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Rudolf Lorenzen

ALLES ANDERE
ALS EIN HELD

Roman


Impressum und Copyright

Erste Auflage dieser Neuausgabe

Verbrecher Verlag Berlin 2014

www.verbrecherverlag.de


© 2007/2014 Verbrecher Verlag

Satz und Ebookerstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-943167-45-0

ISBN Epub: 9783943167870

ISBN Mobipocket: 9783943167887


Der Verlag dankt Malte G. Schmidt und Adrian Breda.

Um halb acht Uhr war Robert Mohwinkel von einem Jungen bestellt worden, mit dem er befreundet war. Er sollte drei Häuser entfernt von dem Haus warten, in dem sein Freund, Friedrich Maaß, wohnte. Friedrichs Vater besaß das Baugeschäft in der Hemelinger Straße, und Friedrich hatte jetzt zu Ostern das neue Rad bekommen, mit Halbballon und englischem Lenker zum Verstellen. Robert empfand deshalb keinen Neid, obgleich er den Eindruck hatte, daß sein Freund etwas Neid bei ihm gern gesehen hätte.

Wegen dieses neuen Rades hatte Friedrich Maaß bestimmt, daß Robert und er gleich nach Os­tern vom ers­ten Tage an mit dem Rad zur Schule fahren würden. Roberts Eltern waren dagegen, denn die beiden Jungen waren erst zehn Jahre alt, und der neue Schulweg führte über die Kreuzung Sielwall/Ostertorsteinweg, die sehr be­lebt war. Os­tern lag auch in diesem Jahr sehr früh, und an dem ersten Schultag war es morgens um sieben noch kalt. Sie hatten Robert verboten, mit dem Rad zu fahren.

Es war nicht das erstemal, daß Robert Mohwinkel zwischen zwei Befehlen stand, aber es war das erstemal, daß er sich entschieden hatte, den seiner Eltern nicht zu befolgen. Er hatte heimlich das Rad aus dem Keller getragen, und als seine Mutter vor die Tür trat, um ihm nachzuwinken, war es schon zu spät.

Am Osterdeich besaß die Familie Maaß ein Haus, das Friedrich Maaß »die Villa« nannte. »Du wartest aber«, hatte Friedrich gesagt, »nicht vor dem Haus, sondern drei Häuser weiter. Ich komme dann schon.« Bereits acht Minuten vor der Zeit hatte Robert vor dem verabredeten Haus gewartet. Er hätte niemals gewagt, nur pünktlich zu sein. Dennoch hatte er das sichere Gefühl, daß die Unterordnung unter seinen Freund, die ihm sowohl von seinen Lehrern als auch von seinen Eltern vorgeworfen wurde, in einigen Fällen zu weit ging. Darum beschloß Robert an diesem Morgen, mit dem neuen Schuljahr ein neues Leben zu beginnen, in dem sein Freund Friedrich Maaß keine Macht mehr über ihn besäße. »Pünktlich um halb fahre ich«, sagte er laut zu sich, »auf diesen Idioten warte ich keine Minute.« Das Wort »Idiot« wiederholte er noch viele Male, und er versetzte sich dabei in einen Rausch.

Leider fand Robert Mohwinkel keine Gelegenheit, an diesem Morgen sein neues Leben zu beginnen, denn sein Freund war pünktlich um halb acht mit dem neuen Rad da. Friedrich trug Hosen, die bis über das Knie reichten. Sein Hinterkopf war geschoren und das restliche Büschel schwarzer Haare vorn zu einem winzigen Scheitel auseinandergekämmt. »Du hast ja noch lange Strümpfe an«, sagte er zu Robert, »du bist verpimpelt.« Robert hätte gern geantwortet, daß Friedrichs Hose, die unterhalb der Knie fast mit den Kniestrümpfen zusammenstieß, auch verpimpelt aussah. Aber er sagte nichts, denn diese Antwort fiel ihm zu spät ein.

Friedrich Maaß bestieg sein Rad. »Fährst du voraus?« fragte Robert ihn, obgleich er wußte, daß es eine andere Möglichkeit gar nicht gab. Sein Freund antwortete darauf nicht, sondern fuhr los. Robert, hinter ihm, hatte Mühe mitzukommen, denn Friedrichs neues Rad hatte eine größere Übersetzung, die er ausnutzte, um Robert zu beweisen, daß er der Schnellere war. »Ein Scheißrad«, sagte Robert halblaut, »ein Scheißrad!«

Die beiden Jungen waren viel zu früh vor der Schule. Die Portale waren noch verschlossen, und sie stellten sich mit ihren Rädern vor das mittlere Portal, das in den Fahrradkeller führte. Sie trugen beide die Schülermützen der Sexta aus schwarzem Samt. Die Mützen waren noch steif und neu, sie hatten sie heute zum erstenmal auf, denn dies war der ers­te Schultag in dem Gymnasium, in dem Robert und Friedrich von ihren Eltern angemeldet worden waren, weil sie in der Volksschule zu den bes­ten Schülern gehört hatten. Robert hatte auf dem fünften Klassenplatz, Friedrich Maaß auf dem neunten gesessen.

Der Platz vor der Schule füllte sich. Die Jungen trugen Schülermützen in allen Klassenfarben. »Guck mal, da sind die Neuen«, sagten sie, und alle lachten über Friedrich und Robert und über ihre steifen, schwarzen Sextanermützen.

»Wir stecken unsere Mützen in die Mappe«, sagte Friedrich.

Dem stimmte Robert zu, aber er behielt trotzdem seine Mütze auf, denn in diesem Augenblick dachte er wieder einmal daran, daß er nicht alles tun müsse, was sein Freund ihm befahl.

»Seht euch den blöden Heini an«, rief ein Quartaner, und in diesem Augenblick fand Friedrich Maaß, daß es nun wohl besser wäre, von Robert abzurücken und sich auf die andere Seite zu schlagen. Durch eine Heldentat wollte er sich die Anerkennung der anderen Jungen erringen. Friedrich war von Natur ängstlich. Er fürchtete sich vor den anderen, und um seine Furcht zu überwinden, suchte er sich in ihren Augen hervorzutun. Er riß Robert die Mütze vom Kopf und warf sie dem Quartaner zu. Leider hatte seine Tat nicht den gewünschten Erfolg, denn der Quartaner gab Robert die Mütze zurück. Robert steckte sie in die Mappe, und obgleich er seinen Freund in diesem Augenblick haßte, mußte er zugeben, daß Friedrichs Anordnung, die Mützen gleich zu verstecken, doch richtig gewesen war.

Zehn Minuten vor acht schloß der Hausmeister die Türen auf. Die Jungen, die mit Rädern vor dem mittleren Portal standen, drängten, und Robert und Friedrich hatten nun nichts davon, daß sie so früh gekommen waren. Im Keller stellte sich außerdem heraus, daß die neuen Sextaner noch keine Plätze für ihre Räder hatten. Es war verboten, Räder außerhalb der Fahrradständer abzustellen, und Robert zählte drei Schilder, auf denen dies Verbot geschrieben stand. So mußten sie warten, bis der Hausmeister ihnen Plätze zuwies. Friedrich und Robert waren die letzten; sie bekamen ihre Plätze erst, als es schon klingelte. Da Friedrich der Schnellere war, sein Fahrrad auch vor Robert einstellte und ihn dann verließ, kam Robert als letzter oben in die Halle, wo die neuen Sextaner schon angetreten waren. »Na, auch endlich ausgeschlafen?« sagte der Lehrer zu ihm, der die Namen verlas, und die ganze Klasse lachte. Aus diesem Tadel schloß Robert Mohwinkel, daß die Gewissenhaftigkeit, mit der er sich den ganzen Morgen auf den Besuch der neuen Schule vorbereitet hatte, noch keinesfalls genügte, um hier zu bestehen. Trotz seiner großen Beflissenheit war er sofort in Konflikte geraten. Er ärgerte sich nicht wegen des unberechtigten Tadels, sondern beschloß, seine Gewissenhaftigkeit in Zukunft noch zu erhöhen.

Er saß steif auf seinem Platz, die Augen starr auf den Lehrer gerichtet. Sein schmales Gesicht mit dem welligen blonden Haar wäre sehr hübsch gewesen, wenn seine blauen Augen nicht beinahe ständig den Ausdruck eines leichten, wässerigen Überlaufens gehabt hätten und wenn er sich hätte angewöhnen können, seine dicken, rosafarbenen Lippen zu schließen. Seine Mutter bemühte sich vergebens, ihn zum Heben seiner dicken Unterlippe zu erziehen. Außerdem hielt er sich schief, und das unablässige Ermahnen seiner Mutter, sich gerade zu halten, hatte seine Haltung noch immer nicht verbessert. Er, der ein so schönes Baby, ein so bezaubernder, lockenköpfiger kleiner Junge gewesen war, er hatte so sehr verloren, fand sie, daß überhaupt kein Staat mehr mit ihm zu machen war. Robert selbst war aber noch nie darauf gekommen, sich über sein Aussehen Gedanken zu machen. Gehorsam, artiges Verhalten und Ordnung hatten sein bisheriges Leben bestimmt. Seine Widerstände, seine Auflehnung gegen Artigkeit und Ordnung stieß er nur abends unter der Bettdecke in halblauten Worten aus sich heraus, Worten, die seinen rechtschaffenen Eltern äußerstes Entsetzen bereitet hätten.

Das Klassenzimmer, in das die neue Sexta eingewiesen wurde, hatte einen Ausblick auf den Schulhof. Zwar konnten die Schüler während des Unterrichts nicht hinaussehen, denn die Fenster waren hoch genug angebracht. Aber wenn die Kinder aufstanden oder ans Fenster traten, sahen sie auf den Schulhof. Er war an drei Seiten von dem Schulgebäude eingefaßt und an der vierten mit einem hohen, oben zugespitzten Zaun wie mit Palisaden abgeschlossen. An der Seite, wo die Turnhalle war, stand etwas Gras mit ein paar Hundeblumen, und gegenüber, wo sich das Wohnhaus des Direktors an die Schule anschloß, hatte der Biologielehrer einen kleinen Garten mit exotischen Pflanzen angelegt, die aber nicht gediehen, sondern sich nur braun und blattlos auf dem Boden schlängelten.

Das bißchen Grün auf der einen und das bißchen Braun auf der anderen Seite wurden jedoch von der riesigen grauen Kiesfläche des Schulhofes verdrängt. Robert kannte diesen groben grauen Kies. Es war der gleiche, den seine Eltern in dem Geviert hinter ihrem Einfamilienhaus in der Bornholmer Straße hatten.

Sie nannten dieses Geviert von sechs mal sechs Metern den Garten, und Robert konnte sich noch genau erinnern, wie dieser Kies dort hingekommen war. Nachdem sein Vater einige Jahre hintereinander vergeblich versucht hatte, in diesem Geviert Stachelbeersträucher anzupflanzen, worin er aber über die Planung und das Abstecken nicht hinausgelangt war, hatten eines Tages drei Männer einen Lastwagen angefahren und so viel Körbe in den Garten geschleppt, bis die Fläche mit grobem grauem Kies völlig bedeckt war. Roberts Mutter hatte ihn mit einer Harke verteilt und dabei gesagt: »Immer der Lehm an den Schuhen und immer der Dreck in meiner Wohnung, das ist nun vorbei.«

Robert hatte geglaubt, daß sein Vater, als er abends nach Hause kam, sehr enttäuscht über die Veränderung sein müßte, denn er wußte, wie sein Vater an dem Geviert und an seinen Plänen vom Stachelbeerbau gehangen hatte. Herr Mohwinkel hatte aber nur still aus dem Fenster geblickt und nach geraumer Zeit gesagt: »Kies ist sehr praktisch.«

Daran mußte Robert denken, als er die riesige Kiesfläche des Schulhofes sah. Alles war praktisch in dieser Schule. Der Kies, die zu hohen Fenster, die leicht zu übersehenden Gänge, ja sogar die drei Bilder an der Wand des Klassenzimmers. Sie dienten dem Geschichtsunterricht, und das erste Bild zeigte Napoleon, der, umgeben von seinen Soldaten, nach Moskau ritt. Auf dem zweiten Bild sah man das geschlagene französische Heer, das die Beresina überquerte, und auf dem dritten Blücher, umringt von deutschen Soldaten, in der Völkerschlacht bei Leipzig. Unter dem Beresinabild stand: »Mit Mann und Roß und Wagen hat sie der Herr geschlagen.«

Zu Hause erzählte Robert seinen Eltern, daß es in dieser Schule sehr schön sei, aber auch sehr ordentlich und sehr praktisch.

»Du wirst dich noch umgucken«, sagte seine Mutter, »mit der Spielschule ist es nun vorbei. Jetzt beginnt der Ernst des Lebens.«

Trotz seiner guten Arbeiten, trotz seiner Gewissenhaftigkeit und seiner Bescheidenheit errang Robert nicht die Zuneigung seiner Lehrer. Denn Robert Mohwinkel war ängstlich, und es war im Jahre 1933 nicht modern, ängstlich zu sein. Besonders die Schüler des Gymnasiums fühlten sich als Wegbereiter eines neuen Jugendlebens. Für die Knaben handelte es sich nur um eine neue, gerade in Mode stehende Form, Jungen zu sein. Mit Politik hatte sie nichts zu tun. So wußten die Schüler der Unterstufe auch nicht recht, worum es ging, als bei einer Schulfeier Ostern 1933, bei welcher der Direktor der Schule wegen Erreichung der Altersgrenze den Abschied nahm, auch der Musiklehrer, der die Altersgrenze noch keineswegs erreicht hatte, vom Schulrat mit einer, wenn auch kürzeren, Lobrede entlassen wurde.

Diese Feierstunde verlief wie alle anderen Feierstunden des Gymnasiums in einer genau festgelegten Abfolge. Die Klassen traten nach dem ersten Klingelzeichen auf dem Gang in Zweierreihen an. Der Obmann zählte die Schüler und meldete dem beim zweiten Klingelzeichen erscheinenden Klassenlehrer, daß die Klasse vollständig zur Stelle sei. Hintereinander marschierten dann die Schüler unter Führung ihres Klassenlehrers in den obersten Stock, wo sich die Aula befand. Alles ging ohne Kommando vor sich. Und doch schien es Robert eine so festgefügte Ordnung zu sein, daß ein einziger Schritt aus der Reihe die schwerste Strafe nach sich ziehen konnte. Während dieser Gänge in die Aula, aber auch während der Märsche vom Hof in die Klasse und der von der Klasse in die Turnhalle liebte Robert es, sein Spiel zu spielen, das er »Deportation« nannte. Er hielt die Arme vor sich, die Handgelenke übereinandergelegt, heftete seinen Blick starr auf den Nacken des Vordermannes und schlurfte in dessen Fußstapfen. Dabei bildete er sich ein, eine einzige unbedachte Bewegung, wie etwa das Heben des Kopfes oder das Wechseln des Schrittes, würde seine sofortige Erschießung zur Folge haben.

Im obersten Stock mußten alle Klassen warten, denn jede Klasse wurde nun einzeln in die Aula gelassen, während der jeweilige Klassenlehrer am Eingang stand und seine Schüler noch einmal zählte. Dieses Zählen war eine Vorschrift, die seit zwölf Jahren bestand. Damals war es einigen Schülern gelungen, auf dem Wege zur Aula in die Toilette zu entweichen, von wo sie nach einigen Minuten des Wartens ins Freie gelangten. Jetzt, nach zwölf Jahren, bestand diese doppelte Zählordnung noch immer, und sie machte Robert bei seinem Spiel besondere Freude.

In der Aula hatte jede Klasse ihre eigenen Bänke. Es war verboten, andere Bänke zu benutzen, auch wenn die Plätze für die Schüler einiger Klassen nicht ausreichten, während die Schüler der Oberstufen auf halbleeren Bänken saßen. Die Schüler, wenn sie ihre Plätze eingenommen hatten, blickten alle auf das große Ehrenfenster am Kopf der Aula, das den Toten des ersten Weltkrieges geweiht war. Um einen drachentötenden Ritter standen Engel, und dieses Bild wurde umrahmt von den Namen aller gefallenen Lehrer und Schüler mit dem Ort ihres Todes auf kleinen Glastäfelchen. Die Wirrheit des Bildes und die Vielzahl der Namen dienten den Schülern zur Unterhaltung während der langweiligen Feststunden.

Den Schülern gegenüber saßen auf einem Podium die Lehrer in zwei Reihen hintereinander, vorn die Studienräte, hinten die Assessoren und Oberlehrer. Nur die Lehrer, die den Aufsichtsdienst hatten, saßen nicht dort, sondern verteilten sich auf die beiden Seitengänge und blieben dort bis zum Ende der Feier stehen, besonders die Schüler der unteren Klassen beobachtend, damit von dort keine Störung der Feierstunde käme.

Die Lehrer, die auf dem Podium saßen, übten gleichermaßen die Aufsicht über die Schüler aus, wenn auch nicht in so dienstlicher und strenger Form. Die Älteren saßen leicht zurückgelehnt in ihren Ledersesseln und blickten verträumt auf die Orgel am unteren Ende der Aula, auf den Schülerchor davor und das Schülerorchester, das heute zum erstenmal von einem anderen Musiklehrer dirigiert wurde, während der zu entlassende Musiklehrer oben auf dem Podium neben dem Direktor saß und noch nicht wußte, ob der Schulrat in seiner Rede nur Lobendes von ihm erwähnen würde. Der Gedanke, daß man den wahren Grund seiner Entlassung vor den Kindern nennen könnte, war ihm peinlich. Er tröstete sich aber mit dem Gedanken, daß er in jedem Falle nun einer ruhigen Zeit entgegengehe, in der er sich um schmetternde politische Lieder nicht zu kümmern brauchte.

Der neue Musiklehrer war Herr Nückel. Er gefiel den Schülern besser als der alte, denn er war jung und hatte eine muntere Art zu unterrichten. Es wurde fröhlich musiziert und fröhlich gesungen, und das war schöner als der trockene musikgeschichtliche Unterricht von früher. Herr Nückel trug zu einem kleinkarierten grauen Jackett Breecheshosen, die in langschäftigen Stiefeln steckten. Trotzdem fiel das Wort »Nazi« nicht im Zusammenhang mit Herrn Nückel, weil die Schüler, besonders diejenigen der Unterstufe, sich unter einem »Nazi« nichts vorstellen konnten, es sei denn, es handelte sich um einen Mann in brauner Uniform.

Um Friedrichs Befehlen zu entgehen und nicht an mehreren Nachmittagen in der Woche für ihn bereit sein zu müssen, hatte Robert es verstanden, seine Mutter mit seinem Freund zusammenzubringen, damit sie direkt verhandeln konnten. Frau Mohwinkel sagte: »Am Donnerstag kann er zu dir, da habe ich Kränzchen, aber an den anderen Tagen, das wird zuviel, er muß ja auch an seine Schule denken.«

An seine Schule mußte Robert gar nicht in dem Maße denken, wie seine Mutter es hinstellte. Sie verlangte es auch nicht von ihm, denn Robert blieb in den unteren Klassen ein guter Schüler. Sie verlangte nur, daß Robert jeden Tag um halb vier Uhr mit den Schularbeiten fertig war, danach hatte er sich für ihre Pläne bereitzuhalten. Unter dem Vorwand, ihr Sohn sei etwas blaß und brauche viel frische Luft, machte sie jeden Tag einen längeren Spaziergang mit ihm, im Sommer in den Bürgerpark, zur Munte oder zum Kuhhirten, im Herbst und im Winter aber in die Stadt. Jeder dieser Spaziergänge endete in einem Café. Frau Mohwinkel war nämlich sehr allein, und sie hatte nur eine einzige Freundin, die aber nicht in dieser Stadt wohnte.

So lernte Robert Mohwinkel schon in frühen Jahren die Langeweile kennen, die andere unter dem Wort Vergnügungen zusammenfassen. Besonders langweilig waren ihm zwei Konditoreien in der Sögestraße, von denen sie die eine seltener besuchten, weil es dort nur koffeinfreien Kaffee gab, der für Robert wohl sehr gesund, für Frau Mohwinkels Nerven hingegen kein hinreichendes Narkotikum war. Frau Mohwinkel entschloß sich deshalb eher für die alte, aber teure Konditorei Jacobs, wo Robert zwar reichlich Kuchen und eine Tasse Schokolade bekam, aber keine Unterhaltung hatte. Da in den Konditoreien keine Kapelle spielte, Frau Mohwinkels Aufmerksamkeit also keine Beschäftigung fand, benötigte sie ihren Sohn als Gesprächspartner. Daher verbot sie ihm auch, die ausliegenden Hefte des Lesezirkels zu durchblättern. »Das kannst du zu Hause haben«, sagte sie, »deswegen gehe ich nicht mit dir in diese teure Konditorei.«

Da war das Atlantic in der Knochenhauerstraße schon interessanter. Hier gastierten im monatlichen Wechsel größere Kapellen, die aus Berlin oder auch aus dem Ausland kamen. So verband sich bei Robert seit frühester Zeit mit dem Begriff Musik jene Unterhaltung, wie sie beispielsweise Bernhard Etté oder Juan Llossas in den dreißiger Jahren im Atlantic produzierten. Andere musikalische Eindrücke hatte Robert nicht, und auch die Lieder der Schulmusikstunde, vornehmlich aus der Landsknechtszeit, traten hinter diese Art musikalischer Erbauung weit zurück.

Trotzdem langweilte sich Robert auch beim Besuch dieses Kaffeehauses. Einzig die Tatsache, daß seine Mutter im »Atlantic« hinreichend mit der Musik und mit dem Betrachten der anderen Gäste beschäftigt war, verdankte er ihre Erlaubnis, in diesem Lokal Kreuzworträtsel lösen zu dürfen. Er bekam zehn Pfennig und kaufte sich dafür am Zeitungsstand ein Rätselheft. In acht Jahren fortgesetzten Kaffeehausbesuches zwischen seinem achten und sechzehnten Lebensjahr konnte Robert sich einen großen Schatz von allgemein gebräuchlichen, aber auch schwierigen und sogar fremdsprachigen Wörtern aneignen, von denen er sicherer als ihre Bedeutung die Buchstabenzahl kannte. Manchmal sagte seine Mutter aber auch: »Nun hör aber doch mal die schöne Musik. Du könntest ruhig mehr hinhören, wo es doch den teuren Eintritt kos­tet.«

Nach den Kaffeehausbesuchen holten sie Herrn Mohwinkel vom Büro ab. Herr Mohwinkel war Prokurist in der Exportfirma Krume und Sohn, die nach Südamerika exportierte. Jeden Abend pünktlich um halb sieben Uhr verließ er das Büro am Schüsselkorb. Frau Mohwinkel und Robert waren schon fünf Minuten vorher da, damit sie ihn nicht verpaßten. Von ihren Kaffeehausgenüssen erzählte Frau Mohwinkel ihrem Mann nur einmal in jeder Woche. An den anderen Tagen verschwieg sie ihm ihre Besuche und die Höhe des Verzehrs, und auch Robert war angehalten, seinem Vater zu erzählen, daß man nur einen schönen, ausgiebigen Spaziergang gemacht habe. Diese Spaziergänge ohne Einkehr und ohne Verzehr glaubte Herr Mohwinkel seiner Frau nie. Da sie aber mit dem Wirtschaftsgeld auskam und auch ein Taschengeld nie verlangte, vermied er weitere Fragen.

Dagegen stand nicht fest, ob Herr Mohwinkel auch vom monatlichen Besuch seiner Frau und seines Sohnes im Astoria wußte. Das Astoria war ein Kabarett und ein teures Nachtlokal mit mehreren Barräumen. Um aus der Gewohnheit der Hausfrauen, die am Mittwoch und am Donnerstag ihre Kränzchentage hatten, ein Geschäft zu machen, hielt der Inhaber des Astoria auch an diesen beiden Nachmittagen einen Raum seines Lokals offen und zeigte dort ein verkürztes Kabarettprogramm zu ermäßigten Preisen. Diese Besuche im Astoria waren für Robert ein Zeitvertreib, der zu den weniger langweiligen gehörte. Selbst die Pausen zwischen den Kabarettdarbietungen, die nur musikalisch ausgefüllt waren, hatten für ihn einen bestimmten Reiz, da zu diesen Musikstücken getanzt werden durfte. An diesen Mittwochnachmittagen nämlich waren auch immer einige Herren Besucher des Lokals, Beamte vielleicht, die ihren freien Nachmittag hatten, oder Vertreter, die mit ihren Wegen fertig waren. Sie saßen an kleinen Tischen, meist im Hintergrund, und forderten während der musikalischen Einlagen Damen auf, die nicht im größeren Kreise eines Kränzchens da waren, solche, die nicht ganz unzugänglich schienen.

Zwei- oder dreimal wurde auch Frau Mohwinkel, durch die Gegenwart ihres Sohnes nicht hinreichend geschützt, von einem dieser Herren zum Tanzen aufgefordert. Robert beobachtete vom Rande der Tanzfläche bei seiner Mutter, während sie mit dem fremden Herrn tanzte und sich mit ihm unterhielt, eine Heiterkeit, die er sonst kaum an ihr kannte. Ihre große Gestalt im hellen Kleid gewann einen Glanz, den er sonst an ihr nicht wahrnahm. Ihr dunkles Haar, voll und weich in einem Bubikopfschnitt ihr Gesicht umrahmend, stimmte angenehm zusammen mit ihren grauen Augen und dem vollen großen Mund, über dem ein leichter Flaum lag. Dabei hatte ihr Körper etwas Träges, ihre Brust war schlapp, ihre Füße schlurften groß und müde über das Parkett, und Robert wunderte sich, daß dies dieselben Füße waren, die zu Hause stets hurtig umherliefen, auf der Verfolgung von Schmutz und Unordnung.

Mit einem verlegenen Lächeln kehrte sie nach dem Tanz an den Tisch und zu Robert zurück und beeilte sich, das Gespräch schnell auf die nun kommende kabarettistische Darbietung zu lenken.

Solche Lustbarkeiten fehlten im Sommer und an den warmen Tagen des Frühjahrs und des Herbstes ganz, aber dafür hatte diese Zeit für Robert den Vorzug, daß die Besuche langweiliger Konditoreien in der Stadt mit Besuchen von Kaffeegärten im Bürgerpark oder in der sonstigen Umgebung der Stadt vertauscht wurden. Frau Mohwinkel kannte neun Gartenlokale, die sie jedes Jahr in den Sommermonaten regelmäßig und abwechselnd mit ihrem Sohn besuchte. Deshalb wußte Robert seit Jahren genau, welche Zerstreuungen ihn in der jeweiligen Gaststätte erwarteten. Bei Schorf war es die große Schaukel, die für zwanzig Kinder eingerichtet war, in der Munte das Spielen am Wasser, das Füttern der Schwäne im Parkhaus oder die Militärkapelle im Garten des Tivoli. Leider nur waren im Sommer die Kaffeehäuser weiter entfernt und die Spazierwege länger. Robert liebte diese Spaziergänge mit seiner Mutter nicht sehr, besonders weil Frau Mohwinkel die Unterhaltung mit ihrem Sohn auf nur wenige Themen beschränkte. Neben den allgemeinen Betrachtungen über die täglichen Einkäufe, die Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, die nächste große Wäsche oder die Bekleidungs­sorgen war es vor allem eine krankhafte Angst, die Frau Mohwinkel stundenlang Gesprächsstoff lieferte. Sie hatte andauernd Furcht vor der Justiz. Da sie aber nie bewußt etwas Unrechtes tat und auch bis an ihr Lebensende nie bewußt etwas Unrechtes tun würde, beschränkte sich ihre Angst auf die Möglichkeit eines fahrlässigen Vergehens. Alle ihre Handlungen hatte Frau Mohwinkel stets unter Kontrolle, nur ihre Rede nicht, und so verging kein Tag, an dem sie nicht glaubte, irgend jemandem über einen Dritten etwas gesagt zu haben, was sie als Angeklagte in einem Beleidigungs- oder einem Verleumdungsprozeß vor den Richter bringen würde.

Als die Möglichkeiten einer Strafverfolgung sich allmählich erschöpften, kam im Jahre 1933 die Furcht hinzu, daß auch abträgliche Bemerkungen über das neue Regime unter Strafe gestellt wurden. Nicht etwa Aufsässigkeit oder revolutionäre Gedanken hegte die Familie Mohwinkel, sondern es waren viele kleine unliebsame Berührungspunkte, die es zwischen den Mohwinkels und dem neuen Regime gab. Hiervon waren es wiederum die unwichtigsten, die Frau Mohwinkel in die Angst vor Strafverfolgung versetzten. Sie hatte Handschuhe in einem Geschäft gekauft und sich schon gewundert, wie leer es in dem Laden war. Zu spät hatte sie den Inhaber als Juden erkannt. Tagelang noch sagte sie: »Wenn mich nun jemand gesehen hat, was dann?« Die Handschuhe zog sie nie an, sie versteckte sie in der Kommode.

Ein anderes Mal wurde sie in der Dämmerung von einem Betrunkenen auf der Straße angerempelt. »Sie besoffener Kerl!« hatte sie gesagt, dann aber plötzlich bemerkt, daß es ein NSKK-Mann, ja sogar ein Nachbar war, der sie womöglich erkannt haben konnte, so daß selbst die Flucht in diesem Falle nichts mehr genutzt hätte. Aber noch Geringeres versetzte Frau Mohwinkel in wochenlange Furcht. Wenn sie nur sagte: »Die Butter ist ja schon wieder teurer«, oder »Ob es wohl Krieg gibt?«, dann wußte sie später nicht, ob in diesen Worten nicht eine unerlaubte Kritik an dem nationalsozialistischen Staat enthalten war.

Herr Mohwinkel verbrachte Abende damit, seiner Frau diese Ängste auszureden. An den Nachmittagen, an denen er im Büro war, mußte Robert seinen Vater bei dieser Aufgabe vertreten. Er tat es, indem er die pausenlose Selbstanklage seiner Mutter nur hin und wieder unterbrach, etwa mit den Worten: »Das hast du ja gar nicht gesagt«, oder »Das haben die anderen ja gar nicht gehört.«

Obgleich diese Gespräche für Robert, der selbst Sorgen hatte, eine Belastung darstellten, waren sie ihm weit angenehmer als die stunden-, ja tagelangen Vorhaltungen seiner Mutter wegen etwaiger schlechter Schulleistungen. Ein Deutschaufsatz, der nur mit einer »Drei« zensiert war, obgleich Frau Mohwinkel von ihrem Sohn Deutschaufsätze erwarten konnte, die nicht schlechter als »Zwei« waren, bildete einen unerschöpflichen Gesprächsstoff. »Was willst du im Leben einmal werden«, sagte sie, »noch nicht einmal Deutsch kannst du richtig schreiben. Nur noch Schuster können wir dich lernen lassen.«

Am erfreulichsten waren immer noch die Ausflüge am Sonnabendnachmittag oder am Sonntag, die die Eltern gemeinsam mit Robert unternahmen. Da blieben diese Gespräche innerhalb des Elternpaares, und Robert wurde nicht mit hineingezogen. »Troll dich ein bißchen«, sagte der Vater zu ihm, und Robert war froh, allein mit sich zu sein. Zwar gab es an den Sonntagen weniger Kuchen als während der Wochentagsspaziergänge mit seiner Mutter, denn Herr Mohwinkel war weit sparsamer als seine Frau, aber eine Stunde Freiheit war Robert ein größerer Gewinn als ein Mohrenkopf mit Schlagsahne.

So von seinen Eltern, insbesondere von seiner Mutter, aber auch von seinem Freund Friedrich Maaß in Anspruch genommen, hatte Robert keine Zeit übrig, sich weitere Freunde zu suchen. Da Friedrich Maaß ihm die Freundschaft mit einem anderen Jungen auch wohl kaum erlaubt hätte, empfand Robert es nicht als Mangel, daß ihm das Spielen auf der Straße verboten war. Auch kannte er die Jungen seiner Nachbarschaft und wußte, daß er unter ihnen niemals eine besondere Rolle spielen würde. Er fürchtete, daß er immer nur eine klägliche Figur machen könnte, die gleiche, die er in der Schule schon war.

Nicht nur die mangelnde freie Zeit, sondern vor allem die Fülle eigener Gedanken hinderten Robert daran, Bücher zu lesen. Die Bücher, die man ihm im Laufe der Jahre schenkte oder lieh, schienen ihm weit weniger Spannung zu enthalten als das, was er selbst an Abenteuern und Spielen erfand. Er las nur, was er für die Schule lesen mußte, aber diese Lektüre langweilte ihn auch. Er behielt nicht, was er gelesen hatte. Trotzdem versuchten nicht nur seine Eltern, sondern auch seine Lehrer immer wieder, in ihm die Freude am Lesen zu wecken. Für den Klassenlehrer, den Robert in der Obertertia hatte, Herrn Studienrat Haase, war die private Lektüre seiner Schüler ein Mittel der Psychodiagnose. Deshalb war er auch anwesend, wenn der Klassenobmann zweimal in der Woche Bücher der Schulbibliothek an die Schüler verteilte. Die Anwesenheit von Herrn Studienrat Haase bewirkte, daß sehr viele gute Bücher, die vielleicht sonst nicht so begehrt waren, gelesen wurden, denn die meisten Schüler wollten dem Lehrer mit ihren hohen Interessen imponieren.

Nur Robert meldete sich beim Verleih von Büchern nie, und so blieb er auch für Herrn Studienrat Haase, der ihn an Hand seiner Lektüre gern psychologisch eingeordnet hätte, ein Rätsel. In einer Pause nahm er sich Robert einmal vor und versuchte mit sanfter Stimme, ihn zu überzeugen, wie sehr doch das Lesen bilde und wie wichtig es für einen jungen Menschen sei, auf diese Weise seinem Wissen etwas hinzuzufügen. »Es muß ja nicht gerade ein schwieriges Werk sein«, sagte er, »so manches gute Jugendbuch bildet und ist noch spannend dazu.«

Diesen gütigen Forderungen konnte Robert sich nicht verschließen und er begann, sich schon bei der nächsten Buchverleihung bei einigen Titeln zu melden. Er hob immer bei solchen Büchern die Hand, die als besonders spannend bekannt und somit bei den Jungen besonders begehrt waren, da hier kaum Aussicht bestand, daß er das Buch wirklich bekäme. So kam Robert diesmal noch davon, er brauchte kein Buch zu lesen, hatte sich aber viele Male gemeldet und seinen Lehrer somit zufriedengestellt.

Beim nächsten Mal war er noch mutiger. Er meldete sich bei fast jedem Titel in der Hoffnung, daß Mitschüler, die nach dem Alphabet vor ihm Anspruch auf das Buch hatten, ihm zuvorkämen. Plötzlich aber merkte er, als es schon zu spät war, daß er sich bei einem Titel ganz allein gemeldet hatte, und er mußte zum erstenmal unter den Augen des Lehrers und unter den Augen aller Mitschüler den leihweisen Erhalt eines Buches quittieren. »Das wird nun auch gelesen!« sagte Herr Studienrat Haase, und Robert nahm sich vor, es ganz bestimmt zu lesen, allein schon aus Angst, irgend jemand könnte ihn später nach dem Inhalt fragen.

Zu Hause nahm er am Abend das Buch gleich vor. Es hieß »Entdeckungen in den Allgäuer Alpen«. Es war von einem bayrischen Bergsteiger geschrieben und so langweilig, daß Robert sich an diesem Abend ganz krank fühlte und sich vorzeitig mit Kopfschmerzen zu Bett legte. Trotzdem war er fest entschlossen, das Buch bis zu Ende zu lesen, weil er es für eine Pflicht seinem Lehrer gegenüber hielt. Aber das Unwohlsein beim Lesen steigerte sich von Abend zu Abend, und noch nicht einmal die Stelle, bei welcher der Freund und Begleiter des Helden bei der Besteigung einer schwierigen Nordwand tödlich verunglückte, konnte Begeisterung oder Mitgefühl in ihm erwecken. Als er nach einer Woche das Buch ausgelesen hatte, fühlte er sich so ermattet und übel, daß er beschloß, nie im Leben wieder freiwillig ein Buch zu lesen. Für Herrn Studienrat Haase blieb Robert, der in Zukunft beim Bücherverleihen wieder schwieg, ein eigenbrötlerischer Junge, den er deshalb nicht mochte, weil er ihn nirgends einordnen konnte.

Zu den drei Mächten, die Robert bedrängten, der Schule, dem Elternhaus und seinem Freunde Friedrich Maaß, kam jetzt eine vierte hinzu: Das Deutsche Jungvolk, in das er auf Betreiben seines Klassenobmanns Heinz Klevenhusen im Dezember 1933 eintrat. Diese Organisation verlangte von Robert, der gewissenhaft bestrebt war, allen Mächten gleich ergeben zu dienen, nicht weniger Gehorsam als die Schule. Sie verursachte ihm die gleichen Qualen wie sein Freund Friedrich Maaß, und in ihr fühlte er sich ebenso als Fremder wie in seinem Elternhaus.

Die Quintaner des Gymnasiums waren der neuen Ordnung sehr zugetan, und es war eine Freude zu sehen, wie bei der Schulfeier am 9. November 1933 die ganze Klasse bis auf wenige Ausnahmen in der Uniform des Deutschen Jungvolks erschien. Zu den Ausnahmen gehörten Herbert Löwenstein, ein Jude, und Karl Ratjen, der Sohn eines ehemaligen Kommunisten, Friedrich Maaß, Robert Mohwinkel und einige andere. Robert hielt es nicht für gut, bei der Minderheit zu bleiben, und er erhoffte sich, wenn er dieser Organisation beitreten würde, die Protektion der Klassenstärksten, die zum Teil schon die rotweiße Schnur des Jungenschaftsführers oder die grüne des Jungzugführers trugen. Sonst versprach er sich von seiner Mitgliedschaft im Deutschen Jungvolk nichts; er wußte auch, daß eine besondere Position ihn dort nicht erwartete und daß die Begeisterung dieser Jungen, die er nie verstanden hatte, ihn niemals anstecken würde.

Einzig Friedrich Maaß hatte bisher zu verhindern gewußt, daß Robert sich dem Deutschen Jungvolk anschloß. Friedrich hatte sich zuvor erkundigt und erfahren, daß bei einem Eintritt in das Jungvolk jeder von ihnen in ein anderes Fähnlein käme; dann würde Friedrich also isoliert und somit selbst die Rolle spielen müssen, die er jetzt Robert zuweisen konnte. Die Autorität Heinz Klevenhusens und die Kameradschaftlichkeit, mit der er eines Tages, kurz nach dem 9. November, um Robert warb, waren jedoch stärker als der Einfluß Friedrichs. Roberts anfängliche Ausflüchte, daß auch eine Menge anderer Jungen nicht im Jungvolk seien, entkräftete Heinz Klevenhusen. Er sagte: »Die anderen brauchen wir nicht, das sind Feiglinge, auch der Maaß. Wir brauchen nur richtige Jungen.«

Roberts Eltern standen seinem Schritt unentschlossen gegenüber. Einerseits sahen sie Robert in dieser neuen Umgebung und bei einem Treiben, das sich vornehmlich auf der Straße abspielte, nicht gern. Andererseits glaubten sie aber an die lange Dauer dieses Regimes, und wenn sie auch selbst nichts mit der Partei und den nationalsozialistischen Organisationen zu tun haben wollten, so sahen sie doch für ihren Sohn darin einen Vorteil, der ihm später vielleicht ein leichtes Vorankommen im Beruf ermöglichen könnte.

Trotz seiner Bereitschaft, in diesem neuen Kreis von Jungen alles richtig zu machen und mit größter Gewissenhaftigkeit jedem Befehl zu gehorchen, blieb Robert nur ein Pimpf, den man ins mittlere Glied einordnete, dorthin, wo er am wenigsten auffiel. Zwar gehörte Robert Mohwinkel zu den Diensteifrigsten des Fähnleins und zu den Pünktlichsten, die immer zehn Minuten vor dem Antreten zur Stelle waren. Seine Uniform war immer makellos, Schuhe und auch Koppel auf Glanz geputzt und das Braunhemd von seiner Mutter gebügelt, aber die Führer liebten ihn trotzdem nicht. Er sah immer ängstlich und zag aus, er war in ihren Augen ein Duckmäuser. So kam es vor, daß Robert, der beim Marschieren leise den Schritt zählte, um keinen Fehler zu machen und nicht aufzufallen, von seinem Hintermann auf die Hacken getreten wurde und sich nun von seinem Führer sagen lassen mußte, daß das ganze Fähnlein den richtigen Schritt halte, nur er, Robert, nicht, und daß er der einzige blöde Heini sei, der immer wieder auffalle.

Der Dienst im Deutschen Jungvolk war vielseitig, und jeder Junge, der es liebte, sich hervorzutun, fand hier ein reiches Feld. Gute Turner konnten sich auf den Sportveranstaltungen eine Anerkennung holen, kräftige Jungen konnten die Ehre des Fähnleins beim Geländespiel und im Kampf gegen ein anderes Fähnlein retten, Schreihälse waren bei Sprechchören beliebt. Aber Robert fand alles eintönig. Am wohlsten fühlte er sich in der kleinsten Einheit, der Jungenschaft, in der man sich mit Basteln beschäftigte, mit der Ausschmückung des Heims oder dem Vorlesen von Kriegsbüchern aus dem ersten Weltkrieg. Manchmal war auch der Vater eines Jungen anwesend, der als ehemaliger Offizier eine besonders rühmliche Vergangenheit besaß, wenigstens seiner Erzählung nach, und der zum Schmuck des Heims der Jungenschaft einen Degen lieh oder vielleicht ein Seitengewehr, in einem Falle sogar den Helm der Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Die Jungenschaft wurde mehr von der Kameradschaft zusammengehalten und weniger vom Kommandoton eines Führers, der in dieser unteren Charge nicht zu den Großschnäuzigen gehörte.

An den Feiertagen der Nation oder an den Sonnabenden und Sonntagen, an denen die Oberbannführung glaubte, irgend etwas feiern zu müssen, wie etwa den Geburtstag Lettow-Vorbecks oder den Jahrestag der Schlacht von Tannenberg, wurde der Dienst im Rahmen des Banns angesetzt. Das Marschieren in so großer Formation, aber auch die Aufmärsche des Gaus, zu denen man nach Oldenburg fuhr, hatten für Robert den Reiz des anonymen Untergehens in der Menge. Die Pimpfe waren stammweise angetreten, und hinter, neben und vor ihm marschierten oder standen Jungen, die ihn nicht kannten. Die Eintönigkeit dieser Aufmärsche und Feierstunden gaben Robert Gelegenheit, ein weiteres geheimes Spiel zu spielen, das er »Revolutionär« nannte. Er sagte sich: Ich bin ein Fremder, Abgesandter einer feindlichen Macht und ein gefährlicher Bursche, der vor nichts zurückschreckt. Robert bildete sich ein, in diese Organisation habe er sich vor Jahren schon eingeschlichen, um ihre Gewohnheiten zu studieren, damit er alles eines Tages zu Fall bringen könnte. Er merkte sich die Namen gefährlicher Nationalsozialisten, und er trug sie abends nach Dienstschluß in ein Heft ein. Gefährliche Nationalsozialisten aber waren für Robert nicht etwa politische Persönlichkeiten oder höhere Hitlerjugendführer, sondern lediglich Jungen, die ihn ärgerten, beleidigten, ihm beim Marschieren auf die Hacken traten oder ihn gar knufften.

Wenn Robert dieses Spiel spielte, ertrug er jede Demütigung und jeden Angriff, ja selbst den, der von den Pimpfen »Rolle« genannt wurde. Die »Rolle« war ein Spaß, den sich zwei stärkere Jungen mit einem schwächeren leisteten. Einer von ihnen trat auf das Opfer zu und verwickelte es in eine zwanglose Unterhaltung, während der Komplice hinter das Opfer kroch und dicht an seinen Fersen niederkniete. In dem Augenblick, da der Komplice ganz heruntergegangen war und den Kopf eingezogen hatte, gab der erste Junge dem Opfer unvermutet einen Stoß, so daß es kopfüber nach hinten stürzte und in den meisten Fällen unglücklich hinfiel. Da es genügend schwächere und wehrlose Pimpfe gab und die stärkeren Pimpfe auf den stundenlangen Aufmärschen ohne Beschäftigung waren und sich langweilten, verbreitete sich dieses Spiel schnell, und die »Rolle« gewann viele Freunde, aber auch eine Menge Feinde. Robert hatte vor der »Rolle« eine ständige Angst, nicht zuletzt, weil das unglückliche und unvermutete Fallen manchmal Verstauchungen zur Folge hatte. Wenn er aber in sein Spiel vertieft war und sich für den geheimen Revolutionär hielt, machte es Robert nichts aus, das Opfer zu sein. Ja, er sehnte eine solch unglückliche Situation geradezu herbei, da er nun wieder zwei gefährliche Nationalsozialisten mehr notieren und nach dem geglückten Putsch ihrer gerechten Strafe zuführen konnte.

Aber nicht nur Feinde hatte Robert Mohwinkel im Deutschen Jungvolk, einige Beschützer hatte er auch, besonders Führer, die mit steigendem Dienstgrad zusehends gerechter wurden und bei denen sich schon im jugendlichen Alter das gehobene Amt mit der Pflicht verband, den Schwächeren zu schützen. Für diese hielt Robert Mohwinkel nach der Revolution allerhöchste Posten bereit.

Roberts Eltern hielten ihn nie vom Dienst im Deutschen Jungvolk ab. Ja, auch bei schlechtem Wetter, bei dem Frau Mohwinkel ihrem Sohn früher streng verboten hätte, hinauszugehen, verlangte sie jetzt seine Teilnahme am Dienst. Das Fernbleiben setzte sie einer Desertion gleich, und sie hatte Angst vor Unannehmlichkeiten, von denen auch die Eltern des Deserteurs betroffen werden könnten.

Zwischen Elternhaus und Jungvolk gab es nur einen Konfliktstoff, das war die Frage der Bekleidung. Frau Mohwinkels Ansichten über die gesunde und zugleich zweckmäßige Bekleidung eines Pimpfes standen im Gegensatz zu denen der Jungvolkführer. Sie sagte: »Im Winter trägt man lange Strümpfe, oder willst du dir Rheuma holen?« Robert hätte sich lieber Rheuma geholt, als das Gelächter des Fähnleins ertragen, wenn er als erster im Herbst mit langen Strümpfen bekleidet zum Dienst erschienen wäre. Die Mohwinkels waren jedoch nicht die einzigen, die den Bekleidungswünschen der Pimpfe so verständnislos gegenüberstanden; auch andere Eltern trachteten danach, ihre Söhne im Winter warm zu kleiden. In diesen Familien wurde aber nicht lange darüber diskutiert; die Jungen zogen im Hause an, was die Eltern wünschten, auf der Straße änderten sie ihre Kleidung selbständig. Sie krempelten die Strümpfe herunter und kürzten auch die Jungvolkhose aus schwarzem Manchester auf die vorgeschriebene Höchstlänge von zwei Handbreit oberhalb der Knie. Robert bewunderte diese Jungen, die so selbständig handelten; er selbst blieb Vater und Mutter gegenüber gehorsam. Aber die Entfremdung zwischen ihm und seinen Eltern, die in diesen Jahren ständig wuchs, fand vor allem in diesen Kleinigkeiten ihre Nahrung.

Die anderen Jungen lebten zwei Leben, eins im Hause als Kind ihrer Eltern, das andere als Pimpf und Held in der Gemeinschaft der Jungen. Robert lebte nur ein Leben, das Leben unter der Autorität von Eltern, Jungvolk, Freund und Schule zugleich. Zu ihm gesellte sich höchstens noch das zweite Leben seiner geheimen Spiele.

Ein einziges Mal nur war Robert auch Held in der wirklichen Gemeinschaft der Jungen. Es war auf einer Fahrt, auf der die Jungenschaft mit Rädern in den Hasbruch, einen Wald im Oldenburgischen, gefahren war. Man hatte Vorräte mitgenommen, und als die Jungen im Hasbruch eine Lichtung fanden, die zum Lagern geeignet erschien, wurde abgekocht. Obgleich das Anlegen von Feuerstellen in vorangegangenen Dienststunden häufig theoretisch behandelt und auch praktisch geübt worden war und obgleich der Führer der Jungenschaft, ein Gymnasiast, der Werner Kulenkampf hieß, sonst äußerst überlegt handelte, achtete niemand auf das grundsätzliche Verbot, im Walde Feuer zu machen. Bevor noch das Wasser, das eine Maggisuppe ergeben sollte, kochte, fielen Funken auf benachbarte Grasbüschel, die in diesem Sommermonat besonders trocken waren. Das Feuer verbreitete sich rasch, und erst, als die ganze Lichtung brannte und das Feuer auch auf die umstehenden Bäume überzugreifen drohte, entdeckte Werner Kulenkampf in unmittelbarer Nähe einen Stapel gefällter Baumstämme, die die Jungen nun in größter Geschwindigkeit herbeitrugen und als Dämme um die Brandstelle legten. Es gelang ihnen, das Feuer einzudämmen, aber die Grasfläche der Lichtung war verbrannt, und Werner Kulenkampf hatte große Angst vor der Entdeckung dieser Tat. Denn die Fahrten aller Einheiten waren im voraus mit genauen Zielen und Verrichtungen der Jungbannführung gemeldet, und es wäre dem Forstamt später ein leichtes, über eine Anfrage beim Hitlerjugend-Gebietsführer den Jugendführer festzustellen, der für den Brand verantwortlich war.

Während die Jungen beisammen saßen und lange darüber berieten, wie man das Geschehene vertuschen könnte, hatte Robert Mohwinkel, der beim Löschen und Eindämmen des Feuers nur am Rande mitgewirkt hatte, eine eigene Initiative ergriffen. Mit einem Feldspaten stach er in der Nachbarschaft der Lichtung Grassoden aus, trug sie zur Schadenstelle und begann, die schwarze, verkohlte Fläche damit zu verdecken. Die anderen Jungen bemerkten ihn erst, als er einen großen Teil seines Werks bereits allein vollbracht hatte. Auf Anordnung des Jungenschaftsführers halfen sie ihm, und zwei Stunden später war vom Brand nichts mehr zu sehen. Nach Vollendung dieser Arbeit trat bei den Jungen, insbesondere bei Werner Kulenkampf, die mutige Löschaktion weit zurück hinter dieses Werk der Wiedergutmachung. Für seinen pedantischen Ordnungssinn und für seinen Fleiß erhielt Robert Worte des Lobes, die er vor der Front der angetretenen Jungenschaft von seinem Führer Werner Kulenkampf unter Händedruck entgegennehmen mußte. Diese Szene blieb ihm noch lange im Gedächtnis. Wie schnell sie in der Erinnerung seiner Kameraden verblaßte, wußte er nicht.

In den Jahren, in denen Robert zur Schule ging, bestanden seine Eltern jeden Sommer auf der gemeinsamen Ferienreise, die für Robert zwar als kleine Abwechslung, nie aber als Sensation den Jahresablauf unterbrach. Die Mohwinkels glaubten indessen, ihrem Sohn mit der Ferienreise und der mit ihr verbundenen Geldausgabe ein besonderes Geschenk zu machen. Sie verlangten dementsprechende Dankbarkeit und im Urlaub von Robert ein Verhalten, das jeden Tag diese Dankbarkeit ausdrückte.

Robert benahm sich auch, wie es von ihm gefordert wurde. Er hatte Angst, bei undankbarem Verhalten im nächsten Jahr nicht mitgenommen zu werden. Zwar wäre es ihm lieb gewesen, zu Hause bleiben zu können, doch wäre diese Folge nicht eingetreten. Vielmehr wäre er in ein Heim oder in das Sommerlager des Deutschen Jungvolks geschickt worden. In ein solches Lager ihren Sohn zu schicken, hatten aber auch die Mohwinkels Furcht, weil man nie wußte, was passieren konnte, wenn Kinder unter sich waren. Deshalb blieb das Jungvolk-Sommerlager jedes Jahr nur eine Drohung und für die Mohwinkels ein Mittel, von ihrem Sohne Dankbarkeit zu erlangen.

Früher, als Herr Mohwinkel noch nicht Prokurist, sondern nur Sachbearbeiter in der Exportfirma war, und seine finanziellen Mittel eine Reise der Familie an die See oder ins Gebirge nicht gestatteten, fuhren die Mohwinkels mit ihrem Sohn abwechselnd zu den Eltern Herrn und Frau Mohwinkels. Die Erinnerungen, die Robert an diese Reisen bewahrte, beschränkten sich auf die großen Batterien von Braunbierflaschen, die die Großeltern mütterlicherseits in Lüneburg für Robert bereithielten, und auf die Verständnislosigkeit, mit der die Großeltern väterlicherseits in Kiel ihm begegneten. Die Großeltern in Kiel schrieben während des ganzen Jahres klagende Briefe und beschwerten sich, daß sie ihren Enkel viel zuwenig sähen. »Es ist doch unser einziger«, schrieben sie, aber wenn Robert alle zwei Jahre mit seinen Eltern nach Kiel kam, begrüßten sie ihn nur: »Hab Oma und Opa lieb, gib Oma und Opa einen Kuß. So, und nun troll dich!« Robert war angewiesen, nach dieser Begrüßung sich für den Rest des Urlaubs nur in angemessener Entfernung von den Großeltern aufzuhalten, weil sie Kinder grundsätzlich nicht liebten.

Anders war es bei den Großeltern in Lüneburg. Hier wurde er als Enkel natürlicher behandelt, bekam auch viel Wohlschmeckendes zu essen, das er zu Hause nicht kannte, zum Beispiel Kunsthonig statt Bienenhonig, Margarine statt Butter, Braunbier statt Milchkaffee. Leider war Robert bei diesen Großeltern nicht der einzige Enkel. Es gab da noch seinen Vetter Paul, der ihm jedesmal diese Ferien, die sonst so schön gewesen wären, gründlich verdarb. Vetter Paul war drei Jahre älter als Robert, ein rüpelhafter Großtuer, der an seinem jüngeren Vetter neue Kniffe übte, einen Jungen zu Boden zu zwingen. Es ging ihm dabei weniger um die Übung als um die Kniffe selbst, denn Vetter Paul war ein Sadist. Schon als Vierjähriger hatte er dem einjährigen Robert, der im Kinderwagen lag, den Arm umgedreht, und er steigerte seine Maßnahmen bis zur »Erschießung«, wie er es nannte. Zu seiner »Erschießung« wurde der neunjährige Robert vom Vetter gefesselt auf den Dachboden gebracht und dort an die hölzerne Tür gestellt. Dann nahm Paul das Luftgewehr und schoß, indem er auf eine Stelle in der Tür dicht über Roberts Kopf zielte, drei Bolzen ab, die auch an der beabsichtigten Stelle einschlugen und Robert nicht verletzten. Robert ertrug alles ohne Gejammer. Er zuckte auch bei keinem Schuß zusammen, nicht etwa, weil er besonders mutig war, sondern aus Angst vor seinem Vetter, der ihm das Zusammenzucken ausdrücklich verboten hatte. Paul legte aber Roberts Verhalten als Mut aus, und von dem Tage an betrachtete er ihn als gleichberechtigten Freund. Diese Wandlung befriedigte Robert jedoch nicht, denn nun war er nicht mehr das Objekt seines Vetters, sondern mußte an seiner Seite eine aktive Rolle spielen, was ihm schwerfiel.