Transporter, der langsam durch die Gassen zuckelt. Wer lässt sich denn heute noch die Messer schleifen oder einen kaputten Regenschirm reparieren? Das ist ja wie der Mann, der die Strohstühle flickt. Manchmal sehe ich vor dem Nachbarhaus einen alten Herrn auf einem Stuhl sitzen, der die kaputten Stühle repariert. Das ist irgendwie lustig, und ich muss jedes Mal an einen alten Schwarzweißfilm denken.
Die Straße steigt an, und ich halte vor einem Laden mit einem antiken Schild, auf dem Weine und Öle steht. Papa hat mir mal erzählt, dass seine Mutter ihn als kleinen Jungen immer zum Weinhändler in der Straße geschickt hat, um einen Liter von dem offenen Wein zu kaufen. Der Besitzer war ein fetter Mann gewesen, der den Gürtel über seinem dicken Bauch trug. Er hatte ein paar Fässer im Keller, und sobald mein Vater die Nase in das Geschäft steckte, musste er sich fast übergeben, so stark roch es nach Most.
Auf der Piazza Navona setze ich mich auf die Stufen der Kirche und beiße hungrig in ein Stück heiße Pizza, das ich mir vorher schnell gekauft habe. Nachdem ich mich fast den ganzen Vormittag in der Sonne geräkelt und mir die neuesten Songs von Katy Perry angehört habe, mache ich mich wieder auf den Heimweg, entscheide mich aber für eine andere Strecke.
»Signorina, soll ich Ihnen die Karten legen?«, fragt mich eine Frau mit dichten roten Haaren.
Ich lächle verlegen.
»Nein, danke.«
»Warum nicht? Kommen Sie, haben Sie keine Angst.«
»Nein, danke, ich hab kein Geld.«
»Macht nichts. Setzen Sie sich, ich lege sie Ihnen gratis.«
Misstrauisch und unentschlossen bleibe ich stehen. Und wenn ich hinterher doch bezahlen muss?
»Heute ist ein guter Tag. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich tue Ihnen nichts. Trauen Sie sich: Hier erfahren Sie Ihre Zukunft«, redet die Frau weiter und macht eine ausladende Handbewegung. Vielleicht liest sie ja meine Gedanken.
Ich sehe mich immer noch verunsichert um. Dann zucke ich mit den Schultern, lasse mich von ihrem offenen Lachen überzeugen und setze mich auf den Hocker vor ihr. Ein kleiner Campingtisch steht zwischen uns. Sofort nimmt die Frau einen Stapel Karten und mischt sie. Die Karten sind abgegriffen, an den Rändern sind sie schon ganz schwarz. Während sie mischt, fragt sie mich nach meinem Namen und wie alt ich bin. Sie bittet mich, einen Teil vom Stapel abzuheben, dann dreht sie langsam eine Karte um.
»Du hast ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern«, sagt sie mit einem Lächeln.
Ich sehe sie unschlüssig an.
»Du hast eine Schwester, ich würde sagen, sie ist jünger als du. Richtig?«
»Ja, wie haben Sie das erraten?«, frage ich.
Sie lacht.
»Das steht hier. Schau mal, siehst du diese Karte hier? Das ist die Familie, und sie zeigt an, ob du Brüder oder Schwestern hast.«
»Okay, aber woher haben Sie gewusst, dass meine Schwester jünger ist?«
Sie lächelt und zwinkert mir zu.
»Ich kann dir doch nicht all meine Geheimnisse verraten! Willst du etwas Besonderes wissen?«
Eigentlich möchte ich sie auf der Stelle danach fragen, was aus Marco und Mirko wird, aber es ist mir irgendwie voll peinlich. Also zucke ich mit den Schultern und versuche, nicht so neugierig zu wirken.
»Tja, keine Ahnung.«
»Verstehe. Mal sehen, wie viele Verehrer du hast.«
Ich werde rot. Die Frau betrachtet die Karten vor sich auf dem Tisch und denkt nach. Mir kommt es nicht so vor, als ob dort etwas Passendes steht. Da liegt vielmehr eine gruselige Figur, die wahrscheinlich nichts Gutes verheißt.
»Hm … ich sehe, dass du gelitten hast. Es gab einen Jungen, der dir wehgetan hat. Bist du vielleicht verlassen worden?«
Stumm sehe ich die Frau an.
»Dieser Junge muss sehr wichtig für dich gewesen sein. Aber er ist nicht ganz aus deinem Leben verschwunden. Es sieht eher so aus, als ob er immer noch auf dich aufpasst. Ja, ja, diese Geschichte scheint noch nicht beendet zu sein. Aber neben dir, das hier bist du«, sie zeigt auf eine Frauenfigur, »sehe ich einen anderen Jungen, diesen Ritter auf dem Pferd. Interessant. Dein Liebesleben scheint alles andere als langweilig zu sein«, sagt sie und kichert.
Unschlüssig sehe ich sie an und weiß nicht, was ich sagen soll.
»Also … das stimmt«, erwidere ich schließlich.
»Aber du kannst dich nicht entscheiden.«
Die Frau dreht noch mehr Karten um.
»Die Situation wird scheinbar noch komplizierter, siehst du diese Figur? Da gibt es eine andere Frau.«
Das ist bestimmt Martina, Marcos neue Freundin.
»Eine Person, die dir nahesteht.«
Dann kann es nicht Martina sein.
»Kenn ich sie?«, frage ich und bin jetzt total neugierig.
»Scheint so, und zwar schon lange.«
Na, hoffentlich heißt das nicht, dass die Schlange Federica wieder auftaucht.
»Und wie geht es aus?« Ich bin ganz gebannt.
»Das ist nicht klar. Aber einer der beiden Kavaliere wird zurückkommen. Ich kann dir nur sagen, dass das ein komplizierter und schmerzhafter Weg wird.«
Ohne ein Wort zu sagen, sehe ich sie an … Wie viel muss ich denn noch leiden?
»Aber wer von beiden zurückkommt, kann man nicht erkennen?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Da ist ein großes Durcheinander um dich herum. Die Karten sagen nur, dass du eine Entscheidung wirst treffen müssen, die sehr viele Tränen mit sich bringt.«
»Aber wie soll ich mich denn entscheiden?«
Sie sieht mich liebevoll an, streckt ihre schmale Hand aus und drückt meine sanft.
»Hör auf dein Herz.«
Als ob das Herz reden und die richtige Entscheidung treffen könnte.
Ich verabschiede mich von der Frau und komme noch verwirrter und niedergeschlagener zu Hause an. Keiner der beiden Jungs hat auf meine SMS geantwortet, in der ich ihnen geschrieben habe, dass ich von ihnen geträumt habe. Das ist ein schlechtes Zeichen. Aber was erwarte ich auch? Im Grunde weiß ich das selbst nicht. Einen Augenblick lang hat mich der Gedanke, Marco wiederzuhaben, begeistert, und der Traum, besser gesagt der Albtraum, hat seinen Teil dazu beigetragen. Dabei hat Marco mich nur gebeten, mich noch einmal mit ihm zu treffen, mehr nicht. Und ich darf ja nicht vergessen, dass er immer noch mit Martina zusammen ist, und ich mit Mirko. Genau, Vale, pass bloß auf, dass du nicht noch das kaputt machst, was du hast. Was hat die Kartenlegerin noch mal gesagt? Die Situation wird komplizierter. Stimmt. Aber vielleicht hat sie sich das ja auch alles nur ausgedacht. Sie hat irgendwas gesagt und an meiner Reaktion gemerkt, dass sie ins Schwarze getroffen hat. Ich hab mal gehört, dass, wenn man die Gesichter der Leute ganz genau beobachtet, schon kleine, anscheinend unbedeutende Bewegungen der Augen oder der Lippen viel mehr verraten als Worte. Ich mag das Kartenlegen eigentlich nicht, ich denke immer, dass diese Leute Menschen ausnutzen, die in Schwierigkeiten sind.
»Gut gemacht, Vale, du bist echt ein Hirni!«, sage ich zu mir, während ich den Schlüssel im Schloss herumdrehe.
Cocco, mein süßer Hund, kommt schwanzwedelnd auf mich zu und vertreibt sofort alle blöden Gedanken.
»Bist du das, Vale?«, ruft meine Mutter aus dem Wohnzimmer.
Wer sollte es sonst sein?
»Ja, Mama, ich bin’s.«
»Ich telefoniere gerade mit deinem Vater. Wenn du den Tisch deckst, können wir in zwei Minuten essen.«
Ich habe keinen Hunger mehr. In meinem Zimmer lasse ich den Rucksack auf den Boden fallen, ziehe die Jacke aus und mache mich auf die Suche nach meiner Schwester. Giulia ist unauffindbar. Wo steckt sie bloß? Normalerweise begrüßt sie mich immer zusammen mit Cocco, aber heute bleibt sie verschwunden. Für den Mittagsschlaf ist es noch ein bisschen früh.
»Mama, wo ist Giulia?«
Meine Mutter springt auf und kommt mir entgegen.
»Vor einer Minute war sie noch hinter mir und hat mit Cocco gespielt. Giulia?«, ruft sie ängstlich, während sie das Gespräch mit meinem Vater ohne ein weiteres Wort abwürgt. Na, den möchte ich später nicht erleben! Ich versuche, meine Mutter wieder zu beruhigen, aber irgendwie ist meine Schwester wie vom Erdboden verschluckt. Sie kann auf gar keinen Fall rausgelaufen sein, denn seit ich da bin, ist die Wohnungstür zu. Außerdem ist Giulia noch zu klein, um die schwere Klinke herunterzudrücken. Meine Mutter ist bleich wie ein Betttuch.
»Mama, reg dich nicht auf. Du weißt doch, dass sie gerne Verstecken spielt und ihre Späße mit uns treibt.«
Sie nickt angespannt. Aber sie scheint mich nicht zu sehen, ihr Blick geht ins Nirgendwo.
»Giulia, komm sofort raus. Cocco, wo ist Giulia? Los, Cocco, such Giulia.«
Cocco, der ihre Worte für ein Spiel hält, holt den Ball und legt ihn meiner Mutter vor die Füße.
»Nein, Cocco, nicht den Ball. Giulia, such Giulia. Kann dieser Hund auch was anderes, außer spielen?«
Cocco bellt, aber er scheint nicht zu begreifen, was wir von ihm wollen. Wir suchen weiter, überall, unter den Betten, in der Küche, in meinem Zimmer. Dann im Bad und auf dem Balkon. Armer Cocco, er ist schließlich kein Spürhund! Zur Sicherheit laufe ich die Treppe bis zur Haustür hinunter und gehe durch den Hof. Dann laufe ich wieder hoch, bis zum obersten Stockwerk. Als ich wieder in die Wohnung trete, sieht es aus, als ob eine Bombe hochgegangen wäre. Meine Mutter hat alles durcheinandergeworfen. Jetzt mache auch ich mir langsam wirklich Sorgen … Da kommt mir eine Idee: Ich sause ins Schlafzimmer meiner Mutter und reiße den Kleiderschrank auf.
»Mama, ich hab sie!«
Giulia liegt auf den Koffern, die ganz unten verstaut sind. Sie schläft mit dem Kopf auf einem Arm, ihr Mund ist halbgeöffnet, eine Hand verdeckt ein Auge.
Sie ist wunderschön. Die Farbe kehrt ins Gesicht meiner Mutter zurück, wir sehen uns an und lachen los. Eine Viertelstunde später sitzen wir am Esstisch, während Giulia in ihrem Bettchen Mittagsschlaf macht.
»Was habt ihr heute in der Schule durchgenommen?«
»Das Übliche, nichts Besonderes.«
»Was hattest du für Stunden?«
»Englisch, Bio und Philo.«
»Was macht ihr gerade Philosophie?«
»Aristoteles.«
»Kommt das nicht später dran?«
»Kann sein. Aber der Lehrer hat da seine eigenen Vorstellungen.«
Wir reden eine gefühlte Ewigkeit über die Unterschiede zwischen Aristoteles und seinem Lehrer Platon.
Das Klingeln der Haustür unterbricht uns.
»Ich gehe«, sage ich und stehe auf.
Es ist Marta, die sich unserer philosophischen Unterhaltung anschließt. Wir sitzen in der Küche, und während ich sie beobachte, fällt mir der Abend wieder ein, an dem ich sie von der Party abgeholt habe, als sie nicht mehr allein nach Hause konnte.
Nachdem Giacomo mit ihr Schluss gemacht hatte, hat sie eine ganz schlimme Zeit durchlebt, so dass ich schon fürchtete, sie als Freundin zu verlieren. Sie war total verändert, sie redete mit niemandem mehr und traf sich mit so fiesen Typen. Es kommt mir vor, als wäre das gestern gewesen. Wie ich sie mit Marco von dieser Party geholt habe und sie total betrunken auf dem Boden gelegen hat. Wie ich in die Wohnung kam, als mein Vater sie auf dem Arm trug, und ich den Blick von meiner Mutter sah und dachte, dass sie mir nie im Leben verzeihen würde, dass ich mitten in der Nacht die Wohnung verlassen hatte, um Marta von sonst woher abzuholen. Offensichtlich haben wir nicht viel Vertrauen in unsere Eltern, wir denken immer, dass sie sofort schimpfen und uns gleich bestrafen. Aber meine Mutter hat völlig anders reagiert und mich komplett überrascht. Und so wie sie meine Freundin jetzt anschaut und lacht, weiß ich, dass sie auch Marta verziehen hat.
»Okay, Mädels, es ist spät, ich muss los. Ich komm sonst zu spät zu meiner Yoga-Stunde.«
»Wann kommst du wieder?«, frage ich.
»In eineinhalb Stunden. Musst du weg?«
»Vielleicht«, sagte ich und lächele.
»Der Schwarzhaarige mit den Katzenaugen?«, fragt sie und grinst.
»Mama!«
»Was hab ich denn Schlimmes gesagt? Nur, dass er ein hübscher Junge ist. Was meinst du, Marta?«
Meine Freundin lacht.
»Sie haben vollkommen recht, Signora. Schade, dass Vale zuerst da war, sonst hätte ich ihn mir geschnappt.«
»Na gut, ich hab verstanden, ich geh dann mal in mein Zimmer«, sage ich und tue beleidigt.
Eine Stunde später sitzen wir vor dem Computer und chatten mit Sara und Giò. Dann muss Giò weg, und ich unterhalte mich wieder mit Marta.
»Findest du es nicht sonderbar, dass weder Marco noch Mirko auf meine SMS von heute Morgen geantwortet haben?«
»Auf die, in der du beiden gesagt hast, dass du von ihnen geträumt hast?«, fragt mich Marta.
»Genau.«
»Keine Ahnung. Marco hatte heute Wasserballtraining. Nächste Woche findet ein wichtiges Turnier statt. Und Mirko war heute gar nicht in der Schule.«
»Echt? Und das sagst du mir jetzt erst?« Ich springe auf und greife nach dem Handy.
Ich wähle seine Nummer. Er meldet sich mit belegter, weit entfernter Stimme.
»Mirko, ich bin’s. Geht’s dir gut?«
»Ja, warum? Ich bin vor der Glotze eingeschlafen. Außerdem sollte ich das viel eher dich fragen.«
»Wieso?«
»Warum warst du heute nicht in der Schule? Ich habe versucht, dich in der Pause anzurufen, aber du warst nicht zu erreichen.«
Ich drehe mich empört zu Marta, die sich vor Lachen kringelt. Sie und ihre blöden Scherze!
»Ehrlich gesagt, habe ich deinen Anruf nicht bekommen. Merkwürdig. Hast du denn meine SMS bekommen?«
»Nein, welche SMS?«
O mein Gott! Wem habe ich die SMS geschickt? Fehlt nur noch, dass Marco sie auch nicht bekommen hat.
»Vale, bist du noch dran?«, fragt Mirko.
»Ja, ich bin da. Macht nichts, war nicht wichtig.«
»Gehen wir später ins Kino?«
»Okay, ich warte hier auf dich. Aber frühestens in einer Stunde, ich kann erst weg, wenn meine Mutter zurück ist.«
Ich beende das Gespräch und setze mich auf den Boden.
»Marta, ich hab die SMS an irgendjemand anderen geschickt. Jetzt ist auch klar, warum keiner von den beiden geantwortet hat.«
»Vale, solche Klopper kriegst aber auch nur du hin. Vielleicht denkt jetzt jemand, dass du ihn anmachen willst. Haha, das ist zu komisch!«
Ich schmeiße ein Kissen nach ihr. Gott, was bin ich für eine Null, ich kann nicht mal eine SMS an die richtigen Leute schicken. Das hat mir grad noch gefehlt.
»Komm schon, Vale, mach nicht so ein Gesicht. Du hast ja schließlich nicht ›Ich liebe dich‹ geschrieben … Vielleicht ist es auch besser so. Das Schicksal wollte dir helfen, dein Leben nicht noch komplizierter zu machen.«
Sie hat recht: Heute Morgen war ich wirklich zu schnell. Manche Dinge lässt man einfach besser so, wie sie sind, denn im Grunde war es ja nur ein Traum. Ich entspanne mich und frage Marta nach den Unterrichtsstunden von heute Morgen und was wir als Hausaufgaben aufhaben. Besonders viel habe ich nicht verpasst, die Biolehrerin hat eine Forschungsarbeit über die Struktur der Zelle aufgegeben. Die machen wir natürlich zusammen.
Dann erzählt mir Marta, dass sie sich für einen Tanzkurs anmelden will, der ihr empfohlen wurde. Er findet in der Sporthalle gleich hinter Mirkos Haus statt. Der Lehrer ist ein Amerikaner, der von der School of American Ballet in New York kommt. Sie ist so begeistert davon, dass ich mich zu einer Probestunde überreden lasse. Ich bin zwar mit den Theaterstunden schon ziemlich beschäftigt, aber Tanzen ist so schön … Und außerdem wäre ich dann ganz nah bei Mirko und hätte nach der Stunde eine gute Ausrede, ihn zu besuchen. Wer weiß, vielleicht könnte er ja auch mitmachen. Doch noch während ich das denke, merke ich, dass diese Idee völlig hirnrissig ist. Mirko und Tanzen, das passt so gar nicht zusammen. Wieso mögen Jungs eigentlich immer nur Fußball? Das ist doch so was von langweilig … Marco mag immerhin Wasserball und Skifahren. Mirko ist an Sport scheinbar nur wenig interessiert. Nur beim Snowboardfahren habe ich ihn mal begeistert gesehen, das war, als wir mit Giorgio und seinem Freund in den Bergen waren. Mirko redet nicht mal vom Fußball, so wie die anderen in unserer Klasse. Dafür malt er gerne und spielt Klavier oder Gitarre. Ich muss schon wieder an den Traum von vergangener Nacht denken, als er gesungen hat. Das war alles so echt: Er, seine Worte, meine Gedanken. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich ihn in einen Fiesling verwandelt habe. Wenn ich genau darüber nachdenke, wollte er mich nur zu seiner Braut machen, um für immer mit mir zusammenzuleben. Wie bei Bella und Edward in Twilight.
»Erde an Vale! He, an was denkst du grad? Du siehst aus …« Marta reißt mich aus meinen Gedanken. Sie sitzt mit Giulia, die wieder wach und ganz aufgedreht ist, auf dem Fußboden.
»Ich dachte an gestern Nacht.«
»Lass es sein, das war nur ein Traum, ein schlimmer Traum.«
»Du hast ja recht. Übrigens, was Mirkos Einladung in sein Geheimversteck angeht, ich hab meine Meinung geändert. Ich will diesen Samstag da hin. Nur weil ich geträumt habe, dass es schlimm endet, muss es ja in Wirklichkeit nicht auch so sein, oder? Außerdem glaube ich nicht an prophetische Träume.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung.«
»Gut. Wie ist es? Kommst du mit uns ins Kino?«, frage ich.
Sie sieht mich kaum an, während sie mit Giulia weiterspielt.
»Und was soll ich mit euch beiden machen? Nein, danke. Vielleicht rufe ich Sara an und frag sie, ob sie Lust auf einen Spaziergang hat. Ach, übrigens, was ist eigentlich aus Giorgio geworden?«
Seit Giorgio mir gestanden hat, dass er schwul ist, sind wir dicke Freunde geworden. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, er weiß alles über mich, die Geschichte mit Mirko und meine Liebe zu Marco. Und er erzählt mir seine Geschichten, von seinen Lovern und von seinen Ängsten. Als ich ihn damals im Theater kennengelernt habe, hätte ich nie gedacht, dass ich so einen besonderen Menschen treffen könnte. Er ist sensibel, lustig und tiefgründig. Manchmal telefonieren wir den ganzen Nachmittag lang, so lang, dass Mirko immer ganz eifersüchtig wird. Er hat das mit unserer Freundschaft noch nicht so richtig begriffen. Er meint ja, dass meine Freundschaft mit Marta schon was Krankhaftes hat, weil wir nie einen Schritt ohne die andere tun. Meine Freundschaft mit Giorgio muss ihm daher noch viel merkwürdiger vorkommen. Das kapiert er einfach nicht, weil er eben nicht so viele Freunde hat. Und die wenigen, die er hat, stehen ihm nicht so nah. Er ist halt ein Einzelgänger, aber er gefällt mir und fasziniert mich ziemlich. Dieser schöne und geheimnisvolle Typ …
»Giorgio steckt mitten in der Vorbereitung auf eine Prüfung. Hab ich dir erzählt, dass er letzten Samstag einen Typen in einem Club kennengelernt hat?«
»Nein, echt? Krass! Was ist das für einer?«
»So ein Hübsch-Hässlicher.«
Marta lacht los.
»Was soll das wieder heißen?«
»Das weiß nur Giorgio. Scheinbar ist er vom Äußerlichen her gesehen eher hässlich, aber für Giorgio ist er eben hübsch. Schwarze Haare, dunkle Augen, mittelgroß, muskulös. Du wirst es nicht glauben, aber einen Tag, nachdem sie sich kennengelernt haben, war Giorgio schon ganz verrückt nach ihm. Kaum hatte ich ihn am Telefon, war mir klar, dass er mir etwas total Prickelndes erzählen wollte.«
»Willst du damit sagen, dass sie schon am selben Abend im Bett waren, an dem sie sich kennengelernt haben?«
Ich nicke, und Marta schlägt die Hand vor den Mund.
»Giorgio verliert aber auch echt keine Zeit!«
Ich lache über ihr entsetztes Gesicht.
»Er meinte, dass es für sie nichts Besonderes ist, schon am selben Abend Sex zu haben. Und wenn man drüber nachdenkt, ist das durchaus verständlich. Sagen wir nicht ständig, dass die Jungs uns immer nur ins Bett kriegen wollen? Und jetzt stell dir mal zwei Köpfe vor, die auf genau dieselbe Art ticken: Warum sollten die warten?«
Meine Logik bringt sie zum Lachen.
»Zugegeben, da ist was dran. Und wie ist es ausgegangen?«
»Scheinbar ist der Typ sehr phantasievoll«, erzähle ich und zwinkere Marta zu.
»So kommst du mir nicht davon! Ich will alle Einzelheiten wissen, ich weiß doch, dass Giorgio ausführliche Beschreibungen liebt.«
Ich lasse mich aufs Sofa fallen, und während Giulia, die von all dem hier nichts versteht, mit bunten Pastellfarben große Blumen malt, winke ich Marta zu mir und erzähle ihr leise von der Liebes-Performance der Jungs, so dass sie ganz rot wird. Das sind mal echte Männergeschichten!
»Hm, du riechst gut«, flüstert Mirko, wobei er sein Gesicht in meinen Haaren vergräbt. Wie im Traum, als er mir seine Zähne in den Hals geschlagen hat.
Ich rücke etwas ab und sehe ihm in die Augen. In Beziehungen muss man sich immer alles sagen, oder ist es in Ordnung auch mal Dinge für sich zu behalten?
»Hast du Geheimnisse?«, frage ich ihn geradeheraus.
»Wie meinst du das?«
»Gibt es Sachen, die du mir nicht erzählst oder die ich nicht wissen sollte?«
Seine grünen Augen werden ein winziges bisschen schmaler. Das Thema gefällt ihm offensichtlich nicht.
»Hast du mir was zu sagen?«, fragt er misstrauisch.
»Nein, ich mein das nur so allgemein.«
Er sieht mich an, ohne zu antworten. Die Stille ist total unangenehm, und ich rutsche hin und her. Mirko mustert mich weiter, es scheint ihm nicht im Geringsten peinlich zu sein.
»Was willst du wissen?«, sagt er schließlich.
»Nichts Besonderes«, antworte ich, weil ich gerade nicht weiß, was ich ihn eigentlich fragen könnte. Nur eine Sache würde mich interessieren.
Vielleicht liegt es an seinem fast dunklen Zimmer oder daran, dass wir allein sind, oder einfach daran, dass er da ist, dass diese merkwürdigen Gefühle in mir hochsteigen. Ich kann es gar nicht so genau sagen, aber ich nehme allen Mut zusammen und überwinde den Abstand, der zwischen uns liegt.
»Eigentlich will ich dich besser kennenlernen und mehr über dich wissen«, sage ich und küsse ihn auf die weichen Lippen.
Er reißt seine Augen völlig übertrieben auf, und ich lächele zufrieden.
»Was grinst du so? An was denkst du?«
»Hab ich dir schon mal gesagt, dass deine Augen mich an einen großen Tiger erinnern?«
Er lächelt ziemlich scheinheilig, während ich mich in seinem Netz verheddere.
»Hältst du mich für gefährlich?«
»Kommt drauf an, was du unter gefährlich verstehst. In gewisser Weise könntest du das sein. Wenn ich mit dir zusammen bin, begreif ich gar nichts mehr. Mein Mund wird ganz trocken, ich kann gar nicht mehr richtig atmen, und wenn du mich berührst, fang ich an zu zittern. Was meinst du, muss ich mir Sorgen machen?«
Er umarmt mich fester und zieht mich aufs Bett.
»Nein, im Gegenteil, du musst diese Symptome pflegen.«
»Also bin ich krank, Herr Doktor?«, frage ich.
»Es sieht nicht so aus, doch bevor ich ein Diagnose stellen kann, muss ich Sie genauer untersuchen, Fräulein.«
Ich lache, obwohl ich erschaudere.
»Meinen Sie?«
Er murmelt irgendetwas und steckt den Kopf unter mein T-Shirt. Ich keuche mit geschlossenen Augen und genieße seine Küsse auf meinem Bauch. Als Mirko merkt, dass ich mich nicht wehre, öffnet er meine Jeans und zieht sie mir herunter. Dann entfernt er sich von mir und zieht sich seine Hose aus.
»Herr Doktor, was tun Sie da? Das ist aber nicht professionell«, schimpfe ich mit einem Lächeln.
»Aber nein, mein Fräulein, seien Sie unbesorgt, das ist eine innovative Untersuchungsmethode, die man mir im vergangenen Monat auf dem Kongress in Chicago gezeigt hat. Scheinbar fühlen sich die Patienten viel wohler, wenn sich auch der Arzt auszieht.«
Seine Phantasie ist echt großartig. Unglaublich, was sich Jungs alles so ausdenken, um ans Ziel zu kommen.
»Interessant. Und wie waren die Ergebnisse?«
»Total überraschend. Die Patienten zeigten nach so einer Behandlung keine Symptome von Unwohlsein mehr«, antwortet er und legt sich wieder auf mich.
»Ich hab verstanden. Zwischen eins und zehn der Gefährlichkeitsskala liegst du bei hundert!«
Seine Küsse überwältigen mich. Er ist so zärtlich, dass ich noch ganz benommen bin, als sein Handy klingelt und wir hochschrecken.
»Hey Eddie«, meldet sich Mirko. Danach kann ich ihm nicht mehr folgen. Denn obwohl ich Englisch kann, spricht er viel zu schnell für mich. Ich verstehe nur einzelne Wörter wie »really?« oder »oh shit!«. Ich bleibe auf dem Bett liegen, wo er mich weiter streichelt. Nach fünf Minuten merke ich, dass das ein längeres Telefonat wird. Ich stehe auf und ziehe mich an, obwohl Mirko ganz traurig guckt. Aber offensichtlich ist er doch nicht so erregt, denke ich etwas enttäuscht.
Er versucht, mich an sich zu ziehen, aber ich winde mich aus seinem Arm und gehe in die Küche. Mit zwei Gläsern und einer Tüte Saft kehre ich zurück. Jetzt scheint Mirko mich völlig vergessen zu haben, und am liebsten würde ich gehen, ohne mich zu verabschieden. Aber ich will nicht die Beleidigte spielen, sonst denkt er womöglich noch, dass ich eine blöde Zicke bin. Er steht vor dem Fenster und sieht hinaus. Mittlerweile hat auch er sich wieder angezogen. Als er lacht, werde ich eifersüchtig auf den Teil seines Lebens, den ich gar nicht kenne. Sein Rücken ist so gerade aufgerichtet, dass ich es nicht wage, zu ihm zu gehen. Irgendetwas bewegt ihn. Mirko streicht sich durch die Haare, dann schlägt er mit der flachen Hand gegen die Wand. Unwillkürlich kreische ich auf und mache einen Schritt zurück. Da merkt er, dass ich noch da bin, und lächelt mir zu. Verunsichert lächele ich zurück und gehe langsam zu ihm.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, flüstert er mir ins Ohr.
»Wer war das?«, frage ich leise, nachdem er das Gespräch beendet hat.
»Ein Freund, der in Prag lebt. Er ist der Einzige, mit dem ich öfter telefoniere.«
»Ist was passiert?«
»Eine ganz schlimme Geschichte. Er ist mit einem drogenabhängigen Mädchen zusammen. Jetzt hat er mir gerade die neuesten Katastrophen erzählt.«
»Ich hör dich gern auf Englisch reden.«
»Magst du mich dann mehr?«, fragt er und küsst mich.
Meine Worte sind nicht zu verstehen.
»An Weihnachten will er mich besuchen kommen. Aber ich weiß noch nicht, ob ich ihn dir dann vorstelle. Die Mädchen sind nämlich alle ganz verrückt nach ihm«, sagt er, ohne sich von mir zu lösen.
»Ach wirklich? Du könntest ihn Marta vorstellen, was meinst du?«
»Er mag alle Mädchen, er ist nicht besonders wählerisch.«
»Na, dann lieber nicht. Solche Typen haben wir zuhauf hier in Italien. Sag mal, warum hast du gegen die Wand geschlagen?«
Er erzählt mir, dass dieses Mädchen sich mit einer absurden Begründung Geld von Eddie geliehen hat und dann verschwunden ist. Tja, besonders schlau ist er also auch nicht. Das scheint der klassische Typ zu sein, der sich von den Mädchen um die Finger wickeln lässt. Vielleicht ist Federica die Richtige für ihn, denke ich hinterhältig, während ich einen großen Schluck Saft trinke.
Ich kann das Glas gar nicht leeren, weil Mikro mich schon wieder aufs Bett schiebt. Er zieht mir das T-Shirt aus, küsst mich leidenschaftlich und drückt mich fest an sich. Ich rolle auf ihn und ziehe ihm Hemd und Hose aus. Zärtlich küsse ich ihn. Weil ich aber immer noch ein bisschen beleidigt bin, wie er mich vorher missachtet hat, schnappe ich mir wenig später meine Sachen, flüchte und zeige ihm eine lange Nase. Mirko ist eine Sekunde lang verwirrt, dann gibt er sich geschlagen.
Dienstagnachmittag: Ich gehe mit den anderen zum Tanzen. Sara zu überreden ist nicht einfach gewesen, aber am Ende haben wir gewonnen. Sie ist in letzter Zeit immer ganz depri drauf, die Dinge zwischen ihr und Andrea laufen nicht so gut. Auch wenn sie nicht darüber reden will, ihre dunklen Augenringe zeugen von Nächten, die sie eher über Büchern verbracht oder in denen sie ihre Lieblingsfilme gesehen hat. Matteo hat erzählt, dass sie im Unterricht nie aufpasst, und wenn sie nicht der Typ wäre, der nicht besonders viel lernen muss, dann würde das ganz schön schiefgehen. Daher haben Marta und ich beschlossen, sie mal auf andere Gedanken zu bringen. Und weil sie Giorgio nett findet, haben wir ihn in den Plan mit eingeweiht.
»Wann ist deine nächste Prüfung?«, fragt Marta ihn auf dem Weg zum Tanzstudio.
»Ich will es im Januar versuchen«, sagt er.
»Da hast du ja noch Zeit. Warum regst du dich so auf?«
»Das ist eine schwierige Prüfung. Es geht um englische Literatur aus dem 19. und 20. Jahrhundert.«
»Hört sich doch interessant an. Warum hast du dich für Literatur an der Uni eingeschrieben?«, fragt Sara.
»Mein Italienischlehrer an der Schule hat mich mit seiner Begeisterung für Literatur angesteckt. Also war das für mich nach dem Abi ganz klar.«
»Und was liest du so am liebsten?«
»Die Pickwickier von Charles Dickens sind echt der Hammer. Aber am liebsten mag ich russische Literatur. Die ist so völlig anders als unsere, vielleicht deshalb. Ihr habt bestimmt schon von Michail Bulgakow gehört, oder?«
Wir sehen uns fragend an.
»Das ist der Autor von Der Meister und Margarita. Mädels, jetzt schaut nicht so.«
Wir kichern und schütteln die Köpfe.
»In dem Roman geht es um den Besuch des Teufels in der Sowjetunion in den dreißiger Jahren, als dort noch der Atheismus herrschte.«
Wir reißen die Augen auf. Wovon redet er bitte?
»Okay, schon verstanden. Ihr habt überhaupt keine Ahnung. Das hört sich vielleicht nicht besonders interessant an, ist es aber total. Wenn ihr das jemals lest, werdet ihr es nicht bereuen. Schon beim Motto begreift man die Genialität des Werkes. Es stammt aus Goethes Faust.«
Ich sehe meine beiden Freundinnen erstaunt an: Noch nie haben wir so viel Feuereifer und Leidenschaft für ein Unithema erlebt. Aber vielleicht muss man sich genau so ein Thema suchen, wenn man sich für die Uni entscheidet.
»Und wie lautet es?«, frage ich vorsichtig.
»›Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft‹«, rezitiert Giorgio.
Von uns sagt keine ein Wort, aber er scheint unser Schweigen gar nicht zu bemerken.
»Aber ihr habt doch bestimmt was von Alexander Puschkin, Leo Tolstoi oder Fjodor Dostojewski gehört?«
Wir starren ihn weiter stumm an. Dann rettet uns Sara. Zum Glück.
»Du musst uns verzeihen, Giorgio, in dem Fach kennen wir uns leider überhaupt nicht aus. Aber das hört sich alles superinteressant an. Hast du einen Lesetipp für mich?«
»Der Idiot von Dostojewski. Aber zuerst musst du was über Russland in der Zeit von damals lesen. Wir machen das so, ich leih dir was.«
Sara nickt ernsthaft, während Marta und ich uns belustigte Blicke zuwerfen.
»Und was willst du nach der Uni machen?«, mischt sich Marta ein und versucht, das Thema zu wechseln. Unser Unwissen scheint Giorgio nicht besonders toll zu finden.
»Kann ich noch nicht sagen. Im Januar bewerbe ich mich für ein Erasmus-Stipendium fürs Ausland. Dann überlege ich weiter. Ich bin ja erst ganz am Anfang«, erklärt er und hebt die Arme.
Wäre meine Mutter in diesem Moment dagewesen, wäre sie völlig ausgetickt und hätte stundenlang mit ihm weitergeredet. Sie ist verrückt nach klassischer Literatur und findet nie jemanden, mit dem sie darüber quatschen kann. Ich muss Giorgio in den nächsten Tagen mal zu uns einladen, aber nur, wenn mein Vater nicht da ist. Denn der bekommt Ausschlag, wenn er nur die Worte klassische Literatur hört!
Isidor, der Tanzlehrer, stellt sich als ein menschliches Wunder heraus. Er ist klein, sehnig und besteht nur aus Muskeln. Er ist schwarz und schön. Er trägt eine Leggins und ein Unterhemd, das seine dünnen, aber wohlgeformten Arme frei lässt. Als Giorgio ihn sieht, erzittert er. Die dichten Haare sind kurzgeschnitten, nur ein paar extralange Locken hat er stehengelassen. Beim Hereinkommen grüßt er mit einem starken amerikanischen Akzent. Der hell erleuchtete, große Tanzsaal ist rappelvoll. Wir suchen uns einen Platz, wo wir vier zusammenbleiben können. Es ist ein gemischter Kurs, auch wenn man die Jungs an einer Hand abzählen kann. Während ich mich umsehe, überkommt mich ein leichter Anflug von Scham wegen meiner nicht besonders stylischen Klamotten: Ich trage eine Jogginghose und irgendein T-Shirt, das mir in die Finger gekommen ist. Nun muss ich feststellen, dass es vorne Flecken und an einem Ärmel ein Loch hat. Doch der Anblick meiner Freundinnen beruhigt mich. Wir sehen echt uncool aus.
Die Stunde scheint lustig zu werden, eine Mischung aus funky Aerobic und irgendetwas Salsa-Ähnlichem. Aber schon nach den ersten Schritten ahne ich, dass es hart wird. Während die anderen sich synchron bewegen, weil sie jeden Schritt schon auswendig können, hampeln wir unkoordiniert herum, so dass Sara und ich ein paarmal mit den Köpfen zusammenstoßen. Die ganze Stunde über können wir überhaupt nicht ernst bleiben, weil Giorgio, der noch tollpatschiger ist als wir, ständig Witze über den Trainer, die Musik und unser Gehopse macht.
Aufgedreht und gut gelaunt stehen wir später vor der Tür und haben keine Lust, den Tag schon so früh enden zu lassen. Also treffen wir uns noch mit Filippo und Mirko. Den restlichen Nachmittag verbringen wir mit Giorgios Witzen und Filippos Berichten über die neue Freundin von Giòs Vater.
»Also ist das der eigentliche Grund, warum sie nach Florenz gezogen sind«, sagt Sara.
»Meinst du, dass sie schon vorher zusammen waren?«, fragt Marta, die für dieses Thema ganz feine Antennen hat.
Sara und ich werfen uns einen kurzen Blick zu. Auch wenn ihre Leidenschaft für Giacomo scheinbar vorbei ist und sie nicht mehr über ihn redet, wissen wir, dass Marta immer noch glaubt, dass er sie wegen einer anderen verlassen hat, mit der er sich schon traf, als sie noch zusammen waren.
»Hätte das angefangen, als ihre Eltern noch zusammen waren, hätte Giò uns davon erzählt.«
Marta nickt, scheint aber nicht besonders überzeugt davon.
»Warum besuchen wir sie nicht am nächsten Wochenende in Florenz?«, schlage ich vor. »Jungs, würdet ihr mitkommen?«
Alle sind von der Idee begeistert.
»Hättest du Lust? Wir könnten zwei ganze Tage zusammen verbringen«, flüstere ich Mirko ins Ohr.
»Auch die Nächte?«, fragt er.
Ich ziehe ihn an den Haaren.
»Was ist denn?«
»Du bist wie alle anderen Typen, du denkst nur an das eine!«
»Das stimmt nicht. Und wenn schon, was ist denn so schlimm daran, dass ich dich begehre?«, sagt er und nimmt mich in den Arm.
Ich kitzele ihn und winde mich heraus.
»Ist das ein Ja?«, frage ich ihn.
»Okay, aber wir schlafen alle am selben Ort.«
»Träum weiter. Wir Mädels können bestimmt bei Giò pennen, aber ihr müsst euch was anderes suchen.«
»Immer diese Privilegierten.«
»Wenn das euer Freund wäre, würde es andersrum genauso sein, oder?«
Mirko zwickt mich.
»Hör auf, Mirko, reiß dich zusammen«, sage ich leise.
»Ich könnte meine Cousins fragen. Die wohnen auch in Florenz, vielleicht können wir bei ihnen schlafen«, sagt Giorgio.
Zufrieden über diese Idee verabschieden wir uns, und Mirko bietet sich an, mich nach Hause zu bringen.
»Schade ist es aber schon. Diesen Samstag wollte ich dir doch mein Geheimversteck zeigen.«
»Können wir das nicht an einem anderen Tag machen?«