Titelbild
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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97014-3

Juli 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: shutterstock/Leigh Prather

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Vorwort

»Das meiste von dem, was wir sagen und tun, ist unnötig, und wenn man es wegließe, würde man mit mehr Muße und weniger Unruhe leben.«

Dieses Zitat stammt nicht etwa aus einem modernen Ratgeber für Zeitmanagement, sondern wird dem römischen Kaiser Marc Aurel zugeschrieben, der damit bereits im 2. Jahrhundert den Überfluss an Meinungen beklagte.

Im heutigen Zeitalter sozialer Netzwerke scheint das Ausmaß der Bekenntnisse uferlos geworden zu sein. Öffentliche Äußerung wirken nicht selten wie vorschnell urteilende Profilierungsversuche. Wie aber lässt sich in der Hektik von Likes, Retweets und minütlich aktualisierten Online-Schlagzeilen das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden – ohne dabei die Freude an profunder Berichterstattung zu verlieren? Mit »Denkanstöße 2016« bekommen Sie Orientierung im Meinungsdschungel und können sich gründlich und gezielt über verschiedenste Themen informieren, die aktuelle Diskussionen maßgeblich beeinflussen.

So lässt sich nachlesen, welch bedeutende Rolle den Frauen in der Bibel zukommt – wie Beatrice von Weizsäcker eindrucksvoll belegt. Mit Andreas Altmann reist man durch Nablus in Palästina und lernt, wie Menschen einander begegnen, die sich seit Jahrzehnten im Kriegszustand miteinander befinden. Anselm Bilgri und Georg Reider führen in die Kunst der Muße ein und Eckhard Henscheid entdeckt seinen Lieblingsdichter Dostojewski für uns ganz neu als Großhumoristen.

Lassen Sie sich ein auf gründlich recherchierte und sorgfältig formulierte Denkanstöße, die zeigen, wie aufregend und informativ Innehalten und Nachdenken sein kann.

Isabella Nelte

ERKENNTNISSE

Aus Religion und Philosophie

Beatrice von Weizsäcker

Die Bibel als »Buch einer Frauenemanzipation«

»Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung. Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie sich über den Mann erhebe, sondern sie sei stille. Denn Adam ist am ersten gemacht, danach Eva. Und Adam ward nicht verführt; das Weib aber ward verführt und ist der Übertretung verfallen.«

Ein so beschriebenes Frauenbild, das der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an seinen Schüler Timotheus entwarf (2, 11 – 14), wird von Männern gern zitiert, halb im Scherz, halb im Ernst, schließlich ist die Hackordnung simpel und kommt ihnen zugute. Dass das Zitat Frauen empört und auch mich, kann kaum verwundern. Richtig ist aber auch, dass es dem Sinn der Bibel widerspricht. Dazu genügt ein Blick in die Evangelien des Neuen Testaments.

Quelle elementarer Teile der Evangelien sind Frauen: Maria Magdalena, Maria, Jakobs Mutter und, nach Markus (16, 1 ff.), auch Salome. Sie waren die Ersten, die das leere Grab sahen: »Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes, weißes Kleid an, und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr suchet Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.« Nach Matthäus war der Jüngling ein Engel (28, 2). Markus notierte (16, 9 – 11): »Als Jesus am frühen Morgen des ersten Wochentages auferstanden war, erschien er zuerst Maria aus Magdalena. […] Sie ging und berichtete es denen, die mit ihm zusammengewesen waren. […] Als sie hörten, er lebe und sei von ihr gesehen worden, glaubten sie es nicht.« Auch Johannes schrieb nur von Maria Magdalena (20, 11 ff.), die die Erste gewesen sein soll, der Jesus sich offenbart hatte. Doch dazu später mehr.

Es waren also keineswegs Männer, sondern Frauen, die vom leeren Grab und der Auferstehung berichten konnten. Darum konnten auch nur sie Zeugnis geben und eben nicht stille sein. Die Auferstehung selbst wurde nie bezeugt. Sie wird in der Bibel als gegeben vorausgesetzt. So schreibt Paulus in seinem ersten Korintherbrief (15, 4): »[…] und dass er auferstanden ist am dritten Tage gemäß der Schrift.«

Ob darum Frauen die eigentlichen Nachfolger von Jesus waren und nicht die Jünger, ist umstritten. Für mich ist diese Auseinandersetzung nicht zentral. Von Bedeutung dagegen ist für mich, dass die von Männern notierte Geschichte ohne die weibliche Überlieferung nicht hätte protokolliert werden können. Die Bibel mag zwar von Männern geschrieben sein, aber allwissend waren sie nicht. Wichtig ist mir, dass es die Frauen waren, allen voran Maria Magdalena, die die Geschichte als Erste verstanden. Maria Magdalena wird der Bibel zufolge von Jesus bevorzugt. Auch wenn man meist von den Jüngern liest.

Darum können wir Frauen mit gleichem Stolz auf die Bibel schauen, nicht nur auf die Bibel als solche, sondern auch auf die Schrift als das »vielleicht […] interessanteste Buch einer Frauenemanzipation«, wie die Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel, eine der bekanntesten Vertreterinnen der feministischen Theologie, meinte. Falsch ist das sicher nicht – nur unbekannt.

Elisabeth Moltmann-Wendel hat in ihrem Buch Ein eigener Mensch werden: Frauen um Jesus passend dazu eine wunderbare Geschichte notiert. Sie spielt in Lateinamerika, genauer, in Nicaragua. Ich zitiere die Begebenheit mit den Worten der Autorin:

»In Solentiname in Nicaragua wurden unter der Leitung des Dichter-Priesters Ernesto Cardenal vor einigen Jahren ungewöhnliche Gottesdienste gehalten«, schrieb Moltmann-Wendel, »die Bauern, die Fischerfamilien kamen zusammen, lasen einen Bibeltext und sprachen spontan darüber  alle mit einem geschärften Bewusstsein für die gesellschaftliche Veränderung, für die erlittene Ungerechtigkeit des sozialen Systems und für Christus, den Befreier der Unterdrückten.

Eines Sonntags wird die Ostergeschichte gelesen, wie die Frauen zum Grabe kommen, um den Leichnam Jesu zu salben. Die Bauernfrauen begeistern sich und fangen an, sich mit diesen Frauen zu identifizieren: ›Es waren Frauen und keine Männer, die als erste zum Grabe gingen; die Frauen sind mutiger als die Männer‹«, zitierte Moltmann-Wendel die Bauernfrauen; und weiter: »Die Frauen haben mehr Herz. Und die Liebe kann große Kraft geben. Wenn man liebt, hat man keine Angst und nimmt es mit jedem auf. Jesus, der aus Liebe gestorben war, hat ihnen diesen Mut eingeflößt, den Mut der Liebe. Wenn man liebt, ist man mutig, man fürchtet nicht einmal den Tod.«

Die Frauen hatten die Bibel für sich entdeckt. Nicht durch die Brille der Männer, sondern mit eigenen Augen lasen sie sie und hatten sich selbst darin wiedergefunden. Die Männer reagierten mit Widerstand, wie nicht anders zu erwarten war. Sie warfen den Frauen vor, sich in eine Sonderrolle zu begeben, die sonst nur Männern vorbehalten war. »Ich sehe nicht ein, warum die Frauen so mutig gewesen sein sollen«, zitierte Moltmann-Wendel einen der Erzürnten, »was soll schon Großes daran gewesen sein, wenn sie da hingingen und ein bisschen weinten?«

Man einigte sich auf Partnerschaft, schrieb die Theologin und zitierte einen der Anwesenden: »Natürlich spielen die Frauen eine sehr wichtige Rolle, genau wie die Männer. Aber das bedeutet nicht, dass sie mutiger gewesen wären oder Jesus mehr geliebt hätten.«

Nach Einschätzung der Autorin sind drei Dinge in der kleinen Geschichte wichtig: Erstens, wie spontan sich Frauen in der Bibel wiedererkennen könnten; zweitens, wie emotional und eifersüchtig Männer darauf achteten, dass »Frauen nicht zu viel Selbstbewusstsein entfalten«; und drittens, dass geschichtliche Begründungen dafür herhalten müssten, »um die Rolle des Mannes zu stabilisieren«.

Das ist alles überzeugend, vor allem der erste Punkt. Für mich ist jedoch noch wichtiger die Partnerschaft, auf die man sich einigte. Ob und wie auch immer sie durchgehalten werden konnte, für die Frauen war das allemal ein Schritt nach vorn. Und zugleich ein Schritt weg von der Unterdrückung im Zitat des Apostels Paulus – von der »Stille« der Frau und deren »Unterwerfung« …

Gott aus feministischer Sicht

Das Zitat stammt nicht von Jesus, wie gesagt. Es war Paulus, der es im ersten Brief an seinen Schüler Timotheus schrieb (2, 11 – 14). Für Männer war die Sache bequem, denn alles war männlich: Gottvater, Jesus und der Heilige Geist. Die göttliche Ordnung schien männlich gewollt, nicht nur im Glauben, nicht nur in der Gesellschaft, sondern natürlich auch in der Kirche. Auch die Theologie war Männern vorbehalten.

Es hat unendliche Jahrhunderte gedauert, bis sich diese Sicht änderte. Der Durchbruch eines anderen Glaubens- und Geschlechterverständnisses kam spätestens mit der feministischen Theologie, deren Vertreterinnen die Bibel auf Sprache, Bilder und Deutung hin prüften und daraufhin die Bibel in gerechter Sprache neu übersetzten. Auch Männer waren daran beteiligt.

Die feministische Theologie führte zwar zu einer ebenso richtigen wie notwendigen Sensibilisierung für die Sprache (schließlich ist Sprache verräterisch), und allein das hat viel verändert. Doch auch wenn man nun sagen kann, ich glaube »an Gott, unseren Vater und unsere Mutter, der/die Mann und Frau nach seinem/ihrem Abbild schuf«, auch wenn selbst Papst Johannes Paul I. im September 1978 betonte, »Gott ist unser Vater und noch mehr Mutter«, an den Tatsachen änderte sich wenig. Das Wort »Gott« bleibt männlich. »Der Gott« wird nicht zu »die Gott«. Von der unsinnigen Formulierung »das Gott« einmal ganz abgesehen. Diesen Vorschlag hatte die damalige Familienministerin Kristina Schröder im Dezember 2012 aus Gründen der Geschlechterneutralität in der ZEIT gemacht. Gott mag für manche Vater und Mutter sein, dadurch wird Gott jedoch nicht zu Mann oder Frau, auch nicht zu Mann und Frau. Gott entzieht sich unserer Begrifflichkeit, er braucht keinen Namen und auch kein Geschlecht. Denn er ist kein Mensch.

Letztlich ist es egal, wie man ihn nennt, ob Gott oder anders, das Wort »Gott« stammt nicht von Gott, ja, allein die Vorstellung erscheint grotesk, dass er sich selbst benannt haben soll. Das Wort ist eine Erfindung von Menschen. Gott hat damit nichts zu tun.

Mir erscheint es künstlich, Gott als männlich oder weiblich oder beides darzustellen. Für mich spielt das keine Rolle. Denn nicht Gott unterscheidet zwischen Männern und Frauen. Wir kennen den Unterschied. Wir ziehen Konsequenzen daraus. Gerade weil es für Gott einerlei ist, ob wir männlich oder weiblich geboren sind, fühle ich mich in meinem Glauben frei. Vor Gott muss ich weder um Gleichberechtigung bitten noch um sie kämpfen.

Dass die Probleme dadurch mitnichten gelöst sind, zeigt der Blick auf die katholische Kirche. Zum Beispiel dass sie eine Priesterschaft der Frauen mit dem Hinweis ablehnt, dass Jesus ein Mann war.

Das Bewusstsein von Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ist da, aber nicht als Folge der feministischen Theologie. Vielmehr war die feministische Theologie Folge der allgemeinen Frauenbewegung, die ihre Wurzeln schon im 19. und 20. Jahrhundert hatte und ihre Fortsetzung in den 1960er-/1970er-Jahren fand. Als es um Mündigkeit ging, um die Abschaffung des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch zum Beispiel.

Ich habe hohen Respekt vor feministischen Theologinnen, es sind oft kluge Leute. Das Bemühen um die Bibel in gerechter Sprache leuchtet mir zwar ein, doch es ist mir zu parteiisch. Letztlich ist mir beides fremd, der Feminismus und die Bibel in gerechter Sprache, so, wie mir alles Extreme fernliegt.

Ich sträube mich gegen alle »-ismen«. Zwar wird mir oft gesagt, ich müsse doch Feministin sein, schließlich redete und dächte ich wie eine, in Wahrheit aber ist das nicht der Fall. Für mich zählt die Geschlechtergerechtigkeit, gewiss. Noch wichtiger aber ist mir die Gerechtigkeit an sich. Ich trete für Männer ebenso ein wie für Frauen, wenn sie ungerecht behandelt werden, und nicht, weil sie Männer oder Frauen sind. Das Kämpferische, das jedem »-ismus« innewohnt, liegt mir nicht. Ich stehe für Inhalte, keine Ideologien.

Trotzdem stört auch mich eine männerdominierte Welt, sei es in der Kirche, sei es in der Politik, sei es in der Gesellschaft. Das hat mit »-ismen« nichts zu tun. Viel mehr, wie gesagt, mit Gerechtigkeit.

EXKURS: Warum ich keine Feministin bin

Eines meiner Probleme mit Feministinnen ist ihre Sprache. Alles soll versachlicht werden. Wozu? Damit das Weibliche nicht mehr weiblich und das Männliche nicht mehr männlich, sondern beides bloß noch neutral und damit unverständlich ist? In Wahrheit verstecken Feministinnen damit ihre Weiblichkeit, sie ebnen sie ein. Nichts von »ihr« ist mehr da. Wir sind längst dabei, die Sprache zu verunstalten, um alle gleich zu machen.

Meine Lieblings-Antiworte in dieser Debatte sind »Studierende« und, wie wir beim Kirchentag sagen, »Teilnehmende«. Das tut mir in den Ohren weh. Wie wäre es, wenn ich bei einem Vortrag das Publikum anreden würde mit »liebe Zuhörende«? Vielleicht hört das Publikum ja gar nicht zu, sondern liest Mails auf dem Smartphone? Das wäre sein gutes Recht – und ich läge falsch.

Ein schönes Beispiel für den Unsinn des Worts »Studierende« fand ich einst auf Spiegel Online. Die Plattform zitierte den langjährigen Titanic-Kolumnisten Max Goldt, der sagte: »Wie lächerlich der Begriff Studierende ist, wird deutlich, wenn man ihn mit einem Partizip Präsens verbindet. Man kann […] nach einem Massaker an einer Universität [nicht sagen]: Die Bevölkerung beweint die sterbenden Studierenden. Niemand kann gleichzeitig sterben und studieren.«

Sind wir Frauen keine Substantive, keine Subjekte mehr, sondern gebeugte Verben? Mit anderen Worten: ohne aufrechten Gang, sondern in gekrümmter Haltung, einer Unterwerfung gleich? Nicht seiend, sondern immer tuend? Das ist nicht nur sprachhistorisch, sondern auch tatsächlich falsch.

Solche Sprache ist verräterisch. Sie mag heutzutage politisch korrekt sein, tatsächlich ist sie Unsinn. Die Nivellierung der Sprache ist der beste Weg, Frauen optisch von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Es hat doch lange genug gedauert, dorthin zu gelangen! Die Frauen sollten sich trauen, auch sprachlich als Frauen aufzutreten, als aufrechte Wesen und nicht gekrümmten Ganges: Gleichmacherei geht an der Sache vorbei, sie schadet ihr nur. Sie ist rückgratlos – trotz allen guten Willens.

Schon der Gedanke daran treibt mir den Feminismus aus. Schon darum nenne ich mich nicht Feministin.

Es waren aber auch Feministinnen selbst, die mir ihre Überzeugungen vergällten. 1968 war ich zehn Jahre alt. Es war die Hochzeit des Feminismus, doch ich merkte nichts davon. Für mich war Gleichberechtigung normal, auch in meinem späteren Leben. Doch nach und nach stieß ich immer öfter auf Frauen, die sich mir gegenüber merkwürdig verhielten. Sie, die 68erinnen und Feministinnen, seien es doch gewesen, die mir den Weg zur Normalität der Gleichberechtigung geebnet hätten. Ihr Erfolg wandelte sich plötzlich in einen reflexartigen Vorwurf. Dankbarkeit wurde eingefordert – und die Fortsetzung des Kampfes für die Sache. Die Folge: Ich widersetzte mich. Denn vereinnahmen lassen wollte ich mich nie.

Dass ich mit meinem Eigensinn nicht allein bin, es vielmehr Frauen, die lange nach mir geboren sind, immer noch so geht, begriff ich erst, als ich im Januar 2013 einen Artikel von Melanie Mühl (Jahrgang 1976) in der FAZ las. »Für mich lief alles super«, zitierte sie die schweizerische Kolumnistin Michèle Roten (Jahrgang 1979). »Dank Alice Schwarzer und ihren Frauen! Sie haben ihr Ziel erreicht: für mich eine bessere Welt zu schaffen. Et voilà! Merci! Und jetzt abtreten bitte.«

Wenn es aber wieder rückwärts- oder nicht weitergeht, setze ich mich ein. Da bin ich dabei. Wie Melanie Mühl, die zu Recht vor falscher Naivität warnte. Aber dazu muss ich keine Feministin sein.

Jesus aus feministischer Sicht

In der feministischen Theologie geht es selbstverständlich auch um Jesus. Dass in der damaligen Zeit ein männlicher Messias erwartet wurde, ein weiblicher hingegen schon aus kulturellen Gründen unvorstellbar schien, ist allgemein bekannt. Die Welt war patriarchisch angelegt. Genau dies stört viele Frauen.

Interessant finde ich den Ansatz, Jesus einen »ganzheitlichen androgynen Mann« zu nennen, wie es die Psychotherapeutin und frühere Pfarrerin Hanna Wolff tat. Mir wäre das nicht eingefallen.

Ihn aber deswegen gleich als »ein zwittriges Wesen« zu bezeichnen, wie es prompt der Spiegel tat (16/1980), ist dagegen grundfalsch. Ein Zwitter ist etwas ganz anderes als ein androgyner Mensch. Ein Zwitter zeigt beide Geschlechtsmerkmale, ein androgyner Mensch Eigenschaften beiderlei Geschlechts. Ein androgyner Mann ist physisch ein Mann, wenn auch vielleicht mit mehr weiblichen als männlichen Merkmalen. Das Gleiche gilt umgekehrt für eine androgyne Frau. Sie mögen sich zuweilen von ihren eigenen Geschlechtsgenossen und -genossinnen angezogen fühlen, aber auch das ändert nichts am biologischen Befund. Bei Zwittern liegt die Sache ganz anders. Es ist ein sexuelles Problem, ein für alle Beteiligten äußerst schwieriges obendrein.

Die »Zwitter-Debatte« hat nicht lange angehalten. Sie taugt nicht nur nichts bei der Frage nach Jesus, sie ist auch noch fehl am Platz.

Es geht doch nicht darum, ob Jesus im geschlechtlichen Sinne ein Mann oder eine Frau war, sondern ob er als Mann neben männlichen auch weibliche Charakterzüge zeigte, eine Ganzheitlichkeit von männlichen und weiblichen Eigenschaften, um die es Hanna Wolff ging.

Als »Feministen« in Sachen Jesu können sich auch Männer erweisen, zum Beispiel Franz Alt, ein ebenso engagierter wie umstrittener Katholik. Er folgte der Meinung Hanna Wolffs und verfeinerte sie. Jesus war ein neuer Mann, schrieb der Journalist in seinem Buch Jesus  der erste neue Mann, weil er erstmals »die ausschließliche Männer-Fixierung« der damaligen Gesellschaft aufgedeckt und infrage gestellt habe. Und es stimmt ja auch: Selten erhob Jesus ein böses Wort gegenüber Frauen, viel häufiger empörte er sich über Männer.

Erinnert sei an die Vertreibung aus dem Tempel, von der alle Evangelien erzählen. In der Geschichte wurde Jesus ungewöhnlich zornig. »Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen«, heißt es bei Johannes (2, 13 – 16). »Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus, dazu die Schafe und Rinder; das Geld der Wechsler schüttete er aus, und ihre Tische stieß er um. Zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das weg hier, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!« – Wenn das kein »heiliger Wutausbruch« war, wie die Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Petra Bahr, einst sagte.

Auch die Reichen waren ihm zuwider. »Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme«, rief er aufgebracht (Markus 10, 25). Es waren Männer, die er ansprach, nicht Frauen. Denn nur wenige Frauen seiner Zeit waren vermögend.

Jesu »absolut neue Haltung gegenüber Frauen – inmitten einer frauenfeindlichen und ausschließlich männerorientierten antiken Welt« habe am deutlichsten den »neuen Mann Jesus« gezeigt, schrieb Alt, der sich als bekennender Christ bezeichnet. Die Einzigartigkeit dieses neuen Mannes sah der Autor im Vergleich mit Buddha und Mohammed, Aristoteles und Plato nur bestätigt. Keiner von ihnen sei mit den Frauen je so frei von Vorurteilen umgegangen, so »partnerschaftlich und spontan selbstverständlich«. Keiner habe eine größere Harmonie von männlich-weiblich gezeigt als Jesus.

In Jesus, so sehe auch ich das, hatten Weiblichkeit und Männlichkeit nicht miteinander konkurriert, sondern sind zu einem geworden. Jesus war unverwechselbar, gerade weil er die Ganzheit von Weiblichem und Männlichem lebte. Darin war er tatsächlich der erste neue Mann, wie Franz Alt betonte. Jedenfalls der erste bekannte Mann seiner Zeit, der diese Seiten offen zeigte. Im Übrigen reagierte er wie viele andere auch. Er hatte Mitleid und Erbarmen, er trauerte, geriet außer sich, zeigte Gefühle.

Immer noch gilt es als unmännlich, Gefühle zu zeigen oder gar zu weinen. Wird ein Mann zur Frau, bloß weil er weint? Bloß weil er Erbarmen und Mitleid zeigt? Was wäre das für eine arme Welt. Jesus war ein ganzer Mann. Und er blieb es auch, als er weinte.

Trotzdem war Jesus anders als die Männer seiner Zeit. Er lebte sein Leben in Gott. Seine Eltern verstanden ihn nicht. Wie sollten sie auch? Als Jesus einmal nach Hause kam und eine große Menge Menschen vorfand, wollten »die Seinen« ihn halten. Irritiert riefen sie: »Er ist von Sinnen.« (Markus 3, 20 – 21) »Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Haus«, sagte Jesus (Markus 6, 4). Das allein zeigt, dass er von seinen Eltern zwar unverstanden, aber auch unabhängig lebte – oder, um es mit Franz Alts Worten zu sagen, dass er »frei war von einem Vater- oder Mutterkomplex«.

Jesus war ein Mann, der keine Angst vor Frauen hatte; den nichts an ihnen irritierte. Jesus schätzte Frauen, ohne dabei an ein hierarchisches »Oben« und »Unten« zu denken. Er ließ sich von ihnen belehren. Animositäten gegenüber Frauen waren ihm fremd, das Weibliche nicht.

Und wenn Jesus eine Frau gewesen wäre?

Tja, was dann … Die Frage ist so hypothetisch, dass man sie kaum beantworten kann, ohne jedes historische Wissen über Jesus über Bord zu werfen. Wäre der Stellenwert der Frauen zu der damaligen Zeit ein anderer gewesen, wären Religion, Kultur und Machtverhältnisse nicht so auf Männer fixiert gewesen, dann, ja dann hätte man sich Jesus auch als Frau denken können. Jahrhundertelang war es unvorstellbar, dass der Papst eine Frau sein könne. Doch langsam entbrennt darüber eine Debatte. Wer weiß, was die ferne Zukunft bringt?

Nach katholischem Verständnis ist der Papst immer ein Mann, weil er als Nachfolger Petri gilt. Die Kirche unterscheidet aber zwischen Amt und Inhaber. Das Papstamt bleibt stets unangetastet, die Personen wechseln. In unnachahmlicher Weise soll Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. den Unterschied einst auf den Punkt gebracht haben: »Der Papst kennt keinen Zweifel. Ratzinger schon.«

Wenn aber die römisch-katholische Kirche zwischen Papstamt und Inhaber unterscheidet, warum muss, ketzerisch gefragt, diese Person dann immer ein Mann sein? Warum nicht auch einmal eine Frau? Das Amt würde dadurch ja nicht angetastet.

Stellen wir uns die damaligen Zeiten einmal anders vor: als Matriarchat, also weiblich geprägt. Und stellen wir uns vor, das Alte Testament hätte von einem Messias nicht in männlicher Form gesprochen, sondern eine Erlöserin erwartet. Was wäre so anders im Leben Jesu verlaufen, wäre er eine Frau gewesen? Ich glaube, nicht viel. Vermutlich wäre es für Jesus als Frau genauso selbstverständlich gewesen, das Evangelium, die »gute Nachricht«, zu verkünden, sich um die Armen und Benachteiligten zu kümmern; vielleicht wäre es ihr sogar leichter gefallen. Es bleibt eine theoretische Gedankenübung.

Eines aber hätte sich grundlegend verändert: die Kirche. Die Männer hätten die Kirche nicht für sich vereinnahmen können, auch den Petrusdienst nicht, den Jesus als Frau vermutlich einer Frau übertragen hätte. Entscheidend aber wäre: Die Kirche hätte sich auf das Evangelium einer Frau gegründet, auch eine Päpstin wäre von Anfang an möglich gewesen. Das hätte alles verändert.

Es wird gesagt, dass Frauen, die in Betrieben Führungsrollen übernehmen, das Klima verändern. Andere Themen tauchen plötzlich auf, die Stimmung ändert sich. Das »Miteinander« ist selbstverständlicher. Das ist gut für beide Seiten.

Wäre es also besser, wenn Jesus eine Frau gewesen wäre? Die Frage ist müßig. Es ist, wie es ist. Jesus war ein Mann. Wer Schwierigkeiten damit hat, der kann von Jesus als Mensch reden. Für mich ist die Sache einerlei. Jesus ist eine Figur der Geschichte, die Vorbildliches geleistet hat. Dass auch Frauen Vorbildliches leisten können, steht außer Frage und ist auch in der Bibel belegt. Wichtig ist, dass diese Leistungen als gleichwertig anerkannt werden, was oft nicht der Fall ist.

Für mich ist entscheidend, dass Jesus beide Teile in sich trug und lebte – tatsächlich wie ein androgyner Mensch, obwohl ich, wie gesagt, ihn so nicht nennen würde. Die meisten Menschen haben weibliche und männliche Eigenschaften, die einen mehr, die anderen weniger. Man kann auch von Intuition sprechen. Auch die Frauen in der Bibel zeigen teilweise männliche Züge, man schaue auf Maria Magdalena oder Martha von Bethanien. Trotzdem blieben sie Frauen.

Ich habe mich von Jesus nie ausgeschlossen gefühlt. Im Gegenteil: Jesus spielt in meinem Leben eine zentrale Rolle. Ich bewundere ihn, er ist mir wichtig als ein herausragender Mensch, der vorbildlich lebte. Seine Taten helfen mir, seine Worte, das ist wahr. Sie helfen mir in meinem Leben und meinem Glauben. Aber anbeten kann ich Jesus nicht. Ich bete niemanden an. Wenn ich bete, dann zu Gott. Denn er ist es, an den ich glaube.

Jesus als Frau kann ich mir nicht vorstellen. Sehr wohl aber gefällt mir, dass er feminine Züge hatte und sich Frauen nicht verschloss. Viele Frauen spielten für Jesus eine große Rolle. Frauen gehörten zu seinen Jüngern, er lernte von ihnen.