cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 2898

 

Das unantastbare Territorium

 

Vor der Entscheidung – die vereiste Galaxis am Abgrund

 

Uwe Anton

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. RAS TSCHUBAI

2. RAS TSCHUBAI

3. RT-K-187

Zwischenspiel: LOYTAKUM

4. SHEZZERKUD

5. RAS TSCHUBAI

6. SHEZZERKUD

Zwischenspiel: BURNEI

7. RAS TSCHUBAI

8. SHEZZERKUD

9. DAURD

Zwischenspiel: KUUDAR

10. RAS TSCHUBAI

11. DAURD

12. RAS TSCHUBAI

Journal

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

img2.jpg

 

Im Jahr 1522 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) befindet sich Perry Rhodan fernab der heimatlichen Milchstraße in der Galaxis Orpleyd. Dort braut sich etwas zusammen, das den Unsterblichen zum Handeln zwingt: Die negative Superintelligenz KOSH arbeitet im Verborgenen an ihrer eigenständigen Entwicklung in eine Materiesenke.

KOSH will nicht zum Instrument der Chaotarchen werden – von denen insbesondere Cadabb sich sehr stark für die Superintelligenz interessiert.

Zwei Völker Orpleyds wirken, teilweise ohne ihr Wissen, für KOSHS Ziele: die Tiuphoren und die Gyanli, insgeheim gelenkt von den Pashukan, den Todesboten der Superintelligenz.

Perry Rhodan weiß, dass die Geburt einer Materiesenke das Ende für die betreffende Galaxis oder sogar Mächtigkeitsballung bedeutet – und den Tod aller Lebewesen.

Was ihm letztlich bleibt, ist nur, so viele Lebewesen wie möglich zu retten. Indem es Rhodan gelang, den »Schnitter« zu sabotieren, der für die Umwandlung verantwortlich ist, bleibt der Staubgürtel der Galaxis von dem Transformationsprozess ausgenommen und kann Flüchtigen Asyl bieten.

Für alle anderen wird ihr Lebensraum in eine andere Daseinsebene überführt und fortan DAS UNANTASTBARE TERRITORIUM ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

Perry Rhodan – Der Terraner steht dem Schnitter hilflos gegenüber.

Sichu Dorksteiger – Die Chefwissenschaftlerin versucht einen unfassbaren Prozess zu verstehen.

Tellavely – Der Pashukan greift zum letzten Mittel.

Gucky – Der Mausbiber wird an den Katoraum erinnert.

Attilar Leccore – Auf den Gestaltwandler wartet ein schweres Erbe.

1.

RAS TSCHUBAI

1. November 1522 NGZ

 

Das Sonnensystem verschwand abrupt aus dem Holo in der Zentrale der RAS TSCHUBAI.

Perry Rhodan schloss kurz die Augen. Sieben Planeten hatten die gelbe Sonne umkreist, einer davon in der Lebenszone. War er bewohnt gewesen? Der Terraner wusste es nicht, und er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie seine Besitzer vielleicht ausgesehen hatten.

Hatten sie einer der bekannten raumfahrenden Zivilisationen dieser Galaxis angehört? Oder waren es in galaktischen Maßstäben blutjunge Intelligenzen gewesen, die gerade an der Schwelle zur Raumfahrt standen? Und denen man von einer Sekunde zur anderen eine vielleicht ruhmreiche Zukunft genommen hatte?

Ach was, ihn interessierte nicht, ob diese Zukunft ruhmreich gewesen wäre. Man hatte sie ihnen genommen, nur das war wichtig. Nach menschlichem Ermessen waren diese Wesen jetzt tot. Nach der Auffassung höherer Geschöpfe waren sie übergegangen in eine andere Daseinsform. Ohne Vorwarnung, von einer Sekunde auf die nächste.

Rhodan gehörte keiner höheren Existenzform an. Für ihn waren in diesem Moment Milliarden von Lebewesen ausgelöscht worden.

Als er die Augen wieder öffnete, war das System weiterhin verschwunden. Und seine Nachbarsysteme ebenfalls.

Gucky stöhnte neben ihm leise auf. »In Orpleyd stirbt ein Sternhaufen nach dem anderen.« Der Mausbiber sprach ganz leise, fast atemlos, als befürchtete er, laute Worte würden dieses schreckliche Phänomen auf ihr Raumschiff aufmerksam machen, es anlocken.

Rhodan betrachtete den Kleinen verstohlen. Der Ilt konnte offenbar nicht fassen, was er sah. Das Holo zeigte Bilder, die ANANSI aus Hyperortungen aufbereitete. Dreidimensionale Darstellungen, bei denen es sich keineswegs um dramatische Extrapolationen handelte.

Perry Rhodan konnte es genauso wenig begreifen. Er musste mit ansehen, wie ein Sonnensystem nach dem anderen aus der dreidimensionalen Darstellung verschwand. Der semitronische Bordrechner hatte vor wenigen Sekunden genaue Zahlen genannt. Es waren etwa hundert pro Minute.

Sie lösten sich einfach auf, verflüchtigten sich unter Aussendung irregulärer Strahlungsspitzen im gesamten Spektrum aus dem Universum, vor allem aber im ultrahochfrequenten Bereich der Hyperenergie, dort, wo vor allem die Phänomene kosmokratischen und chaotarchischen Wirkens auftraten. Etwa wie bei der Bildung der Negasphäre um Hangay und beim Schwingen des Doms Kesdschan, in dem Rhodan seine Ritteraura erhalten hatte.

Am meisten störte Rhodan, dass ANANSI keine Erklärung dafür hatte, was genau mit diesen Systemen passierte. Jedenfalls keine handfeste plausible Erklärung, die aus den Daten ableitbar war, die dem Bordgehirn vorlagen. Rhodan verstand genauso wenig wie die Semitronik, was dort in diesem Augenblick geschah. Er konnte es nur beobachten, ohne es wirklich zu begreifen. Er wurde Zeuge eines kosmischen Geschehens, das in seiner optischen Banalität erschreckend war.

Für einen Menschen.

Aber auch, wie er sich zu seinem Entsetzen eingestehen musste, schlichtweg faszinierend.

Falls diese höheren Wesen, die für ihn so wenig greifbar waren wie ein Gärtner für eine Ameise in einem Garten, tatsächlich recht hatten. Falls all diese Lebewesen nicht getötet, sondern transformiert wurden.

In Orpleyd entsteht eine Materiesenke, dachte Rhodan. Dieser schlichte Satz umschrieb etwas, das weit über seinen Horizont hinausging.

»Sterben sie?«, griff Gholdorodyn die Aussage des Mausbibers auf. »Oder wandeln sie sich?«

Seit Guckys Bemerkung waren nur einige Sekunden vergangen, doch Rhodan kam die Zeitspanne vor wie eine halbe Ewigkeit. Er wandte den Blick von den unerklärlichen Ereignissen ab, die das Holo zeigte, und schaute zu dem Kelosker. Gholdorodyn war körperlich anders als die meisten Angehörigen seines Volkes. Unter seinesgleichen galt er als geistig zurückgeblieben. Sein vierter Paranorm-Höcker war kleiner als normal und lag ungewöhnlich weit hinten am Hinterkopf. Dadurch hatte er Schwierigkeiten mit sechs- und vor allem siebendimensionalen Formeln. Durch dieses Manko galt er nach keloskischen Maßstäben als geistig behindert, doch den Terranern blieb selbst er im mehrdimensionalen Denken weit überlegen.

Rhodans Blick fiel auf die Greiflappen des Keloskers. Sie waren in zwei Finger gespalten, wodurch er, anders als die meisten seines Volkes, manuelle Arbeiten verrichten konnte.

In diesem Augenblick wurde Rhodan wieder einmal bewusst, wie fremdartig Gholdorodyn ihnen allen blieb: ein drei Meter großes, körperlich plumpes, unförmiges und unbeholfenes Wesen, das mitten in der Zentrale der RAS TSCHUBAI stand und merkwürdig fehl am Platz wirkte. Aber nicht sein Aussehen erzeugte diesen Eindruck der Fremdartigkeit, sondern seine Denkweise. Manchmal konnte er sich einfach nicht verständlich ausdrücken, seine fünfdimensionalen Gedankenprozesse so vermitteln, dass auch Terraner sie verstanden.

Oder Mausbiber.

Gucky schaute zu dem Riesen hoch. Er zitterte am ganzen Körper.

Immerhin konnte Rhodan sich vorstellen, was in dem Ilt vorging. Etwas Ähnliches wie in ihm. Zu dem Unverständnis kam noch das Gefühl der Machtlosigkeit. Der Hilflosigkeit. Sie konnten nichts tun, um den Prozess zu verhindern.

Er legte die Hand auf die Schulter des Mausbibers. »Ganz ruhig, Kleiner«, flüsterte er. Nicht, dass Gucky seinen Zorn noch an dem Kelosker ausließ ...

Gholdorodyn meinte es nicht böse. Er war nicht gefühlskalt. Doch während Rhodan hauptsächlich Entsetzen angesichts dieses schrecklichen Geschehens empfand, versuchte der Kelosker, es für sich so zu interpretieren, dass er es verstand und damit umgehen konnte.

Für Rhodan starben mit jedem Sonnensystem, das aus der Ortung verschwand, Millionen von Lebewesen. Gholdorodyn sah etwas anderes darin: eine bizarre Transformation, die zu einer nie von Menschen beobachteten, außergewöhnlichen Evolution des Universums gehörte.

Oder dachte Rhodan viel zu kompliziert? Wollte der Kelosker mit seinen Worten schlicht und ergreifend Trost spenden? Das grauenvolle Geschehen relativieren?

Rhodan machte sich nichts vor. Genau das zeigten die Holos. Er konnte nicht sagen, was genau dort im Einzelnen geschah, aber er sah die Auswirkungen.

»Das ist nicht dein Ernst.« Er schaute wieder zu dem Kelosker hoch, versuchte, ihm in die elliptischen Augen zu sehen. Irgendwie gelang es ihm nicht. »Für mich zeigen diese Bilder nur Chaos, Zerstörung und Tod.«

Mutlos schüttelte er den Kopf. Begriff Gholdorodyn überhaupt, was er damit sagen wollte?

Er bezweifelte es. Kelosker dachten völlig anders.

Endlich entschloss sich Gholdorodyn, seinen Blick zu erwidern, und Rhodan sah etwas in den etwa 35 Zentimeter großen Augen, das ihm Angst machte. Ein gewisses Verständnis für das, was dort geschah. Mehr noch. So etwas wie ... Ehrfurcht?

»Ich bin anderer Meinung«, erwiderte der Kelosker. »Eine Materiesenke entsteht. Das ist für sich genommen ein produktiver Vorgang. Was sehen wir? Eine Umwandlung, die sich dem menschlichen Verstehen entzieht und die man vielleicht als Zerstörung deuten kann.«

Eine Materiesenke, dachte Rhodan. Nach allem, was ich weiß, ist eine Materiesenke die nächste Entwicklungsstufe einer negativen Superintelligenz. Kein Wunder, dass Cadabb sie instrumentalisieren möchte.

Cadabb, der wie die Leere ist.

Cadabb, der Chaotarch.

Auch die Mächte des Chaos benötigten Nachwuchs, um sich den Mächten der Ordnung entgegenstemmen zu können.

Eine Materiesenke war der Gegenpol zu einer Materiequelle. Aus einer Quelle konnte sich ein Kosmokrat, aus einer Senke ein Chaotarch entwickeln. Zwei entgegengesetzte Pole. Die nicht unbedingt Kontrahenten waren, so viel hatte Rhodan mittlerweile begriffen.

Aber Orpleyd entwickelte sich nicht zu einer normalen Materiesenke. Rein optisch sahen diese Endprodukte der Evolution des Universums aus wie graue Schleier, in denen Lichteruptionen auftauchten, wobei sich ihre Erscheinung sowohl im Detail wie im Gesamteindruck permanent änderte. Sie waren für Menschen visuell nicht von Materiequellen unterscheidbar.

Die Materiesenke Orpleyd sollte in den Katoraum versetzt werden, unter allen Grund, in dem sie dem Zugriff der kosmischen Mächte entzogen wurde. Das war der Wunsch der Superintelligenz KOSH.

Perry Rhodan wusste, dass Ordnung und Chaos – Kosmokraten und Chaotarchen – zwar Gegensätze waren, aber sich auch gegenseitig bedingten. Ohne das eine gäbe es das andere nicht. Aber hier und jetzt sah er nur das Chaos des Untergangs. Die Entstehung der Materiesenke konnte nicht verhindert werden. Also galt es zu retten, was zu retten war.

Milliarden von Leben, die bei der Entstehung einfach ... verlöschen würden. Verschwinden wie die Sonnensysteme aus den Holos.

Wie Ameisen, wenn der Gärtner sich entschloss, den Boden abzutragen, um einen Teich anzulegen.

»Deine Sichtweise ist beschränkt«, sagte Gholdorodyn. »Du siehst das Ende, den Tod von Lebewesen. Ich sehe etwas anderes.«

»Ach ja?«, sagte Rhodan.

»Ein nicht mit menschlichen Maßstäben zu bewertendes Ereignis. Eine Erhabenheit von fast schon außer-kosmischer Intensität.«

Rhodan lauschte tief in sich und erschauderte. Er musste gestehen, dass der Kelosker nicht völlig unrecht hatte. Tief in seinem Inneren empfand er etwas Ähnliches.

Und verdammte sich für diese Empfindung.

Was ist aus mir geworden?, fragte er sich. Was habe ich getan, um auch nur ansatzweise so zu denken?

 

*

 

Die RAS TSCHUBAI stand außerhalb von Orpleyd, an dem Ort 85.000 Lichtjahre oberhalb der Galaxis, an dem zu Beginn der momentanen Vereisungsphase Orpleyds die Konferenz der Todfeinde stattgefunden hatte. Rhodan hütete sich, Ausflüchte zu suchen. Die Verhandlungen hatten ein anderes Ende gefunden, als er erhofft hatte, waren gescheitert. Die Teilnehmer waren abgereist.

Was daraus werden würde, blieb offen. Die Karten waren neu gemischt, Rhodan hatte weder die Gyanli noch die Tiuphoren auf seine Seite ziehen können. Immerhin würde Attilar Leccores Stimme nun bei den Tiuphoren gehört werden – und auch, was sich daraus ergeben würde, konnte niemand vorhersagen. Der Gestaltwandler hielt sich momentan bei Paddkavu Yolloc auf dessen SHEZZERKUD auf, die sich auf dem Rückweg zu ihrer Flotte befand. Pey-Ceyan begleitete Leccore. Sie hatte ihm angeboten, mit ihm zu gehen, und er hatte gerne akzeptiert.

Leccore, dachte Rhodan. Und Pey-Ceyan. Irgendetwas verbindet sie. Sie scheinen sich gesucht und gefunden zu haben. Er fragte sich, ob mehr dahintersteckte als reine Pflichterfüllung.

Rhodan richtete den Blick wieder auf die Holos. Er wusste, die Materiesenke würde unausweichlich entstehen. Eigentlich hatte die Entstehung bereits begonnen. Für die Zuschauer von außerhalb der Galaxis geschah alles in Orpleyd extrem verlangsamt, weil die Galaxis vereist war.

Der Prozess der Transformation lief und war nicht mehr umkehrbar.

Was bedeutete das für die Sterneninsel und all ihre Bewohner?

Rhodan atmete tief durch und stellte sich die Auswirkungen vor.

Die Völker von Orpleyd würden untergehen, falls sie nicht in den Staubgürtel um die Galaxis flüchteten.

Würden sie sterben? Oder verwandelt werden?

Rhodan rief sich zur Ordnung. Es half nichts, wenn seine Gedanken einzig und allein um diese Frage kreisten. Das war wohl Interpretationssache.

Aber eines war klar. Wenn nichts geschah, würden sämtliche Lebewesen in den Prozess gezogen werden und Teil der Materiesenke. Das Leben, die bewusste Existenz, würde umgegossen werden.

Umgegossen. Was für ein Ausdruck für den Untergang einer Galaxis!

Vielleicht musste er sich bemühen, seinen Blickwinkel zu ändern. Wenn es ihm gelänge, diese Transformation nicht mehr nur als das Sterben unzähliger Lebewesen aufzufassen und er sie stattdessen als Weiterentwicklung sähe?

Wie sähe die Alternative zur geordneten Entstehung einer Materiesenke aus? Bestand sie nicht aus der völligen Vernichtung von Orpleyd, aus einem Sterben als Ende des Seins?

Manchmal wünschte sich Rhodan, er wäre nie in die STARDUST gestiegen, nie zum Mond geflogen, hätte dort nie die Arkoniden gefunden und das Tor zum Weltraum aufgestoßen. Aber auch zu diesem Verlauf gab es eine Alternative. Er hätte die Menschheit nie vereinigt, und sie hätte sich möglicherweise in einer anderen Zukunft mit einem Atomkrieg selbst ausgelöscht.

War diese Alternative wünschenswert?

Selbstverständlich nicht.

Er versuchte, seine Gedanken zu bündeln, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Holos, auf die aktuelle Lage in Orpleyd.

Der Schnitter war aktiviert, jenes kosmische Monsterwerkzeug, das von den gyanen Wissenschaftlern als Sextafrequenz-Separator bezeichnet wurde. Er diente dazu, die ÜBSEF-Konstante eines Lebewesens schlagartig vom Körper zu trennen. Und genau das tat er mit Perfektion.

Wenn der Schnitter zuschlug, erfuhr das Neuralsystem des betroffenen Lebewesens die gewaltsame und unvorbereitete Entfernung jener Konstanten, mit der es verflochten gewesen war. Infolge des Schocks stellte es alle Steuerbefehle ein und das von den neuronalen Grundlagen erzeugte Basis-Bewusstsein starb.

Die Wissenschaftler hatten für den Vorgang an sich den Begriff Komplex-Neuronale Emanation geprägt und bezeichneten die Auswirkungen als Modulparstrahlung-Absenz-Reflexschock, kurz: MARS oder MAR-Schock. Das waren aber nur wieder einmal verharmlosende Bezeichnungen.

Das Ergebnis war nichts anderes als der körperliche Tod des betroffenen Intelligenzwesens. In Orpleyd fand derzeit ein körperliches Massensterben statt, während der Schnitter vom Trallyomsystem aus immer weiter nach außen griff.

Wobei allerdings zu bedenken war, dass die Bewusstseine weiterhin existierten, nur eben körperlos. Für Rhodan lautete die Frage, ob sie dabei eine Art Individualität bewahren konnten. Die Abtrennung der Bewusstseine von den Körpern war jedenfalls in vollem Gange und würde noch lange andauern. KOSH benötigte diese ÜBSEF-Konstanten, diese mentale Energie von Intelligenzwesen, um die endgültige Wandlung zur Materiesenke zu vollziehen.

Das war der Grund für die Kampagnen der Tiuphoren gewesen, die nichtsahnend im Auftrag von KOSH durch das Universum gezogen waren: Bewusstseine für die schlafende Superintelligenz zu sammeln. Der Grund für Grausamkeiten ohne Ende, unter denen auch die Milchstraße hatte leiden müssen. Zweimal. Vor zwanzig Millionen Jahren und in der jüngsten Vergangenheit.

Rhodan hatte diese Grausamkeiten nicht vergessen. Konnte er die Weiterentwicklung einer Superintelligenz fördern, die ihre Existenz solchen Gräueltaten verdankte?

Wie sieht die Alternative aus?, fragte er sich erneut. Wir können nichts mehr an den ändern, was KOSH vor Jahrmillionen so perfide eingefädelt hat. Nun geht es darum, den Untergang der gesamten Galaxis zu verhindern. Zumindest jenen Wesen, die sich nicht transformieren lassen wollen, die Alternative des Staubgürtels zur Verfügung zu stellen, der vielleicht – nur vielleicht – nicht mit in den Katoraum gerissen werden wird.

Er schloss wieder die Augen. Einen Moment lang schämte er sich zutiefst für diesen Gedanken. »Was geschieht dort?«, murmelte er so leise, dass nur Gucky ihn verstand.

Der Mausbiber schaute zu ihm hoch. »Wir können nur beobachten, Großer.«

»Ich weiß, Kleiner. Nur beobachten, so gut es geht. Aber wir verstehen nicht, was wir sehen.«

»Das stört mich genauso wie dich. Orpleyd stirbt, und wir können nichts dagegen tun.«

Es war unmöglich, einen Gesamtüberblick zu gewinnen. Nur eins war klar.

Sichu Dorksteiger sprach es endlich aus, und Rhodan wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, warum er diese Frau liebte. Sie denkt wie ich. Sie versteht mich. Wenn es einen Seelenpartner für mich gibt, dann sie.

»Ich verstehe es nicht«, sagte Sichu. »Ich sehe nur, dass dort ungefragt und unfreiwillig Intelligenzwesen ermordet werden, im Sinne eines höheren, nicht legitimierten, völlig irrwitzigen Plans. Und das stört mich.«

2.

RAS TSCHUBAI

 

Rhodan wusste, wie viel Zeit und Kraft es Sichu gekostet hatte, sich aus der Unterdrückung ihres Volkes durch die Frequenz-Monarchie zu lösen. Mit wie viel Abscheu es sie erfüllte, wann immer sie sich daran erinnerte, was ihr angetan worden war. Und das Ausmaß und die Vielschichtigkeit an Unterdrückung, die sie in Orpleyd erlebte, übertrafen ihre eigene Geschichte bei Weitem. Nein, sie konnte beim besten Willen nicht ruhig bleiben.

Er verstand sie. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, sie an sich gedrückt. Aber das würde sie nicht wollen, nicht inmitten der Zentrale, nicht zu diesem Zeitpunkt.

»In der Galaxis geht etwas vor«, fuhr die Ator fort. »Sämtliche Messwerte spielen verrückt. Ich kann die eingehenden höherdimensionalen Signale nicht deuten. Die Werte springen, gehen in nie gesehene Frequenzen.«

»Ja«, sagte er nur. Alles innerhalb des Vereisungsbereichs, also innerhalb Orpleyds und der Staubbänder, geschah aus Sicht der RAS TSCHUBAI extrem langsam. Dadurch wurden auch die beobachteten Frequenzen beeinflusst. Dennoch vergingen Sonnensysteme in raschem Tempo. Sonnenmassen wurden mitgerissen in einen Prozess der Verwandlung, den, einmal angestoßen, nichts und niemand mehr stoppen oder aufhalten konnte. Es ging rasend schnell, und das, obwohl man es gewissermaßen von außen in Zeitlupe sah. Und doch würde es noch lange dauern, wegen der schieren Masse an Sonnen in Orpleyd.

Doch Sichu war Wissenschaftlerin, und ihr lag an genauen Zahlen. Die sie nicht hatte – was zu ihrer Frustration beitrug.

»Shydaurd hat uns zum Zeitablauf einige Informationen gegeben«, sagte Rhodan. »Ende Oktober hat der Schnitter seine Arbeit begonnen, aber das ist kein rasch zu bewerkstelligender Akt. Billionen von ÜBSEF-Konstanten werden kontaktiert, gesichtet, präpariert. Die eigentliche Separation ist eine Sache mehrerer Wochen, vielleicht von Monaten.«

»Wenn in Orpleyd vierhundertvierzig Milliarden Sonnensysteme innerhalb von etwa hundert Tagen verarbeitet werden sollen«, sagte Sichu leise, »also vier Komma vier Milliarden Sonnen pro Orpleyd-Tag, heißt dass, das wir bei einem mittleren Vereisungsfaktor von Zehntausend an Bord der RAS TSCHUBAI pro Tag das Vergehen oder Verschwinden von vierhundertvierundvierzigtausend Sonnen beobachten werden. Das sind gut dreihundert Systeme pro Minute!«

Bei Rhodan stellte sich leichter Schwindel ein. Er spürte das Entsetzen, das in ihren Worten lag.

Was sollte er darauf sagen? Dass man auch annehmen konnte, dass zum einen der Vereisungsfaktor höher als zwanzig Millionen war? Es hatte ja auch lange Zeiten angepassten Zeitablaufs gegeben.

Und dass zum anderen der Prozess in der Anfangszeit langsamer anlief? Damit ergaben sich eher fünfzig bis hundert Systeme pro Minute.

Aber das war erschreckend genug.

Eine Systemumwandlung im Sekundentakt!

Ob nun hundert oder dreihundert Sonnensysteme pro Minute aus Orpleyd verschwanden, und mit ihnen all ihre Bewohner ... eine Diskussion darüber war nichts als Augenwischerei, die nichts an der eigentlichen Bedeutung der komplizierten kosmischen Vorgänge änderte. Wollte er sich mit Sichu wirklich auf solche Scheingefechte einlassen?

Rhodan sah wieder zu den Holos. Wo eben noch Sonnen zu sehen waren, war im nächsten Moment ... nichts mehr. Zumindest nichts, das man mit den höherdimensionalen Messsystemen der RAS TSCHUBAI wahrnehmen oder gar bestimmen konnte.

»Oh, là, là«, sagte Gholdorodyn.

Rhodan zwang sich, den Kelosker nicht anzusehen. Ich verstehe ihn nicht, und ich will ihn auch gar nicht verstehen.

Doch so rasant das alles vor sich ging – und das war die schwache Hoffnung, die Rhodan hegte –, es beschränkte sich momentan auf einen winzigen Bereich Orpleyds. Orpleyd war riesig, und ein einzelnes Sonnensystem war nur eine Winzigkeit in der Weite der Galaxis.

Die Kosmokraten und wir, dachte Rhodan. Die Ameisen und der Garten. So mag der Luftzug eines Laubbläsers für einige winzige Käfer ein tobender Orkan sein, doch wenn dies irgendwo in Terrania geschieht, spielt es für den überwältigen Großteil der Bewohner – und der Käfer – in dieser Metropole keine Rolle.

Rhodan trat näher an Sichu, das war alles, was er sich erlauben durfte. Obwohl ihm seinerseits auch ihre Umarmung gutgetan hätte. Er war hilflos angesichts dieser Katastrophe. Er musste zusehen, wie immer mehr Systeme in Orpleyd vergingen, verwandelt wurden, wie die Sternen- und Planetenmassen in den Umwandlungsprozess hineingerissen wurden. Und die Bewusstseine der unzähligen Bewohner.

Wie viele Lebewesen sterben in diesem Augenblick, in dem ich untätig auf die Holos starre?, fragte er sich. Und was können Wesen wie ich gegen solch ein Geschehen tun?

 

*

 

Rhodan schüttelte sich, versuchte, sich von diesem schrecklichen und doch so faszinierenden Anblick zu lösen. Es gelang ihm nur unter größten Mühen.

Aber eine andere Frage brannte in ihm, eine Frage, die höchste Bedeutung für das Schicksal seiner Menschheit hatte.

Er sah Sichu an, dann Gucky. Deren Augen waren genauso leer wie die seinen.

»So unpassend die Bemerkung sein mag«, sagte er, »was bedeutet es für die Milchstraße, wenn hier eine Materiesenke entsteht? Welche Auswirkungen wird es auf unsere Heimat haben? Im kosmischen Maßstab gesehen liegt die Milchstraße nicht so weit entfernt, dass sie außerhalb des Einflussbereichs der Materiesenke wäre.«

Er dachte an die Materiesenke Jarmithara, die näher an der Milchstraße lag. Aber sie war eine alte Materiesenke. Die Terraner konnten nicht wissen, ob eine neu entstehende Materiesenke möglicherweise viel aggressiver war. Außerdem war Jarmithara nicht in Erranternohre entstanden, einer 43 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernten Galaxis, sondern von den Chaotarchen dort später platziert worden. Wie sich die Neuentstehung einer Materiesenke auf die kosmische Umgebung auswirkte, wusste niemand an Bord der RAS TSCHUBAI.

Gucky gab sich einen Ruck. »Solche Grenzen kapiert eh keiner«, sagte er flapsig.

musste