Die Tochter der Hexe

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1

Einzig in einer Seitengasse nahe des Obermarkts stand ein stattliches Haus abweisend wie ein Fels gegen die Brandung fröhlicher Ausgelassenheit. Die Fenster waren geschlossen und mit schwarzen Tüchern verhängt, die Menschen, die sich dem prachtvollen, mit Stuck reich verzierten Eingangstor näherten, hielten den Blick gesenkt. Nur im Obergeschoss stand ein Fensterflügel offen, um der Seele der sterbenden Hausherrin den Weg vor den Richterstuhl Gottes zu weisen.

«Komm zu uns in die Küche.» Franziska berührte sie vorsichtig an der Schulter, dann löschte sie die Sterbekerze. «Die Leichenfrau ist gekommen, ihre Arbeit zu verrichten, und unten warten die ersten Gäste, um sich von Mutter zu verabschieden.»

Zu Marthe-Maries Erstaunen tat sich hinter der Tür kein Abgrund auf. Wie immer empfing sie das vertraute Knarren der Dielenbretter, als sie hinunter in die Küche ging. Neben dem erloschenen Herdfeuer saß zusammengesunken ihr Vater. Ferdi, der Jüngste und ihr Lieblingsbruder, stand am Fenster und starrte hinaus auf die letzten Schneereste im Hof. Aus der Stube drang das Stimmengewirr der Trauergäste, dann und wann hörte sie die tiefe Stimme ihres ältesten Bruders Matthias, der schon morgen zu seinem Fähnlein zurückmusste. Immer mehr Menschen kamen ins Haus zum Goldenen Pfeil, um von der Toten Abschied zu nehmen, denn Lene Schillerin, die Gattin des ehemaligen Hauptmanns, war in Konstanz nicht nur eine geachtete, sondern eine beliebte Frau gewesen.

Marthe-Marie trat an die Wiege, in der Agnes friedlich schlief, als ginge sie das alles nichts an, und strich ihrer Tochter über das winzige Gesicht.

«Warum hat Mutter sich aufgegeben?» Wie aus weiter Ferne drang die Stimme ihres Vaters zu ihr.

Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und schwieg.

«Warum nur?», wiederholte er tonlos.

Fast schmerzhaft spürte Marthe-Marie in diesem Augenblick die Liebe und Achtung, die sie für ihn empfand. Für diesen Mann, der nicht wirklich ihr Vater war und sie doch nie anders umsorgt hatte als seine leiblichen Kinder, der sich mit ihr gefreut hatte, als sie Veit, den Sohn seines besten Freundes, geheiratet hatte und schon kurz darauf guter Hoffnung war. Der sie getröstet hatte, als es zu einer Fehlgeburt kam, und der mit ihr gelitten hatte, als Veit, kaum dass ihre Tochter Agnes auf der Welt war, qualvoll am hitzigen Fieber starb.

Vielleicht erwartete er gerade von ihr Trost. Doch sie fand keine Worte, um diese Leere zu füllen. Ohnehin wusste jeder in der Familie, warum Lene gestorben war: Sie hatte das grausame Ende ihrer Base und zugleich besten Freundin, dazu den Freitod ihres Halbbruders nie verwunden. Drei Jahre war es nun her, dass Catharina Stadellmenin in Freiburg als Hexe den Flammen übergeben worden war und ihr heimlicher Geliebter sich während der Hinrichtung den Dolch ins Herz gestoßen hatte. Lene schien nur

Die Wahrheit bedeutete: Catharina Stadellmenin, am 24. März Anno Domini 1599 erst enthauptet und dann zu Pulver und Asche verbrannt, war in Wirklichkeit Marthe-Maries leibliche Mutter.

 

«Willst du deinen Entschluss nicht noch einmal überdenken? Deine Schwester hat ein schönes Haus nahe der Hofkirche ausfindig gemacht, groß genug für uns alle. Ich bitte dich: Komm mit uns nach Innsbruck.»

Marthe-Marie entging das Flehen in Raimunds Blick nicht.

«Nein, Vater.»

Sie konnte verstehen, dass Raimund nach dem Tod seiner Frau nicht länger in Konstanz bleiben wollte. Innsbruck in Tirol war seine Heimat, dort war er geboren und aufgewachsen, dort lebte inzwischen seine Jüngste mit ihrer Familie. Doch Marthe-Marie hatte diese Stadt mit der bedrohlichen Wand des Karwendelmassivs im Rücken, in der sie viele Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte, nie gemocht.

«Wovon willst du leben mit der Kleinen? Von dem spärlichen Erbe, das dir Veit hinterlassen hat? Ich selbst kann dir nicht viel Unterstützung zukommen lassen. Bleib doch wenigstens hier in Konstanz, bei Ferdi.»

«Es wird schon reichen.» Sie legte den Stapel Leibwäsche zu den Tüchern in die Kiste, die für den Stadtpfarrer bestimmt war, in der Hoffnung, dass er Lenes Kleidung tatsächlich an die Ärmsten der Armen in der Stadt verteilen würde. In den Augen dieser Leute war sie eine reiche Frau.

«Und was Ferdi betrifft: Er lebt nur für seine Steinmetzwerkstatt. Wir wären ihm ein Klotz am Bein.»

«Das ist lange her.»

«Sind wir nicht immer noch eine Familie?» Raimund griff nach ihrem Arm. «Als du deine ersten Schritte gemacht hast, da hab ich mich gefreut wie ein Gassenjunge. Und wie stolz war ich auf dich, weil du so rasch lesen und schreiben lerntest. Du hast immer zu uns gehört, von Anfang an habe ich wie ein Vater für dich gefühlt – was ändert Mutters Tod daran?»

Sie lehnte sich an seine Schulter. Wie sollte sie es ihm erklären? Dass sich sehr wohl etwas geändert hatte – tief in ihrem Inneren?

Als sie vor einem halben Jahr die ganze Lebensgeschichte jener Frau erfahren hatte, die sie zum ersten Mal mit fünfzehn Jahren gesehen und sofort ins Herz geschlossen hatte, als sie damals erfahren hatte, dass diese Frau, die als Hexe verbrannt worden war, nicht ihre Muhme, sondern ihre Mutter war, da hatte eine unfassbare Wut auf die Dummheit und Niedertracht der Menschheit sie gepackt. Und es hatte ihr schier das Herz gebrochen, dass sie Catharina Stadellmenin niemals als Mutter hatte kennen lernen dürfen. Doch an ihrer tiefen Bindung zu Lene hatte diese entsetzliche Wahrheit nichts geändert. Als sich Lene dann zusehends in sich zurückzog, machte Marthe-Marie sich mehr Gedanken um ihre Ziehmutter als um sich selbst. Zwar versuchte der Hausarzt sie zu beruhigen: Es sei nur eine vorübergehende Schwächeperiode. Spätestens aber als Veit, dessen uneingeschränkte Liebe sie gerade erst zu erwidern begonnen hatte, nach nicht einmal zwei Jahren Ehe starb und Lene keine Regung über dieses Unglück zeigte, erkannte Marthe-Marie, dass ihre Ziehmutter wohl nicht mehr aufstehen würde. Nächtelang hatte sie Gott und die heilige Elisabeth beschworen, Lene wieder Kraft und Lebensmut zu geben, hatte es kaum noch ertragen, die Schlafkammer zu betreten und sich an das Bett der abgemagerten, weißhaarigen Frau zu setzen, die einmal

Jetzt erst senkte sich die Erkenntnis, dass sie eine andere war, wie ein Albdruck auf sie. Sie konnte ihrem Vater nicht weiter die Tochter, ihren Geschwistern nicht weiter die Schwester sein.

Marthe-Maries Blick fiel auf das kleine Ölbild über der Kommode. Sie nahm es in die Hand und betrachtete das Porträt der dunkelhaarigen Frau mit dem blassen, fein geschnittenen Gesicht und den dunklen Augen. Ihr Großvater, der Marienmaler Hieronymus Stadellmen, hatte dieses Bildnis seiner Ehefrau Anna einst gemalt.

Raimund trat hinter sie. «Wie ähnlich du deiner Großmutter siehst. Es ist, als ob du in einen Spiegel blicken würdest. Catharina hatte das Bild immer bei sich gehabt, wie einen Talisman, sagt Lene.» Er räusperte sich. «Aber es hat ihr kein Glück gebracht.»

«Es ist das einzige Andenken an meine Mutter, das ich besitze.»

Zum ersten Mal sprach sie in Raimunds Gegenwart von Catharina als ihrer Mutter. Sie hängte das Bild zurück.

Es war unter seltsamen Umständen in ihre Hände gelangt: An einem heißen Frühlingstag, gut ein Jahr nach der Hinrichtung von Catharina Stadellmenin, war ein Bote erschienen, der das Päckchen nur ihr selbst, Marthe-Marie Mangoltin, aushändigen wollte und der über den Absender nichts sagen konnte oder durfte. Sie hatte das Bild damals Lene gezeigt, die ihr nach einem ersten Augenblick ungläubiger Überraschung zunächst ruhig und gefasst erklärt hatte, dass es Catharinas Mutter darstelle und wie wichtig Catharina dieses Bildnis einst gewesen sei. Dann war sie, von einem Moment auf den nächsten, weinend zusammengebrochen. Um sie zu schonen, hatte Marthe-Marie ihr das beigelegte anonyme Schreiben nie gezeigt: «Ein Andenken an Catharina Stadellmenin. Von einem Freiburger Bürger, der die Stadellmenin sehr gut kannte.»

Raimund Mangolt verschloss die Kleiderkiste. Regungslos stand er da, nur seine Schultern bebten. Marthe-Marie trat neben ihn, nahm ihn in die Arme und weinte mit ihm um den Menschen, den niemand in diesem Leben ersetzen konnte. So standen sie, bis das Hausmädchen an die Tür klopfte und verkündete, das Mittagsmahl stünde bereit.

Raimund wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Lass die Vergangenheit ruhen, Marthe-Marie. Der Gedanke, dass du nach Freiburg willst, macht mir Angst. Das ist kein guter Ort für dich.»

»Mach dir keine Sorgen, Vater. Niemand dort weiß, wessen Tochter ich bin.»

 

Vor der Entschlossenheit seiner Ziehtochter hatte Raimund Mangolt schließlich die Waffen strecken müssen. So reiste sie nun mit seinem Segen und seiner Unterstützung. Zum Schutz hatte er ihr seinen ehemaligen Quartiermeister mitgegeben, einen verlässlichen, schweigsamen Mann, dazu ein Bündel Papiere, die ihnen das Passieren der Grenzposten und zahlreichen Mautstellen am Hochrhein und im Oberrheintal erleichtern würden. Zum Abschied hatte sie ihm versprechen müssen, nach Innsbruck zu kommen, falls es ihr schlecht erginge.

Sie näherten sich der alten Zähringerstadt Waldshut, und es regnete bereits den zweiten Tag Bindfäden. Marthe-Marie verkroch sich tiefer unter das Verdeck, wo Agnes in ihrer Wiege ruhig schlief. Dem Quartiermeister vorne auf dem Kutschbock troff das Regenwasser von der Hutkrempe. Regnet’s am Georgitag, währt

«Sollen wir uns nicht irgendwo unterstellen? Ihr seid ja völlig durchnässt.»

«Unsinn, Mädchen. Hab schon ganz anderes Wetter erlebt, wenn ich unterwegs war. Außerdem sind wir bald in Waldshut, dort kenne ich einen formidablen Gasthof.»

Er klatschte dem Rappen, der in langsamen Schritt gefallen war, die Peitsche über die Kruppe. Marthe-Marie schloss die Augen. Das sanfte Schaukeln des Gotschiwagens, eines leicht gebauten, mit Lederriemen gefederten Einspänners, machte sie schläfrig. Sie dachte daran, dass ihre Mutter damals, bevor sie sich zum ersten Mal in Konstanz begegnet waren, genau dieselbe Strecke gereist war, zusammen mit Christoph. Jene Reise musste einer ihrer glücklichsten Momente gewesen sein. Wie hatte sie gestrahlt, als sie über die Schwelle des Hauses am Obermarkt trat – Marthe-Marie konnte sich noch genau an diesen Moment erinnern, obwohl das weit über zehn Jahre zurücklag. Damals schon musste ihre Ziehmutter nahe daran gewesen sein, ihr die Wahrheit zu sagen. Vielleicht hätte das Schicksal dann eine andere Wendung genommen. Noch kurz vor Lenes Tod hatten sie ein langes Gespräch geführt, hatte Marthe-Marie sie ein letztes Mal gefragt, warum ihre Mutter sie einfach weggegeben hatte. Lene war über diese Frage fast böse geworden: ‹Glaube niemals – niemals, sage ich dir –, dass Catharina diese Entscheidung leicht gefallen ist. Ihre Ehe war nichts als die Hölle, und wenn herausgekommen wäre, dass sie vom Gesellen ihres Mannes ein Kind erwartete, wärst du im Findelhaus gelandet und sie und dein leiblicher Vater wären wegen Unzucht verurteilt worden. Und da dieses Scheusal sie schon längst nicht mehr angerührt hatte, außer wenn er sie prügelte, konnte sie ihm nicht einmal weismachen, er sei der Vater, selbst wenn sie es gewollt hätte.»

So war der einzige Ausweg für Catharina gewesen, ihr Kind

Mit einem Ruck kam der Wagen zum Halten, und Marthe-Marie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie streckte den Kopf nach draußen. Ein Bauer mit Maulesel hatte sich ihnen in den Weg gestellt und zog jetzt ehrerbietig die Mütze.

«Wenn ich den edlen Herrschaften einen Rat geben darf – kehrt um. Zum Schaffhauser Tor ist kein Durchkommen. Ein riesiger Tross Gaukler verstopft die Straße, weil ihnen der Einlass nach Waldshut verwehrt wird. Ihr könnt aber gleich hier rechts den Weg nehmen, ein kleiner Umweg nur, der geradewegs zum Waldtor im Norden der Stadt führt.»

«Beim heiligen Theodor!» Der Quartiermeister fluchte. «Müssen uns diese Zigeuner ausgerechnet jetzt in die Quere kommen!»

Dann warf er dem Bauern eine Münze zu, der Mann steckte sie in sein Säckel und zog pfeifend davon.

Jetzt waren deutlich dumpfe Trommelschläge zu hören, dazwischen erregte Männerstimmen. In der Ferne sah Marthe-Marie eine Reihe von bunt bemalten Karren, drum herum Weiber, Kinder, Hunde. Ein halbwüchsiges Mädchen in Lumpen, das am Wagenrad seine Notdurft verrichtete, starrte sie an und streckte ihr die Zunge heraus.

Marthe-Marie nahm ihre Tochter aus der Wiege und presste sie unter ihrem Umhang fest an sich. Sie hatte genug Reisen und Ortswechsel mitgemacht, um zu wissen, dass jegliche Wegstörung eine Gefahr darstellen konnte. Vor größerem Unglück aber war sie, St. Christophorus sei Dank, bisher verschont geblieben.

Der Quartiermeister lachte auf. «Man merkt, dass Ihr eine Soldatentochter seid. Immer auf alles gefasst. Aber macht Euch keine Sorgen. Zufällig kenne ich die Gegend hier sehr gut. Außerdem habe ich immer noch mein Kurzschwert, damit parier ich jeden Angriff.»

Agnes erwachte und begann zu schreien. Im Schutz des Verdecks gab Marthe-Marie ihr die Brust und betrachtete sie gedankenverloren. Bereits jetzt war zu erkennen, dass sie im Äußeren ganz nach ihr, nach Catharina und nach deren Mutter kommen würde – das Dunkle, Zarte bei den Frauen dieser Linie schien sich durchzusetzen. Ach, Agnes, dachte sie, du wirst niemals deinen Vater kennen lernen, so wie ich meinen nie gesehen habe.

Das nasskalte Aprilwetter ließ sie frösteln, und sie schob dem Kind die Haube tiefer in das Gesichtchen. Vielleicht würden sie gar nicht lange in Freiburg bleiben. Was sie nämlich Raimund Mangolt verschwiegen hatte: Sie würde sich auf die Suche begeben. Sie wollte Benedikt Hofer ausfindig machen, ihren leiblichen Vater, den Großvater ihrer Tochter.

2

Die alte Wirtin starrte sie stumm an, und ihre Lippen bebten. Schließlich ergriff Marthe-Marie das Wort.

«Es tut mir Leid. Ich hätte Euch nicht damit überfallen sollen. Ich weiß nicht einmal, was Ihr über diese schrecklichen Beschuldigungen denkt, die meine Mutter zu Tode gebracht haben. Vielleicht sollte ich besser meine Sachen nehmen und gehen.»

«Gütiger Himmel nein! Glaubt mir, ich weiß, dass Catharina

Die schmale kleine Frau schüttelte den Kopf. «Und dann ist Eure Tochter ja Catharinas Enkelkind. Ach Herrje!» Sie ergriff gedankenverloren ein Händchen der Kleinen, die friedlich in Marthe-Maries Armen schlief. «Jetzt sehe ich auch die Ähnlichkeit zwischen Euch und Catharina in jungen Jahren. Wenn das noch mein Mann erlebt hätte!»

Dann fiel Mechtild wieder in Schweigen. Sie saßen im Schankraum des «Schneckenwirtshauses», eines kleinen Gasthauses, das sich neben der Freiburger Mehlwaage in der südlichen Vorstadt befand. Unter der niedrigen Holzdecke hingen noch der Essensgeruch und die Ausdünstungen der letzten Gäste, von draußen tönte der Singsang des Nachtwächters: «Böser Feind, hast keine Macht. Jesus betet, Jesus wacht.»

Marthe-Marie sah sich um. Hier hatte ihre Mutter als junge Frau bedient, hier hatte sie ihren späteren Ehemann kennen gelernt: den hoch angesehenen Michael Bantzer, Schlossermeister und Mitglied des Magistrats.

Es war ein Fehler gewesen, dachte Marthe-Marie, diese alte Frau, die eine gute Freundin ihrer Mutter gewesen war, mit der Vergangenheit zu belasten.

Als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte, hob Mechtild den Kopf und sah sie geradeheraus an.

«Vielleicht ist meine Frage dumm – aber weshalb seid Ihr nach Freiburg gekommen?»

Ja, warum? Marthe-Marie fragte sich das, seitdem sie in Konstanz mit Agnes in die Kutsche gestiegen war. War es die Suche nach den persönlichen Hinterlassenschaften ihrer Mutter? Der

Nun – zunächst hatte sie ein ganz konkretes Ziel: «Was wisst Ihr über Benedikt Hofer?»

«Über Benedikt Hofer? Wie kommt Ihr – ach Herrje. Jetzt sagt bloß – er ist Euer Vater!»

Marthe-Marie nickte.

«Selbstverständlich erinnere ich mich an ihn. Er war Geselle im Hause Bantzer. Aber ich wusste nicht, dass die beiden –.» Mechtild verstummte.

«Was für ein Mensch ist er gewesen?»

«Nun ja, ein junger Bursche eben, geschickt und sehr zuvorkommend, einer von Bantzers besten Leuten. Er hatte ein offenes, geradliniges Wesen, mit viel Humor, ganz anders als der Meister. Vielleicht wisst Ihr ja, wie schlimm sich Bantzer Catharina gegenüber aufgeführt hatte.» Sie rieb sich das Kinn. «Jetzt begreife ich auch, warum Catharina im Sommer damals für mehrere Wochen ins Elsass gereist war, zu Eurer Ziehmutter. Wir dachten alle, es sei, um ihre Anfälle von Schwermut zu kurieren. Dort seid Ihr zur Welt gekommen, nicht wahr?»

«Ja.»

«Mein Gott, wie elend muss Catharina zumute gewesen sein. Sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als eine Schar Kinder, und die einzige Tochter, die sie bekam, musste sie hergeben!» Sie legte Marthe-Marie eine Hand auf den Arm. «Ich bin eine alte Frau, habe viel erlebt und viel gesehen und kannte Eure Mutter gut: Ihr müsst mir glauben, dass sie das nur tat, um Euer Leben zu retten. Denn wenn das ans Tageslicht gekommen wäre, hätte Bantzer euch alle vernichtet. Ich nehme an, dass selbst Benedikt Hofer nichts davon gewusst hat, denn als Catharina aus dem Elsass

Sie trank ihren Krug Dünnbier leer.

«Eure Mutter hatte nie jemandem schaden wollen. Ihr Verhängnis war, dass sie als Witwe, nach Bantzers Tod, endlich selbst über ihr Leben bestimmen wollte. Und das, das haben die Leute hier ihr nicht verziehen.»

Marthe-Marie sah die alte Frau an, die versunken neben ihr saß. Etwas ganz Ähnliches hatte Lene ihr einmal gesagt. Zum ersten Mal, seitdem sie das Stadttor von Freiburg passiert hatte, fielen die Anspannung und die Furcht vor dem, was auf sie zukommen würde, von ihr ab. Die Entscheidung, Mechtild aufzusuchen, war richtig gewesen, das spürte sie nun.

Die Wirtin hatte sich erhoben. «Gehen wir zu Bett. Morgen ist auch noch ein Tag. Kommt, ich zeige Euch Eure Kammer.»

«Wartet – nur noch eine Frage. Wo genau ist meine Mutter gestorben? Wo ist ihre Asche?»

Das Gesicht der alten Frau wurde zu einer Maske.

«Ich erzähle Euch alles, was Ihr wissen wollt. Nur über Catharinas Tod möchte ich nicht sprechen.»

«Bitte!»

Mechtild umklammerte mit beiden Händen die Stuhllehne, während sie mit stockenden Worten zu erzählen begann. Sie selbst sei nicht dabei gewesen, flüsterte sie, an jenem unglückseligen Tag habe sie sich in der dunkelsten Kellerecke verkrochen und gebetet.

«Versprich mir eins», sagte sie abschließend und fiel unwillkürlich ins vertraute du. «Verrate keiner Menschenseele hier, dass du die Tochter von Catharina Stadellmenin bist. Das könnte dir großen Schaden zufügen. Es braut sich wieder etwas zusammen in Freiburg. Und es wird schlimmer kommen als vor drei Jahren.»

 

Marthe-Marie faltete die Hände und sank auf die Knie. «Herr, du bist die Auferstehung und das Leben. Wer an dich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist.»

Die Worte kamen hastig, kaum blieb ihr Luft zum Atmen. Dann endlich, nach vielen Gebeten an die Toten, wurde ihr leichter. «Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen. Lass sie ruhen in Frieden. Amen.»

Hier also waren sie zu Tode gekommen, ihre Mutter durch die Folgen abscheulicher Verleumdung und blinder Besessenheit, ihr heimlicher Gatte Christoph durch seinen eigenen Dolch. Marthe-Marie

Marthe-Marie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und bekreuzigte sich. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blickte sich um, konnte aber nur einen Mauerwächter ausmachen, der in der Nähe des Tores auf und ab schritt.

Ein letztes Mal berührte sie die Richtblöcke, dann ging sie das kurze Stück hinunter zum Ufer der Dreisam. Ein Floß glitt auf der schwachen Strömung gemächlich an ihr vorbei, der Mann, der es lenkte, winkte ihr zu. Menschen wie dieser Flößer oder die freundlichen Marktfrauen heute Morgen oder der Stadtknecht, der dort oben seinen Dienst tat – sie alle waren vielleicht dabei gewesen, hatten mit gierigem Blick und offenen Mäulern das blutige Tun des Henkers begafft und waren dem Schindkarren auf dem Weg hinaus zum Radacker gefolgt, wo die drei enthaupteten Frauen unter dem Galgen dem Scheiterhaufen übergeben worden waren. Marthe-Marie hatte diesen Galgen bei ihrer Ankunft in Freiburg gesehen, dicht an der Landstraße nach Basel stand er. Doch jetzt erst wusste sie, dass dort die Flammen in den Himmel gelodert waren. Alles, was wichtig war, hatte Mechtild ihr erzählt. Auch dass die Asche der Delinquentinnen in die Dreisam gekippt worden war, genau wie der Leichnam von Christoph. Sie kniete nieder und netzte ihre Stirn mit dem Wasser des Flusses, der die sterblichen Überreste der beiden Liebenden aufgenommen hatte. Sie beschloss, auf dem Rückweg ins Münster zu gehen, um dort vier Kerzen zu entzünden und vier Ave Maria zu beten. Für Veit und Lene, für ihren Oheim Christoph und ihre Mutter.

Endlich hatte sie die Kraft gefunden, Abschied zu nehmen. Nun würde sie die Orte von Catharinas Leben aufsuchen können.

Als Wirtsleute kannten Mechtild und Berthold in Freiburg Gott und die Welt, und sie hatten bald herausgefunden, das niemand anderes als der städtische Buchhalter Siferlin die Inventarisierung und Versteigerung beaufsichtigt hatte – jener Hartmann Siferlin, der seine frühere Brotherrin Catharina Stadellmenin maßgeblich bei der Obrigkeit angeschwärzt und damit auf den Scheiterhaufen gebracht hatte.

«Dieser hinterhältige, hinkende Erzschelm», hatte Mechtild zu schimpfen begonnen, als sie Marthe-Marie davon berichtete. «Ich war mir sicher, dass der Kerl dich und Lene um euer Erbe betrogen hatte. Du musst wissen, schon als er noch Bantzers Compagnon war, hatte Catharina ihn in Verdacht, in die eigene Tasche zu wirtschaften.»

«Gott sei der armen Seele gnädig.» Die Wirtin deutete ein Kreuzzeichen an. «Dem hat hier in der Stadt sicher niemand eine Träne nachgeweint. Übrigens hatte ein gewisser Dr. Textor als leitender Commissarius den Fall unter sich. Der hatte Siferlin wohl schon seit langem des Betrugs gegenüber der Stadt verdächtigt und ihn in kürzester Zeit der fortlaufenden Veruntreuung und Unterschlagung überführt. Ein tüchtiger Mann.»

«Ein Henkersknecht, nichts anderes!» Marthe-Marie war erregt aufgesprungen. «Auch im Prozess gegen meine Mutter war er Commissarius. Er hat im Folterturm ihre ganze Geschichte aufgeschrieben, in den wenigen Augenblicken, in denen sie überhaupt fähig war zu sprechen. Angeblich, weil er sie für unschuldig hielt. Aber statt sich für sie einzusetzen, statt seinen Einfluss geltend zu machen, ist er einfach von seinem Amt als Untersuchungsrichter zurückgetreten, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Ein scheinheiliger Feigling, das war er!»

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Mechtild ließ ihr Zeit, sich zu fassen, dann fuhr sie in ihrem Bericht fort.

Ihr Mann habe damals all seine Verbindungen zum Rat der Stadt spielen lassen, um Einsicht in die Inventarliste und in die Verkaufsurkunden zu erlangen, doch vergebens. Irgendwann hieß es dann, die Unterlagen seien bei einem Kellerbrand in den Archivräumen verkohlt.

«Du kannst dir denken, dass mir diese Auskunft erst recht keine Ruhe gelassen hat, und so bin ich eines Tages schnurstracks in Siferlins Kontor marschiert. Mochte das Geld verloren sein, so mussten sich doch irgendwo die persönlichen Habseligkeiten Catharinas befinden, die sie für dich und Lene bestimmt hatte. Erst tat der Schweinehund so, als wisse er nicht, wovon ich spräche, und

Marthe-Marie war bleich geworden. Dann war Siferlin dieser Freiburger Bürger, der ihr damals das Bildnis hatte zukommen lassen. Aber wenn sie doch angeblich keinen Anspruch darauf hatte? Und wo waren die anderen Hinterlassenschaften geblieben?

«Irgendetwas stimmt da nicht», sagte sie, nachdem sie Mechtild von der Geschichte erzählt hatte. Die alte Wirtin nahm ihre Hand und drückte sie fest.

«Ich bitte dich, Marthe-Marie, lass die Dinge ruhen. Dieser hinkende Bastard ist tot. Ein Andenken an deine Mutter hast du, und jetzt quäle dich nicht mehr mit unnützen Gedanken.»

 

So stand sie lange Momente vor Catharinas Elternhaus, dem schäbigen Fachwerkhäuschen im Mühlen- und Gerberviertel auf der Insel, wo es nach Lohe, geschabten Häuten und Schlachtabfällen stank, bis Agnes vor Hunger zu weinen begann. Sie wagte einen kurzen Blick in den «Rappen», jene verrufene Schenke in der Neuburgvorstadt, wo ihre Mutter ihre erste Stellung angetreten hatte, und ließ sich von Mechtild das kleine helle Zimmer in dem Gesindehäuschen zeigen, das Catharina während ihrer Zeit im «Schneckenwirtshaus» bewohnt hatte.

Sie verbarg sich im Schutz der hölzernen Lauben auf der Großen Gasse, als sie beklommen das Haus zum Kehrhaken beobachtete, das in seiner Größe und Vornehmheit ihr eigenes Elternhaus in Konstanz in den Schatten stellte: ein dreistöckiger Fachwerkbau mit mächtigem Erdgeschoss aus Stein. Hier hatte Catharina ihre unglücklichen Ehejahre mit dem Schlossermeister Bantzer verbracht. Durch das offene Hoftor war das rhythmische Hämmern auf Metall deutlich zu hören – noch immer befand sich im Hinterhaus eine Schlosserwerkstatt. Und wie ein Blitz traf sie die Erkenntnis: Dort hatte ihr leiblicher Vater als Geselle gearbeitet.

Ein andermal überquerte sie den stillen, mit einer alten Linde bestandenen Platz, der eingefasst war von den Mauern des Franziskanerklosters, vom Kollegiengebäude der Universität und der Ratskanzlei, wo der Magistrat über Catharinas Schicksal gerichtet hatte. Unwillkürlich bekreuzigte sie sich und eilte weiter in Richtung Predigerkloster, bis sie rechter Hand die Schiffsgasse erreichte. Das schmale Haus zur guten Stund schien unbewohnt, die Fensterhöhlen waren mit Brettern vernagelt. Ein toter Ort, wo noch vor wenigen Jahren Catharina als Witwe ihre glücklichsten Jahre verbracht hatte, wo sie Bier gebraut, mit ihren Freunden gefeiert

«Wollt Ihr das Haus kaufen?» Ein Mann, dessen vierkantiges Samtbarett ihn als Magister der Universität auswies, musterte sie eindringlich.

«Nein, nein.» Sie hatte das Gefühl, bei einer verbotenen Handlung ertappt worden zu sein. «Ich frage mich nur, warum das hübsche Haus leer steht. Entschuldigt mich jetzt, ich muss weiter.»

«Das Haus wäre aber zu einem äußerst günstigen Preis zu erwerben.»

«Habt Dank für die Auskunft, aber ich bin nicht von hier und habe keinen Bedarf, ein Haus zu kaufen.» Sie ging rasch weiter.

«Na, dann kann ich es Euch ja verraten», rief er ihr hinterher. «Hier hat eine leibhaftige Hexe gehaust. Deshalb will es niemand haben.»

Ohne Umwege kehrte Marthe-Marie ins «Schneckenwirtshaus» zurück und blieb für den Rest des Tages bei Mechtild.

 

Eigentlich hatte Marthe-Marie am kommenden Tag das Predigertor und das Christoffelstor aufsuchen wollen, um dort ein stilles Gebet für ihre Mutter zu sprechen. Doch allein der Gedanke, dass Catharina in den beiden Türmen wochenlang gefangen gelegen hatte und unaussprechlichen Qualen ausgesetzt gewesen war, raubte ihr fast den Verstand. Stattdessen mietete sie Maulesel und Karren und fuhr hinaus nach Lehen, wo Catharina zusammen mit Lene und Christoph den größten Teil ihrer Kindheit im Gasthaus der Schillerwirtin verbracht hatte.

Das Weingärtner- und Bauerndorf lag friedlich in der Morgensonne. Es wirkte überraschend wohlhabend und sauber. Auffällig

Doch selbst hier oben fand sie keine Ruhe. Sie kehrte zur Straße zurück und fand den Maulesel inmitten einer Schar von Kindern, die das Tier mit einer Weidenrute piesackten. Sie hatte nicht bedacht, dass sie in diesem beschaulichen Flecken, ganz anders als im Gedränge der Freiburger Gassen, auffallen würde wie ein bunter Hund, und beschloss, umgehend in die Stadt zurückzukehren.

Auf dem Rückweg kam sie an einem vornehmen Anwesen vorbei, das nur der ehemalige Herrenhof von Lehen sein konnte. Sie gab dem Maulesel die Peitsche, denn sie erinnerte sich plötzlich, dass der Hof nach dem Verkauf des Dorfes an die Stadt Freiburg von niemand Geringerem als Dr. Textor erworben worden war, dem Commissarius im Prozess gegen ihre Mutter. In diesem Moment schoss aus der Stalltür ein zottiger Hund auf sie zu und stellte sich ihr mit gefletschten Zähnen in den Weg.

Ein schriller Pfiff – und der Hund gab mit eingeklemmter Rute den Weg frei. Jetzt erst entdeckte sie den alten Mann auf der Bank, der sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Unglauben anstarrte. Seine Kleidung war vornehm, der weiße Backenbart sorgfältig gestutzt, neben der Bank lehnten zwei Krücken.

Textor, dachte Marthe-Marie entsetzt, und trieb den Maulesel in Trab.

«Junge Frau, wartet!» Sie wandte sich kurz um und sah noch, wie sich der Alte mühsam mit Hilfe seiner Krücken erhob, dann war sie hinter dem Stallgebäude verschwunden und gelangte auf freies Feld. Ihr Herz schlug immer noch heftig, als sie die Mauern der Stadt erreichte, und sie schalt sich eine Närrin. Was hatte sie sich eigentlich erhofft von ihrer Reise nach Freiburg? Statt zu ihren Wurzeln zurückzufinden, fühlte sie sich zunehmend verfolgt. Hätte sie doch den Rat ihres Ziehvaters beherzigt und die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Jetzt war es zu spät.

Doch just an diesem Nachmittag kehrte Mechtild mit strahlender Miene von ihrem Gang über den Markt zurück.

«Stell dir vor, Marthe-Marie, da renne ich seit Wochen bei Pontius und Pilatus die Türen ein, um herauszufinden, wohin Benedikt Hofer damals fortgezogen sein könnte, und erfahre es heute ganz nebenbei in der Bäckerlaube. Der alte Geselle des Weißbäckers hat ihn nämlich persönlich gekannt.»

«Und?» Marthe-Marie, die ihrer Tochter gerade ein frisches Windeltuch anlegte, konnte das Zittern ihrer Hände kaum verbergen.

«Er ist nach Offenburg gegangen. Dort lebt wohl der mütterliche Zweig seiner Verwandtschaft.»

Marthe-Marie betrachtete Agnes’ lachendes Gesicht und ihre vom Schlaf verschwitzten dunklen Haare. Seltsam, die Augen wurden

«Marthe-Marie? Ist etwas mit dir?»

«Nein, nein. Also Offenburg, sagst du?»

Sie schien kurz vor dem Ziel zu sein. Es wurde Sommer, die Tage waren lang und warm, und schon morgen oder übermorgen konnte sie sich einen Wagen mieten und mit Agnes nach Offenburg reisen. Und dann? Würde sie an Benedikt Hofers Tür klopfen und sagen: Ich bin Eure Tochter, und das hier ist Euer Enkelkind? Sie schüttelte den Kopf.

«Vielleicht ist mein Vater ja längst gestorben.»

«Das findest du nur heraus, wenn du ihn aufsuchst. Aber du musst ja nichts überstürzen. Denk in Ruhe nach, was du tun willst, und entscheide dann. Ich würde mich freuen, wenn du hier bliebest. Du und Agnes, ihr habt wieder Leben in mein Haus gebracht, und so, wie du mir zur Hand gehst, möchte ich dich ohnehin nicht weglassen. Weißt du, was ich mir gedacht habe? Ich könnte Erkundigungen einziehen, ob es eine Möglichkeit für dich gibt, das Bürgerrecht zu erwerben. Nur für alle Fälle.»

Aber bereits am nächsten Tag wusste Marthe-Marie, dass sie sich auf den Weg machen würde. Wenn nicht um ihretwillen, dann Agnes zuliebe, die niemanden hatte als sie selbst, ihre Mutter, und das war in Zeiten wie diesen nicht eben viel.

Sie leitete alles für die Reise in die Wege und hatte schon begonnen, ihren Besitz in Kisten zu verstauen, als ein böses Fieber sie packte und tagelang hartnäckig in seinen Klauen hielt. Über eine Woche musste sie das Bett hüten, und auch danach kam sie nur langsam zu Kräften.

«Jetzt siehst du, was du von meiner Hausgenossenschaft hast», sagte sie müde lächelnd zu Mechtild, nachdem sie den ersten kleinen Spaziergang unternommen hatte und sich sogleich wieder

Doch es wurde nichts aus ihrer Abreise. Nun wurde Agnes krank, weinte und jammerte Tag und Nacht, bis Mechtild nach einer Hebamme schickte, die dem Kind mit einer braunen Salbe, die nach Knoblauch stank, den Leib massierte. Die Verdauung, sagte die Frau und wiegte sorgenvoll den Kopf. Höchst ungewöhnlich sei auch, dass das Kind erst jetzt, mit einem Jahr, seine Schneidezähne bekomme. Und dazu noch alle auf einmal.

«Gebt Ihr dem Kind noch die Brust?»

«Nein, seit einiger Zeit nicht mehr.»

«Dann soll es die nächsten zwei Wochen nur ungesüßtes Dinkelmus essen. Und gegen die Zahnschmerzen macht einen Aufguss aus Salbeiblättern. Auf das Zahnfleisch tupft Brennnesselsaft, das hilft gegen die Schwellung. Die Salbe lasse ich Euch da. Wenn Ihr vor Sonnenuntergang den Bauch damit einreibt, wird das Kind ruhiger schlafen.»

Kaum ging es Agnes besser, brach unerwartet früh und mit heftigen Wolkenbrüchen die kühle Jahreszeit an und verwandelte die Landstraßen in Schlammwüsten, bis die ersten Fröste und Schneefälle folgten. Marthe-Marie musste die Reise wohl oder übel auf das Frühjahr verschieben, wenn sie mit Agnes kein Wagnis eingehen wollte. Mechtild bemühte sich erst gar nicht, ihre Freude zu verbergen.

«So bleibt ihr beiden mir noch eine Weile erhalten.»

Auch Marthe-Marie hatte sich inzwischen an das Leben bei der alten Wirtin gewöhnt. Sie half nicht nur beim Bedienen der Gäste, sondern führte auch die Bestellungen, kontrollierte die Vorratshaltung und machte die Abrechnungen – alles Dinge, um die sich früher Mechtilds Mann gekümmert hatte und die Mechtild immer ein Gräuel gewesen waren. Abends, wenn die Gäste fort

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Marthe-Marie sich aufgehoben. Sie mochte sich gar nicht wehren gegen dieses tröstliche Gefühl. Und vielleicht hätte sie sich auch wirklich dazu entscheiden können, auf Dauer in Mechtilds Haus zu bleiben, wäre nicht jener Dezembermorgen gewesen, kurz nach Veits Todestag und damit dem Ende ihrer Trauerzeit als Witwe. Ein schriller Schrei weckte sie noch vor der Morgendämmerung. Sie rannte hinunter zur Haustür, wo Mechtild, im Hemd und mit aufgelöstem Haar, im Türrahmen lehnte und schwer atmend auf den Boden starrte. Auf der Schwelle lag eine kleine Holzflöte, in zwei Teile zerbrochen, und auf dem Dielenbrett stand mit Kreide geschrieben:

Die Hexentochter wird sterben!