With you I dream

Justine Pust

With you I dream

Roman

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Justine Pust

Justine Pust ist ein typisches Küstenmädchen, tanzt am liebsten zu Songs aus den 80ern und verliert sich oft in mitreißenden Geschichten. Das Schreiben hat sie schon früh für sich entdeckt und teilt ihre Lesesucht begeistert auf ihrem Instagram-Kanal @justine_thereadingmermaid. Wenn sich die Autorin nicht gerade in Büchern verliert, arbeitet sie im sozialen Bereich oder führt Hunde aus.

Triggerwarnung – Hinweis

Liebe Leser*innen,

 

bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen euch gute Unterhaltung mit With you I dream.

 

Justine und der Knaur Verlag

Dieses Buch ist für Dich. Unsere Träume sind stärker als unsere Albträume.

Und für meine Agentin Kathrin Nehm. Du hast mir meinen Traum erfüllt.

Playlist

Nico Santos – Walk In Your Shoes

The Fray – How To Save A Life

Avril Lavigne – Head Above Water

Rachel Platten – Fight Song

Rise Against – Prayer Of The Refugee

P!nk – Hurts 2B Human ft. Khalid

Calum Scott & Leona Lewis – You Are The Reason

Ashe – Moral Of The Story

Anne-Marie & James Arthur – Rewrite The Stars

Panic! At The Disco – Far Too Young To Die

Helen Reddy – I Am Woman

Sigrid – Don’t Kill My Vibe

Ruth B. – Lost Boy

Demi Lovato – Warrior

1

Mia

Das Leben ist ein Theaterstück, und wir alle spielen die eigene Hauptrolle. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wer diesen Satz gesagt hat, doch wer auch immer es war, hatte recht. Aber an Tagen wie heute fühlt es sich an, als hätten wir nur eine Komparsenrolle.

Meine heiße Stirn lehnt an der Fensterscheibe des Busses, während die Landschaft an mir vorbeizieht, ohne dass ich sie wirklich wahrnehme. Die Sommerhitze steht im Bus und lässt meinen Kopf dröhnen.

Zum wiederholten Mal bietet mir die ältere Frau vor mir geschnittenes Obst an, aber ich lehne es mit einem verkrampften Lächeln ab. Sie zuckt mit den massigen Schultern und wendet den Blick wieder von mir ab. Ich weiß ihr Angebot zu schätzen, ihre Rolle ist eindeutig: die nette alte Dame.

Links hinter mir sitzt das Pärchen, das so verliebt ist, dass sich ihre Welt um nichts anderes mehr dreht als sie selbst. Sie küssen sich so intensiv, dass ich mich frage, wie die beiden überhaupt noch Luft bekommen. Trotz der unebenen Straße scheinen sie sich nicht stören zu lassen. Mir selbst setzt das Geruckel allerdings langsam, aber sicher zu, jedes neue Schlagloch sorgt für einen stechenden Schmerz, der durch meinen gesamten Körper jagt. Dennoch werfe ich einen kurzen Blick über die Schulter, um das versunkene Pärchen zu beobachten. Man kann das Glück fast an ihnen riechen. Es vermischt sich mit dem Biergeruch des Mannes in der letzten Reihe. Dem Außenseiter. Und ich?

Welche Rolle würden sie mir wohl geben?

Gerade weiß ich nicht mal, ob ich die Antwort auf diese Frage wirklich hören möchte. Also betrachte ich die Welt außerhalb des Busses.

Mit seinem spärlich besiedelten Land und den scheinbar unendlichen Wäldern und Feldern voller Kartoffeln ist Idaho das genaue Gegenteil von New York City. Doch die Eintönigkeit, mit der ich begrüßt werde, verfliegt schon bald, denn nun nähern wir uns einer dramatischen Naturschönheit. Ein Fluss, der sich über Jahrmillionen durch das Gebirge gegraben hat. Ich rutsche auf meinem Sitz weiter nach vorn, um den Anblick in mich aufzusaugen. Der Snake River hat einige tiefe Schluchten hinterlassen, aus denen Seen gewachsen sind, auf deren ruhigen Wasseroberflächen sich das ewige Grün der Wälder spiegelt. Idaho erstreckt sich in seiner ganzen Pracht vor mir. Die gigantischen Berge ragen in den Himmel, viel atemberaubender, als ich es mir vorgestellt habe. Aber nichts davon entlockt mir eine nennenswerte Regung.

»Schön, nicht wahr?«, fragt die alte Dame.

Stumm nicke ich, denn das Wort schön beschreibt es nicht mal annähernd. Nach einer Weile wird die Straße wieder ebener, während die beeindruckende Natur langsam von der Einöde abgelöst wird.

Genügend freie Fläche für die düsteren Gedanken, die in meinem Kopf einen Knoten gebildet zu haben scheinen. Tausend Erinnerungen sind miteinander verwoben. Nichts geht mehr vor oder zurück, alles in mir fühlt sich taub an. Selbst in der brütenden Hitze des Sommers schaffe ich es nicht, die Kälte aus meinem Herzen zu vertreiben.

Wann ist das Leben so schrecklich kompliziert geworden? Ich habe meine eigene Rolle so lange gespielt, dass ich darüber vergessen habe, wer ich wirklich bin. Oder wusste ich es vielleicht nie?

Noch vor ein paar Monaten habe ich gedacht, mein Leben würde in die richtige Richtung gehen. Medizinstudium, Traumhochzeit und für die Statistik 1,5 Kinder, noch ehe ich meine Doktorarbeit schreibe. Doch nun sitze ich in diesem Bus, auf dem Weg zu einer neuen Rolle, von der ich noch nicht weiß, wie sie aussehen wird.

Felder werden allmählich zu Grundstücken mit einzelnen Häusern, an denen Flaggen im leichten Sommerwind flattern. In der Mitte des blauen Hintergrundes befindet sich das Siegel des Staates Idaho: ein Bergarbeiter und eine Frau, die Seite an Seite stehen für Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Dinge, an die ich früher auch geglaubt habe. Ich schlucke, denn eigene Bilder drängen sich in mein Bewusstsein. Das Pochen in meinem Kopf wird stärker. Wie in einem Traum blitzt die eine Erinnerung auf, die ich so gern verdrängen würde. Eine schemenhafte Gestalt. Ein unmenschlicher Schrei. Und Blut. Meines.

Ich schließe die Augen, verschließe mich vor der Panik, die sich wie eine Schlange in meinem Inneren bewegt. Meine Atemzüge werden flacher und schneller, meine Beine beginnen, unkontrolliert zu zucken. Die Schmerzen im Rücken werden mit jeder Sekunde stärker. Ich schaffe es kaum, eine bequeme Position zu finden. Und mein Körper ist nur das eine. Viel schlimmer sind die Bilder in meinem Kopf.

Ich will mich nicht der Panik ergeben, doch ich bin völlig machtlos gegenüber der Flut an Erinnerungen. Die Welt um mich herum verschwimmt zu einem blaugrauen Schleier, der nichts mehr mit der Schönheit des Snake Rivers zu tun hat. Gerade als ich langsam, aber sicher glaube, in mir selbst ertrinken zu müssen, pralle ich gegen den Sitz der älteren Dame.

Die ruckartige Bewegung des Busses hat mich jäh aus meiner Trance gerissen, aber das Zittern lässt sich nicht stoppen. Jede Faser meines Körpers scheint aufzuheulen. Eine erneute harte Bremsung sorgt dafür, dass ich abermals gegen den Sitz pralle. Es ist reines Glück, dass ich meinen Rucksack gerade noch davon abhalten kann, vom Sitz zu fliegen. Ächzend blinzle ich die Reste der Verwirrung fort.

Der Fahrer zuckt entschuldigend mit den Schultern und verkündet über den Lautsprecher, dass wir angekommen sind.

Noch will diese Tatsache nicht zu mir durchdringen. Erschöpft wische ich mir den schweißnassen Pony aus der Stirn. Ich ziehe das Handy aus der Jackentasche und starre auf das Display. Der Ton ist ausgeschaltet, doch das Bild des Anrufers lässt meinen Herzschlag gefrieren. Mir blickt die Vergangenheit entgegen. Sein Gesicht. Mein Gesicht. Ein Wir, dem ich endlich entkommen muss. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft er bereits versucht hat, zu mir durchzukommen. Wie bei allen vorherigen Anrufen drücke ich ihn weg.

Ich stöhne und versuche, mich nicht weiter zu quälen. Aber das ist wie so oft leichter gesagt als getan. Mit hängenden Schultern greife ich nach meiner Reisetasche unter dem Sitz und meinem Rucksack, ehe ich mich zusammen mit den anderen Passagieren aus dem Bus quetsche. Die ältere Dame geht voraus, während das Pärchen bereits hinter ihr steht und darauf wartet, dass sie die kleinen Stufen überwunden hat, ohne dabei einen ihrer tausend Beutel fallen zu lassen. Direkt hinter mir spüre ich den Atem des Mannes, und der Biergeruch steigt mir in die Nase. Eine Gänsehaut breitet sich über meinen gesamten Körper aus.

Beruhig dich, Mia. Gleich bist du aus diesem Bus raus.

Endlich hat die alte Dame es mit der Hilfe des Fahrers geschafft, das Pärchen geht von dannen, und ich springe fast aus dem Bus, nur um dann unschlüssig auf dem Parkplatz zu verharren.

Die Sonnenstrahlen kitzeln auf meinen nackten Beinen. Mir erschienen die Shorts bei dieser Hitzewelle eine gute Idee zu sein, allerdings pfeift der Wind so plötzlich über den Asphalt, dass ich augenblicklich zu frösteln beginne.

Statt einer aufregenden und lebendigen Großstadt erstreckt sich vor mir ein Bahnhof in Miniaturausgabe. Es dauert nicht lange, bis ich die einzige Person gefunden habe, zu der ich noch flüchten kann.

»Da bist du ja. Ich – Scheiße, Mia.« Meine Schwester erstarrt, als sie mein Gesicht sieht. »Was zur Hölle hat der Mistkerl getan?«

Ihr Blick wandert höher und ruht schließlich auf der Naht an meiner Braue.

Irgendwie schaffe ich es, mir ein Lächeln abzuringen. Mein Herzschlag wird schneller, während sie mich mustert. Noch nie hat mich jemand aus meiner Familie in diesem Zustand gesehen. Gott bewahre, die letzten Monate hat mich kaum jemand überhaupt zu Gesicht bekommen. Niemand wusste, was an dem Ort, der mein Zuhause war, passierte, sobald alle Türen verschlossen und die Vorhänge zugezogen waren.

»Scheiße«, bringt meine Schwester erneut mühevoll hervor, ohne sich zu regen. Ich lasse die Reisetasche vor meine Füße fallen und zucke hilflos mit den Achseln.

Sollte mein Anruf sie in der vergangenen Nacht aus dem Konzept gebracht haben, so lässt sie es sich nicht anmerken. Erst als ich näher trete, bröckelt ihre coole Fassade.

Blaue Flecken sprechen eine ganz eigene Sprache.

Und der besorgte und mitleidige Ausdruck in ihrem Gesicht ist mir inzwischen so vertraut, dass ich ihn als normal erachte, nur von ihr kannte ich ihn bisher nicht.

»Bekomme ich keine Willkommensparty?«, frage ich in der Hoffnung, die seltsame Starre zu vertreiben, die von uns Besitz ergriffen hat.

Megans braune Augen füllen sich mit Tränen, die im Licht der langsam untergehenden Sonne schimmern. Sie schließt fest die Arme um mich. »Mom flippt aus«, flüstert sie mir ins Ohr, ehe sie mich etwas von sich schiebt und den Kopf schüttelt.

»Nur, wenn wir ihr etwas sagen.«

»Mia, Scheiße«, brummt sie mit Nachdruck.

Ich hasse es, wenn sie mich so ansieht.

Nichts an unserem Äußeren lässt darauf schließen, dass wir Schwestern sind. Doch unsere unterschiedlichen Genpools haben uns nie gestört, es ändert nichts an unseren Gefühlen. Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt, auch wenn wir biologisch nicht verwandt sind. Unsere Mutter sagt immer, dass sie gewusst hat, dass wir Seelenschwestern sind, und sie nie die eine ohne die andere aufgenommen hätte. Feuer und Wasser. Das sind wir füreinander.

Während ich klein bin, ist Megan groß. Sie muss sich nie einen Hocker holen, um an das oberste Regal zu kommen. Ihre Haare sind von einem knalligen, gefärbten Rot, das in ausgeprägten Wellen von ihrem Kopf absteht, meine sind schwarz und spiegelglatt. Mein Gesicht ist oval, eher sanft geschnitten mit einer kleinen Nase, Megans Kiefer hingegen kantiger, ihre Nase größer – und ihre Lippen sind so voll, dass ich sie schon immer darum beneidet habe.

Nur unsere Augenfarbe ist sich erschreckend ähnlich: braun mit goldenen Sprenkeln.

Auch wenn meine Augen kleiner und etwas länglicher sind als die meiner Schwester. Die goldenen Sprenkel im dunklen Braun verbinden uns.

»Du weißt, ich …«, murmelt Megan unbeholfen und schiebt die Hände in die Jeanstaschen. Ihr Blick flattert unruhig über den Busbahnhof. »Du bist jederzeit bei mir willkommen, aber bist du sicher, dass wir nicht Mom anrufen sollten?«

»Ganz sicher. Ich bin noch nicht bereit für dieses Gespräch.«

»Mia …«, setzt sie an, und ich weiß genau, was gleich kommen wird. »Glaub mir, ich verstehe dich, aber dein Stipendium …«

»Es ist mein Leben«, sage ich trotzig und zwinge mich, die Schultern zu straffen. Diese Rolle kann ich nicht mehr spielen. Ich kann nicht länger so tun, als sei ich genau die Schwester, die Tochter, die Frau, die andere in mir sehen wollen. Ich kann es nicht mehr. Nie mehr.

»Das will ich dir auch nicht absprechen«, murmelt sie ernst und ist sichtlich damit beschäftigt, Worte zu finden, die mich nicht verletzen. »Du hast so hart dafür gearbeitet.«

»Ich wollte nie Medizin studieren.«

»Wir finden eine Wohnung weit weg von ihm und …«

»Nein«, herrsche ich sie an, obwohl es mir gleich darauf leidtut. »Es geht nicht nur um Kevin.«

»Du hast dein ganzes Leben lang davon geredet, dass du Ärztin werden willst«, erinnert sie mich, lässt das Thema dann aber auf sich beruhen und greift nach meiner Tasche.

Sie hat recht und doch unrecht. Ich habe nie mit jemandem darüber geredet, was ich vom Leben erwarte. Oder es hat mir nie jemand zugehört, so genau kann ich es nicht mehr sagen.

Mürrisch folge ich Megan zu dem alten Wagen, der zwischen den glänzenden Autos wie ein Schandfleck wirkt. Der rostige Jeep mit den getapten Außenspiegeln und dem zerkratzten Lack passt perfekt zu der rebellischen Erscheinung meiner großen Schwester. Schweigend schwinge ich mich auf den Beifahrersitz und werfe den Rucksack auf die Rückbank zu meiner Reisetasche. Im Inneren riecht es nach Fast Food, Mentholzigaretten und einem Hauch Lavendel. Es ist das pure Chaos. Ich versuche, die Unordnung zu ignorieren, und schiebe meine Füße durch die Ansammlung von Papieren, Fotografien und Müll hindurch, während Megan auf dem Fahrersitz Platz nimmt.

Doch sie scheint auf etwas zu warten und blickt stur geradeaus, ehe sie sagt: »Wenn du zurückwillst, dann sag es jetzt.«

Ich schlucke schwer. »Ich gehe nicht mehr nach New York.«

»Dein Stipendium, die Wohnung …«

»Es gibt nichts auf dieser Welt, das mich je wieder dorthin führen könnte.«

»Du lässt dein ganzes Leben zurück.«

»Ist das nicht der Sinn eines Neuanfangs?«

Megan nickt, und zum ersten Mal zucken ihre Mundwinkel nach oben. Sie startet den Wagen. »Willkommen in Belmont Bay, Schwesterherz.«

2

Conner

Habt ihr auch noch was anderes?«

»Nein.«

»Gar nichts?«

Ich stöhne leise. Belmont Bay bringt mich an manchen Tagen dazu, irgendwas in Schutt und Asche legen zu wollen.

Mit dem finstersten Blick, den ich zu bieten habe, sehe ich den Jungen vor mir an. Sein flachsblondes Haar hängt ihm betont lässig in die Stirn, und sein Shirt verkündet stolz, dass er in Team Marvel spielt. Natürlich, für DC ist er eindeutig nicht cool genug. Während all seine Freunde bereits ihre Milchshakes bestellt haben, ist es für ihn offenbar eine Zumutung, sich zwischen gerade einmal vier Sorten entscheiden zu müssen.

»Erdbeer, Schoko, Vanille oder Blaubeere?«, wiederhole ich ungeduldig und klopfe mit dem Kugelschreiber auf den kleinen Block, den ich zwar immer dabeihabe, auf dem ich mir aber so gut wie nie etwas notiere. Dafür ist im Diner außerhalb der Touristensaison einfach nicht genug los. Der Bengel starrt immer noch die Karte an, als würde plötzlich auf magische Weise eine neue Sorte erscheinen.

»Also?«

»Kann ich einen Bananen-Schoko-Shake haben?«

Dieses Mal mache ich mir nicht mehr die Mühe, meine Genervtheit zu verstecken. Mit Daumen und Zeigefinger massiere ich mir die Nasenwurzel, während ich darüber nachdenke, ob man mich feuert, wenn ich dieser verzogenen Göre in den Milchshake spucke. »Nein«, presse ich hervor. »Wir sind hier nicht bei Starbucks. Und wenn du dich nicht gleich für etwas entscheidest, tue ich es.«

»Schon gut, Mann.« Der Junge blickt kurz zu seinen Freunden, die inzwischen mindestens so genervt aussehen wie ich. »Schoko.«

»Na also.«

Ohne seinen Wunsch zu notieren, packe ich den Block in die Gesäßtasche meiner Jeans und gehe wieder hinter den Tresen. Manchmal raubt mir diese Kleinstadt wirklich den letzten Nerv. Ohne die Bestellung weiterzugeben, betrachte ich die Landkarte, vor der ich bis zu dieser Störung gebrütet habe.

Dutzende kleine und große Seen sind rings um die Stadt wie blaue Farbtupfer auf der Karte verteilt. Belmont Bay liegt genau zwischen den Clearwater National Forests und dem Kootenai National Forest. Noch etwas, das mich jede Woche mehr an einen Abgrund treibt: der endlose Wald. Endloses Grün, endlos viele Bäume, die sich aneinanderreihen, und endlose Geheimnisse, die sich darin verbergen. Ich studiere die Karte vor mir genauer. Das zerknitterte Papier ist auf dem Tresen ausgebreitet wie ein unpassendes Platzdeckchen. Mein Finger fährt eine der eingezeichneten Linien entlang.

»Was tust du da?«

Jeder andere wäre während seiner Arbeitszeit ertappt zusammengezuckt, ich jedoch mache mir nicht mal die Mühe, von der Karte aufzublicken. Joey stellt sich neben mich, wobei er der Gruppe Kids nur einen kurzen Blick schenkt. Die Sommerferien haben gerade erst begonnen, und da es in dieser Stadt nicht sonderlich viel Auswahl gibt, versammeln sie sich immer mal wieder hier.

Das Diner ist immer noch besser als die Wälder. Um diese Uhrzeit – und außerhalb der Theater-Wochen, die so ziemlich die einzige Touristenattraktion darstellen – ist das kleine Diner kaum besucht. Ich fahre mir durch das lange Haar, bevor ich beschließe, dass es mich beim Betrachten der Karte stört, und es zusammenbinde.

»Du solltest wirklich mal zum Friseur.« Da ich mir keine Mühe mache, diesen Satz zu kommentieren, fährt mein Chef fort: »Planst du eine neue Tour durch den Wald?«

»Ja.«

»Haben die was bestellt?«, will er wissen und deutet an den einzigen besetzten Tisch.

»Ja.«

»Willst du dir meine Standpauke jetzt anhören, oder warten wir damit bis zum Mittagessen?«

Nun muss ich Joey doch ansehen. Er ist irgendwo in den Sechzigern, das ergraute Haar steht jedoch noch in voller Pracht. Sein Blick ruht eine Weile auf mir, ehe er den Kopf schüttelt. Gegen meinen Willen zupft ein Grinsen an meinen Mundwinkeln. Joey ist in den letzten Jahren für mich zu einer Vaterfigur geworden, auch wenn ich mich anfangs dagegen gewehrt habe.

»Könnten wir die Standpauke auf nächsten Monat verschieben?«, frage ich zurück.

»Was haben die vier bestellt?«

»Viermal Schoko.«

»Also wie immer«, brummt Joey. »Aber von deiner fragwürdigen Arbeitsmoral einmal abgesehen, bist du sicher, dass …«

»Bin ich.«

Er hat es längst aufgegeben, mir die monatlichen Touren durch den Wald austreiben zu wollen. Trotzdem mischt sich ein Hauch gespielter Entrüstung in seine Stimme. »Wie du willst, Junge.«

Er bleibt neben mir stehen und lässt den Blick über die rustikale Schönheit seines Ladens schweifen. Alles ist im Stil der 50er-Jahre gehalten. Der kirschrote Tresen, hinter dem sich Kuchen, Cupcakes und Obst stapeln, bildet das Zentrum. An den großen Fenstern stehen die Sitzbänke aus rotem Leder, und die schwarz-weißen Kacheln spiegeln das Licht der Sonne. Zur Mittagsstunde ist es jedoch vor allem die Klimaanlage, die dafür sorgt, dass ich hierbleibe. Sie und die Milchshakes.

»Hat der alte Bennett schon angerufen?«

Ich schüttle den Kopf. »Ist noch nicht ein Uhr.«

»Hmm«, macht Joey, als würde dieses Geräusch einen ganzen Satz ergeben. Er rührt sich noch immer nicht vom Fleck, als wäre es nicht seine Aufgabe, die Milchshakes für diese Gruppe von Halbstarken zu machen. »Ich erinnere mich noch daran, wie du in diesem Alter warst.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich ihn an, denn mir gefällt ganz und gar nicht, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickelt. »Ach ja?«

»Du warst ein kluger Junge.«

»Und jetzt bin ich das nicht mehr?«

»Sag du es mir. Immerhin bist du noch hier«, murmelt Joey und sieht mich mit diesem väterlichen Seitenblick an, bei dem ich mich unwohl fühle. Zumeist folgt kurz darauf etwas, das ich eigentlich nicht hören will. »Warum bist du noch hier, Conner?«

»Meine Schicht ist noch nicht zu Ende«, antworte ich mechanisch. Seinen Blick kann ich dennoch nicht erwidern.

»Du weißt genau, dass ich das nicht meine.«

»Und du weißt genau, warum ich diese Stadt nicht verlasse.« Nun muss ich ihn doch ansehen. Einen Moment lang starren wir uns nur an. Zwei Menschen, die alles übereinander wissen, obwohl sie es nie ausgesprochen haben.

Noch etwas, das mich an dieser Stadt nervt.

»Du bist immer noch so stur wie in deiner Jugend, und der Haarschnitt hat sich seitdem auch nicht geändert.«

»Bedeutet das, dass ich die Milchshakes machen muss?«

»Fürs Rumstehen bezahle ich dich jedenfalls nicht«, brummt Joey zurück, das schwache Grinsen mildert seine Worte etwas ab. Dennoch setze ich ein nicht gerade fröhliches Gesicht auf, während ich mich umdrehe und vier große Gläser aus dem Regal nehme. Dabei blicke ich so unauffällig wie möglich über die Schulter.

Die vier lachen. Zwei Mädchen, zwei Jungs und eine Zukunft, die noch vor ihnen liegt, weit weg von Belmont Bay. Es ist lange her, dass ich mich gefühlt habe wie sie. Vollständig, gelöst und angefüllt mit Träumen und Wünschen. Fast stöhne ich wegen meiner eigenen kitschigen Gedanken auf.

Wir haben alle eine Wahl – und ich habe meine getroffen.

Die Mischung aus Milch und Schokoladeneiscreme steht bereits in dem kleinen Kühlschrank unter dem Tresen bereit, doch ich gebe noch je eine Kugel Eis dazu, sprühe alles mit Sahne ein und setze die klassische Kirsche obendrauf, ehe die Schokoladenstreusel zum Einsatz kommen.

Ich bin gerade rechtzeitig fertig, um nicht an das klingelnde Telefon zu gehen. Der alte Bennett ist eine Geschichte für sich, und ich bin nicht scharf darauf, mit ihm zu sprechen. Also marschiere ich mit dem vollen Tablett wieder zu der Clique, die ihre Diskussion darüber, ob das Ende von Game of Thrones nun schlecht war oder nicht, kurzzeitig unterbricht.

»Ist der mit fettarmer Milch?«, will der Junge in der Footballjacke wissen.

»Sicher.«

»Wirklich?«

Ich atme einmal tief durch. »Ja.«

»Okay«, murmelt der Junge nun etwas kleinlauter und zieht den Milchshake näher zu sich heran. Was ist bloß mit den Kindern los? Ständig haben sie irgendwelche Extrawünsche. Fettfreie Milchshakes? Was hat das Internet da nur wieder angerichtet?

»Conner!«, ruft jemand, und ich zucke zusammen. Joey mag der Chef sein, doch seine Frau ist die eigentliche Herrin des Diners. Joey hat gerade den Hörer wieder auf das altmodische Telefon gelegt und sieht mich mit einem Blick an, der verrät, dass er mich vor was auch immer jetzt kommt nicht beschützen kann. Tanja kommt aus der Küche. Ihre knallroten Lippen, die perfekt auf ihre Schürze abgestimmt sind, verziehen sich zu einem breiten Lächeln. Das macht ihren Blick allerdings nicht weniger vorwurfsvoll. »Ich habe dich gerufen.«

Meine Augenbraue wandert wie von selbst nach oben, während ich zum Tresen schlendere. »Das habe ich gehört.«

»Und warum kommst du dann nicht?«

»Mal abgesehen davon, dass ich kein Hund bin, hast du mir auch kaum eine Minute Zeit gelassen«, erkläre ich und verstaue meine Karte wieder in der kleinen Schublade unter der Diner-Kasse. Eins ist sicher, heute werde ich mich nicht mehr in Ruhe nach meiner nächsten Route umschauen können. Also drehe ich mich zu meiner Chefin um. »Was kann ich für dich tun?«

»Hast du es schon gehört?«

»Was?«, frage ich verwirrt zurück.

Tanja rollt mit den Augen und lässt sich auf einen der Barhocker sinken. »Natürlich nicht.«

»Jetzt mach es nicht so spannend, Schätzchen«, meint Joey. Ich fange seinen Blick auf, verkneife es mir aber, etwas dazu zu sagen. »Hat Stella endlich die Hauptrolle im neuen Theaterstück bekommen? Oder gibt es etwas Neues zu dem …«

»Viel besser«, unterbricht Tanja und grinst breit. »Es gibt jemand Neuen in der Stadt.«

Joey und ich sehen uns an, zucken zeitgleich mit den Schultern und wenden uns ab. Belmont Bay ist in vielerlei Hinsicht wie jede andere Kleinstadt. Bei weniger als 1000 Einwohnern, von denen die Hälfte im weitläufigen Gebiet um die Stadt lebt, bleibt kaum etwas lange unentdeckt – oder unkommentiert. Da sich mein Interesse am örtlichen Klatsch jedoch in Grenzen hält, beschäftige ich mich lieber damit, die Gläser zu polieren. Joey zählt das Geld in der Kasse nach, als wüssten wir nicht, dass genau 54,50 Dollar drin sind. So wie jeden Morgen, denn der einzige Gast, den wir bisher hatten, war die Floristin Stella, die sich ihr morgendliches Frühstück besorgt hat. Die meisten Gäste kommen erst zum Mittagsgeschäft und eher sporadisch. Mit Glück sind heute Abend wieder ein paar Trucker in der Stadt, die auf dem alten Rastplatz haltmachen und den Weg in die Innenstadt finden.

»Mehr habt ihr dazu nicht zu sagen?«

»Wer ist es denn?«, gibt ihr Mann sich geschlagen.

»Ihr kennt doch Megan?« Da es sich um eine Fangfrage handelt, sage ich weiterhin nichts. »Ihr wisst schon, die Fotografin. Mit diesen knalligen roten Haaren. Offenbar ist ihre Schwester zu Besuch.«

»Sosehr ich dich auch liebe, aber du hattest schon mal besseren Tratsch auf Lager«, kommentiert Joey, was mich wieder zum Grinsen bringt. Trotzdem kann ich nicht leugnen, dass ein winziger Teil von mir mehr erfahren will.

»Oh, ich bin noch nicht fertig«, verteidigt sich seine Frau. Die perfekte Hochsteckfrisur gerät nicht mal ins Rutschen, als sie den Kopf schief legt. »Sie heißt Mia. Caroline hat sie gesehen.«

»Und?«, entfährt es mir.

Tanja senkt die Stimme. »Das arme Ding sieht schrecklich aus. Sie muss etwas Furchtbares erlebt haben.«

»Wie meinst du das?«, will ihr Mann wissen.

»Nun …« Tanja stockt, als würde es ihr schwerfallen, die richtige Worte zu finden. »Sie hat ein blaues Auge.«

Mir entfährt ein genervtes Stöhnen, was meine Chefin dazu veranlasst, die Nase zu krausen.

»Hast du etwas zu sagen, Conner?«

»Nein.«

»Und warum stöhnst du dann, als hätte ich etwas Unflätiges getan?«

»Sie ist seit wie vielen Minuten in der Stadt?«, will ich wissen. »Und schon jetzt wird sich das Maul über sie zerrissen.«

»Ich zerreiße hier nichts, mein Lieber«, erwidert sie zuckersüß. »Alles, was ich damit sagen wollte, ist, dass eine junge Frau in Belmont Bay angekommen ist. Und offenbar hat sie ein Geheimnis.«

Ich rolle mit den Augen. »Und du willst wissen, was es ist?«

»In meinem Alter hat man nicht mehr sonderlich viele Freuden, gönn mir diese.«

»Hoffentlich wurde das arme Mädchen nicht geschlagen«, meint Joey nachdenklich.

Da muss ich ihm zustimmen. Ich kenne Megan nur flüchtig – wenn ihre Schwester auch nur einen Hauch ihres Temperaments hat, kann ich mir das nicht wirklich vorstellen. Auf der anderen Seite ist wahrscheinlich gerade das der Grund, warum dieses Thema noch immer so unter den Tisch gekehrt wird. Gerade als ich denke, dass wir mit dem Klatsch für heute fertig sind, hat meine Chefin wieder diesen seltsamen Glanz in den Augen.

»Es wird noch spannender«, fährt Tanja fort. »Offenbar haben Megan und ihre Schwester nicht den gleichen Vater.«

Nun bin ich vollends verwirrt. Und zum Glück nicht allein damit, denn auch Joey sieht aus, als würde er sich fragen, wie seine Frau auf diese Idee kommt. »Und diese These gründet sich worauf?«

Tanja lächelt. »Die gute Mia hat japanische Wurzeln.«

Nun kann ich meine Genervtheit nicht mehr verstecken. »Willkommen in Belmont Bay, wo aus allem ein Gerücht gemacht wird«, brumme ich.

Manchmal würde ich gern meine Sachen packen und dieser Stadt einfach den Rücken kehren, wie es die meisten tun. Aber ich bin nicht wie die anderen. Sosehr mir Belmont Bay auch auf die Nerven geht, ich kann nicht gehen. Nicht, bis ich sie gefunden habe.

Bevor ich diesen Gedanken vertiefen kann oder Tanja dazu kommt, mir noch mehr Klatsch zu berichten, den ich gar nicht hören wollte, bimmelt die kleine Glocke an der Tür.

Augenblicklich verstummt das Gespräch der Kids, und Tanjas Lächeln gefriert. Der alte Bennett macht drei große Schritte bis zur Kasse.

Die von der Sonne gegerbte Haut lässt seine blassgrauen Augen nahezu leuchten. Für einen Mann in den Siebzigern ist er erstaunlich fit, denn unter seinem schwarzen Shirt spannen sich die Muskeln seiner Arme an, als sei er bereit, sich jederzeit in den Hulk zu verwandeln. Unter dem dunklen Cowboyhut versteckt er seine Glatze, doch wie es sich gehört, nimmt er ihn ab, ehe er Tanja begrüßt.

»Ein Stück Apfelkuchen und ein Blaubeershake zum Mitnehmen«, sagt Joey, dessen schmales Lächeln als einziges echt wirkt.

Bennett nickt stumm.

Mein Chef holt den Kuchen, während ich den Milchshake fertig mache und vor dem alten Mann auf dem Tresen abstelle. In seinem Gesicht zeigt sich keine Regung. Ich gebe es nicht gern zu, aber er ist wirklich unheimlich.

Joey schiebt ihm die unscheinbare Tüte mit dem besten Apfelkuchen der Welt – seine Worte, nicht meine – hinüber. »Bitte.«

»Danke.«

Bennett nickt wieder, legt das Geld inklusive eines großzügigen Trinkgelds auf den Tresen und macht sich bereit zum Gehen. Er ist gerade an der Tür angekommen, als man eine Mädchenstimme wispern hört: »Freak.«

Bevor ich es verhindern kann, kommt ein »Halt die Klappe, Rachel, und trink deinen Milchshake« aus meinem Mund.

Das Mädchen zuckt ertappt zusammen.

Bennett wirft mir einen knappen Seitenblick zu, und fast glaube ich, so was wie Dankbarkeit in seinen kalten Augen zu erkennen. Die Schauergeschichten über den Mann, der am Rand des Waldes lebt, kenne ich noch aus meiner Jugend. Verdammt, es gibt sogar gruselige Lagerfeuergeschichten über ihn. Früher war ich nicht besser als Rachel, aber jetzt versuche ich, nicht mehr auf den Klatsch zu hören. Oder mich von seinem derben Aussehen einschüchtern zu lassen. Der alte Bennett nickt noch einmal knapp. Dann geht er.

Das Bimmeln der Türglocke löst die Starre im Raum, und mit einem Wimpernschlag ist alles wieder wie zuvor.

»Tu mir den Gefallen und schrei während deiner Schicht keine Teenager an«, kommentiert Tanja, doch in ihrer Stimme liegt keine Strenge.

»Irgendjemand muss es tun.«

»Hoffentlich verklagt ihre Mutter uns nicht.«

Statt etwas darauf zu erwidern, nehme ich die Schürze ab. Als hätte sich das Schicksal heute komplett gegen mich verschworen, öffnet sich die Tür des Diners erneut. Arin kommt herein, bleibt jedoch kurz stehen, als sich unsere Blicke kreuzen. Im Gegensatz zu mir geht er mit Sicherheit regelmäßig zum Friseur, denn seine Frisur erinnert an einen 50er-Jahre-Film. Nur ohne den Stil oder Charme. Meine Kiefer pressen sich zusammen. Er ist so ziemlich der letzte Mensch in dieser Stadt, mit dem ich auch nur ein Wort wechseln will. Grimmig lasse ich meine Schürze auf dem Tresen liegen und brumme: »Ich mach Mittagspause.«

3

Mia

Schreiend wache ich auf und taste orientierungslos nach dem Schalter meiner kleinen Lampe. Doch ich greife ins Leere, verliere das Gleichgewicht und lande auf dem harten Boden. Offenbar habe ich die Breite des Sofas falsch eingeschätzt. Mit einem Stöhnen stütze ich mich auf die Unterarme und blinzle in die Dunkelheit.

Ich bin nicht zu Hause.

Mein schwerer Kopf braucht einen Moment, um zu begreifen, wo ich wirklich bin. Nicht mehr in New York, und das hier ist nicht meine Wohnung.

Die Fremdheit des Zimmers sorgt dafür, dass ich mich halb blind vorantasten muss. Langsam komme ich auf die Beine. Das Dröhnen hinter meinen Schläfen verrät mir überdeutlich, dass ich eine neue Aspirin brauche, bevor ich es noch einmal mit dem Schlafen versuchen kann. Auf nackten Füßen schleiche ich durch die kleine Wohnung, bis gleißendes Licht mich so plötzlich blendet, dass ich gequält aufstöhne.

»Ist alles okay?«

Megan steht alarmiert vor mir, die langen Haare zu einem großen Knäuel auf dem Kopf zusammengebunden. Eine der feuerroten Strähnen hängt ihr in die Augen und betont das verschmierte Make-up. Allerdings brauche ich wohl zu lange für eine Antwort, denn sie schiebt hinterher: »Ein Albtraum?«

Ich schaffe es nur zu nicken. Das ist immer noch besser, als ihr zu sagen, was wirklich gerade in mir vorgeht. Megan schiebt sich sachte an mir vorbei und zieht mich mit sich in die winzige Küche. Stumm setzt sie Tee auf, ehe sie mir eine Aspirin und ein Glas Wasser vor die Nase stellt. Dankbar lasse ich mich an dem kleinen Tisch nieder, während meine Schwester mit dem Wasserkocher hantiert. Für einige Minuten schweigen wir zusammen, brüten über all den unausgesprochenen Worten zwischen uns. Dann ertönt das Klicken. Das Wasser kocht, und kurz darauf erfüllt der Duft von Tee die Küche.

»Willst du darüber reden?«, fragt sie und nimmt mir gegenüber Platz, bevor sie eine der dampfenden Tassen zu mir schiebt.

»Ehrlich gesagt, nein«, gebe ich leise zurück, wage es aber nicht, Megan anzusehen. Die Tasse in meiner Hand fühlt sich beruhigend warm an. Doch die Reste meines Albtraums lassen sich nur schwer abschütteln. Es war ein Traum, aber die Angst in meinem Inneren ist echt. Tränen der Hilflosigkeit steigen mir in die Augen. Ich weigere mich, sie fließen zu lassen. Es waren schon zu viele Tränen, zu viele Träume und zu viel Schmerz. Ich kann nicht noch mehr ertragen.

Megan nippt an ihrem Tee. »Das soll jetzt wirklich nicht wie ein Vorwurf wirken, aber hast du Anzeige erstattet?«

»Ehrlich gesagt, auch nicht.«

Sie nickt nur, aber ich kann ihre Gedanken trotzdem hören. Mir ist klar, wie das wirkt. Ich bin die Frau, die sich von ihrem Freund hat verprügeln lassen und nun zu feige ist, ihn anzuzeigen. Aber der bloße Gedanke daran, ihm wieder unter die Augen treten zu müssen, schnürt mir vor Angst die Kehle zu.

»Gut«, sagt meine Schwester und legt nachdenklich den Kopf schief. »Darf ich morgen trotzdem Fotos von deinem Gesicht und … dem Rest deines Körpers machen?«

Ich starre sie fassungslos an. »Wozu?«

Meine Schwester ringt mit sich, ich kann ihrem Gesicht ansehen, dass sie ebenso überfordert ist wie ich selbst. »Für den Fall, dass du es dir anders überlegst.«

Unwillkürlich schüttle ich den Kopf. »Ich verlange nicht, dass du mich verstehst«, setze ich an. »Aber ich werde es mir nicht anders überlegen.«

»Vielleicht doch.« Megan zuckt mit den Schultern. »Mit den Fotos und deiner Nachricht auf meiner Mailbox hättest du mehr als genug Beweise.«

»Mailbox?«

Die Erinnerung entgleitet mir; sobald ich versuche, nach ihr zu greifen, sehe ich nur das Blut an meinen Händen.

Meine Schwester verzieht den Mund. Es ist selten, dass sie nach den richtigen Worten suchen muss. Megan war schon immer eher der Typ Mensch, der einem die Wahrheit vor die Füße spuckt, statt mehrfach darüber nachzudenken. Doch gerade kann ich es förmlich hinter ihrer Stirn arbeiten hören. Schließlich lehnt sie sich zurück, ohne meinen fragenden Blick zu erwidern. »Wenn du bereit bist, dich der Realität zu stellen, zeig ich sie dir.« Für einen Moment herrscht Stille, dann fügt sie hinzu: »Ich hatte wirklich Angst um dich.«

»Tut mir leid.«

»Du bist die Letzte, der hier etwas leidtun sollte.«

»Sagt Mom nicht immer, es gehören zwei zu einem Streit?«

»Vergleichst du einen Streit gerade ernsthaft mit dem, was mit deinem Gesicht passiert ist?«

Wir verfallen in einvernehmliches Schweigen, bis der Tee in meiner Hand kalt ist und meine Schwester leise flucht.

»Meine Schicht in der Red Lady beginnt in drei Stunden«, murmelt sie entschuldigend. »Hast du Hunger?«

Ich blinzle sie an. »Hunger?«

»Sich jetzt noch einmal hinzulegen bringt nichts, und ich finde, ein paar Pancakes sind genau das, was wir jetzt brauchen«, sagt sie und legt den Kopf schief.

»Okay.«

»Gut.«

Damit steht sie auf, drückt mir einen sachten Kuss auf den Kopf und tätschelt meine Schulter. Während sie sich daranmacht, die wenigen Dinge aus ihrem Kühlschrank zusammenzusuchen, bleibe ich reglos sitzen.

Meiner großen Schwester dabei zuzusehen, wie sie uns ein vor Fett triefendes Frühstück macht, versetzt mich ungewollt wieder in meine Kindheit zurück. Immer wenn etwas nicht so lief, wie ich es wollte, machte sie mir Pancakes. Nach meiner ersten schlechten Note, als mich niemand zum Homecoming-Ball eingeladen hat und sogar während meines ersten Liebeskummers. Es ist lange her, seit ich ihr wieder einen Grund gegeben habe, für mich zu kochen. Dabei hätte ich ihre Fürsorge in New York gebraucht.

Allerdings kann ich ihr das nicht vorwerfen, denn ich habe vorher nie einen Ton gesagt. Kein einziges Mal. Bis jetzt.

»Megan?«

Sie hält inne und sieht mich an, während das Öl in der Pfanne heiß wird. »Was ist?«

»Danke.«

»Bedank dich, wenn ich es geschafft habe, die Küche nicht in Brand zu stecken«, wehrt sie ab und wedelt dabei mit der Gabel herum.

Meine Mundwinkel zucken, aber ein richtiges Lächeln bekomme ich nicht zustande. »Nicht für die Pancakes, sondern für alles.«

Megan lächelt. »Dafür sind Schwestern da.«

Sie ist nur vier Jahre älter als ich, dennoch fühlt es sich manchmal so an, als habe sie viel mehr Leben gehabt als ich. Sie ist schon überall gewesen, immer auf der Suche nach einem Abenteuer. Jeden Sommer hat sie ihre Sachen gepackt und ist losgezogen, während ich bei Mom geblieben bin und auf mein Leben hingearbeitet habe. Und genau dieses Leben liegt nun in Scherben.

»Leg dich ruhig noch etwas hin. Ich hol dich, wenn das Essen fertig ist«, meint sie gelassen, als hätte ich ihr nicht wertvolle Stunden Schlaf geraubt.

Einen Moment lang zögere ich. Dann stehe ich langsam auf, wobei ich darauf achte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr jede Bewegung schmerzt. Mit angespannten Schultern trotte ich zurück in das chaotische Wohnzimmer. Halb ausgepackte Kisten stapeln sich an den Wänden, und auf dem Sofatisch liegen Fotos querbeet verteilt. Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben, hätte ich angefangen aufzuräumen. Chaos und ich sind keine Freunde. Aber mir fehlt die Kraft, also lasse ich mich müde wieder auf das Sofa fallen und wickle die Decke um meine Beine.

Meine Hand zuckt wie automatisiert, um nach meinem Handy zu greifen, doch ich lasse sie wieder sinken. Das dumpfe Klopfen meines Herzens setzt einen Schlag aus, das schwarze Display scheint mich anzustarren. Es ist noch zu früh, um mich mit den Nachrichten zu beschäftigen, die dort auf mich lauern. Irgendwann, aber nicht jetzt.

Ich muss eingenickt sein, denn plötzlich spüre ich einen sanften Druck an meiner Schulter und zucke heftig zusammen, was mich augenblicklich stöhnen lässt.

Megans braune Augen blinzeln mich besorgt an. »Tut mir leid«, murmelt sie und schiebt einige Unterlagen zur Seite, damit sie Platz für die Teller hat. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Hast du nicht«, lüge ich mehr schlecht als recht und richte mich wieder auf. Der süße Duft der Pancakes steigt mir in die Nase, gemischt mit dem Geruch von Verbranntem, und wie auf ein Stichwort beginnt mein Magen zu knurren. Nach meiner Ankunft war ich zu erschöpft, um auch nur über Essen nachzudenken, doch nun erscheinen mir die angebrannten Pancakes wie der Himmel. Ich greife nach meinem Teller und lasse sie in Ahornsirup ertrinken, ehe ich meine Portion schneller verdrücke, als Megan gucken kann.

»Was denn?«, frage ich und wische mir über den Mund.

»Ich habe vergessen, was für schreckliche Tischmanieren du hast.«

»Sagt die Frau, deren Tisch aus nichts anderem als Unordnung besteht.«

»Touché.«

 

Nach dem Essen steht Megan auf, um sich fertig zu machen, und mir wird bewusst, dass ich die nächsten Stunden allein in dieser Wohnung verbringen werde. Inzwischen scheint das Licht des Morgens durch die Vorhänge und lässt die winzigen Staubpartikel schimmern wie goldene Punkte. Ich versinke so in dem Anblick der schimmernden Funken, die einen Tanz zu einer Musik aufführen, die ich nicht hören kann, dass ich gar nicht merke, wie meine Schwester wieder aus dem Badezimmer kommt. Mit tropfnassen Haaren steht Megan vor mir. Ich kann ihr Apfelshampoo riechen, als sie sich zu mir beugt und mir einen Kuss auf die Wange drückt.

»Ruf mich an, wenn du noch etwas brauchst.«

»Es geht schon.«

»Mein Netflix-Passwort hast du?«

Ich nicke und winke ihr zum Abschied. Das »Hab dich lieb« wird von der zufallenden Tür abgeschnitten.

Und damit lässt sie mich allein.

Mit meinen Erinnerungen.

Meinen Schuldgefühlen.

Und der kalten Angst im Nacken.