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Tiziana Stupia
Meeting Shiva

TIZIANA STUPIA

Meeting

SHIVA

Mein Weg von der Liebe
ins Erwachen

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Bücher haben feste Preise.
1. Auflage 2015

Tiziana Stupia

Meeting Shiva

Der Titel des englischen Originals lautet »Meeting Shiva«.
Erschienen bei Changemakers Books, John Hunt Publishing
Übersetzt aus dem Englischen von Laura Spies.

© für die deutsche Ausgabe Neue Erde GmbH 2015
Alle Rechte vorbehalten.

Titelseite:
Foto: Shiva-Statue in Rishikesh, Uttarakhand, Indien,
von Rafal Cichawa/shutterstock.com
Gestaltung: Dragon Design

Satz und Gestaltung:
Dragon Design
Gesetzt aus der Baskerville

eISBN 978-3-89060-192-2
ISBN 978-3-89060-669-9

Neue Erde GmbH
Cecilienstr. 29 · 66111 Saarbrücken
Deutschland · Planet Erde
www.neue-erde.de

Für Rudra, der die Tore meines Herzens aufriss,
so dass Liebe eintreten konnte.

Inhalt

Shivas Lied

Prolog

TEIL EINS – IRGENDWO IM HIMALAYA

Das Werfen der Münze

Bei Lord Shiva zu hause: dickliche Gurus, vergitterte Fenster und Rosenkissen

Privatunterricht

Feuerzeremonien und Schwerttänze

Wo sich Erde und Himmel treffen: die heiligen Berge

Wie Shiva den Gott der Liebe tötete

Ein Sannyasin in Flirtlaune

Nachdenken über das Aschramleben und die Philosophie von Karma Yoga

Muster im Sand

Ein Sannyasin ruft

Das Betreten der Höhle

Das Liebesgeheimnis

Ein perfektes Paar

Wie Rudra seine Dhoti verlor

Das Tulsi-Geschenk

Das Popstar-Dasein in Indien

Ein Lendenschurz und zwei Chapatis

Innigkeit

Ein idealer Ehemann

Aufkommende Schatten

Geheimhaltung

Der Eremit mit blauen Augen

Tiefes Eintauchen: Das Erwachen

Die Beichte

Die Drei heiligen Könige

Das heilige Hochzeitsritual

Der Fluch des Kali-Priesters

Immer tiefer: unbequeme Wahrheiten

Fight or Flight

Letzte Schwankungen

Der Besuch von Swami-ji

Die Dualität der Liebe

Herzschmerz

Noch eine Nacht

Kalis Tanz

Shivas Hingabe

Die letzte Nacht

Die Entwirrung

Abreise

TEIL 2 – DIE RÜCKKEHR

Die Bergstraße

Abschied von Indien

Gebrochenes Herz, erblühendes Herz

Mich selbst wiederfinden

Wales: Drei Monate in der Sadhuhöhle

LifeStream

Die ursprüngliche Wunde

Simply Love

Totale Mondfinsternis: der letzte Anruf

Weiterströmen in Richtung der Quelle

Zur Liebe erwachen

Epilog

Dank

Glossar

Quellen

Weiterführende Literatur

Über die Autorin

»Wie lange kennst du mich bereits?« fragte er mich verspielt, ein Funkeln in den Augen, den Kopf auf eine Hand gestützt, während wir im Bett in seinem geheimen Zimmer lagen.

»Oh, ich weiß es nicht, Jahre? Ein Leben lang? Jahrtausende? Es scheint eine sehr lange Zeit zu sein«, antwortete ich mit einem Lächeln. In Wahrheit konnte ich spüren, dass es nie eine Zeit gab, in der ich ihn nicht gekannt hatte.

»Ja.« Plötzlich wurde er ernst, und ein dunkler Schatten zog sich über seine verträumten braunen Augen, wie ein Kräuseln in einem stillen Sommersee. »Wir sind von Geburt an verbunden.«

Shivas Lied

Der junge Sannyasin betrat den Tempel leise und setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden. Er trug die fließenden safrangelben Gewänder seiner Ordensgemeinschaft, den oberen Teil elegant um seinen Oberkörper geschlungen. Sein Gesicht war rund, wunderschön auf eine nahezu kindliche Art und Weise, mit vollen, sinnlichen Lippen und mandelfarbener, glatter Haut. Flüchtig blickte er durch den kerzenerhellten Tempel, mit indischen Gläubigen gefüllt, die bereit für die abendliche Arati-Zeremonie waren. Von meinem Platz aus, nahe der rechten Seite des Altars, wo ich eingequetscht zwischen zwei bengalischen Frauen in Saris saß, fing ich seinen Blick kurz auf. War es Einbildung, oder war da ein Hauch Melancholie in seinen dunklen, braunen Augen?

Der Sannyasin richtete seinen Blick auf den Altar, atmete tief ein und fing an, das kleine Harmonium zu spielen, das vor ihm stand. Als die akkordeonähnlichen Töne begannen, sich ihren Weg durch den Tempel zu bahnen, schien dieser sich von einem trostlosen, kalten Betonbau in eine verzauberte heilige Stätte zu verwandeln.

Plötzlich erhob sich eine starke, klare Stimme über die bewegenden, beinahe traurigen Klänge des Instruments. Sie sang ein Lied, so ergreifend, mit solcher Leidenschaft und Hingabe erfüllt, dass mein ganzer Körper zu kribbeln begann. Fasziniert lauschte ich dem Gesang. Om Namah Shivaya, ein altes sanskritisches Mantra zu Ehren des Hindu-Gottes Shiva. Ich fühlte mich, als wäre ich durch Magie in ein anderes, fernes Zeitalter befördert worden. Die Melodie hallte durch den Tempel und entwich durch die vergitterten Fenster, hinein in die schneebedeckten Berge, die uns umschlossen.

Ich war wie versteinert und konnte nicht aufhören, den Sannyasin anzuschauen, nein, anzustarren, der mit geschlossenen Augen, den Kopf nach hinten geneigt, komplett in seinem Akt der Verehrung verloren schien, bis ein anderer, älterer Mönch sich vor mir niederließ, und mir die Sicht versperrte. Ich blickte über das Gesichtermeer zu meiner Freundin MJ hinüber, die kniend im hinteren Teil des Raumes saß, und bemerkte, dass Tränen durch ihre geschlossenen Augen die Wangen hinabrannen. Ich wandte mich zurück zum Altar. Mein Herz füllte sich mit dem süßesten aller Schmerzen. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie etwas so Schönes gehört.

In den Wochen und Monaten, die darauf folgten, dachte ich oft an diesen Moment zurück. Ich erinnerte mich an die klare, melodische Stimme des Sannyasin, die kalte Steinmauer an meinem Rücken, den dicken Weihrauch in meinen Nasenlöchern und fragte mich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich den Tempel an diesem Tag verlassen hätte und nie zurückgekehrt wäre. Wenn ich mich entschieden hätte zu gehen und dadurch vor einer Begegnung geflüchtet wäre, die meine Welt auf den Kopf stellen sollte und alles zerschlug, was ich über Liebe zu wissen glaubte.

Prolog

Dies ist eine Geschichte über die Liebe. Keine normale Liebesgeschichte, sondern die Erzählung eines ungewöhnlichen Zusammentreffens, das die Kraft hatte, mein Leben vollständig zu verändern.

Im Frühling 2008 befand ich mich am Ende einer weitläufigen Überlandreise durch den Himalaya.

Ich hatte acht Monate zuvor meine Heimatstadt Leamington Spa in England verlassen, um mich auf eine Zugreise zu begeben, die mich durch viele verschiedene Länder führte. So auch durch Russland, die Mongolei, Tibet und Nepal. Nachdem ich einen Zeitungsartikel über einen im Hindukusch lebenden Stamm, die Kalasha, gelesen hatte, hatte ich mich nach Pakistan aufgemacht, um dort die Wintersonnenwende mit ihnen zu feiern. Mit meiner Leidenschaft für Reisen und Spiritualität faszinierte es mich, diesen farbenprächtigen Stamm, der ein Leben mit alten Göttern, Tempeln, Feuerritualen und Festen führt, kennenzulernen. Ich wollte sie treffen und gleichzeitig meinen Lebenstraum erfüllen: die Welt bereisen. Dies war meine erste große Reise. Ich wollte immer schon reisen, schon seit ich ein kleines Mädchen war. Ich träumte von Abenteuern in unbekannten Gefilden, Schätzen, die geborgen werden, und Bestimmungen, die erfüllt werden sollten. Aber von Kurzurlauben abgesehen, ließ meine Arbeit als Managerin im Musikgeschäft es nicht zu, alles hinter mir zu lassen und dem Flüstern des Windes zu folgen. Es benötigte einen ernsthaften Burn-Out im Alter von 27 und einen Zusammenbruch, um Arbeitssucht und Prasserei gegen ein Psychologiediplom und eine ruhigere Art zu leben einzutauschen. Ich begann, Yoga zu praktizieren und zu meditieren, um langsam alte Persönlichkeitsmuster abzuwerfen, die mir nicht länger entsprachen.

Als ich 35 wurde, beschloss ich, dass die Zeit gekommen war, mir meinen Lebenstraum vom Reisen zu erfüllen. Ich verkaufte mein Haus, legte meine restliche Arbeit beiseite und gab das meiste meines Besitzes weg, um dem Ruf meiner Seele zu folgen. Es lag mir nicht, Dinge nur halb zu tun, also entschloss ich mich, auf dem Landweg zu reisen, um die Länder, die ich betrat, auch ganz und gar erleben zu können. Ich wollte die Reise ebenso wertschätzen wie das Ziel selbst, und wusste, dass dieser Trip das Abenteuer meines Lebens werden sollte.

Bevor ich ging, fasste ich verschiedene Entschlüsse für meine Reise. Eine meiner Bestrebungen war es, mich selbst mit dem Ziel meiner Seele in Einklang zu bringen. Ich war mir nicht ganz sicher, was genau das Ziel meiner Seele, meine Bestimmung im Leben, sein sollte, aber ich wollte, dass es sich mir offenbarte. Ich vertraute darauf, dass mich diese Reise dorthin führen würde, wo ich sein sollte, und mir zeigen würde, wofür ich auf diesen Planeten gekommen war – etwas, von dem ich eine leichte Vorahnung hatte, das ich aber noch nicht vollständig entdeckt hatte.

Mein zweites großes Ziel hatte mit Liebe und dem alten spirituellen Pfad des Tantra zu tun, wofür ich mich seit kurzem interessierte.

Tantra ist ein Weg voller Leidenschaft. Es ist ein Weg zu Erleuchtung und Glückseligkeit, welcher nicht die Abstinenz von irdischen Genüssen erfordert: Seine Praktiken arbeiten mit der menschlichen Leidenschaft zusammen, anstatt gegen sie. Und im starken Kontrast zu den meisten Religionen wird bei Tantra die sexuelle Vereinigung nicht als unsittlich angesehen, man kennt das Potential, ein Gebet und eine Meditation zu sein.

Diese Vorstellungen fanden starken Anklang bei mir, der Nichte eines katholischen Priesters. Ermüdet von Dogmen, hatte ich Religion zwei Jahrzehnte zuvor aufgegeben, um mich auf eine lebensbejahendere, frauenfreundliche Spiritualität zu konzentrieren. Dass Sex als heilig verehrt werden kann – und dies auch tatsächlich getan wird – bestätigte etwas, das ich tief verwurzelt in meinem Körper schon seit langer Zeit spürte. Auch wenn ich den Liebesakt noch nie auf diese bewusste Art erlebt hatte, hatte ich doch flüchtige Einblicke und wusste, dass es wahr ist. Ich wusste nur nicht, wie ich es finden sollte.

Ich hatte zuvor ein paar westliche Tantrakurse besucht, fand aber, dass sie absolut das Ziel verfehlten, indem sie sich in erster Linie auf erotische Praktiken zwischen Unbekannten konzentrierten. Etwas, das für mich nicht sonderlich viel mit Spiritualität oder Liebe zu tun hatte. Also hoffte ich, einen spirituellen Lehrer auf meiner Reise durch den Himalaya zu finden, wo Tantra seinen Ursprung hat. Jemanden, der mich tiefer auf den Pfad führen und mir zeigen würde, was Tantra, diese Einheit von Gegensätzen, eigentlich wirklich bedeutet.

Tief in mir hoffte ich natürlich, einen Mann zu treffen. Jemanden, der Tantra lebt und atmet und dieses Wissen mit mir teilen würde. Ich wollte jenen Menschen treffen, der mir etwas über Liebe beibringen kann, darüber, das Herz zu öffnen, und über den transzendenten Liebesakt, der uns mit dem Göttlichen verbindet. Ich sehnte mich mehr nach dieser Verbindung als nach irgendetwas anderem, und noch mehr sehnte ich mich nach Transformation.

Letzten Endes war es mein Ziel, meinen Seelenverwandten zu finden. Mit einer Reihe missglückter Beziehungen, die hinter mir lagen, spürte ich, dass ich mein Gegenstück noch nicht gefunden hatte. Aus irgendeinem Grund hatte ich jede einzelne Beziehung in meinem Leben beendet, aber glaubte immer noch daran »dem Einen« zu begegnen – was für mich ein spiritueller Mann war, der mich so sehen und lieben konnte, wie ich war, ohne mich verbiegen zu wollen oder meine Freiheit zu beschränken.

So wanderte ich durch den Himalaya in Tibet, Nepal und Pakistan, aber mein Seelenverwandter tauchte nicht auf. Abgesehen von einem kurzen Liebesabenteuer mit einem pakistanischen Bergsteiger im Hindukusch und einer noch kürzeren Begegnung mit einem mongolischen Reiter ereignete sich nichts Romantisches. Und außer ein paar tibetischen buddhistischen Nonnen, die kein Englisch sprachen, und einem nepalesischen Marlboro ketterauchenden Schamanen kam ich nicht im Entferntesten dazu, jemanden zu treffen, der viel über Tantra wusste.

Da ich nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkehren wollte, beschloss ich, die indische Grenze zu überqueren und nach Rishikesh zu gehen, einer kleinen Stadt im Vorgebirge des Himalaya. Rishikesh, eine der heiligsten Pilgerstätten für Hindus, hat den Ruf, die Yoga-Welthauptstadt zu sein. »Vielleicht kann ich dort meinen Seelenverwandten finden«, dachte ich. So verbrachte ich am Ufer des Ganges meine Zeit damit, Yoga zu praktizieren und mich durch Meditationen und Rituale in die hinduistische Spiritualität zu vertiefen. Ich zog sogar in einen Yoga-Aschram. Obwohl ich so manch tollen Menschen kennenlernte und eine wundervolle Zeit hatte, erschien der Mann meiner Träume nicht.

Ich war mir so sicher, dass ich ihn treffen würde, als ich meine Reise begann, aber allmählich begann ich, mich zu fragen, ob er überhaupt existierte.

Nach vier Monaten in Indien beschloss ich: Genug ist genug. Der Seelenverwandte hatte hinreichend Zeit gehabt, sich zu zeigen. Ich war müde und wollte nach Hause.

Ich hatte genügend fantastische Erfahrungen gesammelt, die für ein Leben lang reichen würden, und vielleicht war meine Eingebung, den tantrischen Mann zu finden, einfach eine Illusion. So buchte ich kurzerhand mein Ticket zurück nach Europa.

Um Indien mit einem Hochgefühl zu verlassen, plante ich ein letztes Abenteuer. Gemeinsam mit meiner französisch-kanadischen Freundin MJ (die Abkürzung für Marie-Josée) brachen wir zu einem Campingausflug durch das Himalayagebirge auf. Wir wollten in die herrliche Gebirgslandschaft eintauchen, alte Tempel besuchen, mystischen Sadhus begegnen und eine magische Zeit erleben, bevor ich mit einem Herz erfüllt von großartigen Erlebnissen heimreiste.

Dieses Buch ist die Geschichte von dem, was danach geschah, in diesen letzten Wochen, nachdem ich beschlossen hatte, nach Hause zu fahren. Seltsamerweise traf ich genau dann, nach meiner Abreise aus Rishikesh und unter ungewöhnlichen Umständen, den Mann, auf den ich mein ganzes Leben lang gewartet hatte. Er war der Mann, von dem ich geträumt hatte, und der in vielerlei Weise meine wildesten Erwartungen übertraf. Mein Gegenstück. Worauf ich nicht gefasst war, war die Tatsache, dass er ein Sannyasin war. Ein enthaltsamer Mönch, der in einem strengen Aschram tief in den Bergen des Himalaya lebte. Dies ist die Geschichte unseres Zusammentreffens.

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Teil Eins

Irgendwo im
Himalaya

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Aber nun waren der vorherbestimmte Ort und
die vorherbestimmte Zeit nah,
unwissend, dass sie sich ihrem namenlosen Ziel bereits genähert hatte.

Denn trotz eines Kleides von blindem und abwegigem Zufall

Welches über der Arbeit des allwissenden Schicksals liegt

Deutet unser Handeln eine allwissende Kraft

Die innewohnt, in den unwiderstehlichen Dingen,

Und nichts passiert in dem kosmischen Spiel

Außer zu seiner Zeit und seinem vorbestimmten Ort.

AUS »SAVITRI« – SRI AUROBINDO

Das Werfen der Münze

An einem stickig heißen Tag im Mai stand ich auf dem staubigen Balkon eines Yoga-Aschrams in Rishikesh und schirmte meine Augen vor der intensiven Sonne ab. Meine Freundin MJ lehnte neben mir am Geländer mit einem Glas voller süß-milchigem Chai in der Hand. Wir hatten die letzten vier Monate in dieser kleinen himalayischen Stadt am Ganges verbracht, um Yoga unter der Anleitung eines jungen bärtigen Yogis zu lernen, der mit seinem langen schwarzen Haar und den weißen Gewändern aussah wie die indische Version von Jesus.

»Denkst du, sie werden kommen?« fragte ich und reckte meinen Hals.

Wir hatten vor, den Aschram gegen die Wildnis der Berge einzutauschen, und warteten auf den Fahrer, der uns einsammeln sollte. Noch bevor MJ mir antworten konnte, kroch ein verwitterter VW, der eine Staubwolke hinter sich herzog, den ausgetrockneten Pfad hinab, der die Hauptstraße mit dem Aschram verband. Als der Wagen gehalten hatte, sprang ein drahtiger junger Mann mit Ziegenbart, italienischer Schiebermütze und trendiger Sonnenbrille heraus und winkte uns energisch zu. Wir schnappten unsere Rucksäcke und rannten zu ihm nach draußen.

»Sanjay!« Er strahlte uns an. »Willkommen! Ich bin euer Reiseführer.« Er hievte unsere Rucksäcke auf das Dach des Wagens und schnallte sie an einem bereits mit Zelten und Schlafsäcken bepackten Dachträger fest.

»Chalo!« brüllte er, »Let’s go!«, und schob uns in den hinteren Teil des Wagens. Nach einer letzten Flut von »Goodbyes« und »Namastes« zu Mata-ji, der imposanten Mutter des Yogis, die kam, um uns zusammen mit den Köchen des Aschrams zu verabschieden, brachen wir auf zu unserem Ausflug: durch den Himalaya und hinein ins Ungewisse. Ich sah mit stiller Aufregung zu, während wir aus Rishikesh hinausfuhren. Vorbei an den kleinen Chai-Ständen, den deutschen Bäckereien und den Internetcafés, den bekifften Sadhus mit Dreadlocks im Shiva-Tempel, den westlichen, in Hippiekleidung gehüllten Touristen mit roten Tikas auf der Stirn, korpulenten Kühen, Bettlern und Straßenkindern. Mit all diesen Widersprüchen hatte ich Rishikesh, eine lebhafte Mischung aus Ost und West, mit mehr Yoga-Schulen, Aschrams, Tempeln und spirituellen Buchläden als man sich vorstellen kann, in mein Herz geschlossen.

Fremdenführer Sanjay, dessen Ohren an seinem konstant klingelnden Handy klebten, war von seinem Aussehen und Verhalten so sizilianisch, dass wir ihn Al Pacino tauften, noch bevor wir unseren ersten Haltepunkt erreichten. Im Gegensatz dazu war der Fahrer, Ram, eher kräftig. Gekleidet in eine blaugraue Fahreruniform, prangte ein dicker Busch glänzenden, schwarzen Haares auf seinem Kopf, zusammen mit einem schwarzen, stoppeligen Bart und noch schwärzeren Ringen unter den Augen. Mit gerunzelter Stirn und weißen Fingerknöcheln bestand sein rasender Fahrstil daraus, sich über das Lenkrad zu lehnen und gelegentlich hysterisch zu lachen. Folglich konnte sein Spitzname kein anderer sein als »Maniac«.

Ich blickte zu MJ hinüber, die schmunzelnd ihren Kopf schüttelte, während wir mit kreischenden Reifen durch eine gefährliche Kurve flogen. Ich lachte. MJ war eine große Frau mit stechenden, himmelblauen Augen und schulterlangem blonden Haar. Wir hatten uns im Aschram kennengelernt, und ich mochte sie wegen ihres komplexen Charakters. Obwohl sie normalerweise lebhaft und emotional war, hatte sie einen verschrobenen Sinn für Humor und neigte zu häufigen Tabernac!-Ausbrüchen und anderen religiös inspirierten Schimpfwörtern, wenn Dinge nicht so liefen wie geplant. Außerdem hatte sie eine tiefe, nachdenkliche und verletzliche Seite. Wir waren auf derselben Wellenlänge und genossen oft lange, intensive Unterhaltungen über Dinge, die uns wichtig waren. Ich freute mich auf dieses Abenteuer mit ihr. Welch fantastische Art, meine ausgiebige Reise durch den Orient zu beenden.

Begleitet von einem reichlichen Angebot an schriller Hindi-Diskomusik fuhren wir vier Stunden durch üppig bewaldete, bergige Landschaften und sahen zeitweise den glitzernden Ganges im dürren Tal unter uns. Versunken in die Landschaft, sprachen wir nicht viel. »Es ist komisch«, grübelte ich, als wir einen kleinen Schrein, der dem Hindu Elefantengott Ganesha gewidmet war, passierten, »dass ich in Indien gelandet bin. Und noch komischer, dass ich es so sehr mag.« Als ich jünger war, wollte ich nie nach Indien. Nie und nimmer. Seit ich mich erinnern kann, beherbergte ich eine starke, irrationale Abneigung gegen dieses riesige, befremdliche Land voller heiliger Kühe, schnurrbärtiger Männer und angehimmelter Gurus. Es gab sogar eine Zeit, in der mir selbst von dem Geruch indischen Essens schlecht wurde.

Meine Hippiefreundin Kassandra wiederum liebte Indien. Während ich in meinen frühen Zwanzigern meine Zeit damit verbrachte, eine Plattenfirma in England zu betreiben, pilgerte sie auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung mehrfach in das »Heilige Land«, wie sie es nannte. Ich erhielt eine Flut an Briefen und Postkarten, die anschauliche Beschreibungen ihres Lebens in Indien beinhalteten, prall gefüllt mit Erzählungen von verrückten Tuktuk-Fahrten, starrenden Menschenmengen, stillen Bergklöstern und ominösen Gurus mit Namen wie Sai Baba und Osho. Diese Gurus, sagte sie, können auf magische Weise heilige Asche und Armbanduhren aus dünner Luft hervorzaubern. Und sie erscheinen manchmal in deinen Träumen und garantieren dir Segen, solange du die richtigen Mantras rezitierst.

Kassandras Bestreben war unbegreiflich für mich. »Warum gehst du in dieses verrückte Drittweltland?« fragte ich sie herablassend. »Warum

Ich weiß nicht, woher meine Abneigung gegen Indien kam. Ich war noch nie dort gewesen und wusste äußerst wenig über das Land. Ich wusste nur, dass ich es hasste. Und nun, durch eine merkwürdige Verkettung von Umständen, war ich selbst hier und hatte mich komplett und unwiderruflich in das Land verliebt. Wie interessant und widersprüchlich das Leben manchmal sein kann.

Wir hielten in einer kleinen Stadt, um Proviant für die vor uns liegende Woche zu besorgen. Der Ort war ein einziges Wirrwarr aus Einkaufsbuden, Eseln und Kühen. Und, wie so oft in Indien, war ich wie hypnotisiert von der farbenfrohen Mischung aus menschlichen Wesen, Gottheiten und Tieren sowie Händlern, die seltsame Waren feilboten. Ein junges Mädchen mit elendem Gesichtsausdruck, das hinten im Auto ihrer Eltern saß, übergab sich durch das offene Fenster über die ganze Straße, in nächster Nähe zu unserem Auto. Ich betrachtete sie mit einer Mischung aus Sympathie und Neugierde, während MJ angewidert stöhnte. Das Mädchen warf mir einen Blick zu, der sagen sollte »Was?!«, und ich dachte über das Phänomen nach, dass Frauen in asiatischen Bussen so häufig schlecht wird.

Es war ein Anblick, an den ich mich in ganz Asien gewöhnt hatte: Frauen mit grünen Gesichtern und leidenden Gesichtsausdrücken, die sich aus Bussen lehnen, mit langem schwarzen, im Winde wehenden Haar, und sich übergeben, während verständnisvolle Verwandte ihnen die Hand tätscheln. Die Opfer waren ausnahmslos Frauen, die Männer hingegen lehnten sich munter plappernd in ihren Sitzen zurück und rauchten. Einmal, als ich von einem Tempel in Tibet zurückkehrte, hielt der Bus unterwegs an, und eine lange Reihe von Frauen lehnte sich gegen eine Wand, um ihre Mägen zu entleeren. »Warum sind es immer nur Frauen, denen schlecht wird?« fragte ich mich.

Maniac schlang in einem der Straßenläden etwas Essen hinunter. MJ und ich folgten Al Pacino durch die Mittagshitze über Kopfsteinpflastergässchen zum Gemüsemarkt, wo er mit verschiedenen Händlern Tauschhandel betrieb. In der Zwischenzeit freundete sich eine Gruppe junger muslimischer Gemüsehändler in blauen Shalwar-Kamiz-Roben mit uns an. Sie fütterten uns enthusiastisch mit Gurkenscheiben und verwickelten uns in eine inbrünstige Diskussion über Allah. Meine Stimmung war gut. Ich war froh, wieder unterwegs zu sein.

Al Pacino signalisierte uns, dass er mit seinen Einkäufen fertig war, und wir kehrten zum Wagen zurück, um weiterzufahren. In dieser Nacht wollten wir eigentlich in einer »wunderschönen und abgelegenen Holzhütte in der Natur mit Blick auf den Fluss« unterkommen. So hieß es zumindest in der Broschüre.

Allerdings war unser Ausflug ziemlich locker organisiert, wie wir schnell herausfanden. Als wir den genannten Ort erreichten, wurden die Hütten gerade von einer Armee schnurrbärtiger Arbeiter renoviert. Zugegeben, der Platz war herrlich, still und wild, aber durch den Geruch von frischer Farbe und Moder versprachen die Hütten nicht gerade ein einladender Ort zu sein, um die Nacht dort zu verbringen. Nach einer kurzen Diskussion entschieden wir uns, weiterzufahren, und stiegen wieder ins Auto. Wir hielten an verschiedenen Stellen, um nach einem Zimmer zu suchen, hatten aber nicht viel Glück. Die vielversprechenden waren ausgebucht, und was übrig blieb, waren Orte, an denen wir keine Lust hatten, zu nächtigen.

Die Dämmerung setzte ein, und MJ verlor ihren Sinn für Humor, als man uns eine winzige, beengte Baracke an der Straße zeigte, in der eine schäbige Männerfeinrippunterhose grazil am Kleiderschrank drapiert war. Zu diesem Zeitpunkt war ich müde und wollte einfach irgendwo anhalten, aber sie lehnte brüsk ab.

»Vergiss es«, rief sie zänkisch und stapfte zurück zum Wagen. »Ich bleib nicht in diesem Loch! Und hast du diese… Unterhose gesehen?! Putain! Die sind doch verrückt, für so etwas Geld zu verlangen!«

Mürrisch fuhren wir noch eine Stunde weiter. Es wurde langsam dunkel. Nach acht Stunden Fahrerei, in der wir Maniacs Fahrkünste und Al Pacinos hysterische Hindi-Diskomusik ertragen mussten, hatte ich genug.

»Na gut«, sagte ich, »wir halten beim nächsten Ort. Es ist mir egal, wo oder was es ist. Ich bin müde.« Al Pacino und Maniac nickten grimmig auf den Vordersitzen, sicher genauso genervt von der Situation wie ich selbst. Die Straße schlängelte sich im schwindenden Licht der Dämmerung einen Berg hinauf. Ich bemerkte einige Lebenszeichen: kleine Häuser am Hang, Bäume und Felder. Es sah idyllisch aus, und ich entdeckte ein Schild, das uns über ein nahegelegenes Gästehaus informierte. Das sah vielversprechend aus. Ein paar Höfe weiter fiel mir ein großes gelbes Gebäude ins Auge. »ASCHRAM« sagten die großen Buchstaben auf dem Schild, das daran befestigt war. »Oh!« rief ich. Meine Stimmung hob sich sofort dramatisch, und ich stieß Al Pacino an der Schulter. »Ein Aschram! Sieh doch! Hier will ich bleiben!« Er sah mich verwirrt an. MJ drehte sich zu mir um und hob eine Augenbraue.

»Nein, nein, Gästehaus!« Al Pacino schüttelte den Kopf und zeigte nach links, wo sich das zuvor genannte Gästehaus befand.

»Nein, nein, Aschram!« beharrte ich und lehnte mich nach vorn.

Maniac hielt das Auto. Während Al Pacino verschwand, um sich das Gästehaus näher anzuschauen, rannte ich zum Aschram und sprang mit einem etwas verwirrten Maniac im Schlepptau die Treppen hinauf. Der Aschram war ein großes Gebäude mit mehreren Stockwerken und scheinbar endlosen Treppenstufen, die von Stahlgeländer und Balkonen mit Maschendrahtzaun gesäumt wurden. Durch die gelben Wände und die dazu kontrastierenden grünen Fensterläden sah es aus wie ein Gefängnis aus Legosteinen. Der Aschram stand am Rand eines steilen Berges, der in eine Felsschlucht blicken ließ, an deren Grund ein reißender Fluss strömte. Einer der Bewohner, ein schwarzer Wolfshund, hob den Kopf und sah uns neugierig an.

In dem Büro des Aschrams, plaziert am Ende des ersten Treppenlaufs, konnte ich einen Blick auf einen jungen indischen Mann erhaschen, der in safranfarbene Gewänder gehüllt war – vielleicht der verantwortliche Sannyasin. Er hatte ein schönes rundes, fast kindliches Gesicht mit kurzen schwarzen Haaren und einer kleinen Haarsträhne am Hinterkopf. Unsere Augen begegneten sich kurz. Dann geschah das Seltsamste überhaupt. Während ich im Eingang des asketischen Aschrambüros stand, verschmolzen plötzlich Raum und Zeit. Ich fühlte, wie ich vor Überraschung zusammenzuckte – es war fast ein Gefühl von körperlichem Schmerz, der in meinem Bauch begann und rasend in jede Faser meines Körpers schoss. Perplex tauchte ich in die dunkelbraunen Augen des Sannyasins ein, als würde ich dort die Antwort auf eine Frage finden, die mein Verstand noch nicht einmal formuliert hatte. Das Erstaunen, das ich in diesen Augen fand, spiegelte mein eigenes wider, und in diesem Moment wusste ich, dass er das – was auch immer es war – auch spürte.

Der Moment dauerte nur ungefähr zwei Sekunden. Da ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, schüttelte ich leicht den Kopf und lenkte meine Aufmerksamkeit auf Maniac, der den Sannyasin fragte, ob es noch freie Zimmer für die Nacht gäbe.

»Haa«, bejahte der Sannyasin in Hindi und befahl einem dürren jungen Mann in Jeans, der sich in unserer Nähe aufhielt, uns das Zimmer zu zeigen.

Wir folgten ihm zwei Treppenläufe hinab und sahen ihn eine schwere, dunkelgrüne Stahltür öffnen. Er schaltete ein Neonlicht ein. Neugierig betrachteten wir den Raum mit Betonboden. Er hatte kahle, dreckiggelbe Wände und beherbergte fünf Einzelbetten und einen kleinen staubbedeckten Tisch. Das zugehörige Badezimmer bestand aus einem Stehklo, zwei schmutzigen Eimern und einem Messinghahn an der Wand, aus dem kaltes Wasser tropfte. Das Fenster war mit grünen Eisenstäben und schweren Fensterläden vergittert, die im Takt mit dem schneidenden Gebirgswind klapperten.

Die robusten Betten zierten wunderschöne Kissenbezüge mit roten Rosen. Ich war verliebt.

Ich rannte zurück, die Treppen nach oben, und winkte MJ überschwänglich, die immer noch gemächlich im Wagen lag. Sie kletterte in Zeitlupe heraus und folgte mir die Aschramtreppen hinab. Sie musterte mich zweifelnd, als ich ihr, stolz wie eine Mutter, den Raum zeigte. »Lass uns das Gästehaus auch anschauen«, war alles, was sie sagte. »Ich wette, dort ist es gemütlicher.«

»Okay, wenn du willst…« murmelte ich, und wir gingen zurück zum Büro des Aschrams, um den Sannyasin zu informieren, dass wir uns das Gästehaus auch anschauen würden. »Zum Vergleich«.

»Sicher«, antwortete er knapp von seinem Tisch aus.

Auf der anderen Straßenseite waren die Gegebenheiten tatsächlich luxuriöser, wenn auch kleiner. Die Gästezimmer hatten Duschen, gemütliche Betten, ein Waschbecken und sogar Teppich. MJs Augen leuchteten auf, aber ich war nicht überzeugt.

Ich hatte mein Herz an den Aschram verloren. Er war strenger, aber, wie ich MJ erklärte, er war auch viel interessanter. »An diesem Ort herrscht Liebe, ein freundlicher Hund, der Sannyasin…«

»Denk doch daran, wie viel du für diesen Ausflug bezahlst«, unterbrach MJ scharf meinen Gedankengang. »Willst du wirklich in diesem kalten Aschram bleiben? Wofür?«

Ich erwiderte nichts. Plötzlich erschien Verständnis in ihren klaren blauen Augen, und sie seufzte vor Verzweiflung. »Das ist nur, weil du ihn süß findest!«

Ich grinste. Sie kannte mich schon viel zu gut. Ja, gab ich zu, das ist er. Aber das war nicht der Hauptgrund. Da war etwas anderes, was mich zu diesem Ort zog. Ich wollte in einem echten indischen Aschram wohnen und sehen, inwiefern er sich von den Vorzügen des westlich geprägten Yoga-Aschrams unterschied, in dem wir die letzten Monate gelebt hatten. Wir waren im Himalaya, und was könnte angebrachter sein, als eine Weile inmitten von Religiösen und Rechtschaffenen des ländlichen Indiens zu leben?

Unfähig, uns zu einigen, warfen wir eine Münze, und so wurde die Entscheidung »von oben« getroffen. Wir zogen in den Aschram. Ich strahlte, wohingegen meine drei Begleiter mit den Schultern zuckten und mir mit einem Hauch von Resignation folgten.

Auf diese Weise wurde mein Schicksal besiegelt.

Bei Lord Shiva zu hause: dickliche Gurus, vergitterte Fenster und Rosenkissen

Nachdem wir unsere Taschen in unser neues Zuhause gebracht hatten, lief ich neugierig durch den Aschram, um herauszufinden, bei welchen spirituellen Aktivitäten ich mich beteiligen könnte. Ich entdeckte eine handschriftliche Notiz an der Bürotür des Aschrams. Arati 19.30 Uhr, stand darauf. Ich schaute auf meine Uhr. Es war bereits 19 Uhr. Das versprach, aufregend zu werden. Ich liebte Arati, eine hinduistische Zeremonie, in der Öllampen entzündet und Lieder zu Ehren einer Gottheit gesungen werden. Ich fragte mich, wie das wohl hier in diesem abgelegenen Bergaschram werden würde.

Ein paar Leute saßen in der Nähe auf einer Bank. Als ich zu ihnen hinüberschaute, um sie mit dem traditionellen »Namaste« zu begrüßen, sah ich, dass der junge Sannyasin unter ihnen war. Er saß auf der Ecke der Bank mit einer Mala in seinen Händen, einer Kette mit Gebetsperlen, und rezitierte schweigend Mantras. Ich fragte mich, wie alt er wohl war. In seinen späten Zwanzigern oder vielleicht frühen Dreißigern? Er hob seinen Kopf und nickte mir zu, als er mich sah. Ich lächelte und schob mich in seine Richtung.

»Swami-ji«, sprach ich ihn höflich an, »habe ich das richtig gelesen? Eure Arati ist um 19.30 Uhr?«

Er räusperte sich. »Ja«, antwortete er. »Aber versuche, früher zu kommen. Ich beginne mit der Hime um 19.15 Uhr im Tempel dort drüben.« Er zeigte zum Ende des Korridors. »Die Hime?« fragte ich verwirrt.

»Ja, weißt du, ein… ein Lied. Wir singen es jeden Abend zusammen, vor der Arati-Zeremonie«, sagte er, während er weiterhin die Gebetsperlen mit der rechten Hand zählte. »Um 19.15 Uhr.«

»Oh«, sagte ich. »Die Hymne! Ja, großartig. Ich werde da sein.«

Als er seine Aufmerksamkeit zurück auf seine Mala richtete, ging ich zurück zu unserem Zimmer, um MJ von der Arati zu erzählen.

Sie war dabei, auszupacken, und sagte, sie würde sich mit mir im Tempel treffen. Auf meinem Weg zurück rannte ich in Al Pacino und Maniac und versuchte, sie zu überzeugen, mich zur Arati zu begleiten.

Meine Versuche waren nicht erfolgreich, da sie bereits den Plan geschmiedet hatten, den Abend im Auto zu verbringen, um Alkohol zu trinken und Disco-Musik zu hören.

Ich ließ mich nicht von ihrem offensichtlichen Mangel an Frömmigkeit abschrecken und ging allein zum Tempel. Die schwere Stahltür des Tempels war halb geöffnet, und mit einem kribbelnden Gefühl der Erwartung im Bauch trat ich behutsam ein.

Es war gerammelt voll von indischen Pilgern, die mit überkreuzten Beinen und gekrümmten Rücken auf dem Betonboden saßen, der teilweise mit gemusterten Teppichen bedeckt war. Gefolgt von den neugierigen Augen der Versammlung ging ich auf Zehenspitzen in Richtung Altar zum anderen Ende des Raumes. Dort gab es eine Lücke an der Wand, zwischen zwei dicken indischen Damen in Saris. Ich ging zu ihnen und glitt zwischen ihnen auf den Boden. Eine der Damen drehte sich um und lächelte mich freundlich an. Erleichtert lächelte ich zurück. Ich war mir nie ganz sicher, wie willkommen ich in Hindu-Tempeln war, da manche von ihnen für Westler verschlossen waren.

Es war kalt, und so war ich froh, dass ich meine tibetische Decke mitgebracht hatte. Meine Augen wanderten neugierig durch die neue Umgebung. Der Tempel selbst war karg, mit fahlen gelben Wänden, einer schwarzen Decke und vergitterten Fenstern. Der Altar befand sich auf einer erhöhten Plattform, und sein Zentrum, ein gigantisches Ölgemälde des Aschram-Gurus, dominierte den Raum. Es porträtierte einen dicklichen Mann mit runden Wangen und langem welligen Haar. Gekleidet in orangefarbene Roben blickte er wehmütig in die Ferne mit einem Ausdruck, der… einerseits weise zu sein schien, aber da war noch etwas anderes.

Der Blick war beinahe unverschämt, ein »Ich weiß etwas, was du nicht weißt«, gemischt mit Hohn und einer Spur Zynismus. Er wirkte auch fokussiert und hart. Ich war mir keineswegs sicher, ob ich ihn mochte.

Der Altar war kunstvoll mit Blumengirlanden, farbenfrohen Stoffen, rituellen Objekten wie Messern, Schwertern, Messingschalen, Kerzen, Räucherstäbchenhaltern und Muscheln geschmückt. Ich suchte nach Bildern oder Statuen von hinduistischen Gottheiten wie Krischna oder Durga, aber es gab keine, abgesehen von einem winzigen Bildchen von Lord Shiva, dem entsagenden Gott der Yogis, auf dem Altar. Dicker Rauch waberte durch den Raum und vermengte sich in meinen Nasenlöchern mit dem fettigen Geruch flackernder Öllampen. Während ich über meine Umgebung nachdachte, betrat der junge Sannyasin leise den Tempel und setze sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Flüchtig blickte er durch den kerzenerhellten Raum. Von meinem Platz, nahe der rechten Seite des Altars, fing ich seinen Blick kurz auf. War es Einbildung, oder war dort eine Spur Melancholie in seinen dunklen, braunen Augen?

Ich war mir nicht sicher.

Nachdem er sich über seine kurzen Haare gestrichen und tief Luft geholt hatte, begann der Sannyasin, das kleine Harmonium zu spielen, das vor ihm stand. Als der akkordeonähnliche Klang begann, sich seinen Weg durch den Tempel zu bahnen, schien er sich zu verwandeln – von einem düsteren, kalten Betonbau, in eine verzauberte heilige Stätte. Plötzlich ertönte eine klare Stimme über den bewegenden, beinahe traurigen Klängen des Instruments, die ein Lied sang, so eindringlich und erfüllt von solcher Leidenschaft und Hingabe, dass mein ganzer Leib prickelte.

Fasziniert lauschte ich, wie der Sannyasin die Worte »Om Namah Shivaya« immer und immer wieder wiederholte; ein altes sanskritisches Mantra zu Ehren von Lord Shiva. Ich fühlte mich, als wäre ich in ein anderes, fernes Zeitalter transportiert worden. Die Melodie hallte durch den Tempel und entschwebte durch die verriegelten Fenster in die schneebedeckten Berge, die uns umgaben.

Ich war wie versteinert und konnte nicht aufhören, diesen Sannyasin anzuschauen – nein, anzustarren –, der mit geschlossenen Augen und zurückgeworfenem Kopf vollkommen verloren in seinem Ausdruck der Verehrung zu sein schien. Alles verblasste in die Bedeutungslosigkeit – mein Körper, die anderen Betenden um mich herum, die Kälte –, und nur der Sannyasin und seine Stimme blieben zurück.

Ich starrte ihn fast das ganze Lied über in einem tranceähnlichen Zustand an, bis ein älterer Mönch sich vor mich setzte und mir die Sicht versperrte. Irritiert rutschte ich herum und sah über das Gesichtermeer. Ich erspähte MJ, die kniend im hinteren Teil des Raumes saß, und bemerkte, dass ihr durch geschlossene Augen Tränen das Gesicht hinunterrannen. Ich drehte mich zurück zum Altar. Mein Herz angefüllt mit dem süßesten Schmerz. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so etwas Wunderschönes gehört.

Dann war das Lied vorbei. Der Sannyasin verneigte sich vor dem Guru, und berührte den Boden mit seiner Stirn. Ich hatte bereits einen Kloß im Hals und versuchte mit aller Kraft, nicht in Tränen auszubrechen, obwohl ich nicht einmal wusste, weshalb. Nach ein paar Momenten der Stille stand der Sannyasin auf, um vor dem Altar niederzuknien. Dies markierte den Beginn der abendlichen Arati.

Die versammelte Gemeinschaft begann, eine Litanei vedischer Mantras zu singen, während der Sannyasin rituelle Akte ausführte, um Guru-ji, den Mann auf dem Gemälde, zu ehren. Er segnete ihn mit den Elementen Luft, Feuer, Wasser, Erde und Äther, indem er diverse Dinge erhob und kreisen ließ, einschließlich Rauchwerk, Kerzen und Wasser.

Zwei indische Damen in eleganten Saris, deren Gesichter einen Ausdruck von strikter Entschlossenheit zeigten, standen links und rechts vom Altar. Eine von ihnen schwang ein Objekt durch die Luft, das einem Staubwedel ähnlich sah (oder einem »Weihnachtsmannbart«, wie MJ es nannte), während die andere Frau ein großes, farbenprächtiges Schild im Rhythmus der Musik schwenkte. Ein goldenes Tablett auf dem Altar beherbergte ein paar hölzerne Sandalen, mutmaßlich die des Gurus. Der Sannyasin wusch und trocknete sie sorgfältig, bevor er sie mit Ghee und Blumen salbte. Mit großer Ehrfurcht formte er hübsche Muster und Symbole auf den Schuhen, während die Gemeinschaft fortfuhr zu singen. Ich erkannte manche der sanskritischen Mantras von meinem Aufenthalt in dem Yoga-Aschram und sang mit, wann immer ich konnte.

Irgendwann stand der Sannyasin auf und erhob ein großes Ritualmesser. Er betrachtete es ein paar Sekunden lang, hielt es dann an sein Herz und blickte zu Guru-ji. Dann, scheinbar aus dem Nichts, wurden die ernsten Gesänge von einem lauten Geräusch unterbrochen. Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Eine Gruppe junger indischer Männer war im hinteren Teil des Tempels erschienen, und zusammen läuteten sie Glocken, schlugen Becken aneinander und rührten Trommeln mit großem Elan. Es hörte sich an, als spielten sie einen Rocksong, voller Energie und voller Absicht. Die Betenden um mich herum erhoben sich vom Boden und standen nun mit dem Gesicht in Richtung Altar. Ich tat es ihnen gleich.

Wie auf ein Zeichen begann der Sannyasin, einen außergewöhnlichen Kriegstanz aufzuführen. Er schwang das Messer von links nach rechts, hielt es zu dem Porträt von Guru-ji, stach in die Luft, sprang und gab etwas von sich, das sich wie schamanische Schreie anhörte.

Alle Augen waren nun auf den Sannyasin gerichtet, und ein älterer Mann zu meiner Rechten prallte vor Schreck zurück, als das Ritualmesser seinem Gesicht gefährlich nahe kam. Es war ein spektakulärer Anblick, der mich mit seiner starken Energie, die mich an alte Rituale erinnerte, völlig gefangen nahm. Der Sannyasin war ein toller Darsteller. Ich hatte einen Flashback zu den Zeiten, als ich in der Musikindustrie arbeitete und in Leder gekleidete, gesichtsbemalte Metalbands es liebten, ähnliche Darstellungen mit Waffen auf der Bühne zu zeigen. »Wer ist dieser Mann?« fragte ich mich.

Die Musik wurde leiser, und ein kleiner Junge mit einem Korb in den Händen begann, sich seinen Weg durch den Tempel zu bahnen. Aus dem Korb gab er jedem von uns Blütenblätter und schmierte uns etwas Tilakpaste auf den Punkt zwischen den Augenbrauen, um uns zu segnen. Der Sannyasin setzte sich an sein Harmonium und begann einen neuen Gesang, scheinbar zu Ehren Guru-jis. Ein indischer Verehrer nach dem anderen ordnete sich ein, ging zum Altar, kniete sich vor das Porträt von Guru-ji und legte dort die Blumen – und kurz die eigene Stirn – auf seine hölzernen Sandalen.

Ich lag im Widerstreit mit mir selbst. Ich wollte respektvoll sein, aber etwas in mir widerstrebte einer Verbeugung vor einer unbekannten menschlichen Gottheit. Besonders dieser hier. Ich dachte mir einen Kompromiss aus: Ich würde zum Altar gehen und die Blüten vor das winzige Bild von Lord Shiva legen und mich vor ihm verbeugen. Ja, damit konnte ich leben. Als ich vom Altar zurückkehrte, sah ich, dass MJ dasselbe tat.

Die Arati endete mit einem weiteren Lied und der Verteilung von Prasad, gesegnetem Essen. Derselbe Junge, der uns die Blütenblätter ausgeteilt hatte, kam nun und verteilte Fruchtstücke und zuckerige Süßigkeiten mit einem schüchternen Lächeln in seinen Augen. Ich dankte ihm, indem ich das Apfelstück an mein Drittes Auge hielt und die süße Frucht anschließend aß. Die Pilger um mich herum begannen zu plaudern und bewegten sich langsam aus dem Tempel. Ich suchte nach dem Sannyasin, doch konnte ihn nirgends sehen.

MJ und ich trafen uns auf dem Korridor. Ich ergriff ihren Arm. »Hast du das gehört? War das nicht einfach wundervoll?« fragte ich sie. »Mein Gott!« rief sie und schüttelte den Kopf. »Das war so schön. Ich konnte gar nicht aufhören zu weinen. Was war das für ein Lied?« »Ich weiß es nicht, aber ich habe noch nie so etwas gehört. Es war unglaublich.«

Gemeinsam liefen wir durch den Flur zu unserem Zimmer. Wir kamen am Büro des Aschrams vorbei. Der Sannyasin war darin, umringt von einer indischen Menschenmenge, die scheinbar gleichzeitig auf ihn einredete. In seinen Gewändern erinnerte er mich an einen geschorenen Jesus mit einer Gruppe aufgeregter Jünger um sich herum. Als ich am Büro vorbeilief, fing er meinen Blick auf und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Mein Herz hüpfte. Hatte er mich wirklich gerade angelächelt? Ich lächelte schnell zurück und stieß MJ meinen Ellbogen in die Rippe. »Hast du das gesehen?« flüsterte ich, »der Sannyasin hat mich gerade angelächelt.«

»Jaaah«, sagte sie gleichgültig, »mich auch.«

Wir öffneten die klobige Stahltür und betraten unser moderiges, dunkles Zimmer. Es war kalt und feucht, doch das spürte ich nicht. In meinem Kopf schwirrten immer noch Fragmente des gesungenen Liedes, vermischt mit Bildern von dem strahlenden Lächeln des Sannyasin. MJ ließ sich mit einem Seufzer auf eines der Betten fallen und schlang die Bettdecke um sich. Ich konnte nicht stillsitzen.

»Ich werde gehen und Al Pacino suchen, um herauszufinden, was wir morgen machen, okay? Ich werde in ein paar Minuten zurück sein«, sagte ich und öffnete die Tür.

»Okay«, sagte MJ und gähnte. »Es ist so verdammt kalt hier. Kannst du mir bitte etwas Tee mitbringen, wenn du welchen findest?« »Ja, klar. In der Kantine müsste es welchen geben«, antwortete ich und verließ den Raum, um Al Pacino zu suchen. Vielleicht war er immer noch mit Maniac im Auto.

Der Korridor war voller indischer Pilger, die mich anlächelten und mir zunickten. Während ich zurücklächelte, suchte ich meinen Weg um sie herum und erklomm die Stufen in Richtung des Aschrameingangs.

Dort wurde ich von einer Gruppe wissbegieriger indischer Damen in mittleren Jahren in gemusterten Saris erwartet, die auf Hindi begannen, mich mit Fragen zu bombardieren.

»Wie ist dein Name? Wo kommst du her? Was machst du hier?« schienen sie zu sagen. Da ich nicht wusste, wie ich antworten sollte, zuckte ich mit den Schultern und lachte. »Hindi tora-tora« sagte ich, »wenig Hindi«. Auch sie lachten.

Plötzlich kam mir Al Pacino zur Hilfe, der den Tumult mitbekommen haben musste. Er sprach zu den Damen auf Hindi und schien ihnen alles zu sagen, was sie wissen wollten. Sobald ihre Neugier befriedigt war, zerstreuten sie sich.

»Danke«, sagte ich mit einem Lachen, »Al Pacino…«

»Ja!« strahlte er. Augenscheinlich schien ihm der Spitzname zu gefallen, den wir ihm gegeben hatten.

»Al Pacino, ich will wissen, ob es hier morgens Meditation oder Yoga gibt. Können wir jemanden fragen?« fragte ich. Er nickte energisch. »Wir fragen Swami-ji!« schlug er vor. »Bhai!« rief er einem schnurrbärtigen Mann zu, der sich mit einer Zigarette in der Hand gegen die Mauer des Aschrams lehnte.

Der Mann drehte den Kopf. Ich hörte die Worte »Swami-ji«, und der Mann deutete auf die Treppen des Aschrams.

»Er sagt, wir finden Swami-ji in der Küche«, erklärte mir Al Pacino. »Chalo. Wir gehen ihn suchen.«

Gemeinsam sprangen wir mehrere Treppenabsätze hinab. Der Aschram schien inzwischen voller Menschen zu sein. Die Flure waren bevölkert von Frauen, die ihre Saris in Eimern wuschen, großäugigen Kindern und Männern in weißen Unterhemden, die auf Holzbänken saßen.

Die Küche befand sich im Keller des Bauwerks. Wie vorhergesagt, fanden wir den Sannyasin in der angrenzenden Kantine, inmitten einer Gruppe vergnügter Pilger. Ich war überrascht, Männer zu sehen, die rauchten und in ihre Handys schrien. Die Aschrams, in denen ich zuvor gewesen war, verfolgten eine Nichtraucher-Politik, und viele verboten auch die Benutzung von Mobiltelefonen. Aschrams waren grundsätzlich zurückgezogene hinduistische Einsiedeleien, in welchen ein Guru lebte und anderen spirituelle Ratschläge gab.

Menschen kamen hierher um zu meditieren, Yoga auszuüben und einem sattvischen Lebensstil zu folgen, in dem eine leichte vegetarische Diät eingehalten wird und man sowohl von Giften wie Zigaretten und Alkohol Abstand nimmt als auch von externen Ablenkungen wie Fernsehen. Loslösung von luxuriösem Leben wird als Hilfe für spirituelle Weiterentwicklung betrachtet, und strikte Routine sowie Karma-Yoga, uneigennützige Dienste für andere sind ein großer Teil des Lebens in einem Aschram. »Was für eine Art von Aschram ist das hier?« dachte ich empört, als ich eine kleine Flasche Alkohol sah, die aus der Tasche eines Pilgers lugte.

Demütig näherten wir uns dem Sannyasin. »Swami-ji«, sagte Al Pacino und zeigte auf mich. Der Sannyasin sah mich an und lächelte. »Wow«, dachte ich, als ich vor ihm stand. »Er ist so schön.«

Seine Haut war fein, glatt und mandelfarben, und er hatte volle, sinnliche Lippen. Seine dunklen Augen blickten aufmerksam und gütig. Schnell, als wollte ich die Stimme in meinem Kopf abstellen, begann ich zu reden.

»Vielen Dank für die wunderbare Arati«, schwärmte ich. »Es war die beste Arati, die ich in ganz Indien gesehen habe.«

»Ja«, die leise Stimme in meinem Kopf tauchte wieder auf, »als ob du schon so viele gesehen hättest. Sei nicht so dumm. Du warst doch nur in Rishikesh!«

Das Gesicht des Sannyasin leuchtete auf. »Oh… Danke«, antwortete er. »Sie hat dir gefallen? Das ist gut zu hören.«

»Gibt es hier auch Yoga oder Meditationssitzungen?« fragte ich befangen. Aus irgendeinem Grund war ich ganz verlegen gegenüber dem Sannyasin. Irgendetwas an ihm machte mich nervös.

Er nickte. »Wir machen morgens Pranayama«, sagte er.

»Pranayama?! Großartig!« rief ich begeistert, als hätte er mir gerade augenblickliche Erleuchtung versprochen. »Kann ich mitmachen?«