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Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

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Nr. 2395

 

Die Gen-Sammler

 

Sie sind verzweifelte Sucher – und wollen die Rettung für ihr Volk

 

Arndt Ellmer

 

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Wir schreiben das Jahr 1346 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – dies entspricht dem Jahr 4933 alter Zeitrechnung. Seit Monaten stehen die Erde und die anderen Planeten des Solsystems unter Belagerung. Einheiten der Terminalen Kolonne TRAITOR haben das System abgeriegelt, während sich die Menschen hinter den TERRANOVA-Schirm zurückgezogen haben.

Währenddessen hat die Armada der Chaosmächte die komplette Milchstraße unter ihre Kontrolle gebracht. Nur in einigen Verstecken der Galaxis hält sich weiterhin zäher Widerstand. Dazu zählen der Kugelsternhaufen Omega Centauri mit seinen uralten Hinterlassenschaften und die Charon-Wolke. Wenn die Galaktiker eine Chance gegen TRAITOR haben wollen, müssen sie mächtige Instrumente entwickeln – und sie müssen den Hebel dort ansetzen, wo das Problem seinen Ursprung hat: in Hangay.

Der unsterbliche Arkonide Atlan stößt gemeinsam mit einem gemischten Expeditionskorps auf ein altes Vermächtnis: eine fremdartige Technik und den »Aktivierungswächter« Immentri Luz, einen Androiden der geheimnisvollen Sphero. Als es die Expedition schließlich in die Spektralen Inselstaaten verschlägt, sind es nicht die Sphero, die sie erwarten. Immentri Luz erfährt Wichtiges über DIE GEN-SAMMLER …

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Immentri Luz – Der Aktivierungswächter muss handeln, um seine Freunde zu schützen.

Morian Kinnaird – Der Transfermeister nimmt Flüchtlinge in die Inselstaaten auf.

Erilyn Shirde – Die Biogenetikerin steht einem ehrgeizigen und zugleich verzweifelten Projekt vor.

Admiral Lan-Asfahan – Der lemurische Offizier schließt ein Bündnis mit den Sphero.

1.

Gegenwart: Immentri versagt

 

Das Tor blieb verschlossen, was immer er versuchte.

Immentri Luz, der einem Lemurer ähnelnde Androide der Sphero, stand auf der obersten Plattform des Turms, seiner »Spitze«, vor dem Zugang zum zentralen Antigravschacht und gab sich der Verzweiflung hin. Seine samtbraune Haut hatte einen fahlen Grauton bekommen, wie mit Asche überpudert.

Sie sind tot, sie sind alle tot.

Er war an diesen Ort gekommen, den Spektralen Turm, das Herz der Inselstaaten, die Keimzelle jener Wesen, die er als Sphero kannte und die seine Schöpfer waren. Er war gekommen mit der Hoffnung, diesen erleuchteten Friedensstiftern ins Angesicht sehen und Rechenschaft ablegen zu können.

Nein, das stimmte nicht ganz. Es war nur das vorgeschobene Argument.

In Wahrheit sehnte sich Immentri Luz danach heimzukehren.

Über 50.000 Jahre war es her, dass die Sphero ihn mit den Lemurern geschickt hatten, um als Aktivierungswächter die Sonnentransmitter dieses Volkes zu regulieren.

Und Immentri Luz hatte es getan, mit Freude hatte er es getan, für die Lemurer, für den Frieden, für die Sphero.

Bis …

Immentri Luz fiel es immer noch schwer, sich daran zu erinnern. Aber es hatte stattgefunden, in einer schrecklichen Unaufhaltsamkeit: Die Lemurer waren zwar dem Tod durch die Bestien entronnen, aber hatten sich schließlich selbst verloren, in Bruderkriegen zerfleischt.

Das hatte er nicht ausgehalten. Durch den Schock, den die einander bekriegenden Lemurer auslösten, war eine Sicherung angesprungen, die ihn in totenähnlichen Schlaf zwang.

50.000 Jahre Schlaf …

Als er erwachte, fand er sich in einer neuen Zeit wieder.

Er begegnete Nachfahren der Lemurer und der Bestien, die miteinander arbeiteten, forschten und lebten. Es war schwierig, die Vergangenheit zu vergessen, und es war ihm anfangs gar nicht bewusst gewesen, aber diese Geschöpfe einer neuen Zeit zu erleben und mit ihnen zu reisen hatte ihm gutgetan, hatte ihn von Grund auf erfrischt und gestärkt.

Frieden ist möglich, dachte er und dankte den Sphero dafür.

Dieser Gedanke trieb ihn zurück in die Gegenwart, und das Grauen der letzten Stunden und Tage ließ seine Seele erzittern.

Wir haben die Spektralen Inselstaaten erreicht, die Heimat, die Sphero.

Aber es gab keine Sphero, die uns begrüßten.

Stattdessen empfing uns tödliches Feuer ihrer Raumschiffe, der Spektralen Amaranthe.

Wo sind die Sphero geblieben, und wer sind die Ani-Sferzon, denen unsere Ankunft von den Sensoren des Transmittersystems gemeldet wurde?

Immentri Luz starrte die Tür in der stutzenartigen Röhre an, die sich nicht öffnete. Alles an diesem Ort war tot. Weit unter ihm verschwand der Turm in den Wolken, und darunter … der Tod.

Alles tot. Alles verloren.

Im Turm arbeiteten Funkgeräte und zählten einen tödlichen Countdown, an dessen Ende 950 Spektrale Amaranthe nach Jiapho aufbrechen würden. Gegen diese Schiffe hatten die Galaktiker keine Chance, die sich in den Spektralen Inselstaaten aufhielten.

Sie … Wir suchten Hilfe und fanden den Tod, dachte Immentri Luz, und im gleichen Moment schauderte es ihn, als griffe ein besonders kalter Wind nach ihm.

Er drehte sich um.

»Ist da jemand?«

Nichts.

Nein, da war niemand, nur die Toten …

Unwillkürlich dachte er an seinen Bruder, Ama Zurn, der an Bord eines der galaktischen Schiffe geblieben war. Wenn er versagte, wenn er hier oben auf dem Dach des Spektralen Turms den Tod fand, wäre Zurn die letzte Hoffnung Atlans und seiner Begleiter.

Wir alle sind des Todes … Der Androide fühlte sich unsagbar müde und erschöpft. Dieser Mikrokosmos, den die Sphero gewissermaßen aus dem Normalraum »ausgelagert« hatten, mochte seine Geburtsstätte gewesen sein. Aber er war kein Ort, um darin zu leben, das begriff er.

Sollte ich nur hierher zurückgekehrt sein, um zu sterben?

Immentri ballte die Hände.

Nein. Ich werde nicht sterben, ich werde das Vermächtnis Morian Kinnairds nicht in Vergessenheit geraten lassen.

Morian Kinnaird hatte auf ihn – oder einen wie ihn – gewartet, buchstäblich bis zur letzten Sekunde seines Lebens und noch über den Tod hinaus.

Immentri Luz drehte dem »Stutzen« den Rücken zu und kehrte zu den beiden Toten zurück, bei denen es sich um Morian Kinnaird und Erilyn Shirde handelte, die beiden letztgeborenen Sphero. Sie hatten gewartet und gehofft – aber was konnte ein einfacher Aktivierungswächter ausrichten, das sie nicht vermocht hatten? Er hatte einen Teil ihrer Lebenserinnerungen geteilt, aber einen Ratschluss hatte er noch nicht gefunden.

Die beiden Sphero saßen da, wie er sie verlassen hatte. Im Tod gab es keine Bewegung. Morian Kinnairds Hand, in der er locker seinen Mnexion-Stirnkreis hielt, war ausgesetreckt, als wolle er sagen: »Nimm ihn endlich! Er gehört dir.«

»Warum verlangst du das von mir?«, fragte Immentri. Ein Mnexion-Stirnkreis war etwas sehr Persönliches, Individuelles, Machtvolles. Und er war ein Teil der Seele seines Trägers. Wenn Immentri diesen Reif an sich nahm, stahl er Kinnaird die Seele.

Was, wenn er sich irrte? Was, wenn die Geste Kinnairds besagte: »Verschwinde, du bist zu spät gekommen!«?

Er würde es nur auf eine einzige Art und Weise herausfinden.

Verzeih mir!

Zaghaft streckte Immentri Luz den Arm aus, bis die Fingerspitzen dicht über dem Reif schwebten. Bestimmt täuschte er sich, dass der Reif in diesem Augenblick ein wenig in seine Richtung rückte.

Der Aktivierungswächter gab sich einen letzten Ruck. Er fasste den Reif, nahm ihn hoch und streifte ihn über. Er saß wie angegossen, obwohl Immentri keineswegs die Statur und Kopfgröße eines Sphero hatte, sondern die eines Lemurers.

Er ist für einen Aktivierungswächter bestimmt. Ganz sicher ist er das. Ach Ama Zurn, ich wünschte, du wärst an meiner Stelle.

Etwas streifte seine Gedanken, ein leichtes Wehen, das sich ausbreitete wie eine dreidimensionale Welle.

Immentri Luz spürte, dass er von diesem Augenblick an nicht mehr allein war. Morian Kinnaird hatte als psimaterielles Quant Einzug gehalten. Und er unterzog Immentris Bewusstsein einer eingehenden Musterung.

Das Ergebnis schien ihn zufriedenzustellen.

Geh, hörte er eine stumme Stimme, und er ging.

Er ließ die beiden toten Sphero hinter sich zurück und nahm sie zugleich mit sich. Körper und Seele … getrennt.

Diesmal öffnete sich das Tor für ihn, diesmal akzeptierte der Turm ihn. Vor ihm lag allerdings nicht der Antigravschacht, sondern ein abwärts geneigter Korridor. Und in diesem Korridor erwartete ihn … ein Sphero.

 

*

 

»Wir haben dich seit Langem erwartet, Immentri Luz«, klang ihm eine freundliche Stimme entgegen.

Der Aktivierungswächter setzte sich in Bewegung auf die Gestalt zu. Im Unterschied zu den Sphero, die Luz kannte, trug dieser eine dunkelblaue, eng anliegende Kombination. Seine Gestalt, der Kopf, das Gesicht, alles war makellos und perfekt gearbeitet.

Zu perfekt.

Dies war kein Sphero.

Es war ein Androide, wie er selbst einer war.

»Ich bin Levink. Folge mir und nenne mir deine Wünsche. Ich werde sie erfüllen, wenn ich kann.«

Levink ging vor ihm her durch den abschüssigen Korridor bis zu einer senkrecht stehenden, ovalen Scheibe: ein »Auge der Sphero« oder, banal ausgedrückt, ein Transmitter.

»Komm«, sagte der Androide, »lass dich fortzwinkern.«

Levink verschwand in dem grellweißen Entmaterialisationsfeld. Immentri blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er gelangte in eine Halle von ungefähr einem Kilometer Durchmesser. Hier arbeiteten Dutzende Androiden in dunkelblauen Anzügen.

»Von hier aus steuern wir die Spektralen Inselstaaten«, erläuterte Levink.

Immentri Luz sah sich um. Die Halle gliederte sich in verschiedene Ebenen mit Tausenden unbenutzter Terminals.

Den Aktivierungswächter zog es ins Zentrum der Hauptebene. Dort umfassten mehrere Ensembles aus Terminals und Schaltwänden einen freien Platz, eine Art Arena. Darin blähte sich ein mindestens zehn Meter durchmessendes Makrohologramm. Im Innern teilte es sich in kleinere Bildkugeln auf, die unter anderem die Steuerwelt Trixal und das Jiapho-Sternen-Duo, aber auch das KombiTrans-Geschwader abbildeten. Eine Kugel ganz vorn zeigte den Leerraum zwischen mehreren Sternsystemen, in dem sich Hunderte von Spektralen Amaranthen sammelten.

Gegen diese Übermacht hatten die Schiffe der Galaktiker keine Chance.

»Wir müssen die Amaranthe aufhalten«, sagte er. »Es darf zu keinem Gefecht zwischen den Ani-Sferzon und den Galaktikern kommen.«

»Beschreib genauer, was du möchtest.«

»Erledige es nach eigenem Gutdünken. Ihr kennt alle Vorgänge hier, also könnt ihr mir auch am ehesten sagen, wie wir die Ani-Sferzon an ihrem Vorhaben hindern können.«

»Das ist ein Novum, wir werden etwas ausprobieren müssen. Vielleicht kann der Spektral-Inkub …«

»Halt. Diese Anlagen sind schon lange im Gebrauch?«

Levink bejahte.

»Dann kann ich euch zeigen, was ihr machen müsst.«

Immentri Luz konzentrierte seine Hypersinne auf die mentalen Schaltungen der Spektralen Aggregate. Seine Gedanken schwirrten an ihnen entlang, suchten jene Stellen, mit denen die Amaranthe aufzuhalten waren. Aber er war nicht alleine.

Da war noch etwas anderes.

Ein lauter Ruf.

Ani-Sferzon.

Ani-Sferzon …

Ein heftiger, schmerzhafter Stich folgte.

Nicht jetzt … nicht die … Erinnerung …

Und dann …

2.

Vergangenheit: Hoffnungsschimmer

 

Jeden Abend stehen sie oben auf dem Dach des Spektralen Turms, ganz dicht an der unsichtbaren Sperre vor dem Abgrund, halten sich an der Hand und schauen gemeinsam in die untergehende Sonne. Jedes Mal sehen sie in ihrer Erinnerung das kleine Totenschiffchen aus Salzkristallen, wie es auf den Wellen schaukelt. Mit an Bord sind die Hoffnung und die Zukunft, die erst langsam, dann immer schneller in der Ferne entschwinden …

Am liebsten hätte sich Morian Kinnaird in einem dunklen Winkel des Spektralen Turms verkrochen. Einsam ging er seiner Wege in den zahlreichen Etagen des Bauwerks, wandelte gedankenverloren durch das Gewirr aus Spektralen Aggregaten und Hypertech, nur aufgehalten von den banalen Problemen des Alltags. Hier ein defekter Antigravprojektor, dort ein Ausfall der Beleuchtung, Kleinigkeiten nur, die allerdings eine Botschaft trugen: Der Spektrale Turm war alt, so wie die Inselstaaten selbst und das Volk der Sphero. Und das Alter brachte Probleme mit sich.

Die meisten Sphero kümmerten solche Ausfälle nicht, sie übersahen die beinahe prophetische Klarheit, mit der ihnen eine unsichtbare Hand einen mehr als deutlichen Wink gab: So, wie die Technik versagen konnte und dann starb, so war es auch mit ihnen selbst. Morian sah die Zeichen.

Wer sonst als er? Wer sonst musste diesen gewaltigen Verlust verarbeiten, den der Tod seines Kindes bedeutete?

Wer sonst …? Immer, wenn er so dachte, verfluchte er sich innerlich dafür.

Wer sonst! Seine geliebte Gefährtin natürlich, Erilyn Shirde. Die geniale Wissenschaftlerin litt mindestens so sehr wie er; sie vergrub sich in ihre Arbeit, versuchte den Gedanken und Gefühlen an das tot geborene Kind auf diese Weise zu entfliehen.

Für Morian Kinnaird hingegen, den Transfermeister der Spektralen Inselstaaten, gab es keine Arbeit, keine Aufgaben, die ihm groß und wichtig genug erschienen wären. Er tat nichts anderes, als den Turm kennenzulernen, was er als Transfermeister auch musste, als oberster Lenker der mobilen Inselstaaten, die, zusammengehalten durch einen Schmiegeschirm, wie eine gewaltige leuchtende Blase aus 67 Sonnensystemen durch den Kosmos reisten, wie ein Schwarm von heimatlosen Zugvögeln. Zugvögeln auf der Flucht vor dem Winter, dem zu entkommen sie keine Chance hatten.

Der Winter des Todes, dachte Morian, während er zum ungezählten Mal die Etage wechselte und durch die Stille und Lautlosigkeit des Turms marschierte. Wir sind zum Aussterben verdammt, wenn wir die Anakonen nicht finden, wenn wir nicht herausbekommen, wie wir unsere DNS wieder vital machen.

Zwar hatten sie eine Galaxis erreicht, in der sich die Anakonen sehr wahrscheinlich befunden und zumindest eines der dortigen Völker genetisch »aufgewertet« hatten wie die Sphero, doch das genügte längst nicht. Denn dieses Volk stand kurz vor seiner Ausrottung durch die furchtbaren Bestien.

Wir müssen handeln. Aber ich kann es nicht, nicht … nicht jetzt. Ich brauche Zeit für meine Trauer, Zeit für mein Leid.

Es gab keinen Sphero, der den Kummer des Transfermeisters nicht verstanden hätte. Das Kind des Transfermeisters und der Biogenetikerin – für die Sphero verband sich viel zu viel damit, als dass sie die Totgeburt zur Kenntnis genommen hätten und zur Tagesordnung übergegangen wären. Auf dem Überleben dieses Kindes hatte die Hoffnung des ganzen Volkes geruht.

Das gesamte mentale Netz der Sphero vibrierte dunkel vor Trauer, die den Transfermeister umfing und von außen zusätzlich gespeist wurde. Nur ein einziges flackerndes Licht gab es, das diese Düsternis erhellte: Erilyn. Sie arbeitete wie besessen und forschte um der Zukunft willen.

 

*

 

Ein leises Stampfen verriet dem Transfermeister, dass sich sein treuer Begleiter näherte.

Wenige Augenblicke später bog Immentrus-78 um eine Gruppe von organisch anmutenden Vielflächnern, hoch entwickelten Aggregaten der Spektralen Technik, über deren genaue Funktionsweise der Transfermeister sich gerade hatte informieren wollen.

»Ich möchte meine Ruhe haben«, sagte Morian. »Kannst du das nicht verstehen?«

»Ja, junger Herr Kinnaird«, klang es zurück.

»Du glaubst, ich bedürfe des Schutzes? Hier, innerhalb des Spektralen Turms? Wer sollte mich hier bedrohen?«

»Ihr selbst seid derzeit Euer größter Feind, junger Herr. Vertraut einem alten Roboter.« Immentrus-78 machte eine Bewegung, als wolle er sich selbst in die Augen stoßen.

Morian Kinnaird massierte verlegen die leicht blauen Spitzen seiner Ohren.

»Du hast ja recht. Die Stille hier ist nicht zum Aushalten. Alles ist so …«

»… tot?«, beendete der Roboter den Satz. »Kaum. Ihr dürft Euch dem Tod nicht so hingeben, wie Ihr es gerade tut. Er hat keine Macht über Euch, wenn Ihr ihn nicht zulasst. Und Ihr werdet ihn nicht zulassen. Ihr habt es zu Eurer Aufgabe gemacht, den Tod Eures Volkes zu verhindern. Erinnert Ihr Euch? Das ist Euer Ziel.«

Er hat recht. Muss erst ein Roboter daherkommen, den ich selbst repariert habe, um mich daran zu erinnern, wer und was ich bin?

»Lass uns die Haupthalle der Steuerzentrale aufsuchen«, sagte er zu dem Roboter. »Wir dürfen nicht länger tatenlos zusehen, wie die Schwarzen Bestien die herrschende Zivilisation in diesem Spiralarm Ammanduls vernichten.«

Immentrus gab ein klickendes Geräusch von sich, drehte sich um und stakste vor ihm her zum Antigravschacht.

»Wenn Ihr mir folgen wollt, junger Herr?«

Der Transfermeister und sein Herold!, dachte Kinnaird. Angesichts der Aufgaben, die vor ihnen lagen, konnte er sich keinen besseren Adjutanten vorstellen.

 

*

 

Die zweihundert Hohen Lenker erwarteten ihn schon, flankiert von ein paar Technikmeistern aus den Maschinenhallen des Turmes. Und natürlich die 2000 Androiden, die in den verschiedenen Ebenen die Steuerung der Spektralen Inselstaaten überwachten.

Morian versuchte in den Gesichtern der Sphero zu lesen, ihre Stimmungen zu ergründen, die sie hinter Mienen aus Entschlossenheit verbargen.

»Ich danke euch für euer Kommen.« Er wusste, dass es nicht allen von ihnen leichtfiel. Einige litten seelisch sehr stark unter dem, was sich in den vergangenen Jahrtausenden immer stärker abgezeichnet hatte. Die Sphero starben aus. Immer weniger Nachwuchs war geboren worden, dafür waren die Alten immer älter geworden. Ihr Volk hatte eine Phase der Evolution erreicht, wo es vor der Wahl stand, sich von seinen Körpern zu trennen und als geistige Wesenheit weiterzuexistieren oder sich mit seinem Schicksal abzufinden und zu sterben.

Die Sphero wollten beides nicht. Sie fühlten sich den Anakonen verpflichtet, die ihnen einst einen Teil ihres eigenen genetischen Pools »vererbt« hatten und denen sie den Aufstieg zu einer moralisch hochstehenden, friedliebenden Zivilisation ohne Krieg, Mord und Totschlag zu verdanken hatten.

Um Krieg machten die Spektralen Inselstaaten gewöhnlich einen großen Bogen oder griffen dann ein, wenn es um die Rettung eines friedliebenden Volkes vor Aggressoren ging. Dann unterbreiteten sie diesem Volk ein Angebot, es in die Spektralen Inselstaaten aufzunehmen, hievten im Fall einer Zustimmung dessen gesamtes Sonnensystem ins Innere des Schmiegeschirms, der die Inselstaaten schützend umgab.

In diesen Tagen schien eine Ausnahme unausweichlich, vor den Toren Ammanduls, einer Spiralgalaxis in der Mächtigkeitsballung der Superintelligenz ES. Die Lemurer, wie das bedrohte Volk dieser Sterneninsel hieß, würden sich dem Psychoprofil nach, das die Sphero erstellt hatten, niemals mit einem solchen Vorgehen einverstanden erklären. Sie waren ein stolzes, ein mächtiges und ein kriegerisches Volk. Sie passten nicht in die Spektralen Inselstaaten, und sie würden es auch gar nicht wollen.

Morian Kinnaird wandte sich den Hologrammen mit aktuellen Informationen zu. Sonden schickten pausenlos Daten aus dem betroffenen Spiralarm in den Turm. Der widerliche Krieg tobte schon seit Jahrzehnten. Lediglich der relativ hohe technische Standard der Lemurer hatte bisher den endgültigen Sieg der Bestien verhindert.

»Nach der Zeitrechnung der Einheimischen hat das 71. Kriegsjahr begonnen«, kommentierte der Spektral-Inkub die Daten. »Die Schwarzen Bestien haben ihre zehnte Großoffensive gestartet. Vor wenigen Stunden ist ein weiteres Tamanium vernichtet worden, die Gesamtzahl beläuft sich demnach auf derzeit 59.«

Es war ein Tod auf Raten für die Lemurer, das wussten die Sphero inzwischen. Deshalb waren sie mit mehreren Verbänden aufgebrochen, um sich die kriegerischen Auseinandersetzungen aus der Nähe anzusehen. Die meisten Besatzungsmitglieder der Spektralen Amaranthe hatten den Anblick und die Erfahrungen dieses Vernichtungsfeldzugs kaum aushalten können. Auf sie musste der Spektrale Turm fortan verzichten, wenn es um Flüge nach Ammandul ging.

»Die herrlichen Sterne des Universums meinen es zurzeit nicht besonders gut mit uns«, fuhr Morian fort. »Sie eröffnen uns einen Weg zur Rettung unseres Volkes, aber gleichzeitig bauen sie unüberwindliche Hürden für uns auf. Nur wenn wir uns selbst überwinden, werden wir weiterleben. Dann wird es auch in 10.000 Jahren noch Sphero geben.«

Zustimmendes Gemurmel aus mehreren hundert Kehlen brandete auf. Unter anderen Umständen hätten die Hohen Lenker Lobgesänge auf ihn angestimmt. Aber der Tod des Kindes erlaubte keine lauten Töne.