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Mary Reynolds Thompson

Der Ruf der
wilden Seele

Wie uns die Landschaften der Erde
unsere Ganzheit zurückgeben

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Bücher haben feste Preise.

Mary Reynolds Thompson

Der Titel des englischen Originals lautet »Reclaiming the Wild Soul«, erschienen 2014 bei White Cloud Press, Ashland, Oregon, USA.

© für die deutsche Ausgabe Neue Erde GmbH 2018

Titelseite:

Satz und Gestaltung:

eISBN 978-3-89060-328-5

Neue Erde GmbH

Für meinen Mann Bruce und meine Mutter Barbara –
ich widme euch dieses Buch
von ganzem wildem Herzen.

Gepriesen sei die wilde Seele

Gepriesen sei die wilde Seele für ihre Berge und Täler, ihre Flüsse und Stromschnellen; für ihre Liebe zu tiefen Höhlen und dunklen Wäldern; für ihre weiten, abwechslungsreichen Landschaften, die sich unter Vater Himmel hinstrecken.

Gepriesen sei die wilde Seele für ihre Schönheit, die wie Espenlaub zittert und grimmig ist wie eine Habichtmutter. Gepriesen sei sie dafür, dass sie Käfigen entflieht und fesselnde Ketten zerreißt; dafür, dass sie mit ausgebreiteten Flügeln auf den Wellenbewegungen der Luft emporsteigt. Keine Bühne präsentiert Tänzer anmutiger als sie.

Gepriesen sei die wilde Seele für ihre Verflochtenheit, die vielschichtiger ist als der Damm der Biber und komplexer als der Hügel der Termiten. Gepriesen sei ihre Ganzheit, in der kein Teil außen vor bleibt und alles dazugehört.

Die Dunkelheit zieht herauf. Angesichts unseres menschlichen Fehlverhaltens erfüllen düstere Vorahnungen mein Herz.

Doch ich habe Vertrauen.

Und ich sage euch jetzt:

Ich glaube an die wilde Seele.

Sie sei gepriesen.

Inhalt

Vorwort von Lorraine Anderson

Vorwort: Die Geschichte meiner wilden Seele

Einleitung: Die Reise durch die Seelenlandschaften

Teil 1: Wüsten

1. Stille

2. Durst

3. Einfachheit

4. Klarheit

5. Leere

6. Vergänglichkeit

Teil 2: Wälder

7. Geheimnis

8. Weisheit

9. Einzigartigkeit

10. Schatten

11. Verwurzelt sein

12. Sichtbarwerden

Teil 3: Flüsse und Meere

13. Ursprung

14. Tiefe

15. Fluss

16. Ausdruckskraft

17. Ebbe und Flut

18. Sehnsucht

19. Gleichgewicht

20. Großzügigkeit

Teil 4: Berge

21. Festigkeit

22. An die Grenzen gehen

23. Achtsamkeit

24. Sichtweise

25. Demut

26. Reibung

27. Einfluss

Teil 5: Grasland

28. Zugehörigkeit

29. Sinnlichkeit

30. Widerstandsfähigkeit

31. Freiheit

32. Schönheit

33. Offenheit

Was nun? – Am Rand der Wildnis entlanggehen

Die zehn Prüfsteine der wilden Seele

Weitere Quellen

Danksagungen

Anmerkungen

Über die Autorin

Vorwort

Ich verbrachte meine Kindheit auf einer vierzig Ar großen Hühnerfarm im Santa Clara Valley in Kalifornien, zu jener Zeit, in der es noch als das »Tal der Seligkeit« bekannt war. Meine drei Geschwister und ich kletterten auf Bäume, fingen Kaulquappen und trampelten Plätze zum Spielen ins hohe Gras. Im Frühling blühten Obstbäume so weit das Auge reichte. In den ersten neun Sommern meines Lebens zelteten wir in Cedar Grove, das heute zum Kings Canyon Nationalpark gehört. Ich erinnere mich an den Duft der Weihrauchzeder in der Sonne, an den strahlend blauen Himmel über den hohen Bäumen, an das Rauschen des Flusses, an die Gewitter, die die Wege zum Zeltlager in reißende Ströme verwandelten.

Später zogen wir in die Gegend nördlich von Lake Tahoe, wo ich morgens um halb sechs aufstand und durch einen Pinienwald, der von neuen Asphaltstraßen und nachgebauten Schweizer Chalets durchschnitten war, zur Hauptstraße ging. Während ich auf den gelben Schulbus wartete, der mich zur nächstgelegenen Highschool brachte, die sich eine Autostunde entfernt in Reno, Nevada, befand, schaute ich über den See, wobei mir im eisigen Wind fast die Ohren abfroren. Das Wasser hatte jedes Mal ein anderes Blau – an manchen Tagen vom Wind gepeitscht, an anderen Tagen still und spiegelglatt, und während ich mit meinen Augen den See einsog, spürte ich, wie mein Herz so tief und wild wurde wie der See. In den Jahren am College in Salt Lake City erlebte ich zum ersten Mal, was für ein Gefühl es ist, in einem Schlafsack in der roten Steinwüste im Süden von Utah aufzuwachen und zu den vom Wind gemeißelten Sandsteinbögen zu wandern. Die Wüste wurde zu meinem heiligen Gebiet.

Mary Reynolds Thompson würde dies die Geschichte meiner wilden Seele nennen. Durch ihr mutiges und einzigartiges Buch habe ich erkannt, dass diese Landschaften – Wüste, Wald, Gewässer, Berge, Grasland – mit dem Innersten meines Wesens verwoben sind. Es ist wahr: Meine wilde Seele hat mich bewogen, mich einer Lebensweise zu entziehen, die Profit, Schnelligkeit und Effizienz über die Schönheit und Gesundheit der natürlichen Welt stellt. Wie ich meiner wilden Seele gerecht werden kann, während ich meinen Weg in dieser Welt gehe, ist für mich genauso eine grundsätzliche Frage wie für Thompson und vielleicht auch für dich. Ich fing an, von Frauen verfasste Texte über die Natur zu sammeln, und ließ irgendwann mein altes Leben hinter mir, das daraus bestanden hatte, Computerhandbücher in Silicon Valley zu lektorieren. Mit Mitte Fünfzig fand ich den Weg zurück in das weite und fruchtbare Willamette-Tal von Oregon, in dem mein Leben reich und fruchtbar geworden ist.

Wie kannst du deiner eigenen wilden Seele gerecht werden? Dieses Buch ist ein guter Anfang. Mary Reynolds Thompson versteht besser als alle anderen, die ich kenne, dass ebenso wie Pflanzen und Tiere, auch das Wetter und die Jahreszeiten ihre Entsprechung in uns haben; die Landschaften der Erde sprechen zu uns. Der Ruf der wilden Seele sagt uns, wie wir sie hören können und warum das wichtig ist. Wie sie glaube auch ich, dass in der heutigen Zeit, in der »jeder Teil der Erde bedroht ist«, eine gesündere Lebensweise in der Seele eines jeden einzelnen ihren Anfang nehmen muss. »Das Bewusstsein unserer Einheit mit der natürlichen Welt … muss zum Leitprinzip unseres Lebens und unserer Zeit werden«, schreibt Thompson.

Und sie sollte es wissen. Von den wilden Gegenden der Erde geschult – indem sie im Kajak über die donnernden Stromschnellen des Flusses Klamath hinabfuhr, indem sie voll unbändiger Freude und in Todesangst während eines Gewitters auf dem Gipfel des Mount Shasta stand oder indem sie in brütender Hitze durch die Badlands in South Dakota wanderte oder sich auf einer Wanderung durch die Prärie einem jungen Rotluchs gegenübersah –, versteht Thompson, dass die Hetze und Durchrationalisierung unseres Lebens – ganz genauso wie Fracking oder ein Tagebau, der ganze Berggipfel abträgt – schwere Verletzungen nicht nur der Integrität der Erde, sondern ebenso unserer eigenen darstellen. Sie weiß, dass die Wüste das Bild für Großzügigkeit und Einfachheit sein kann und dass wir uns in einem Wald des Unwissens verlieren können; sie weiß, was die Ströme und Meere uns über den »Flow« erzählen können oder wie Berge uns anspornen, uns zu unseren wahren Herzensanliegen und zum Lebenssinn hinaufzubewegen, oder was das Grasland uns über das Zurückgeben lehren kann.

Die Reise zur Wiederherstellung der Seele, auf die du dich nun begibst, ist von größter Wichtigkeit. Die Zeit ist reif, und der Einsatz ist hoch. Denn Thompson schreibt: »Wie viele der wilden Gegenden der Erde werden wir wohl noch zerstören, wenn wir uns nicht unsere eigene innere Wildheit zurückholen und sie lieben lernen?« Lasse die »große Wiederverwilderung unserer Welt« bei dir beginnen, bei deinem Schreibstift und deiner Reise und deiner Bereitschaft, das Leben langsamer anzugehen, hinauszugehen und dich »von etwas Größerem und weniger Gezähmtem« als deinem kleinen, abgetrennten Selbst einnehmen zu lassen.

Lorraine Anderson

Vorwort

Die Geschichte meiner wilden Seele

Sage mir, in welcher Landschaft du lebst,
und ich sage dir, wer du bist
.

José Ortega y Gasset

Ich glaube, jeder von uns kann eine Geschichte von seiner wilden Seele erzählen: eine Erfahrung in der Natur, die dazu beigetragen hat, uns zu der Person zu machen, die wir sind und wie wir leben. Meine eigene Geschichte wurzelt an einem besonderen Ort in Italien, wo ich als kleines Mädchen gewesen war. Der Versuch, mir mein Leben ohne Positano vorzustellen, ist wie der Versuch, mir mein Leben ohne Vater und Mutter oder mein Elternhaus vorzustellen. Es ist unmöglich. Man könnte sagen, dass Positano der Ort ist, an dem dieses Buch vor vielen Jahren seinen Anfang nahm. Man könnte sagen, dass es der Ort ist, an dem alle meine Geschichten ihren Anfang nehmen.

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Der Mond glitzert auf dem Wasser, fliegende Fische springen aus silbernen Wellen, und ein Strand aus Kieselsteinen bringt Glasscherben aus dem Meer zum Vorschein, die, von den Wellen geglättet, wie Edelsteine funkeln; ein Schwein namens Romana, auf dem ich über Gebirgspfade reite.

Ich bin zwar in London aufgewachsen, doch es war das bunte Dorf Positano an der Amalfi-Küste in Süditalien, wo meine wilde Seele erwachte.

Hier lernte ich als kleines Kind in den Ferien, die Berge und das Wasser zu lieben und die Kopfsteinpflastergassen, die vom süßen Saft der Weintrauben klebrig waren. Die Weisen sagen, in unsere Seele sei eine Lebenslinie eingraviert. Wenn dem so ist, dann hat Positano diese Linie in mich hineingezeichnet.

Jener Ort hat mein Wesen zutiefst geprägt. Er hat mir Träume und Visionen, den wilden Atem des Meeres und der Berge und das Smaragdgrün seiner Grotten geschenkt. Positano war das Gegenstück zu meinem Alltagsleben, das aus Kindermädchen und Mittagsschlaf bestand und später aus den Glocken des Klosterinternats und gestärkten Schuluniformen.

Ich liebte diesen Ort abgöttisch und voller Leidenschaft.

Sprache und Landschaft wurden zu den beiden Strömen, die mein Leben geformt haben. Der Sprache folgte ich anfangs auf traditionellem Weg: ein Literaturstudium, anschließend Werbetexten und Marketing. Wie so viele, lernte auch ich, mein Wesen zu zügeln und zu beschneiden, um den Anforderungen der von Menschen gestalteten Welt zu entsprechen. Doch dieser kurzgeschorene Rasen reichte mir schon bald nicht mehr. In mir wurde ein Loch immer größer. Ich begann zu trinken, suchte Lebendigkeit auf heimliche und ungesunde Weise – und lebte mein Leben im Schatten.

Heute verstecke ich mich nicht mehr. Ich fühle mich wie die Frau in Clarice Shorts Gedicht »The Old One and the Wind«, die am Rande der vertrauten Welt steht und die Elemente wie einen geliebten Freund empfängt. Mein Weg zurück zur wilden Seele hat mich tief in die berauschenden Landschaften der Erde hineingeführt. Seit dreißig Jahren sind diese wilden Gegenden meine mir eng verbundenen Begleiter.

Ich bin durch den Himalaya gewandert, bin mit dem Schlauchboot über die Stromschnellen des Klamath gefahren, habe mit dem Rucksack die Gebirgskette der Grand Tetons erklommen und mich auf dem Fluss Irrawaddy in Birma treiben lassen. Ich habe der glühenden Hitze der Badlands und den eisigen Winden Patagoniens getrotzt, und ganz allmählich wurde ich von etwas aufgesogen, das so viel größer und ungezähmter ist als mein abgetrenntes kleines Selbst.

Später löste sich auch meine Sprache von allem Einengenden und Vorhersagbaren. Ich kehrte dem Marketing den Rücken und machte eine Ausbildung zur Gedichttherapeutin, wobei ich Gedichte wie einen unbekannten Wanderweg erforschte. Gedichtzeilen verfolgten mich wie die Bilder von Positano – Villen in der Farbe von gebrannten Mandeln, Fischerboote so bunt wie Wachsmalkreiden – und blieben unauslöschlich in die Geografie meines Herzens eingekerbt.

Naturgedichte wurden zu meiner großen Leidenschaft. Doch über die Poesie der Buchseite hinaus wurde mir bewusst, dass die natürliche Welt selbst das großartigste Gedicht ist. Die Bilder und Metaphern der Erde sprechen eine mächtige Sprache: Sie haben mir gezeigt, wie ich aufblühen und ganz werden kann.

Heute arbeite ich mit Menschen, die nach einem festen Halt, nach etwas Echterem und Wichtigerem als einer Welt aus Beton und Plastik suchen. Ich schreibe dieses Buch für sie, für uns alle, die wir uns danach sehnen, die Fenster und Türen aufzureißen und die wilde Seele in unser Haus zu lassen.

Dieselben Mächte, die die Erde erschaffen haben, haben auch uns erschaffen. Wir sind viel großartiger, als wir glauben.

In Positano war das Licht weich und golden. Als ich ein Kind war, strömte es in meinen Körper. Jetzt begrüßt mich dasselbe samtig goldene Licht jeden Tag im Norden Kaliforniens, wo ich heute lebe.

Als mein Leben eng und dunkel geworden und ich gezwungen war, mich mit meiner Sucht auseinanderzusetzen, wurde mir klar, dass das Licht noch immer in meinem Inneren war – es war nie erloschen. Es war da, um mir auf meinem Lebensweg zu leuchten. Es ist dasselbe Licht, das mich daran erinnert, dass das Leben ein wildes Abenteuer voller Göttlichkeit und Wunder ist.

Ich weiß, wie weh es tut, gezähmt zu werden, entwurzelt und geformt, um sich den engen Verhältnissen unserer modernen Welt anzupassen. Innere und äußere Natur entwickeln sich jedoch immer gemeinsam. Wir sind Teil dieser staunenswerten Welt, die wir bewohnen; ihre schöpferische Kraft ist unser Geburtsrecht.

Wenn du spürst, wie dein Körper vom Atem der Wildnis durchdrungen wird, holst du dir deine natürliche Ganzheit zurück. Dann wirst du vom weiten Grasland eingehüllt und von der Bedächtigkeit und Dauerhaftigkeit der Berge umarmt. Dann hörst du in deinem Herzschlag das donnernde Rauschen des Meeres, das dich daran erinnert, dass dein Leben noch immer ein Teil der wilden Erde ist.

Du brauchst nur die Hand nach ihr auszustrecken.

Einleitung

Die Reise durch die Seelenlandschaften

Erinnere dich der Erde, deren Haut du bist…

Joy Harjo

Jede spirituelle Reise ist im Grunde die Suche nach Ganzheit. Wir sehnen uns danach, uns als Teil des großen Geheimnisses des Lebens zu fühlen. Wir wollen uns lebendig und zugehörig fühlen. Wir suchen unseren Platz und einen Sinn im Leben. Aber wie gehen wir vor? Wie erinnern wir uns daran, wer wir sind? Welcher Weg bringt uns nach Hause?

Dieses Buch zeichnet eine Reise in die wilden Gebiete der Seele auf, die durch fünf archetypische Landschaften führt: Wüsten, Wälder, Meere und Flüsse, Berge und das Grasland. Ich nenne sie »Seelenlandschaften«, da sie die Verschmelzung der inneren und der äußeren Natur sind – die Orte, an denen das Selbst und die Erde aufeinandertreffen. Wenn du in ihre Tiefen eintauchst, wirst du die Bilder der Landschaften in dir und die wilde Weisheit und Kraft im Innersten deines Wesens zum Leben erwecken.

Wir Menschen wurden schließlich nicht auf die Erde gebracht; wir sind aus ihr entstanden. Jeden Tag nähren wir uns von einem Teil der Erde, um am Leben zu bleiben. Die herrlichen Landschaften unseres Planeten sind unsere Urahnen; sie traten wie wir aus der Erde hervor, und ihre Kräfte rufen tiefe Gefühle in uns wach sowie Potentiale auf der bewussten wie auf der unbewussten Ebene.

Seit der Mensch vor ungefähr 200.000 Jahren ein Selbstbewusstsein entwickelte, sind wir darauf aus, uns mit diesen Landschaften zu verbinden – sie schlummern als Teil unseres angeborenen Musters, unserer Geburtsmatrix in unserem kollektiven Unbewussten. Der Kulturhistoriker Thomas Berry drückt es in Dream of the Earth so aus: »Wir müssen hinaus und zur Erde gehen – sie ist unser Ursprung – und sie um Führung bitten, denn die Erde enthält nicht nur die körperliche Gestalt, sondern auch die seelische Struktur jedes Lebewesens auf unserem Planeten.«1

Heute, da wir uns immer mehr Sorgen machen, wie weit wir uns von der natürlichen Welt entfernt haben, spüren wir das Bedürfnis, mehr Zeit in der Natur zu verbringen, etwa mit Wandern oder Gärtnern. Das ist ungeheuer wichtig. Doch dieses Buch will weit mehr: Es lädt dich dazu ein, das uralte Bewusstsein der Erde zu erspüren, das in dir – wie in uns allen! – steckt und zu dem du jederzeit und überall Zugang finden kannst – sogar mitten in der Stadt.

Die Landschaften, die du in diesem Buch erkunden wirst, sind weder rein äußerlich noch der Person fremd, die du bist. Stattdessen sind sie genauso mit dem Innersten deines Selbst verwoben wie die Sterne oder die salzigen Tiefen der Meere. Denn die erstaunliche Wahrheit ist, dass die Weisheit der Erde aus vier Milliarden Jahren in deinen Zellen gespeichert ist. Es ist an der Zeit, dass du dir der ganzen ungeheuren Landschaft deiner Seele bewusst wirst.

Die verwundete Wildnis

Es ist verständlich, wenn du es kaum erwarten kannst, dich auf deinen persönlichen Weg zu machen, doch es ist wichtig, dass du dir einen Augenblick Zeit nimmst, den Bezug zwischen deinem inneren Wesen und der äußeren Natur zu begreifen. Denn diese Bezogenheit ist der Kern der Reise, auf die wir uns in diesem Buch gemeinsam begeben werden.

Wenn man bedenkt, wie sehr wir in die Erde eingebettet sind – dass wir buchstäblich aus demselben Stoff wie Flüsse, Felsen und Wurzeln gemacht sind –, lässt sich erkennen, wie sehr die Trennung von dieser wunderschönen, fruchtbaren Welt unserer Seele schadet. Hast du schon einmal einen schrecklichen Unfall oder Verrat oder Verlust erlebt? Dann weißt du, dass man sich nach einem solchen Erlebnis leer oder traurig oder vielleicht sogar verloren fühlen kann. Es ist, als hätte ein Stück deiner Seele dich verlassen; als wärst du nicht mehr ganz.

Durch den Verlust unserer engen Beziehung zur Erde haben wir heutigen Menschen ein Trauma erlitten, das unsere wilde Seele dazu gebracht hat, sich abzuspalten. Wir mögen uns dessen nicht immer bewusst sein, da wir uns an unser schnelles, komplexes Leben voller neuester Technologien gewöhnt haben. Doch selbst wenn wir uns der Ursache unseres Schmerzes nicht bewusst sind, erleben wir die Trennungssymptome in Form von Entfremdung und Mangel an Lebendigkeit.

Die heutige Zeit mit ihrer mechanistischen Einstellung zeichnet sich durch bestimmte Dinge aus: Zweckmäßigkeit, Leistungsdenken, Normierung. Doch die wilde Seele – die du in Wahrheit bist – findet ihr Gefühl von Kraft und Schaffensfreude in der natürlichen Welt und braucht ganz andere Dinge, um zu gedeihen, nämlich schöpferisches Tun, Echtheit und Abwechslung. Wenn sie von der Erde abgeschnitten wird, verkriecht sich die wilde Seele wie ein verwundetes Tier. Dann fühlen wir uns unausgeglichen und abgesondert.

Unsere Seele sucht dann nach Mitteln und Wegen, die ihr ein Gefühl von wilder Freiheit geben. Die Sucht nach allem möglichen – von Alkoholsucht und Kaufzwang bis hin zu Internetsucht und Medikamentenabhängigkeit – ist ein häufiges Anzeichen für die Sehnsucht der Seele, sich von den tödlichen Aspekten der Moderne zu befreien. Doch diese Verhaltensweisen – die ich das »Leben in der Schattenwildnis« nenne – treiben uns nur noch weiter von unserem Ursprung fort. Am Ende sind wir gefangen, gezähmt und tief unglücklich.

Wie also können wir die verwundete Wildnis heilen? Wie können wir uns unsere wilde Seele wieder zu eigen machen? Die Antwort findet sich in uns selbst.

Kannst du dich an einen Augenblick in deiner Kindheit erinnern, in dem du in den Ästen eines Baumes gesessen oder den Wolken zugeschaut hast, während sie am Himmel vorüberzogen? Weißt du noch, wie lebendig deine Sinne damals waren? Wie friedlich und voller Möglichkeiten du dich gefühlt hast? Wie die Erde dich gehalten und getragen hat?

Auch jetzt kann etwas so Einfaches wie das sanfte Streicheln einer Brise oder der Anblick eines prächtigen Sonnenuntergangs dich daran erinnern, dass die Erde dich über die Grenzen deines Alltags hinausruft. Sie hält Weisheit für dein Leben bereit und verweist auf etwas Größeres und Lebendigeres in deinem Inneren. In dir ist etwas Wildes, Freies und Echtes, das sich danach sehnt, sich durch dein einzigartiges wildes Leben Ausdruck zu verschaffen.

Doch diese Augenblicke sind nur allzu flüchtig. Wenn wir wieder in unserer durchrationalisierten, schnelllebigen Existenz gefangen sind, wird unser Gefühl der Verbundenheit – wie die meisten Urlaubsfotos – zu einer angenehmen, aber unwirklichen Erinnerung.

Das Bewusstsein unserer Einheit mit der natürlichen Welt darf nicht länger in den Hintergrund gedrängt werden. Wenn wir für eine lebendige Zukunft sorgen wollen – nicht nur für uns selbst, sondern für die ganze Lebensgemeinschaft auf der Erde –, muss dieses Einheitsbewusstsein zum Leitgedanken unseres Lebens und unserer Zeit werden. Eben jetzt, in diesem Moment der Menschheitsgeschichte, ist es unabdingbar, eine Brücke über den nur in unserer Vorstellung existierenden Graben zwischen der menschlichen und der nichtmenschlichen Welt zu bauen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, die wilde Schönheit zu verlieren, die unsere innerste Natur und unsere größte Hoffnung ist.

Unsere Identität wiederzugewinnen – nämlich Teil der wilden und sich ständig weiterentwickelnden Erde zu sein –, das ist Anliegen und Zweck dieses Buches. Denn das ist es, wonach sich die menschliche Seele sehnt: selbst eine Naturgewalt zu werden, indem sie ihren instinktiven schöpferischen Ausdruck durch jeden einzelnen von uns freisetzt. Darin findet sie ihre Ganzheit.

Im Folgenden werde ich die notwendigen Grundlagen für die Reise erklären, die wir antreten werden. Ich werde erklären, wo wir stehen, und eine Karte vorzeichnen, wohin wir gehen und wie wir diese Gebiete erreichen können. Doch vorher möchte ich noch eine Frage beantworten: Wie kam es zu der Spaltung zwischen der Erde und dem Selbst, und was sagt uns das über unsere bevorstehende Reise?

Wie wir hierhergekommen sind

Für Hunderte von Generationen war die wichtigste Beziehung der Menschen die zur Erde. Unsere Vorfahren befassten sich auf unmittelbare und eng verbundene Weise mit dem Land, dem Wasser und den Lebewesen um sie herum. Nachts blickten sie zu den Sternen auf und erzählten sich Geschichten über ihren Platz im großen Ganzen. Das Leben war hart und manchmal brutal, doch sie stellten ihr Grundgefühl, einer Lebensgemeinschaft anzugehören, mit der sie unauflöslich verwoben waren, niemals infrage.

Vor ungefähr 10.000 Jahren fingen wir an, uns von Sammlern und Jägern zu Bauern zu entwickeln, und so änderte sich unsere gesellschaftliche Ordnung. Wir wurden im Bepflanzen der Erde immer besser und waren keine Nomaden mehr. Stattdessen errichteten wir feste Siedlungen und begannen, Zivilisationen aufzubauen. Wachsende Städte ermöglichten immer komplexere politische Strukturen sowie Kunst, Musik und Theater. Als die Sprache nicht mehr nur das gesprochene Wort war, sondern in Schriftform festgehalten wurde, begannen wir, Weisheit in Büchern zu suchen anstatt in den sich wandelnden Gestirnen, im Wispern der Blätter oder in den Pfotenabdrücken auf dem Weg.

Ab dem siebzehnten Jahrhundert mit seiner starken Betonung von Verstand und Wissenschaft wurde die Erde nicht länger als Quell geistiger Nahrung und Weisheit, sondern als Rohstofflieferant gesehen. Wir hielten uns für von der Erde getrennte und ihr überlegene Wesen, die weder ihren Gesetzen unterlagen noch ihren Reichtum erkannten. Also begannen wir damit, den Planeten auf immer zerstörerischere Weise auszubeuten. Und unsere Religionen förderten das noch. Das Heilige war nicht länger in der Weite der Prärien, Wälder und Meere zu finden, sondern in ein himmlisches Reich verbannt worden, das Paradies genannt wurde.

Nichtsdestotrotz lebten wir im neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch immer in einer einigermaßen wilden Welt. Es gab noch Gegenden, an denen es von Wildtieren wimmelte und an denen sich keine Menschen angesiedelt hatten. Die Meere waren noch voller großer Fische und nicht durch Plastik verseucht. Große Flüsse strömten noch ungezähmt, und dichte Waldgebiete bedeckten riesige Areale der Erde. Die meisten Menschen lebten auf dem Land, nicht in der Stadt, und das war bis dahin immer so.

In unserem jetzigen Jahrhundert tut sich ein ganz anderes Bild auf. Flüsse und Grasland, Berggipfel und Meere – jeder Teil der Erde ist bedroht. Die unberührte wilde Natur verschwindet um uns herum. Es wird immer schwerer, sich als Teil dessen, was Gary Snyder »das ganze Berg-und-Fluss-Mandala-Universum« nennt, zu fühlen. Auch wenn es notwendig ist, die Trauer über diesen Verlust bewusst anzunehmen, dient es weder uns noch der Welt als Ganzem, wenn wir uns von diesem Schmerz lähmen lassen.

Von den Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, können wir uns leicht überwältigt fühlen. Doch was wäre, wenn die Erde wieder verwildern zu lassen, damit beginnen würde, unsere Seele wieder verwildern zu lassen? Wenn wir die wechselseitige Verbundenheit aller Lebewesen wirklich begreifen, folgt daraus nicht, dass sich jede Veränderung in unserem Inneren im großen Ganzen widerspiegeln wird? Wenn wir uns wieder in den Rhythmen, in der Weisheit und in den Mustern verwurzeln, die diesen Planeten ebenso erschaffen haben wie unser eigenes Fleisch und Blut und unsere Gefühle, was ist dann für die Erde und all ihre Bewohner möglich? Was ist, wenn die Heilung der Welt tatsächlich in unserem Inneren beginnt?

Die Weisheit der wilden Seele

Auf unserer Reise durch die Seelenlandschaften entwickeln wir uns weiter. Wir verwandeln uns von dem kleinen, egozentrischen Selbst, das von der Erde und anderen Wesen getrennt ist, in das wilde und umfassendere »ökozentrische« Selbst, zu einem Teil eines beseelten Planeten.

DIE MODERNE WELTSICHT Egozentrisch/selbstbezogen

DIE WEISHEIT DER WILDEN SEELE ökozentrisch

Glaube: Trennung
Wir sind von der Erde getrennt. Was mit der Erde geschieht – und wie wir sie behandeln – hat keine Auswirkung auf unsere eigene Seele.

Glaube: Ganzheit
Unser Bewusstsein ist Teil des größeren Körpers und Bewusstseins der Erde. Was immer wir der Erde antun, tun wir uns selbst an.

Erfahrung: Entfremdung
Wir haben uns von der Erde entfremdet. Wir erleben eine innere Einsamkeit, das Gefühl, nicht gut genug zu sein, egal, wie viel wir erreichen oder besitzen. Wir sind von unserem Körper und unseren Gefühlen abgeschnitten.

Erfahrung: Zugehörigkeit
Wir gehören zu einem heiligen Planeten, auf dem alles von Bedeutung und Wichtigkeit ist. Wir sind ganz und gar lebendig, mit allem verbunden, Teil der größeren Gemeinschaft allen Lebens. Wir wurzeln in einem Gefühl von Ort und Sinn.

Wesen: gezähmt
Wir lehnen unser instinktives und ursprüngliches Selbst ab und stellen die Sicherheit der von Menschenhand erschaffenen Welt über die Natur und die Unmittelbarkeit des Lebens. Unser Verhalten ist häufig vorhersehbar und mechanisch.

Wesen: wild
Wir sind sinnliche, instinkthafte und intuitive Wesen. Wir ziehen Wissbegierde der Besitzgier vor. Quell unserer Schöpferkraft, Weisheit und Lebendigkeit ist die natürliche Welt.

Affirmation:
Ich löse mich von der Weltsicht der Trennung, Entfremdung und Zähmung.

Affirmation:
Ich erkenne die Weisheit der Ganzheit, Zugehörigkeit und Wildheit mit Freude an.

Tun wir also den ersten Schritt und begeben wir uns auf die Reise tief hinein ins Herz der Seelenlandschaften.

Indem wir den Weg nach innen gehen, betreten wir die Stille der Wüsten und das Geheimnis der Wälder, gehen wir in das Strömen der Flüsse und Meere, in die Kraft der Berge und in die offene Weite des Graslandes, die alle in uns wohnen. Das führt uns zu einer Wahrheit, die die Macht hat, die Art, wie wir leben, handeln und träumen, zu ändern: Wenn wir unser Einssein mit der Erde bewusst spüren, zapfen wir eine Vielzahl von Ressourcen und Quellen der Weisheit an, welche es uns ermöglichen, ein erfülltes und leidenschaftliches Leben als Mitschöpfer der großartigen und sich weiterentwickelnden Geschichte dieses Planeten zu führen.

Indem wir unsere wilde Seele wiedergewinnen, entdecken wir einen Weg, wie alles Leben blühen und gedeihen kann – auch unser eigenes.

Der Weg zurück nach Hause

Als ich anfing, auf eine Weise zu leben, die meiner wilden Seele entsprach, hatte ich das Gefühl, mich meiner Familie und meinen Freunden zu entfremden. Ich war wie der einsame Königspinguin, den ich einmal auf Gable Island an der Spitze der Inselgruppe Tierra del Fuego beobachtet hatte.

Er stand ganz still auf einem Kieselstrand am Beagle-Kanal. Seine runden schwarzen Augen hoben sich von seiner dotterfarbenen Zeichnung ab, und seinen Körper bedeckte ein struppiges Federkleid. Er konnte nicht mit den anderen Pinguinen Fische fangen, denn er war in der Mauser und hatte daher noch nicht den Wärmeschutz, den er für das eiskalte Wasser brauchte. Wie ich später erfuhr, bereitete das Wachsen der neuen Federn ihm Schmerzen.

Verwandlung ist selten einfach. Manchmal wünschst du dir vielleicht, zahmer und weniger lebendig zu sein. Aber vergiss nicht: Die Kraft der Erde steckt in dir und unterstützt dich in deinem Streben nach Ganzheit.

Das wurde mir in einem Traum, den ich hatte, als ich dieses Buch zu schreiben begann, sehr klar.

Ich schwebe mehrere Kilometer über der Erde und blicke auf etwas hinunter, das wie Ameisen aussieht, die aus dem glühenden Kern der Erde herauskrabbeln. Als ich näherkomme, sehe ich, dass es Frauen sind. Sie strömen aus der Mitte der Erde und bilden einen Kreis um den Erdball, wobei sie mit langen Stöcken einen rhythmischen Takt schlagen. Sie sind drahtig und haben eine aufrechte Haltung. Sie bilden einen schützenden Kreis der Liebe und Heilung um die Erde. Es sind feurige, unglaublich starke Kämpferinnen.

Diese Frauen stehen für alle von uns, die mit ihrer wilden Seele eng verbunden sind. Sie stellen die Stärke dar, die entsteht, wenn wir die »Ich-bin-heit« eines Berges oder Waldes für uns beanspruchen. Indem wir uns unser Geburtsrecht als Wesen der Erde zurückholen, werden wir zu zielgerichteten, leidenschaftlichen Wesen voller geballter Kraft.

Ganz gleich, ob du dich auf diese Reise begibst, weil du die Fesseln der heutigen Zeit abwerfen willst oder weil du eine engagierte Freundin der Erde bist und in deinen Bemühungen, die Welt zu verbessern, Unterstützung brauchst oder weil du dich einfach nur nach einer Wildheit sehnst, die dir mehr Kreativität, Freiheit und Mut gewährt – unabhängig von deinem Ausgangspunkt, wird diese Reise dich nach Hause bringen.

Durch deine Bereitschaft, dieses Buch aufzuschlagen, hast du schon den ersten Schritt hin zu einem leidenschaftlicheren und erfüllteren Leben gemacht. Ich glaube, du kannst den Ruf deiner wilden Seele schon spüren.

Die Planung der Reise

Dies ist ein Reiseführer zu deiner wilden Seele, und ich möchte dich ermuntern, ihn oft aufzuschlagen und zu nutzen. Sobald du dich mit den fünf Landschaften vertraut gemacht hast – entweder, indem du das Buch ganz durchliest, oder, indem du nur die kurzen Beschreibungen der Seelenlandschaften weiter hinten in dieser Einleitung liest –, kannst du die Reise von jedem beliebigen Ort aus antreten.