Titelbild

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Für den nordischen Gott von allem, in Dankbarkeit.

Übersetzung aus dem Englischen von Wibke Kuhn

ISBN 978-3-492-97501-8

Juni 2016

© L.S. Hilton 2016

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Maestra« bei Zaffre, einem Imprint von Bonnier Publishing Fiction, London.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: Art Direction: Jet Purdie I Design: Gray318 &

Blacksheep-uk.com

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Prolog

Schwere Kleidersäume und gemeingefährliche Absätze rauschten und klackerten übers Parkett. Wir durchquerten den Eingangsbereich und gingen auf die Flügeltüren zu. Das gedämpfte Summen, das zu uns herausdrang, verriet, dass die Männer schon drinnen waren. Der Raum war mit Kerzen beleuchtet, zwischen den Sofas und den niedrigen Esszimmerstühlen standen kleine Beistelltische. Die wartenden Herren trugen dicke schwarze Satinpyjamas mit litzengeschmückten Jacketts, deren Glanz die gestärkten Hemden erst richtig zu Geltung kommen ließ. Hie und da blitzte ein massiver Manschettenknopf oder eine schmale Armbanduhr golden im Kerzenlicht auf, aufgestickte Monogramme zogen sich über prächtige Seidentaschentücher.

Das Ganze hätte einem albern und theatralisch vorkommen können, wären die Details nicht so perfekt gewesen. Doch ich war ohnehin wie hypnotisiert, und mein Puls schlug langsam und kräftig. Yvette wurde von einem Mann mit einer Pfauenfeder am Ärmelaufschlag fortgeführt – ich blickte auf und sah einen anderen Mann auf mich zukommen, der am Revers genau so eine Gardenie trug wie ich.

»So funktioniert das also?«

»Nur während des Essens. Danach können Sie selbst wählen. Bonsoir

»Bonsoir.«

Er war groß und schlank, aber sein Körper wirkte jünger als sein Gesicht. Die Züge waren hart und zeigten deutliche Falten, das bereits leicht ergraute Haar war über der hohen Stirn zurückgekämmt, und seine großen, leicht verschleierten Augen erinnerten an einen byzantinischen Heiligen. Er führte mich zu einem Sofa, wartete, bis ich saß, und drückte mir dann ein schlichtes Kristallglas mit Weißwein in die Hand, klar und streng. Die Förmlichkeit hatte etwas Verschmitztes, aber im Grunde gefiel mir die Choreografie des Ganzen.

Der Gastgeber Julien genoss ganz offensichtlich die Vorfreude. Die größtenteils nackten Kellnerinnen erschienen mit winzigen Hummerpasteten auf kleinen Platten, dann kamen hauchdünne Entenbrustscheiben in einer Honig-Ingwer-Paste, luftige Hippenröllchen mit Himbeer- und Erdbeerfüllung. Nichts, wovon man satt wurde, eher kulinarische Gesten.

»Rote Früchte verleihen der Möse einen wunderbaren Geschmack«, bemerkte mein Begleiter.

»Ich weiß.«

Man unterhielt sich gedämpft, aber die meisten Leute sahen nur zu und tranken, ihre Augen bewegten sich zu den anderen Gästen und dann zu den geschmeidigen Bewegungen der Kellnerinnen, die die Körper von Tänzerinnen hatten – schlank, aber muskulös, ihre Waden kräftig über den eng anliegenden Stiefeln. Ein kleiner Nebenverdienst fürs corps de ballet? Ich konnte Yvette undeutlich auf der anderen Seite des Raumes erkennen. Sie ließ sich gerade mit spitzen Silbergabeln ein paar Feigen mit Mandelfüllung in den Mund schieben. Ihr Körper lag da wie der einer Schlange, man konnte zwischen der roten Seide einen dunklen Oberschenkel ausmachen. Gemessenen Schrittes gingen die Kellnerinnen mit Kerzenlöschern herum und verdunkelten den Raum in einer Wolke aus Bienenwachs. Währenddessen spürte ich die Hand des Mannes auf meinem Oberschenkel, sie kreiste und streichelte mich, ganz ohne Eile, und ich merkte, wie sich meine Beine anspannten. Die Mädchen verteilten flache Lacktabletts, auf denen Kondome, kleine Kristallfläschchen mit Monoi-Öl und Bonbonschälchen mit Gleitmittel standen. Manche Paare küssten sich, sie schienen mit den zugelosten Partnern glücklich zu sein, andere Gäste standen höflich auf und durchquerten den Raum, um die Beute zu finden, die sie sich vorher ausgesucht hatten. Yvette hatte ihre Beine gespreizt, ihr Kleid war nach oben geschoben, und nun tauchte der Kopf eines Mannes zu ihr hinab. Ich fing ihren Blick auf, und sie lächelte mir wohlig zu, bevor sie mit der ekstatischen Bewegung eines Junkies auf dem Weg in den seligen Rausch den Kopf nach hinten in die Kissen fallen ließ.

1. DRAUSSEN

1. Kapitel

Wenn Sie mich jetzt fragen würden, wie alles anfing, könnte ich wahrheitsgemäß antworten, dass das erste Mal ein Unfall war. Es war gegen sechs Uhr abends, die Zeit, zu der sich die Stadt noch einmal heftig um die eigene Achse dreht, und obwohl der wie immer hundsmiserable Mai einen beißenden Wind durch die Straßen wehen ließ, war der U-Bahnhof überfüllt und feucht, verdreckt mit weggeworfenen Boulevardzeitungen und Fast-Food-Verpackungen, gereizten Touristen in knallbunter Freizeitkleidung zwischen blassen Pendlern mit resigniertem Blick. Nach wieder mal einem großartigen Start in eine wieder mal großartige Woche, in der ich mich in meinem besonders großartigen Job herumscheuchen und schikanieren lassen durfte, stand ich auf dem Bahnsteig in Green Park und wartete auf die Piccadilly Line. Als der Zug in der Gegenrichtung anfuhr, ging ein leises kollektives Stöhnen durch die Menge. Die Tafel zeigte an, dass die nächste Bahn gerade in Holborn stecken geblieben war. Wahrscheinlich jemand auf den Gleisen. Man konnte förmlich sehen, wie die Leute sich dachten: Typisch, warum müssen die sich immer zur Rushhour umbringen? Die Fahrgäste verließen den Bahnsteig, darunter auch ein Mädchen mit gesundheitsschädlichen Absätzen und einem elektroblauen Schlauchkleid. Azzedine Alaïa aus der letzten Saison, recycled by Zara, dachte ich. Wahrscheinlich wollte sie zu Fuß nach Leicester Square, wie die anderen Bauerntrampel. Sie hatte außergewöhnliche Haare, einen Wasserfall aus roten Extensions. Sie waren mit einer Art Goldfaden durchflochten, in dem sich das Neonlicht fing und spiegelte.

»Judyyy! Judy, bist du das?«

Auf einmal winkte sie mir enthusiastisch zu. Ich tat so, als würde ich nichts hören.

»Judy! Hier drüben!«

Die Leute fingen schon an zu schauen. Das Mädchen war bereits gefährlich nah an den gelben Sicherheitsstreifen getrippelt.

»Ich bin’s! Leanne!«

»Ihre Freundin winkt Ihnen«, sagte die Frau neben mir freundlich.

»Wir sehen uns gleich oben, okay?« Stimmen wie ihre hörte ich nicht mehr so oft. Ich hätte auch nie erwartet, dass ich ihre je wieder hören würde. Offensichtlich wollte sie nicht wieder verschwinden, und da es keinerlei Anzeichen gab, dass der Zug gleich auftauchen würde, hängte ich mir meine schwere Ledertasche über die Schulter und bahnte mir einen Weg durch die Menge. Sie wartete auf dem Verbindungsgang zwischen den Bahnsteigen.

»Hi! Dachte ich’s mir doch, dass du das bist!«

»Hallo, Leanne«, sagte ich vorsichtig.

Sie machte ein paar letzte Trippelschritte zu mir und schlang die Arme um mich, als wäre ich ihre lang vermisste Schwester.

»Sieh mal einer an! Voll die Businessfrau! Ich wusste gar nicht, dass du in London wohnst!«

Ich wies sie nicht auf den naheliegenden Grund hin, dass wir seit einem Jahrzehnt nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Facebook-Freundschaften waren nicht wirklich mein Ding, und ich musste auch bestimmt nicht daran erinnert werden, wo ich herkam.

Aber dann kam ich mir doch gemein vor. »Toll siehst du aus, Leanne. Super Haare.«

»Ich heiße nicht mehr Leanne. Ich nenn mich jetzt Mercedes.«

»Mercedes? Das ist ja … hübsch. Ich nenn mich meistens Judith. Klingt erwachsener.«

»Na ja … und jetzt sieh mal einer an, was aus uns geworden ist, oder? Voll erwachsen.«

Ich glaube nicht, dass ich damals wusste, wie sich das anfühlt. Und ich fragte mich, ob sie es wusste.

»Hey, hör mal, ich muss erst in einer Stunde zur Arbeit. Wie wär’s mit einem schnellen Drink? Dann können wir uns ein bisschen erzählen, was so läuft.«

Ich hätte erwidern können, dass ich beschäftigt war, dass ich es schrecklich eilig hatte, und mir ihre Nummer geben lassen und so tun können, als würde ich sie wirklich mal anrufen. Aber wo musste ich schon hin? Und irgendetwas war mit dieser Stimme, sie war mir vertraut und seltsam willkommen, und als ich sie hörte, fühlte ich mich einsam und getröstet zugleich. Auf dieser Welt hatte ich nur zwei Zwanzig-Pfund-Scheine, und das nächste Gehalt kam erst in drei Tagen.

Aber es konnte sich ja noch was ergeben.

»Klar«, sagte ich. »Ich lad dich ein. Gehen wir ins Ritz.«

Zwei Champagner-Cocktails in der Rivoli-Bar, achtunddreißig Pfund. Dann konnte ich eben bis zum Ende der Woche nicht mehr so viel essen. Vielleicht war es dumm, so anzugeben, aber manchmal muss man der Welt einfach mit ein bisschen Trotz entgegentreten. Leanne – Mercedes – fischte mit einem fuchsiafarbenen Kunstnagel enthusiastisch nach der schwimmenden Maraschinokirsche und schlürfte anschließend genüsslich von ihrem Cocktail.

»Das ist echt supernett, danke. Obwohl ich persönlich eher auf Champagner von Roederer stehe.«

Na, das geschah mir nur recht, nachdem ich so dick aufgetragen hatte.

»Ich arbeite hier in der Nähe«, erzählte ich. »Kunst. In einem Auktionshaus. Ich bin für die Alten Meister zuständig.« Das stimmte zwar nicht, aber andererseits musste ich auch nicht befürchten, dass Leanne einen Rubens von einem Rembrandt unterscheiden könnte.

»Ist ja voll edel«, erwiderte sie. Inzwischen wirkte sie gelangweilt, spielte mit dem Stäbchen in ihrem Drink. Ich überlegte, ob es ihr wohl schon leidtat, mich angesprochen zu haben, doch statt mich zu ärgern, hatte ich das jämmerliche Gefühl, ihr gefallen zu wollen.

»Klingt vielleicht so«, sagte ich in vertraulichem Ton und merkte, wie mir Alkohol und Zucker sanft ins Blut gingen, »aber die Bezahlung ist scheiße. Ich bin ständig pleite.«

Mercedes erzählte mir, dass sie seit einem Jahr in London war. Sie arbeitete in einer Champagner-Bar in St. James. »Machen einen auf erstklassig, aber sind immer dieselben schmutzigen alten Penner drin. Nichts Zwielichtiges«, fügte sie hastig hinzu. »Es ist nur eine Bar. Aber die Trinkgelder sind schon heftig.«

Sie behauptete, zweitausend pro Woche zu verdienen. »Man nimmt bloß zu dabei«, sagte sie bedauernd und klopfte sich auf ihren winzigen Bauch. »Von den ganzen Drinks. Aber wir müssen ja nichts zahlen. Olly sagt immer, wenn es sein muss, sollen wir das Zeug halt in die Blumentöpfe gießen.«

»Olly?«

»Das ist der Besitzer. Hey, du solltest mal vorbeikommen, Judy. Ein bisschen was nebenbei verdienen, wenn du knapp bei Kasse bist. Olly sucht immer Mädchen. Willst du noch einen?«

Ein älteres Ehepaar in Abendkleidung, wahrscheinlich auf dem Weg in die Oper, setzte sich an den Tisch gegenüber. Die Frau ließ ihren Blick kritisch über Mercedes’ solariumgebräunte Beine und den schimmernden Ausschnitt wandern. Mercedes drehte sich auf ihrem Stuhl herum, stellte beide Beine nebeneinander auf den Boden und schlug sie dann ganz bewusst und langsam wieder übereinander, sodass ich und der arme alte Kerl neben ihr einen kurzen Blick auf ihren schwarzen Spitzenstring erhaschten. Dabei schaute sie die ganze Zeit der Frau in die Augen. Es wäre überflüssig gewesen zu fragen, ob hier irgendjemand ein Problem hatte.

»Wie gesagt«, fuhr sie fort, während die Frau feuerrot die Cocktailkarte studierte, »es ist echt lustig. Die Mädchen da kommen von überallher. Du könntest umwerfend aussehen, wenn du dich ein bisschen zurechtmachen würdest. Komm schon.«

Ich schaute an mir herab. Schwarzes Tweedkostüm von Sandro. Tailliertes Jackett, flatteriger Plisseerock. Es sollte bewusst kokett aussehen, professionell mit einem leichten Touch von Left Bank – zumindest redete ich mir das ein, wenn ich zum hundertsten Mal ungeschickt die Säume flickte –, aber neben Mercedes sah ich aus wie eine depressive Krähe.

»Jetzt gleich?«

»Ja, warum nicht? Ich hab jede Menge Zeug in meiner Tasche.«

»Ich weiß nicht, Leanne.«

»Mercedes.«

»Entschuldige.«

»Ach komm. Du kannst mein Spitzentop anziehen. Das wird bombig aussehen mit deinen Titten. Oder bist du verabredet?«

»Nein«, sagte ich und legte den Kopf kurz in den Nacken, um die letzten Tropfen Champagner und Angostura zu erwischen. »Nein, ich bin nicht verabredet.«

2. Kapitel

Irgendwo hab ich mal gelesen, dass Ursache und Wirkung Sicherheitsmaßnahmen gegen die Nicht-Berechenbarkeit sind, gegen die erschreckend unpräzise Veränderlichkeit des Zufalls. Warum ging ich an jenem Abend mit Leanne mit? Der Tag war auch nicht schlimmer gewesen als die anderen. Aber man trifft seine Entscheidungen, bevor man die Erklärungen dafür hat, ob es einen interessiert oder nicht. In der Welt der Kunst gibt es nur zwei Auktionshäuser, die man wirklich kennen muss. Es sind die mit den Hundert-Millionen-Pfund-Verkäufen, die sich um die Sammlungen von verzweifelten Herzögen und Oligarchen mit Sozialphobie kümmern, die die Schönheit und das Künstlertum von tausend Jahren durch ihre museumsstillen Räume schleusen und sie in hartes, sexy Bargeld verwandeln.

Als ich vor drei Jahren den Job bei British Pictures an Land zog, hatte ich das Gefühl, es endlich geschafft zu haben. Zumindest für ein, zwei Tage. Schon bald kapierte ich, dass die Träger, also die Typen, die die Kunstobjekte trugen, die Einzigen waren, die sich wirklich um die Bilder scherten. Der Rest der Angestellten hätte genauso gut Streichhölzer oder Butter verhökern können. Obwohl man mich aufgrund meiner Leistungen angestellt hatte, obwohl ich hart und sorgfältig arbeitete und im Großen und Ganzen über ein beeindruckendes kunstgeschichtliches Wissen verfügte, musste ich zugeben, dass ich gemessen an den Standards des Hauses definitiv keine große Nummer war. Nach ein paar Wochen im Büro war mir klar, dass es hier niemand interessierte, ob man einen Brueghel von einem Bonnard unterscheiden konnte, und dass man hier andere, viel wichtigere Codes knacken musste.

Es gab schon ein paar Dinge, die ich auch nach drei Jahren an meinem Job noch mochte. Es gefiel mir, am livrierten Pförtner vorbei in die nach Orchideen duftende Lobby zu gehen. Mir gefielen die schmeichelhaft ehrfürchtigen Blicke, mit denen die Kunden uns »Experten« bedachten, wenn ich die mächtige Eichentreppe hochging, denn selbstverständlich sah alles im Haus nach mächtigen drei Jahrhunderten aus. Es gefiel mir, die Unterhaltungen der Europasekretärinnen zu belauschen, die alle mehr oder weniger gleich aussahen und deren französische und italienische Vokale genauso knackig waren wie ihre Frisuren. Es gefiel mir, dass ich im Gegensatz zu ihnen nicht vorhatte, mir mit den Schlingen meiner Föhnfrisur einen Hedgefondsmanager zu fangen. Ich war stolz auf das, was ich erreicht hatte: Nach einem einjährigen Praktikum bei British Pictures hatte ich eine Assistentenstelle ergattert. Nicht, dass ich vorgehabt hätte, länger hierzubleiben. Schließlich wollte ich nicht den Rest meines Lebens damit zubringen, mir Bilder von Hunden und Pferden anzuschauen.

Der Tag, an dem mir Leanne über den Weg lief, hatte mit einer E-Mail von Laura Belvoir begonnen, meiner stellvertretenden Chefin. Die Betreffzeile lautete »Dringende Aufgabe!«, doch als ich die Mail öffnete, fand ich keinen Text. Also ging ich in ihr Büro, um mich zu erkundigen, was sie wollte. Die Chefs waren vor Kurzem auf einem Management-Seminar gewesen, und Laura hatte sich gleich die Idee der digitalen Kommunikation von Schreibtisch zu Schreibtisch zu eigen gemacht, obwohl es leider am Tippen haperte.

»Ich bräuchte dich für die Zuordnung der Longhis.«

Wir bereiteten gerade eine Serie von Konversationsstücken des venezianischen Künstlers für eine bevorstehende Verkaufsveranstaltung in Italien vor.

»Du willst, dass ich im Lager die Titel abgleiche?«

»Nein, Judith, das ist Ruperts Job. Geh zum Heinz und sieh zu, ob du die Sujets identifizieren kannst.« Rupert war der Chef unserer Abteilung, der selten vor elf Uhr auftauchte.

Das Heinz-Archiv verfügt über einen riesigen Katalog von Bildern – ich musste nun darin nachsehen, welche englischen Lords im achtzehnten Jahrhundert bei ihrem Europajahr für Longhi Modell gesessen haben könnten, denn die Identifikation bestimmter Personen machte die Bilder für die Käufer noch interessanter.

»Alles klar. Könntest du mir bitte die Fotos von der Serie geben?«

Laura seufzte. »Die sind in der Bibliothek. Unter Longhi-Schrägstrich-Frühjahr.«

Da das Haus einen gesamten Straßenzug einnahm, ging man vom Büro vier Minuten zur Bibliothek, und diesen Weg legte ich jeden Tag mehrmals zurück. Obwohl das Gerücht ging, dass draußen bereits das einundzwanzigste Jahrhundert angebrochen war, wurde das Haus im Großen und Ganzen immer noch wie eine viktorianische Bank geführt. Viele Angestellte verbrachten ihre Tage damit, durch die Korridore zu trotten und sich gegenseitig Zettel zu bringen. Das Archiv und die Bibliothek waren nicht mal richtig digitalisiert: Oft stolperte man über kleine Dickens’sche Geister, die in irgendwelchen dunklen Kämmerchen verzweifelt zwischen Stapeln von Quittungen und dreifach fotokopierte Berichte gestopft worden waren. Ich besorgte den Umschlag mit den Fotos und ging zurück zu meinem Schreibtisch, um meine Tasche zu holen. Mein Telefon klingelte.

»Allo? Ier ist Serena vom Empfang. Isch abe Ruperts Osen ier.«

Ich stapfte zum Empfang, nahm das riesige Päckchen von Ruperts Schneider entgegen, das per Kurier die fünfhundert Meter von der Savile Road zu uns geschickt worden war, und brachte es hoch ins Büro. Laura blickte auf.

»Bist du immer noch nicht weg, Judith? Was zum Teufel hast du denn die ganze Zeit gemacht? Na, wo du schon mal hier bist, kannst du mir kurz einen Cappuccino holen? Aber nicht aus der Kantine, geh bitte zu diesem netten kleinen Laden in der Crown Passage. Und bring den Bon mit.«

Nachdem ich den Kaffee besorgt hatte, ging ich zu Fuß zum Archiv. Ich hatte fünf Fotos dabei, Szenen aus dem Teatro La Fenice, auf den Zattere und in einem Café auf der Rialtobrücke, und nachdem ich die Kisten ein paar Stunden durchgeblättert hatte, lag mir eine Liste von zwölf identifizierten Personen vor, die sich zum Zeitpunkt der Entstehung der Portraits in Italien aufgehalten hatten. Ich glich den Heinz-Index mit den Bildern ab, sodass die Zuordnung der Personen für den Katalog überprüft werden konnte, und brachte dann alles zu Laura.

»Was ist das?«

»Die Longhis, um die du mich gebeten hattest.«

»Das sind doch die Longhis von der Auktion vor sechs Jahren. Also wirklich, Judith. Die Fotos hatte ich dir doch in der Mail mitgeschickt.« In ihrer Mail ohne Text.

»Aber du hast doch gesagt, sie sind in der Bibliothek.«

»Ich meinte die elektronische Bibliothek.«

Ich sagte nichts. Stattdessen loggte ich mich in den Onlinekatalog unserer Abteilung ein, fand die richtigen Bilder (übrigens abgelegt unter Lunghi), lud sie auf mein Handy und ging zurück zum Heinz, nachdem mich Laura auch noch wegen meiner Zeitverschwendung getadelt hatte. Ich war mit dem zweiten Schwung fertig, als sie von ihrem Lunch im Caprice zurück war, und machte mich dann daran, die geladenen Gäste für die private Schau vor dem eigentlichen Verkauf anzurufen, die bis jetzt noch nicht geantwortet hatten. Dann schrieb ich die Kurzbiografien, mailte sie an Laura und Rupert, zeigte Laura, wie man den Anhang öffnete, fuhr mit der U-Bahn zum Museum für Angewandte Kunst bei Chelsea Harbour, um mir eine Probe von einem Seidenstoff anzusehen, von dem Rupert vermutete, dass er mit einem Behang auf den Longhi-Bildern übereinstimmen könnte, entdeckte jedoch, dass dem nicht so war (was niemanden überraschte), ging den Großteil der Strecke zu Fuß zurück, weil die Circle Line ab Edgware Road blockiert war, und dann machte ich noch einen Umweg zu Lillywhite’s am Piccadilly, um einen Schlafsack für den Schulausflug von Lauras Sohn abzuholen. Erschöpft und schmutzig kam ich um 17.30 Uhr wieder ins Büro, um mir noch einen Tadel abzuholen, weil ich die Begutachtung der Bilder verpasst hatte, an denen ich am Vormittag gearbeitet hatte.

»Ganz ehrlich, Judith«, bemerkte Laura, »du wirst nie Fortschritte machen, wenn du in der Stadt herumgaloppierst, während du dir hier die echten Kunstwerke ansehen könntest.«

Selbst wenn ich das Zupfen an unsichtbaren Schicksalsfäden mal außer Acht lasse – vielleicht war es gar nicht so überraschend, dass mir wirklich nach einem Drink zumute war, als ich später Leanne in der U-Bahn-Station traf.

3. Kapitel

Mein Bewerbungsgespräch im Gstaad Club bestand darin, dass Olly, der riesige, übellaunige finnische Besitzer, Restaurantchef und Rausschmeißer in einer Person, mich gründlich von oben bis unten musterte – ich hatte mir auf der Toilette im Ritz schnell noch eine hautfarbene Spitzenbluse übergestreift.

»Kannst du trinken?«, fragte er dann.

»Hey, das Mädel ist aus Liverpool«, kicherte Mercedes, und damit war die Sache abgemacht.

Während der nächsten acht Wochen arbeitete ich donnerstag- und freitagabends also im Club. Nicht unbedingt zu Zeiten, die die meisten Leute in meinem Alter angenehm fänden, aber After-Work-Drinks mit dem Team gehörten nicht unbedingt zu meinem Arbeitsalltag. Der Name des Clubs – ebenso wie alles andere dort – war ein verfehlter Versuch, dem Etablissement Klasse zu verleihen. Das einzig Echte an diesem Club war die wirklich gepfefferte Gewinnspanne, die man hier auf den Champagner draufschlug. In der Tat war es nicht viel anders als im Annabel’s, dem ehemaligen Nachtclub ein paar Blöcke weiter, am Berkeley Square. Dasselbe versnobte Publikum, dieselben mittelmäßigen Bilder an den gelben Wänden, dieselbe Sammlung tragischer, schmerbäuchiger älterer Herren, dieselben herumlungernden Scharen von Mädchen, die man vielleicht nicht gerade Nutten nennen sollte, die aber immer einen kleinen Zuschuss zu ihrer Miete gebrauchen konnten. Mein Job war einfach. Eine halbe Stunde bevor der Club seine Türen öffnete, versammelten sich ungefähr zehn Mädchen zu einem kleinen Aufwärmdrink, ausgeschenkt von Carlo, dem Barkeeper. Er trug eine tadellos gebügelte, aber immer leicht streng riechende weiße Jacke. Der Rest des Personals bestand aus einer uralten Babuschka, die an der Garderobe stand, und Olly. Um Punkt neun Uhr sperrte er die Tür auf und machte jedes Mal denselben feierlichen Witz: »Los, Mädels, runter mit den Höschen!«

Danach saßen wir eine Stunde lang plaudernd herum, blätterten in Klatschzeitschriften oder schrieben SMS, bis die Kunden eintrafen, fast immer allein. Der Hintergedanke war der, dass sie sich das Mädchen aussuchten, das ihnen gefiel, und es mitnahmen, damit es sich mit ihnen in einen der mit rosa Samt ausgekleideten Alkoven setzte. Das nannte man ziemlich offenherzig »gebucht werden«. Wenn man gebucht war, lautete das Ziel, den Kunden dazu zu bringen, so viele überteuerte Flaschen Champagner wie möglich zu ordern. Wir bekamen kein Gehalt, nur zehn Prozent Beteiligung an jeder Flasche und dazu das Trinkgeld, das der Gast daließ. An meinem ersten Abend taumelte ich vom Tisch weg, als wir gerade mal bei der dritten Flasche waren, und musste die Babuschka bitten, mir die Haare zu halten, während ich mir den Finger in den Hals steckte.

»Dummes Mädchen«, sagte sie mit grimmiger Genugtuung. »Du sollst das Zeug doch nicht trinken.«

Ich lernte dazu. Carlo servierte den Champagner in riesigen goldfischglasgroßen Gläsern, die wir in den Sektkübel mit dem Eis oder in die Blumentöpfe leeren konnten, wenn der Gast einmal den Tisch verließ. Eine andere Strategie sah so aus, dass man ihn überredete, auch »eine Freundin« auf ein Gläschen einzuladen. Die Mädchen trugen Pumps – niemals offene Sandalen –, weil ein anderer Trick darin bestand, ihn den Champagner aus dem Schuh schlürfen zu lassen. Man glaubt ja gar nicht, wie viel Champagner in einen Louboutin in Größe 39 passt. Und wenn alles nichts half, kippten wir das Zeug auch einfach mal auf den Boden.

Zu Anfang wollte es mir wie ein Wunder scheinen, dass das Lokal sich überhaupt halten konnte. Es hatte schon etwas extrem Edwardianisches, dieses ganze unbeholfene Flirten und der völlig überzogene Preis allein für unsere Gesellschaft. Warum sollte sich irgendein Mann so etwas antun, wenn er sich doch alles, was er wollte, mit der entsprechenden App bestellen konnte? Es war so unfassbar altmodisch. Aber im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass es genau das war, was die Männer immer wieder herzog. Sie waren nicht auf Sex aus, auch wenn viele von ihnen nach ein paar Goldfischgläsern schon mal ein bisschen übermütig werden konnten. Diese Typen waren keine Playboys, nicht mal im Traum. Sie waren ganz gewöhnliche Ehemänner mittleren Alters, die sich für ein paar Stunden vormachen wollten, dass sie wirklich ein Date hatten, mit einem echten Mädchen, einem hübschen Mädchen, hübsch angezogen und mit guten Manieren, das sich tatsächlich mit ihnen unterhalten wollte. Mercedes mit ihren High Heels und Extensions war ganz offiziell das ungezogene Ding – für Kunden, die es gern ein bisschen gewagter hatten. Aber ansonsten hatte Olly es lieber, wenn wir schlichte, gut geschnittene Kleider trugen. Nicht zu viel Make-up, frisch gewaschenes Haar, diskreter Schmuck. Die Männer wollten kein Risiko und keinen Ärger, ihre Frauen sollten nichts davon mitbekommen, und wahrscheinlich wollten sie sich sogar die Peinlichkeit oder die Mühe ersparen, einen hochkriegen zu müssen. Es war absolut erbärmlich, aber sie wollten sich einfach mal wieder begehrt fühlen.

Olly kannte den Markt, und er bediente ihn perfekt. Es gab eine winzige Tanzfläche im Club, und Carlo spielte nebenbei den DJ, sodass unser Begleiter uns jederzeit durch eine Disconacht wirbeln konnte, aber dazu sollten wir ihn auf keinen Fall ermutigen. Es gab eine Speisekarte mit absolut korrekten Speisen, Steak und Jakobsmuscheln und Eisbecher – Männer mittleren Alters stehen drauf, Mädchen mit Dickmachern zu füttern. Natürlich blieben die üppigen Desserts nur so lange drin, bis wir einen diskreten Abstecher zur Toilette machen konnten. Mädchen, die Drogen nahmen oder sich zu nuttig aufführten, flogen nach ihrem ersten Abend – ein Schild neben der Herrentoilette machte die »verehrte Kundschaft« darauf aufmerksam, dass es den Gästen streng verboten war, den »jungen Damen ihre Begleitung außerhalb des Clubs anzubieten«. Sie sollten uns nur verehren.

Ich stellte fest, dass ich mich auf die Donnerstag- und Freitagabende richtig freute. Abgesehen von Leanne (irgendwie kriegte ich »Mercedes« noch nicht so richtig in den Kopf) waren die Mädchen weder freundlich noch unfreundlich, sie waren höflich, aber ohne jede Neugier. Sie schienen sich überhaupt nicht für mein Leben zu interessieren, vielleicht auch deshalb, weil keines der Details stimmte, das sie über sich selbst verrieten. Am ersten Abend, als wir ein bisschen angeschickert die Albemarle Street entlangstolperten, schlug Leanne mir vor, ich sollte mir einen Namen aussuchen, den ich im Club verwenden wollte. Mein zweiter Name lautete Lauren, das war neutral und verriet nicht viel.

Ich behauptete, Kunstgeschichte zu studieren. Die meisten Mädchen schienen irgendwas zu studieren, meistens BWL, und vielleicht stimmte es bei ein paar von ihnen auch. Keine war aus England. Die Vorstellung, dass sie in dieser Bar jobbten, um sich hochzuarbeiten, schlug bei manchen Kunden offensichtlich die Eliza-Doolittle-Seite an. Leanne dämpfte ihren rauen Liverpooler Akzent, und ich bemühte mich, meine eigene Aussprache, die ich bei der Arbeit einsetzte und in der ich mittlerweile auch träumte, etwas abzuschleifen, damit sie nicht gar zu sehr nach BBC-Englisch klang. Doch zu Ollys sichtlicher Befriedigung klang ich trotzdem noch ziemlich nach Upperclass.

Bei meiner Arbeit in der Prince Street gab es eine Million winziger Codes zu berücksichtigen. Mit einem einzigen Blick konnte man die Position eines Menschen auf der sozialen Leiter bis auf den x-ten Grad bestimmen. Das Erlernen dieser Regeln war viel schwieriger, als Gemälde zu bestimmen, denn der Haken an diesen Regeln war ja der, dass man sie als Insider gar nicht erklärt bekommen musste. Vor den Augen der meisten Leute hätte ich wahrscheinlich bestanden, nachdem ich stundenlang sorgfältig studiert hatte, wie ich sprechen und gehen musste – Leanne zum Beispiel schien verwirrt und wider Willen beeindruckt von meiner Verwandlung –, aber irgendwo im Haus gab es ein verstecktes Kästchen mit Alice-im-Wunderland-Schlüsseln, die ich niemals besitzen würde, Schlüssel, die noch kleinere Gärten aufschlossen, deren Mauern noch undurchdringlicher waren, weil sie unsichtbar waren. Im Gstaad war ich jedoch die Vorzeige-Vornehme, und wenn die Mädchen überhaupt darüber nachdachten, dann glaubten sie, dass es keinen Unterschied gab zwischen den Spielerfrauen und den überalterten Debütantinnen, die die Seiten in den Klatschmagazinen füllten. Und im Grunde hatten sie ja auch recht.

Geplaudert wurde im Club meistens über Klamotten, den Erwerb von Designerschuhen und -handtaschen und über Männer. Manche Mädchen behaupteten, einen festen Freund zu haben, wobei dieser oftmals verheiratet war, weshalb es üblich war, sich pausenlos über den festen Freund zu beschweren. Andere gingen mit Männern aus, und bei denen war es dann eben üblich, sich pausenlos über ihre Dates zu beschweren. Für Natalia und Anastasia und Martina und Karolina schien es eine Binsenwahrheit zu sein, dass Männer nichts anderes waren als ein notwendiges Übel, das man ertragen musste, um Schuhe, Handtaschen und am Samstagabend Restaurantbesuche beim Japaner in Knightsbridge abzustauben. Sie analysierten ausführlich die Häufigkeit und Herzlichkeit ihrer SMS, aber emotionale Beteiligung ihrerseits war für die Fälle reserviert, dass die Männer sich mit anderen Frauen trafen oder nicht genug Geschenke anschleppten. Es gab Intrigen und Gegenintrigen – mit ausgetüftelter iPhone-Fallenstellerei. Sie redeten von Männern mit Segelbooten, sogar von Männern mit Flugzeugen, aber ich hatte nie das Gefühl, dass in irgendeinem dieser Fälle wirklich Vergnügen im Spiel war. Liebe war nicht die Sprache, die eine von uns benutzt hätte, unsere Währung waren unser frischer Teint und unsere straffen Oberschenkel, die nur für Männer einen Wert hatten, die zu alt waren, um so etwas als selbstverständlich vorauszusetzen. Im Großen und Ganzen war man sich einig, dass ältere Männer insgesamt weniger Ärger machten, obwohl es schon genug Geschrei über ihre körperlichen Defizite gab. Kahlköpfigkeit und Mundgeruch und Viagra waren die Realität, obwohl man das nicht geglaubt hätte, wenn man sah, wie kokett der SMS-Wechsel zwischen diesen Mädchen und ihren Männern ablief. So war ihre Welt eben, und ihre Verachtung und ihre gelegentlichen Tränen blieben für uns reserviert.

Im Gstaad hatte ich zum ersten Mal so etwas wie Freundinnen, und ich schämte mich ein bisschen dafür, wie glücklich mich das machte. In der Schule hatte ich nie Freundinnen gehabt. Ich hatte mir des Öfteren ein blaues Auge eingefangen, ich hatte mich aggressiv hochmütig gegeben, ausgiebig geschwänzt und den Freuden des Sex gefrönt, aber für Freundinnen hatte ich keine Zeit gehabt. Leanne und ich hatten eine stillschweigende Übereinkunft, dass wir als Teenager befreundet gewesen seien (wenn es denn ein Zeichen von Freundschaft war, dass man nicht aktiv beteiligt gewesen war, wenn die andere mit dem Gesicht ins Waschbecken getunkt wurde), und sprachen nie davon.

Abgesehen von Frankie, der Sekretärin im Haus, waren die einzigen konstanten weiblichen Präsenzen in meinem Leben meine Mitbewohnerinnen, zwei ernste Koreanerinnen, die am Imperial College Medizin studierten. Wir hatten einen Putzplan, der im Bad hing und an den wir uns alle höflich hielten, und abgesehen davon gab es kaum Konversationsbedarf. Mit Ausnahme der Frauen, die ich bei den speziellen Partys kennenlernte, auf die ich gerne ging, hatte ich von meinem eigenen Geschlecht nie etwas anderes erwartet als Feindseligkeit und Geringschätzung. Ich hatte nie gelernt, wie man tratschte oder Ratschläge erteilte oder sich endlose Litaneien über verschmähtes Begehren anhörte. Doch hier hatte ich das Gefühl, mich anschließen zu können. In der U-Bahn tauschte ich das Burlington Magazine und den Economist gegen die Regenbogenpresse, damit ich auf die unerschöpfliche Reihe der Filmstars zurückgreifen konnte, wenn das ewige Gerede über die Männer schal wurde. Ich schützte ein gebrochenes Herz vor (Folgen einer Abtreibung), um meinen Mangel an Dates zu erklären. Ich behauptete, »noch nicht wieder bereit« zu sein, und verkniff mir ein Grinsen, wenn sie mir rieten, »mit der Sache abzuschließen und mich neu zu orientieren«. Meine nächtlichen Ausflüge behielt ich für mich. Ich merkte, wie mir dieses seltsame kleine konzentrierte Universum gefiel, in dem nichts real war und die Außenwelt weit entfernt schien. Dort fühlte ich mich sicher.

Was das Geld anging, hatte Leanne nicht gelogen, sondern höchstens ein bisschen übertrieben, aber es war immer noch bemerkenswert. Wenn ich meinen Umsatzanteil am Champagner als Taxigeld für die Heimfahrt veranschlagte, machte ich immer noch sechshundert Pfund pro Woche nur mit Trinkgeldern, mit zerknitterten Zwanzigern und Fünfzigern, manchmal auch mehr. Nach vierzehn Tagen hatte ich mein Minus auf dem Girokonto ausgeglichen, und ein paar Wochen später fuhr ich sonntags mit dem Zug zu einem Outlet-Center in der Nähe von Oxford und investierte ein wenig. Ein schwarzer Moschino-Rock, um den armen alten Sandro zu ersetzen, ein schmerzlich schlichtes weißes Cocktailkleid von Balenciaga, flache Schuhe von Lanvin, ein Kleid von Diane von Fürstenberg. Ich ließ mir endlich meine Kassenzähne in der Harley Street lasern, machte einen Termin bei Richard Ward und ließ mir die Haare so schneiden, dass sie fast genauso aussahen wie vorher, nur fünf Mal teurer. Nichts davon war für den Club gedacht. Fürs Gstaad kaufte ich mir in der Haupteinkaufsstraße der Innenstadt ein paar schlichte Kleider, denen ich mit einem Paar Lack-Louboutins ein Upgrade verpasste. Ich räumte ein Fach in meinem Kleiderschrank frei und legte meine sorgfältig in Papier gewickelten Neuerwerbungen hinein. Manchmal schaute ich sie mir einfach nur an und zählte sie wie ein Geizkragen sein Geld. In meiner Kindheit hatte ich die Internatsromane von Enid Blyton verschlungen, mit Heldinnen wie Dolly oder Hanni und Nanni. Die neuen Sachen waren meine Schuluniform und mein Lacrosse-Schläger, die Uniform der Frau, die ich werden würde.

Er begann, den Club zu besuchen, als ich einen Monat dort arbeitete. Donnerstag waren normalerweise die meisten Männer im Gstaad, einen Tag bevor die Geschäftsmänner aufs Land zurückkehrten, aber an diesem Abend schüttete es aus Kübeln, und wir hatten nur zwei Gäste. Sobald die Kunden erschienen, waren Zeitschriften und Handys tabu, also waren die Mädchen lustlos, drängelten sich draußen zum Rauchen unter der Markise und versuchten dabei zu verhindern, dass ihre Haare von der feuchten Luft strohig wurden. Da klingelte es, und Olly kam herein. »Gerade hinsetzen, Ladys! Heute ist euer Glücksabend!« Ein paar Minuten später bewegte einer der widerlichsten Männer, die ich je gesehen hatte, seinen riesigen Bauch in den Raum.

Er setzte sich gar nicht erst auf einen Barhocker, sondern ließ sich gleich auf die nächste Bank fallen und bedeutete Carlo mit einer gereizten Geste, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Er nahm seine Krawatte ab und trocknete sich das nasse Gesicht mit einem Taschentuch ab. Er hatte etwas Schlampiges an sich, dem nur wirklich erstklassige Schneiderkunst abhelfen kann, und sein Schneider war eindeutig überfordert gewesen. Sein offenes Jackett gab den Blick auf ein enges cremefarbenes Hemd frei, das über seinem Bauch strammte, der wiederum auf seinen gespreizten Knien ruhte. Speckrollen stapelten sich auf seinem Kragen, sogar seine Schuhe sahen aus, als würden sie gleich aus den Nähten platzen. Er bat um ein Glas Wasser mit Eis.

»Fatty hab ich auch schon eine Weile nicht mehr gesehen«, zischelte jemand.

Wir Mädchen sollten uns angeregt unterhalten, mit viel Haareschütteln und Blicken unter halb gesenkten Lidern, sodass es aussah, als wären wir rein zufällig hier, ganz ohne Begleitung in unseren hübschen Kleidern, bis der Gast sich eine ausgesucht hatte. Der Dicke entschied sich schnell. Er nickte mir zu, seine Wangen zogen sich wie schlabberige marmorierte Vorhänge zu einem Lächeln zurück. Als ich den Raum durchquerte, sah ich das spießige Streifenmuster auf der abgelegten Krawatte und den Siegelring, der im Fett seines kleinen Fingers fast unterging. Igitt.

»Ich bin Lauren«, hauchte ich lächelnd. »Soll ich mich zu dir setzen?«

»James«, stellte er sich vor.

Ich setzte mich sittsam neben ihn, überkreuzte die Füße an den Knöcheln und schaute ihn erwartungsvoll an. Keine Gespräche, bevor sie bestellten.

»Ich schätze, ich soll dir einen Drink bestellen?« Er sagte es verdrossen, als wüsste er, wie dieser Club funktionierte, empfände es aber immer noch als Zumutung.

»Danke, das wäre nett.«

Er schaute gar nicht auf die Karte. »Was ist das Teuerste?«

»Ich glaube …«

»Na los, sag’s schon.«

»Na ja, James, das wäre der Cristal 2005. Hättest du gern eine Flasche davon?«

»Bestell sie. Ich trinke nicht.«

Ich nickte Carlo zu, bevor mein Gast es sich anders überlegen konnte. Der 2005er kostete atemberaubende dreitausend. Dreihundert hatte ich also schon mal in der Tasche. Hey, Big Spender.

Carlo trug die Flasche an unseren Tisch, als wäre sie sein erstgeborener Sohn, doch James winkte ihn ungeduldig fort, öffnete sie und goss uns pflichtbewusst die Goldfischgläser voll.

»Magst du Champagner, Lauren?«, fragte er.

Ich gestattete mir ein trockenes kleines Lächeln. »Na ja, manchmal kann es schon ein bisschen monoton werden.«

»Warum gibst du die Flasche dann nicht deinen Freundinnen und bestellst dir, was du wirklich haben willst?«

Dafür mochte ich ihn. Er war körperlich abstoßend, das ja, aber die Tatsache, dass er keine Heuchelei von mir erwartete, hatte etwas Mutiges. Ich bestellte mir also einen Hennessy und nippte langsam daran, und er erzählte mir ein bisschen von seinem Beruf, der natürlich mit Finanzen zu tun hatte, und am Ende stemmte er sich wieder auf die Füße und watschelte davon, nicht ohne mir vorher fünfhundert Pfund in neuen Fünfzigern auf den Tisch gelegt zu haben.

Am nächsten Abend kam er zurück und machte genau dasselbe. Leanne schrieb mir am Mittwochmorgen eine SMS, dass er am Dienstag da gewesen sei und nach Lauren gefragt habe, und am Donnerstag kam er wieder, nur wenige Minuten nachdem der Club geöffnet hatte. Es gab zwar ein paar Mädchen, die »Stammkunden« hatten, aber keiner war so großzügig, und das verlieh mir einen ganz neuen Status. Ich war fast etwas überrascht, dass es keine Eifersucht gab. Aber andererseits war Geschäft natürlich Geschäft.