Romana Wasinger

Leben
im Sterben

Liebevolle Begleitung
in der letzten Lebensphase

Inhalt

Cover

Titel

Einleitung

Verantwortung

Kapitel 1 – Leben und Sterben

Der Mensch

Das Wunder „Leben“

Was bedeutet „Sterben“?

Die Silberschnur

Phasenmodelle

Elisabeth Kübler-Ross

Herr P. – Ein langer Kampf

Sterben als Lebensprozess

Was erwarten Patienten von Pflegenden?

Herr E. – Ein Kavalier der alten Schule

Herr A. – Lachen, Pfiffe und viel Trubel

Patientenrechte / Rechte Sterbender

Bedürfnisse am Ende des Lebens

Ratschläge eines Sterbenden

Physische und psychische Beschwerden sterbender Menschen

Schmerz ist nicht gleich Schmerz

Angst vor dem Sterben?

Herr P. – Er starb im Beisein seiner Mutter

Die Trauer sterbender Menschen

Lass dich trösten

Kapitel 2 – Tod

Stiller Augenblick

Was verstehen wir unter „Tod“?

Beginn des Endes

Leben nach dem Tod?

Der Tod ist nichts

Kapitel 3 – Angehörige

Der Weltreihen

Das Leid der Angehörigen

Frau W. – Tapfer bis zum letzten Moment

Frau S. – Ihr Mann wollte sie nicht gehen lassen

Die Trauer der Hinterbliebenen

Stille nach dem Abschied

Kapitel 4 – Hospize in der Vergangenheit, die Hospizbewegung, Palliative Care

Nachtgefühl

Hospize in der Vergangenheit

Cicely Saunders

Was will die weltweite Hospizbewegung?

Die Hospiz-Entwicklung in Österreich

Die Datenerhebung

Was ist ein stationäres Hospiz?

Was ist „Palliativ Care“?

Formen und Einrichtungen der Hospiz- und Palliativbetreuung

Kapitel 5 - Mein Arbeitsplatz – ein stationäres Hospiz

Sonett an Orpheus I/14

Meine „Station“

Hospiz – ein „ungewöhnlicher“ Ort / Hospizschwester – ein noch seltener Beruf

Patienten und Schwestern im Hospiz

Frau F. – Sie konnte über ihre Gefühle nicht sprechen

Herr A. – Er brachte er mich an meine Grenzen

Herr S. – Jesus an der Wand?

Herr K. – Die Dankbarkeit seiner Ehefrau

Kommunikation und Sprachlosigkeit am Sterbebett

Herr M. – Spannende Geschichten aus fernen Ländern

Frau S. – Das Gespräch

Frau L. – Die Sprache des Herzens

Stimmungen, Gefühle und Empfindungen

Frau F. – Sie wollte nur „Leben, Leben, Leben“

Krebs ist nicht gleich Krebs

Sterben im Hospiz

Frau K. – Ein bescheidenes Leben – ein stiller Tod

Herr W. – Der unhörbare Ruf

Frau W. – Sie strahlte Ruhe und Liebe aus

Frau S. – Ein ganz spezieller Segen

Frau F. – „Ich will noch nicht sterben“

Das „schwarze Loch“

Ein Patient ist verstorben

Kapitel 6 - Lebens- und Sterbebegleitung

Ein Traum ...

Jeder kann Sterbende begleiten

Frau K. – Immer ein Lächeln auf den Lippen

Sterbebegleitung = Lebensbegleitung

Professionelle Sterbebegleitung

Frau L. – Eine Herausforderung

Auch Krankenschwestern sind keine Heiligen

Burnout und Helfersyndrom

Persönliche Erfahrung

Supervision

Mitleid und Mitgefühl

Kapitel 7 - Beruf – Berufung

Gedicht einer alten Frau

Mein Traumberuf – Krankenschwester

Persönliche Erfahrungen mit dem Sterben im Krankenhaus

Zum Nachdenken

Tiefe Trauer

Gedanken einer Hospizschwester zur Trauer

Wenn es soweit sein wird mit mir

Epilog: Was ich Ihnen gerne noch sagen möchte

Literaturverzeichnis

Fußnoten

Weitere Bücher

Einleitung

Als ich vor einigen Jahren eine Gesundheits- und Krankenpflegeschule besuchte, musste ich im Diplomjahr, so wie alle anderen SchülerInnen auch, eine Fachbereichsarbeit schreiben. Da ich bald selbst auf einer Hospizstation arbeiten würde, entschied ich mich, über die Individualität des Sterbens in Hospizen zu schreiben. Rasch musste ich allerdings feststellen, dass ich das von mir gewählte Thema nicht im Rahmen meiner schriftlichen Abschlussarbeit behandeln konnte, denn einerseits hatte ich als Laie keine Ahnung davon, wie es ist, sterbende Menschen zu pflegen und andererseits hatte ich überhaupt keine Vorstellung von dem, was genau in einem Hospiz passiert. Es gab damals kaum Literatur über Hospize und vor allem kein einziges Buch von jemandem, der selbst in einem Hospiz tätig war und ausführlich über seine Erfahrungen und Erlebnisse während seines Berufsalltages berichten konnte. Ein solches Buch habe ich schmerzlich vermisst, denn es wäre für mich nicht nur sehr informativ, sondern auch sehr hilfreich gewesen. Ich habe mir ein ganz besonderes Buch gewünscht – eines, in dem Theorie und Praxis vereint sind. Es sollte mir einen Eindruck davon vermitteln, was es für schwerkranke Menschen bedeutet, zu sterben. Ich wollte, neben der Erklärung von Fachausdrücken, genau wissen, wie man sich ein modernes Hospiz vorstellen kann, ich wollte den Tagesablauf kennen lernen und vor allem erfahren, wie sich Menschen – diejenigen, die dort arbeiten, die PatientInnen und auch ihre Angehörigen – an einem solchen Ort fühlen. Ich hätte gerne gelesen, wie es den Menschen dort bei der Erfüllung dieser bestimmt nicht einfachen Aufgabe geht und mit welchen Belastungen und Problemen sie zu kämpfen haben. Ich wollte wissen, wie PatientInnen mit all ihren Ängsten, Verlusten und dem Wissen umgehen, dass ihre verbleibende Lebenszeit nach ärztlicher Einschätzung auf ein Minimum begrenzt ist und wie die betroffenen Angehörigen mit dieser schwierigen Situation und später ihrer Trauer zurechtkommen.

Inzwischen arbeite ich seit mehreren Jahren als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester auf einer kleinen Hospizstation. In meinem Berufsalltag erlebe ich immer wieder, dass sich auch heute noch viele Menschen, die zu uns kommen, unter dem Begriff Hospiz kaum etwas vorstellen können. Fast alle scheinen einen ähnlich strukturierten Ablauf wie in einem Krankenhaus zu erwarten, den die meisten wohl kennen. Manche unserer Gäste wissen, dass in Hospizen schwerkranke Menschen gepflegt werden, manche hoffen, dass wir unsere PatientInnen wieder „gesund machen“ und einige glauben, dass wir unheilbar kranken Menschen beim Sterben „helfen“, indem wir es „beschleunigen“ oder gar auf Wunsch beenden. PatientInnen, deren Angehörige und Freunde und auch SchülerInnen sind fast ausnahmslos angenehm überrascht, weil es bei uns meist entspannt und fröhlich zugeht. Erfreut nehmen sie zur Kenntnis, dass es auf unserer Station keinen starren oder gar hektischen Tagesablauf gibt und dass wir Schwestern viel Zeit für Gespräche und die sehr individuelle Pflege der Schwerkranken haben. Außerdem äußern sich fast alle unsere Gäste und Besucher sehr positiv über die modernen, hell, zweckmäßig und trotzdem freundlich und heimelig gestalteten Räumlichkeiten, die zum Verweilen einladen und sie schätzen die schöne Gartenanlage, die das Gebäude umgibt.

Warum habe ich mich entschlossen, dieses Buch zu schreiben? Ich bin nur ein winziges Rädchen im riesigen Werk des Gesundheitswesens, aber ich arbeite, wie so viele andere auch, an „vorderster Front“. In meinem Berufsalltag pflege ich, gemeinsam mit meinen Kolleginnen, erwachsene, unheilbar kranke, sterbende Menschen. Durch meine berufliche Tätigkeit erlebe ich Sterben in seiner unglaublichen Vielfalt fast täglich hautnah und kann von diesen Erfahrungen berichten. Inzwischen gibt es unzählige Bücher, die sich mit den Erfahrungen unheilbar kranker Menschen, Nahtoderfahrungen, einem vermeintlichen Jenseits, Reinkarnation, der Unsterblichkeit der Seele, dem Tod, dem Sterben in all seinen Facetten und der Begleitung und Pflege sterbender Menschen beschäftigen. Interessant finde ich, dass sich auch heute noch in dieser fast unüberschaubaren Anzahl von Büchern kaum Berichte von Pflegefachkräften finden lassen, obwohl gerade sie Sterben öfter und näher miterleben als alle anderen Menschen.

Dichter, Philosophen, Chronisten, Humoristen und weise Männer haben oft über den Tod geschrieben, aber ihn nur selten mit eigenen Augen gesehen. Ärzte und Krankenschwestern sehen ihn oft, schreiben aber selten darüber. Die meisten Menschen sehen den Tod ein- oder zweimal im Leben in Situationen, an denen sie emotional so beteiligt sind, dass sie keine verlässlichen Erinnerungen daran behalten. Überlebende von Massensterben entwickeln rasch so starke Abwehrmechanismen gegen den Schrecken, den sie miterlebt haben, dass alptraumhafte Bilder die Erinnerung an die realen Ereignisse verstellen. Daher gibt es nur wenige verlässliche Berichte über die Art und Weise, wie wir sterben.1

Es ist nicht mein Ansinnen, ein Lehrbuch rund um das Thema Sterben zu verfassen, denn das tun Experten wie Sterbeforscher, Mediziner, Philosophen, Theologen, Psychologen, Soziologen und Pflegewissenschaftler. Ich möchte Sie, liebe LeserInnen, daran erinnern, dass Sterben ein ganz natürlicher Vorgang ist, der uns alle, ausnahmslos und unabhängig von unserer Einstellung dazu, früher oder später betreffen wird. Ich kann Ihnen davon erzählen, wie es sich anfühlt, sterbende Menschen zu pflegen. Aufgrund meiner beruflichen Erfahrungen kann ich Ihnen einen Eindruck vom Alltag in einem stationären Hospiz vermitteln und im Zuge vieler Sterbebegleitungen Erlebtes mit Auszügen aus der inzwischen sehr umfangreichen Fachliteratur vergleichen.

Sterben ist ein individuelles Geschehen. Es lässt sich weder in einen vorgegebenen Zeitrahmen einfügen, noch verläuft es nach starren Regeln.

Sterben ist, wenn es nach schwerer Krankheit geschieht, eine intensive Phase des Lebens. Die Begleitung sterbender Menschen ist niemals eine nüchterne, rein sachliche Angelegenheit, sondern immer mit Emotionen verbunden. Vielleicht klingt daher manches von dem, was ich in meinem Berufsalltag erlebe, für Menschen, die noch nie mit dem Tod konfrontiert worden sind, seltsam oder gar klischeehaft, aber ich erzähle hier von im Hospiz Gehörtem, Gefühltem, Erlebtem.

Ich möchte ich Sie mit einigen Begriffen, gängigen Definitionen, Erkenntnissen und Daten aus der entsprechenden Literatur und dem Internet vertraut machen, die mit dem Vorgang des Sterbens zusammenhängen. Bei der Zusammenstellung des theoretischen Teils musste ich feststellen, dass dies gar nicht so einfach ist. In der Mathematik beispielsweise gibt es Formeln, die überall auf der Welt Gültigkeit haben. 2 + 2 = 4, das ist auf der ganzen Welt so, unabhängig vom Kulturkreis, der Religion, dem ethischem Verständnis oder anderen Kriterien. Beschäftigt man sich aber mit dem Sterben und dem Tod, gibt es keine einfachen Formeln und Regeln, denn alle Antworten sind letztendlich abhängig von der Beantwortung einer einzigen Frage: Besteht ein Mensch nur aus seinem sterblichen Körper, oder gibt es eine unsterbliche Seele? Niemand kann diese Frage mit absoluter Bestimmtheit beantworten. Aus diesem Grund stolpert man auf der Suche nach Antworten automatisch über mehrere mögliche Definitionen, nicht definierbare Begriffe, verschiedene Sichtweisen und Begriffe wie „Unsterblichkeit“, „Seele“, „ins Licht gehen“, ein eventuell mögliches Weiterleben im „Jenseits“ und „Wiedergeburt“. Man sieht sich mit Denkansätzen vieler AutorInnen und teilweise recht unterschiedlichen Meinungen konfrontiert. Tatsache ist jedoch: wir wissen (noch) nicht, was beim Sterben wirklich passiert, außer wir reduzieren den Menschen auf seinen Körper, also Zellen, Gewebe, Organe und ihre Funktionen. Wissenschafter können uns chemische Abläufe während des Lebens und Sterbens im Körper verständlich machen, obwohl auch auf diesem Gebiet längst noch nicht alle Rätsel gelöst werden konnten. Für eine unsterbliche Seele, ein Weiterleben nach dem Tod oder eine Reinkarnation gibt es zurzeit noch keine sicheren, objektiven Beweise. Inzwischen gibt es wohl tausende Berichte von Nahtoderfahrungen, aber bis jetzt ist es noch nicht gelungen, diese Erfahrungen eindeutig als Jenseitserfahrungen zu belegen. In der Literatur finden sich philosophische Betrachtungen, die sich für oder gegen ein Weiterleben nach dem Tod aussprechen.

Um Ihnen zumindest einen kleinen Überblick über die verschiedenen Definitionsmöglichkeiten und Expertenmeinungen zu geben, finden Sie zu jedem Begriff mehrere mögliche Definitionen und Sichtweisen verschiedener Autoren. Würde ich hier nur Definitionen aus einem einzigen Fachbuch oder die Sichtweise eines einzigen Autors wiedergeben, hätten Sie nicht die Möglichkeit, sich ein Bild von der Vielfalt der Erklärungsmöglichkeiten zu machen. Wörtlich aus der Literatur oder dem Internet entnommene Textpassagen erkennen Sie an der Kursivschrift, neben allen anderen, also nicht wortwörtlich übernommenen Textpassagen, finden Sie in Form von fortlaufenden Ziffern die Literaturhinweise bzw. Hinweise auf die entsprechenden Internetadressen.

Die theoretische Einstimmung erhebt aufgrund der umfassenden Thematik keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll jenen LeserInnen, die sich vielleicht zum ersten Mal mit dem Bereich „Leben am Lebensende“ auseinandersetzen, lediglich einen Überblick über wichtige (Fach-) Begriffe ermöglichen. Zur Einleitung jedes Kapitels und auch eingebettet in Theorie und Fallbeispiele finden Sie immer wieder berührende Verse und Gedichte. Im Kapitel 5 stelle ich Ihnen meinen Arbeitsplatz vor, danach berichte ich von meinen Erfahrungen als Teil eines Hospizteams sowie von prägenden Erlebnissen, die mich letztendlich auf Umwegen zu meiner beruflichen Tätigkeit in ein Hospiz geführt haben. In den Kapiteln 1, 3, 5 und 6 lasse ich Sie an Erlebnissen im Zuge von Lebens- und Sterbebegleitungen im Hospiz teilhaben. Ich widme diese kurzen Geschichten menschlicher Begegnungen voller Dankbarkeit meinen LehrmeisterInnen – all jenen Menschen, die auf unserer Hospizstation verstorben sind.

Beim Lesen der folgenden Seiten sollen Sie fühlen, dass jeder Mensch, jedes Leben und jedes Sterben einzigartig ist und dass Hospize besondere Orte sind. Es sind keine dunklen, beängstigenden Orte der Schmerzen, der Hoffnungslosigkeit, der Einsamkeit, der Trauer, des Verlustes und des Todes, sondern Orte des Lebens. Hospize sind helle, offene, freundliche Orte, an denen gemeinsam gelacht und auch geweint wird. An diesen speziellen Orten wird schlicht und einfach Menschlichkeit gelebt. Wir Pflegenden respektieren die Eigenheiten und Wünsche unserer PatientInnen, wir behandeln sie mit Achtung und Respekt und wahren ihre Würde bis zu ihrem Tod. Wir sind beim Regeln „letzter Dinge“ behilflich und stehen Angehörigen in dieser meist als sehr belastend empfundenen Zeit bei. Bei uns zählen nicht nur die Krankengeschichten der uns anvertrauten Menschen. Schwerkranke Menschen werden nicht als „Fälle“, sondern als individuelle Persönlichkeiten mit all ihren Facetten gesehen. Unser Ziel ist nicht die Heilung von Krankheiten, sondern die Begleitung unheilbar kranker Menschen in ihrer letzten Lebensphase unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen der Sterbenden. Wir versuchen mit allen uns zur Verfügung stehenden Ressourcen, unseren PatientInnen ein Leben mit der größtmöglichen Lebensqualität bis zum letzten Augenblick zu ermöglichen. Sterben und Tod werden in Hospizen als natürliche Ereignisse anerkannt, die am Ende jedes Lebens stehen. Wir Schwestern tun alles dafür, damit Sterben individuell in einem liebe- und respektvollen Rahmen, in Frieden und Geborgenheit geschehen kann.

Verantwortung

Jeder ist für alle verantwortlich.

Jeder ist allein verantwortlich.

Jeder ist allein verantwortlich für alle.

Antoine de Saint-Exupéry

Vielleicht kann dieses Buch dazu beitragen, Ihnen den Prozess des Sterbens und Begriffe wie „Hospiz“ und „Sterbebegleitung“ etwas näher zu bringen.

Nachfolgend gilt bei allen personenbezogenen Bezeichnungen die gewählte Form für beide Geschlechter.

Kapitel 1

Leben und Sterben

Der Mensch

Empfangen und genähret

Vom Weibe wunderbar

Kömmt er und sieht und höret,

Und nimmt des Trugs nicht wahr;

Gelüstet und begehret,

Und bringt sein Tränlein dar;

Verachtet, und verehret,

Hat Freude und Gefahr;

Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,

Hält Nichts, und Alles wahr;

Erbauet, und zerstöret;

Und quält sich immerdar.

Schläft, wachet, wächst und zehret;

Trägt braun und graues Haar.

Und alles dieses währet,

wenn’s hoch kömmt, achtzig Jahr.

Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder

und er kömmt nimmer wieder.

Matthias Claudius (1740 - 1815)

Das Wunder „Leben“

Bevor man sich mit dem Sterben befasst, sollte man vielleicht erst einmal darüber nachdenken, was „Leben“ bedeutet. Denn beides gibt es ausschließlich im „Doppelpack“. Niemals gibt es eines der beiden ohne das andere. Leben, dieses uns wohl meistens so selbstverständliche „Dasein“, ist nach meiner Überzeugung ein im Idealfall harmonisches Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele und nicht nur ein gelungenes Zusammenspiel unzähliger Zellen mit den unterschiedlichsten Aufgaben. Es besteht für mich nicht nur aus chemischen Abläufen und bestimmten Merkmalen und Fähigkeiten, die uns von „toter Materie“ unterscheiden.

Jedes Leben ist einzigartig und kann so vieles sein: ein Sich-Einlassen, Lachen und Weinen, Beziehung und Freundschaft, Liebe und Hass, Verantwortung, ein ständiges Abschiednehmen, um sich Neuem, Unbekanntem zu öffnen, Arbeiten und Ausruhen, Einsamkeit und Geselligkeit, Freude und Leid, Hoffnung, Kreativität, Lebenslust, Neugierde, ein Sicheinfügen oder Herausragen, Kämpfen und manchmal auch Siegen, Verluste hinnehmen, über sich Hinauswachsen, Grenzen Überschreiten, Ängste Besiegen, Gesundheit und Krankheit, Harmonie und Auseinandersetzung, Herausforderung, ein nie endender Lernprozess, Genuss, Verzicht, Hoffnung und Resignation, Entscheidungen treffen, Gestalten, Verändern, Sinnsuche und vielleicht auch Sinnfindung …

Leben ist unsagbar vielfältig und steht uns nicht unbegrenzt zu Verfügung. Leben – das ist unbestreitbar immer auch Vergänglichkeit und Endlichkeit. Denken wir manchmal daran, dass unser Leben eines Tages, vielleicht schon in wenigen Minuten, vielleicht erst in vielen Jahren, endet? Unsere Zukunft dauert nicht unendlich, so wie wir manchmal zu glauben scheinen. Schätzen wir dieses Leben? Oder nehmen wir es als etwas ganz Selbstverständliches hin? Sind wir uns bewusst, wie wertvoll und einzigartig unser Leben ist? Sind wir glücklich und dankbar, wenn wir gesund sind und jeden Tag aufs Neue entscheiden können, wie wir unser Leben gestalten wollen? Oder schieben wir dieses Leben manchmal vor uns her und sagen: „Wenn …  dann …  “ Wie oft habe ich schon gehört (und auch selbst gedacht oder gesagt), wenn dieses oder jenes erst einmal erledigt ist, dann werde ich mir Zeit für mich nehmen, in Urlaub fahren, mir etwas Gutes gönnen, tun, was ich schon immer tun wollte …  Kommt Ihnen das bekannt vor? Leben wir aber im Gestern oder im Morgen, dann geht das wertvolle, unwiederbringliche Heute verloren und wird zum Gestern, ohne bewusst gelebt worden zu sein.

Elisabeth Kübler-Ross, die wohl bekannteste Sterbeforscherin, dachte ähnlich, sie schrieb: Die Verleugnung des Todes ist teilweise dafür verantwortlich, dass Menschen ein leeres, zweckloses Leben leben; denn wer lebt, als würde er ewig leben, dem fällt es allzu leicht, jene Dinge aufzuschieben, von denen er doch weiß, dass er sie tun muss. Lebt einer sein Leben in Vorbereitung auf morgen oder in Erinnerung an gestern, geht inzwischen jedes Heute verloren. Wer aber im Gegenteil wirklich begreift, dass jeder Tag, an dem er erwacht, sein letzter sein könnte, der nimmt sich die Zeit, an diesem Tag zu reifen, mehr zu dem zu werden, der er wirklich ist, und anderen Menschen die Hand entgegenzustrecken und ihnen offen zu begegnen.2

Ich kenne seit einigen Jahren auch jene Seite des Lebens, die wir Sterben nennen, denn ich arbeite in einem Hospiz und begleite unheilbar kranke Menschen, die nicht mehr viel Zeit zu leben haben. Viele von ihnen würden alles dafür geben, wenn sie gesund sein und „einfach nur leben“ könnten.

„Leben, ich will einfach nur wieder gesund sein, nach Hause gehen und leben.“ Das sagte mir erst vor kurzem eine unheilbar kranke, 45jährige Frau wenige Tage vor ihrem Tod. Sie war voll Sehnsucht, hoffte, wieder gesund zu werden, um leben zu können und hatte gleichzeitig große Angst vor dem Unbekannten, Unbegreiflichen, das unweigerlich und unaufhaltsam in großen Schritten auf sie zukam. Tief in ihrem Innersten wusste sie wohl, dass sie bald sterben würde, denn ihr Körper war inzwischen viel zu geschwächt und nicht mehr bereit, sie bei ihrem Kampf um dieses Leben zu unterstützen. Mir erschien es, als wäre diese Frau in einem wahren Irrgarten von Gefühlen gefangen. Sie wollte noch so vieles erleben und erledigen und davon wollte sie nicht durch den Tod abgehalten werden. Sie konnte die für sie so überaus schmerzvolle Tatsache des unaufhaltsam nahenden Todes nicht verstehen und wollte daher nicht wahrhaben, dass ihr Leben zu diesem Zeitpunkt bereits fast zu Ende war. Wenige Tage später starb sie, die Natur hatte ihren Kampf beendet.

Es ist zu beobachten, dass manchen Menschen der Abschied besonders schwer fällt. Nach Kübler-Ross sind es jene, die nicht wirklich gelebt haben, die Vorhaben unerledigt gelassen haben, Träume unerfüllt, Hoffnungen zerstört und die die wirklichen Dinge im Leben an sich haben vorüberziehen lassen (andere zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, zum Glück und Wohlbefinden anderer Menschen positiv beizutragen, herauszufinden, wer das denn wirklich ist: man selbst), die am meisten zögern, sich auf den Tod einzulassen.3

Da ich mich berufsbedingt sehr häufig mit Krankheiten, Sterben und Tod befasse, wollte ich nun auch einmal sehen, wie dieser mir so unbeschreiblich erscheinende Begriff „Leben“ von Fachleuten definiert wird. Wir alle wissen, was mit diesem Wort gemeint ist, denn Leben ist eigentlich etwas ganz Selbstverständliches. Wir alle haben einen mehr oder weniger gut funktionierenden Körper, sind hier, denken, fühlen und leben. So einfach ist das. Trotzdem lässt sich dieses „Dasein“ nur schwer in Worte fassen. Man hat im Lauf der Zeit schon unzählige Male versucht, es philosophisch und wissenschaftlich zu erklären. Beim Durchblättern etlicher Bücher und bei meiner Suche im Internet konnte ich allerdings bald feststellen, dass es selbst für Experten gar nicht einfach ist, Leben zu definieren. Meist verwendet man dazu eine mehr oder weniger lange Liste bestimmter Merkmale.

Leben ist jene charakteristische, schwierig zu definierende Eigenschaft, die Lebewesen von bloßer Materie unterscheidet. Wesentliche Merkmale sind Wachstum, Fortpflanzung, Stoff- und Energieaustausch mit der Umwelt.4

Im Lauf der Geschichte wurde der Begriff „menschliches Leben“ unterschiedlich interpretiert. Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass menschliches Leben sich vom Leben der Tiere und Pflanzen unterscheidet und nicht in beliebiger Verfügbarkeit des Menschen steht. Leben in dieser Welt braucht die Materie. Menschsein heißt also, Materie sein. Dies bedeutet, einerseits einen Körper zu haben und gleichzeitig auch „mit Geist begabt zu sein“. Der Mensch verfügt über Körper und Geist. Menschlicher Geist oder die Fähigkeit zu denken und zu fühlen sind an körperliche Funktionen geknüpft. Sie sind von Intelligenz und Bewusstsein wie auch von physiologischen Vorgängen abhängig. Darüber hinaus zeigt die menschliche Erfahrung, dass der Mensch auch eine Seele (Psyche) hat. Die Seele ist „das Innere der Dinge, das Wesen, das zutiefst Bedeutungsvolle“.

Das medizinisch-naturwissenschaftliche Menschenbild (kartesianisches Menschenbild) betont die biologischen und chemischen Funktionen, die den Organen und den dort arbeitenden Zellen zugeordnet werden. Das sozialwissenschaftliche Menschbild betont, dass der Mensch nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen leben und überleben kann. Das holistische (ganzheitliche) und humanistische Menschenbild (geisteswissenschaftliche Menschenbild) betont die Einheit aus drei unterschiedlichen Lebensbezügen: Körper, Seele und Geist. Alle drei stehen in stetiger Wechselwirkung untereinander. Diese Sichtweise hat sich seit den 80er Jahren in der Pflege immer mehr durchgesetzt.5

Auf der Suche nach einer Definition findet man unzählige Bemühungen der Wissenschaft um die Beschreibung des Begriffes Leben. Es gibt unterschiedliche philosophische Konzepte von der Antike bis in die Jetzt-Zeit. Letztendlich geht es immer um Listen von Merkmalen, die Leben auszeichnen: Bewegung, Selbsterhaltung oder Fortpflanzung, Selbstorganisation und Stoffwechsel. Auch Regulation und ein aus Teilen bestehender komplexer Organismus werden genannt. Reichen diese Kriterien aus? Es ist verrückt, aber eine ganze Reihe von Eigenschaften, die lebenden Wesen zugeschrieben werden, gelten offensichtlich auch für unbelebte Gegenstände. Robert Hazen vom Carnegie Institut in Washington hat die Frage nach der Definition von Leben in seinem Buch „Genesis“ diskutiert. Er kommt darin zu dem Ergebnis, dass unter den vielen Definitionen, die im Umlauf sind, kaum welche übereinstimmen. Offenbar ist es für die Wissenschaft nicht einfach, hieb- und stichfest zu definieren, was Leben ist. Die NASA hat deshalb im Jahr 2000 eine hochrangige Kommission eingesetzt, um eine solche Definition zu entwickeln. Das Ergebnis: das Leben ist ein chemisches System. Leben hat nach der NASA-Variante immer eine stoffliche Grundlage. Es funktioniert durch den Ablauf chemischer Reaktionen. Außerdem hat es die Fähigkeit, sich an eine veränderliche Umwelt anzupassen, denn Lebewesen vererben ihre Merkmale an ihre Nachkommen. Dabei kommt es durch Mutationen im Erbgut immer wieder zu Veränderungen. Wenn dadurch ein Merkmal entsteht, das einen Selektionsvorteil bietet, setzt sich diese Veränderung durch. Diese Art der Anpassung ist etwas, das leblose Dinge definitiv nicht können.6

Wie sie anhand dieser wenigen Beispiele sehen können, ist es schwierig, etwas so Selbstverständliches wie „Leben“ zu definieren. Hochrangige Experten sagen, es ist ein chemisches System mit einer stofflichen Grundlage. Aber ist es nicht viel, viel mehr? Ist Leben nicht ein unbegreifliches und somit nicht definierbares Wunder?

Was bedeutet „Sterben“?

…  es ist nicht eigentlich das Sterben, was so schwer ist. Für das Sterben braucht man keine Fertigkeiten und keine besondere Einsicht. Jeder bringt es fertig. Zu leben ist schwer – zu leben, bis man stirbt, ob der Tod nun unmittelbar bevorsteht oder weit entfernt ist, ob man selber stirbt oder jemand, den man liebt.7

Die kürzeste Definition von „Sterben“ lautet: Sterben ist aufhören zu leben. Mit dem Begriff Sterben bezeichnen wir also jene Zeit am Ende eines Lebens, die den Übergang zum Tod darstellt. Sterben, sofern es nicht plötzlich und unerwartet geschieht, ist nach meinen Erfahrungen eine vielschichtige und intensive Phase des Lebens. In der Fachliteratur wird Sterben beispielsweise folgendermaßen definiert:

Biologische Grundlagen von Sterben und Tod. Zellen sterben, sobald ihre Fähigkeit erlischt, sich an Umwelteinflüsse und Schädigungen anzupassen. Der Zelltod ist durch den irreversiblen Funktionsverlust der Zelle gekennzeichnet. Die Zellstrukturen lösen sich auf. Der Übergang von lebender zu toter Zelle ist unscharf, der genaue Zeitpunkt kann nicht bestimmt werden. In vielzelligen Organismen kommt es laufend zum Untergang von Zellen, die aber durch Wachstumsvorgänge erneuert werden. Zellerneuerung und Zelltod befinden sich in einem dynamischen Gleichgewicht. Störungen dieses Gleichgewichtes führen zu Alter und Tod. Ein vielzelliger Organismus stirbt, wenn es als Folge des Absterbens einzelner Zellen zum Funktionsausfall und Untergang ganzer Organe kommt und dieser Funktionsausfall nicht durch andere Organe kompensiert werden kann. Störungen im Wechselspiel von Zellerneuerung und Zelltod können beispielsweise durch Gifte, Infektionen oder hormonelle Fehlsteuerungen bewirkt werden. Aber auch ohne Krankheitsprozess kommt es zur Seneszenz (Alterung, Vergreisung) von Zellen und Organismen und schließlich zum Tod.8

Lebensbedrohende Erkrankung. Darunter versteht man im Allgemeinen eine Erkrankung, die das Leben gefährdet oder mit einem signifikanten Risiko zu sterben verbunden ist oder eine Erkrankung, bei der keine Heilung oder Behandlung mehr möglich ist und die zum Tod führt.9

Aus psychologischer Sicht wird ein sterbender Mensch als jemand beschrieben, der objektiv vom Tod bedroht ist und sich dieser Todesbedrohung so weit bewusst ist, dass sie sein Erleben und Verhalten bestimmt. Als Sterbender im medizinischen Sinn wird ein Mensch bezeichnet, dessen Tod als Folge eines Unfalles, einer nicht behandelbaren Krankheit oder infolge hohen Alters in absehbare Nähe gerückt ist. Die unmittelbare Todesursache ist schon abzusehen, der Tod wird nach ärztlicher Einschätzung innerhalb von Tagen bis Monaten eintreten.10

Wenn wir sterben, wird auf der körperlichen Ebene die gesamte Körperenergie, die vorhanden ist, verlangsamt. Zunächst lässt diese Energie in den Sexualorganen und in den Verdauungsorganen nach, was sich darin äußert, dass der Appetit nachlässt und die Verdauung viel länger braucht. Der sterbende Mensch schläft viel mehr und die Hormonausschüttung wird weniger. Die Arbeit des Nervensystems wird herabgesetzt und Atmung und Herz werden langsamer. Die gesammelte Kraft der Seele sammelt sich im Kopf des Sterbenden, was zu einer erhöhten Bewusstheit führt.11

Wenn sich ein Sterbender angstfrei auf das Außen einstellen kann und anwesende Angehörige wahrnimmt, dann kann er ganz leicht loslassen und in die andere Dimension gleiten. In dem Moment, wo ein Mensch aus seinem Körper heraus ist, tritt das Bewusstsein durch den Kopf aus. Solange das Bewusstsein aber noch im Kopf vorhanden ist, atmet die Lunge und schlägt das Herz. Wenn wir also vollständig den Körper verlassen haben, d. h. inklusive des Bewusstseins, gehen wir sofort in eine andere Dimension, werden abgeholt und gehen ins Licht.12

Die Silberschnur

In der esoterischen Literatur ist häufig von der „Silberschnur“ die Rede, einem silberfarbenen Energieband, das die Seele mit dem Körper verbindet und beim Eintritt des Todes zerreißt.

Im Augenblick des Todes zerreißt die Silberschnur, die Seele und Körper miteinander verbindet. Wenn das geschehen ist, kann die Seele nicht mehr in den Körper zurückkehren.13

Die Seele tritt aus dem Körper aus, mit dem Geist, der in ihr ist. Dieser Loslösungsprozess der Seele vollzieht sich nicht immer einfach. Je mehr ein Mensch an die Materie gebunden ist, umso dichter ist der Verbindungsstrang der Seele mit dem Körper. Die Einstellung zum Tod kann also mit entscheidend sein, wie leicht oder schwer jemand stirbt.14

Phasenmodelle

Schwerkranke, sterbende Menschen müssen sich mit all ihren Ängsten, Verlusten, Hoffnungen, vielleicht Schmerzen, dem drohenden Verfall ihres Körpers, entsprechenden Beeinträchtigungen und der Gewissheit, dass die verbleibende Lebensspanne begrenzt ist, auseinandersetzen.

Sterbeforscher (Thanatologen) untersuchen, ob und wie sich sterbende Menschen mit dem Tod auseinandersetzen. Sie glauben, bestimmte Muster im Sterbeprozess von Menschen erkannt zu haben und beschreiben diese in Form von Phasenmodellen.

Der Psychiater A. Weisman beispielsweise beschreibt drei Phasen, die ein unheilbar Kranker vor dem nahenden Lebensende durchschreitet, der Psychiater, Verhaltens- und Sozialwissenschaftler E. Pattison beschreibt drei „große Abschnitte“ im Sterbeprozess, der Krankenhausseelsorger H. Zielinski bestätigt die Phasen von Kübler-Ross, bezeichnet allerdings nach seinen Erkenntnissen die letzte Phase als religiöse oder metaphysische Phase. Der Arzt A. Kruse vertritt die Ansicht, dass es ganz unterschiedliche Verlaufsformen in der Auseinandersetzung mit dem Sterben gibt, die von der Biografie des Sterbenden mit beeinflusst werden.15

Elisabeth Kübler-Ross

Die internationale Hospizarbeit wurde nachhaltig durch die Arbeit der in der Schweiz geborenen und später in den USA lebenden Psychiaterin Dr. Elisabeth Kübler-Ross beeinflusst. Sie gilt als Begründerin der Sterbeforschung, da ihre Beobachtungen den Grundstein der heutigen Erkenntnisse über die Situation Sterbender darstellen. Ihr Ziel war es, von Sterbenden zu lernen, welche Hilfe sich Sterbende erhoffen und wie man mit ihnen umgehen soll. Zu diesem Zweck führte sie Interviews mit unheilbar kranken Menschen. In diesen Gesprächen wurden die Betroffenen direkt auf ihre Gefühle und Gedanken zu Sterben und Tod angesprochen. Von 200 Patienten nahmen 198 diese Möglichkeit zur Aussprache an. Aus dieser Arbeit entstand 1969 ihr erstes Buch – „Interviews mit Sterbenden“. Sie formulierte darin die „Stadien des Sterbens“ (Verleugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Zustimmung). Die Kernbotschaft von Kübler-Ross an „Begleiter“ in ihren unzähligen Vorträgen und Workshops rund um den Globus war, dass die Helfenden zuerst ihre eigenen Ängste und Lebensprobleme so weit wie möglich klären müssen, ehe sie sich Menschen am Lebensende hilfreich zuwenden können. Für ihre Leistungen zwischen 1974 und 1996 wurden Kübler-Ross 23 Ehrendoktorate an verschiedenen Universitäten und Colleges verliehen, sie erhielt über 70 nationale und internationale Auszeichnungen und wurde 1999 vom Nachrichtenmagazin TIME zu den „100 größten Wissenschaftlern und Denkern“ des 20. Jahrhunderts gezählt. Dr. Kübler – Ross verstarb 78-jährig im August 2004 in Scottsale im US-Staat Arizona.

Kübler-Ross vertrat die Ansicht, dass der sterbende Mensch verschiedene Phasen durchleben muss, um seine Krankheit und endlich seinen Tod zu begreifen. Sie entwickelte aufgrund ihrer Beobachtungen bestimmter Verhaltensmuster Sterbender ihr berühmtes Fünf-Phasen-Modell, das wohl jedem professionell Pflegenden ein Begriff ist. Demnach durchlaufen sterbende Menschen folgende Phasen im Wechsel:

Die Phase der Verweigerung: „Nein, ich nicht“. Kübler-Ross sagt, Verweigerung ist wichtig und notwendig, denn sie trägt dazu bei, für das Bewusstsein des Patienten die Erkenntnis zu lindern, dass der Tod unvermeidlich ist.

Die Phase von Zorn und Ärger: „Warum ich?“ Zorn ist nach Kübler-Ross nicht nur erlaubt, sondern unvermeidlich. Die Tatsache, dass andere gesund und am Leben bleiben, während er oder sie sterben muss, stößt den Patienten ab. Gott ist ein besonderes Ziel für diesen Zorn. Er wird als derjenige angesehen, der das Todesurteil nach Gutdünken verhängt.

Die Phase des Verhandelns: „Ja, ich, aber …  “ Patienten akzeptieren die Tatsache des Todes, versuchen aber, über mehr Zeit zu verhandeln. Meist verhandeln sie mit Gott – sogar jene Menschen, die zuvor nie mit Gott gesprochen haben.

Die Phase der Depression: „Ja, ich“. Zuerst trauert der Sterbende um Vergangenes, dann tritt er in ein Stadium der „vorbereitenden Trauer“ ein und bereitet sich auf die Ankunft des Todes vor.

Die Phase der Hinnahme: „Meine Zeit ist nun sehr kurz, aber das ist in Ordnung so“. Kübler-Ross beschreibt dieses endgültige Stadium als „nicht ein glückliches Stadium, aber auch kein unglückliches. Es ist ohne Gefühle, aber es ist keine Resignation, es ist vielmehr ein Sieg“.16

Der Tod schockiert uns nicht, solange wir darüber nur in einem Buch lesen oder ihn philosophisch vom bequemen Sessel aus diskutieren. Die Gefühle der Machtlosigkeit und Isolierung entspringen unserem ganzen Wesen und nicht bloß unseren intellektuellen Vorstellungen. Das Problem des Todes erreicht im Allgemeinen nicht das Zentrum unseres Seins. Nur wenn es „mein“ bevorstehender Tod oder der bevorstehende Tod von jemandem ist, den ich liebe, spüre ich den schmerzenden Stich des „Hungers nach Leben“. Die Seele dessen, der von seiner Anhänglichkeit ans Leben gefoltert wird, liegt in Qualen; diese Foltern gehen durch unser ganzes Sein und lassen uns in der einen Minute bis ins Herz erschauern und im nächsten Moment in Fieberschweiß ausbrechen. Das ist unser verzweifelter Kampf: uns am Leben festzuklammern, während wir über den Rand des Todes gleiten. Hier liegt das Selbst im Kampf mit dem Nicht-Selbst. Die konkrete Möglichkeit unseres eigenen unmittelbar bevorstehenden Todes ist ein derartiger Schock, dass unsere erste Reaktion das Verleugnen sein muss.17

Phasenmodelle erscheinen plausibel, keines von ihnen liefert allerdings immergültige Regeln. Die Modelle können Pflegenden und Sterbebegleitern zum grundlegenden Verständnis von Abläufen dienen, denn Sterben ist in jedem Fall als individuell zu betrachten. Elemente der Phasenlehren können aber sehr gut genutzt werden, um Sterbende und ihre Bedürfnisse besser verstehen zu können.

Herr P. – Ein langer Kampf

Es ist 18.45 Uhr. Ich sitze aufgewühlt, müde und doch gleichzeitig hellwach am Bett von Herrn P., der vor wenigen Momenten verstorben ist. Ich bin noch gar nicht in der Lage, die vielen Eindrücke dieses für mich sehr anstrengenden Arbeitstages, der größtenteils der Begleitung von Herrn P. gewidmet war, zu erfassen. An meinen Armen sind viele Abdrücke von den Fingernägeln meines Patienten zu sehen. Er hatte sich an diesem Tag, dem letzten seines Lebens, mehrmals aufgebäumt, sich mit aller Kraft in meinen Armen und Schultern festgekrallt und seine Fingernägel dabei tief in mein Fleisch gegraben. Die Abdrücke sind inzwischen ein bisschen angeschwollen, rot und die verletzte Haut brennt.

Ich denke nach. Heute war ein eigenartiger Tag in meinem Leben als Hospizschwester, denn Herr P. ging auf für mich ungewöhnliche Art mit seinem Sterben um. Er hat heute stundenlang verbissen, kraftvoll und stumm gekämpft, mit all seiner körperlichen Kraft, die er noch zur Verfügung hatte. Ich weiß aber nicht, ob er für oder gegen seinen Tod gekämpft hat. Ein solches Sterben hatte ich noch nicht miterlebt. Ich kann es noch gar nicht richtig begreifen, dass er wirklich gerade gestorben ist und bleibe daher noch einige Minuten an seinem Bett sitzen. Das Gesicht von Herrn P. wirkt jetzt endlich entspannt, so als hätte er nun seinen Frieden gefunden. Ich betrachte dieses Gesicht, das von schweißnassen Haaren umrahmt ist, während seine Hände noch in meinen ruhen. Nach einigen Minuten stehe ich auf, öffne die Vorhänge und die Tür zum Garten. Diese Handlung ist für mich symbolisch – die Seele ist nun frei und kann den Raum verlassen. Danach wasche ich ein letztes Mal das Gesicht von Herrn P. und kämme seine verklebten und verschwitzten Haare, ein letztes Mal lagere ich seinen ausgemergelten Körper, dann muss ich gehen. Mein Dienst ist gleich zu Ende und ich sollte schon seit einigen Minuten die Dienstübergabe an meine Nachtdienstkollegin machen. Eigentlich hatte ich um halb sieben meine Arbeit auf der Station beendet und wollte nur noch rasch die Pflegedokumentationen fertig schreiben, bevor ich die Dienstübergabe mache. Ich weiß nicht, warum ich dann doch noch einmal in das Zimmer von Herrn P. ging. Wahrscheinlich sollte es einfach so sein, dass er in meinem Beisein verstarb, nachdem wir diesen ganzen Tag miteinander durchgestanden hatten. Jetzt schiebe ich den Medikamentenwagen vor mir her und gehe über den langen Gang zu unserem Dienstzimmer, dabei treffe ich meine Kollegin vom Tagdienst. Sie ist völlig überrascht, als ich ihr sage, dass Herr P. gerade verstorben ist. Wir gehen gemeinsam mit der Kollegin, die Nachtdienst hat, nochmals in das Zimmer des gerade Verstorbenen und betrachten sein friedliches Gesicht. Wir sehen uns an und wissen, ohne es auszusprechen, dass wir erleichtert sind, dass Herr P. endlich sterben konnte.

Loslassen

Wenn ich festhalte,

bin ich gefangen, gelähmt,

erstarrt, energielos, blockiert

unfrei, ständig im Gestern und

dem Leben immer ferner.

Wenn ich loslasse,

bin ich gereinigt, befreit,

lebendig, voller Energie, offen,

zugänglich, im Jetzt, spontan

und so mitten im Leben.18

Da ich Herrn P. während des ganzen Tages viele Stunden lang begleitet habe, rufe ich seine Ehefrau an, um ihr vom Tod ihres Mannes zu berichten. Sie weiß seit Wochen, dass „es“ jeden Tag soweit sein konnte, trotzdem bricht sie unter der Last meiner Worte fast zusammen. Ich spüre förmlich ihre Ohnmacht, ihre Fassungslosigkeit, ihren großen Schmerz und höre ihr hemmungsloses Weinen. Sie ist gerade bei Freunden, diese werden sie dann für ein letztes Abschiednehmen zu ihrem verstorbenen Mann bringen. Nach diesem aufwühlenden Gespräch rufe ich noch das Bestattungsunternehmen an und erledige die nötigen schriftlichen Arbeiten. Erst dann übergebe ich meiner Kollegin den Dienst. Kurz überlege ich noch, ob ich auf das Eintreffen der Ehefrau warten soll, entscheide mich aber dann doch dagegen. Der Tag ist für mich sehr lange und sehr anstrengend gewesen, er hat mich viel Kraft gekostet. Also gehe ich jetzt endlich nach Hause, denn ich weiß nicht, ob ich jetzt in der Lage wäre, auch noch die Ehefrau in ihrem Schmerz zu begleiten. Ich möchte das ganz einfach nicht mehr. Ich denke, ich habe für heute mehr als genug getan. Meine Reserven sind erschöpft. Erst beim Heimfahren wird mir bewusst, dass ich noch immer aufgewühlt und auch total überdreht bin. Ich laufe in gewisser Weise auf Hochtouren. Mein Körper ist sehr müde nach mehr als dreizehn Stunden Dienst, aber meine Gedanken galoppieren wild durcheinander. Zuhause schenke ich mir ein Glas Prosecco ein und setze mich alleine eine Weile in den Garten. Ich will zur Ruhe kommen, versuchen zu entspannen und nachdenken. Außerdem will ich im Moment nichts hören, auch nichts von meinen Angehörigen, die meinen momentanen Zustand nicht verstehen könnten. Ich lasse den Tag nochmals Revue passieren und denke auch an die letzten Wochen, während derer wir Herrn P. auf unserer Station betreuten.