Inhalt



Dirk van den Boom

Kaiserkrieger: Sterbende Götter

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
September 2019

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-539-6
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-686-7

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.

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1

Yun-Suk Choi wusste, dass es für ihn nur übel enden konnte.

Als die Peitsche das zweite Mal seinen Rücken traf, spürte er, wie der grobe Wollstoff, dicht gewoben aus dicken Fasern, aufriss und die Fütterung darunter freigelegt wurde, die dünne Schicht aus Schafhaaren, die aus seiner Uniformjacke die ideale Kleidung für die kalten koreanischen Winter machte. Natürlich hatte man ihm nicht erlaubt, die Jacke auszuziehen, denn dann wäre die doppelte Bestrafung nicht möglich gewesen. Sie würden ihn peitschen, bis die Jacke hinten in Fetzen lag, und danach die Haut seines Rückens, bis er blutete. Erst dann würde Chungsa Cheong aufhören, wie es sein Befehl war. Der erste Teil der doppelten Züchtigung war dann absolviert.

Aber er hatte dann eine zweite Missetat begangen: Er hatte zugelassen, dass das wohlmeinende Geschenk des Geliebten Marschalls, die wunderbare, haltbare, wärmende Uniformjacke, in Fetzen ging. Ein Geschenk des Marschalls in Fetzen. Es war eine große Sünde, eine Verfehlung, die einen eklatanten Mangel an Respekt ausdrückte. Sicher, es war der Chungsa gewesen, der dafür unmittelbar Verantwortung zeigte, doch hatte er eine Wahl gehabt? Allein Chois Verfehlungen hatten den Feldwebel dazu gezwungen, die Strafe auszuführen, also lag die Verantwortung am Ende allein beim Gezüchtigten. Er hatte den Unteroffizier quasi gezwungen, das Geschenk des Marschalls zu zerfetzen und mit dem Blut seines Rückens und den gelösten Hautfetzen zu vermischen, sodass es nicht mehr zu gebrauchen war, nicht einmal mehr als Lappen.

Unverzeihlich? Nein. Der Geliebte Anführer, die Sonne des Berges Paektu, war nicht ohne Milde. Sein lächelndes Gesicht blickte auf sie alle hinab, unentwegt, von allen Seiten, und war es nicht von einem beständigen Ausdruck der Fürsorge gezeichnet? Viele Pinsel wurden geschwungen in den Malstuben, betrieben von den Mitarbeitern von Uriminzokkiri, und unablässig wurden die Plakate hergestellt, die allüberall in Chosun hingen – oder Baekye, wie es die Ureinwohner nannten – und von der Größe und der Güte des Geliebten Marschalls zeugten.

Unverzeihlich war seine Tat nicht. Er durfte Abbitte leisten, tätige Abbitte. Drei Monate im Umerziehungslager für eine Jacke, das war das übliche Urteil. Drei Monate harter Arbeit und harter Indoktrination, bis deutlich wurde, dass er sich für seine Verfehlungen schämte, die volle Verantwortung übernahm, um die Gnade des Vorsitzenden bat, der Sonne Chosuns, und diese dann, natürlich, erhalten würde. Denn ob er nun einen Fehler begangen hatte oder nicht, sein Songbun war tadellos, seine Herkunft, seine Zugehörigkeit zur höchsten aller Kasten dieses Reiches, denn er war mit den anderen durch die Zeit gereist und hierhergekommen, und allein das erhob ihn über alle anderen, deren Fehler es war, hier geboren worden zu sein und von keinem der Zeitreisenden abzustammen.

Ja, Leute wie er wurden ausgepeitscht.

Ja, Leute wie er mussten ins Lager.

Doch Leute wie er waren von den schlimmsten Strafen befreit. Sie wurden weder hingerichtet noch öffentlich gedemütigt, und gehörten sie, wie Choi, zum Militär, zur glorreichen Volksarmee, zum Kernstück des Staates, zum leuchtenden Instrument und Werkzeug des weisen und genialen Plans des Göttlichen Marschalls, dann war er viel zu wichtig, als dass man sein Leben verschwenden durfte.

Und Yun-Suk Choi, Leutnant der Armee, war zudem noch ein Offizier. Er hatte einen Fehler gemacht, doch ihm würde Gnade zuteilwerden, wenn er erst ausreichend Buße getan hatte.

Es knallte, als der Peitschenhieb ein weiteres Mal auftraf, und seine über ihm zusammengebundenen und an einem Eisenring an der Wand gefesselten Hände scheuerten in ihren Banden, als er unwillkürlich versuchte, dem Schmerz auszuweichen. Ein sinnloser Versuch, ein Reflex. Niemand entkam der gerechten Strafe des Vorsitzenden, niemand entzog sich seinem Willen. Auch Choi nicht, so gerne er es getan hätte. Und der Feldwebel verstand sein Handwerk. Es war sicher nicht das erste Mal für ihn.

Chois eigentliche Verfehlung – die zu dieser Strafe geführt hatte – wog schwer, er musste es einsehen. Eine Nacht nur mit der Tochter von Taechwa Lim, eine wunderbare, zauberhafte Nacht mit der wunderbaren, zauberhaften Yuna, die in allem so anders war als der herrische Oberst und deren weiche, warme Zuneigung er genossen hatte bis zur Neige. Es hatte sich gelohnt. Jeder Schmerz, jede Erniedrigung. Er dachte an Yuna und seine Pein schien sofort nachzulassen. Sie würde nicht ausgepeitscht, sondern, so hatte er gehört, zur Tante in die Hauptstadt geschickt, weit weg von der unwirtlichen Grenzregion, die, das war ganz offensichtlich, kein Ort für eine junge Dame von Rang war.

Weit weg von Leutnant Choi und seinen niedrigen Gelüsten, seiner Respektlosigkeit, seiner Anmaßung. Songbun hin oder her, er war ein Leutnant und die Tochter eines Obersts stand so weit über ihm, dass er kaum den Glanz ihrer filigranen Schönheit aus der Ferne genießen durfte, geschweige denn in ihr trinken in einer Nacht der zärtlichen Leidenschaften. Welch eine Beschmutzung. Ganz sicher hatte er sie dazu gezwungen, ihren tränenreichen Beteuerungen dem Vater gegenüber zum Trotz.

Niemals würde er so etwas tun.

Aber für Oberst Lim konnte es nicht anders sein. Etwas anderes passte nicht in sein Weltbild.

Und so wurde Choi bestraft, und da die Strafe im Namen des Marschalls erfolgte, war sie notwendigerweise sowohl gerecht wie unerlässlich.

Darüber bedurfte es keiner weiteren Diskussion.

Ein weiterer Schlag, und der heiße Schmerz auf seiner Haut bewies, dass die Jacke nun endgültig geschändet war und er dafür würde bezahlen müssen. Er stöhnte auf, spätestens jetzt wurde ihm gestattet, Schmerz auch auszudrücken. Er sollte nicht schreien, das wäre entwürdigend, eine Beleidigung für die 26 Offiziere des Regiments, die ausgesucht worden waren, der Züchtigung beizuwohnen. Einige darunter nannte Choi seine Freunde, sie litten mit ihm, ohne dieses Mitgefühl zeigen zu dürfen. Andere, die den aufstrebenden Offizier mit seinem klugen, taktischen Verstand als Konkurrenten wahrnahmen und sich über jede Zurücksetzung freuten, mussten eher ein zufriedenes Lächeln verbergen. Die dritte Gruppe war völlig indifferent und nur froh darüber, dass es sie diesmal nicht erwischt hatte.

Choi hatte in den vergangenen Jahren mal zu Gruppe 1 und mal zu Gruppe 3 gehört. Er war ehrgeizig, aber die Welt war groß und der Krieg endlos; für jeden, der sich beweisen wollte, gab es ausreichend Gelegenheit – auch die Gelegenheit, Fehler zu begehen.

»Halte durch, Choi!«

Nur er konnte die leisen Worte hören und sie trösteten ihn für diesen kurzen Moment. Feldwebel Cheong war die ausführende Gewalt; die Tatsache, dass ein Unteroffizier einen Offizier zu peitschen hatte, war eine bewusste Erniedrigung. Cheong bereitete das keine Freude. Er tat, was getan werden musste, wie es sich gehörte und es seine Pflicht war. Aber er mochte Choi, der Untergebene einigermaßen anständig behandelte und niemanden zurechtwies, der es nicht verdiente. Choi war ein Offizier, mit dem man leben konnte. Cheong hatte sicher eine lange Liste von Vorgesetzten, die in seinen Augen einige ordentliche Hiebe viel mehr verdienten als Choi. Leider hatten sie keine leidenschaftliche Nacht mit der zauberhaften Blume verbracht, die gleichzeitig die Tochter eines alles andere als zauberhaften Obersts war.

Cheong würde nicht schwächer zuschlagen als gewünscht. Die 26 Offiziere und der Oberst, der auf der Empore stand und auf die Züchtigung hinabsah, würden das merken. Niemand aber schrieb ihm vor, immer auf die gleiche Stelle am Rücken zu zielen, und Cheong, als Unteroffizier, wusste, wie man mit der Peitsche sehr zielgerichtet umging. Er holte also aus, das Leder pfiff durch die Luft, und er spürte den Schmerz, es tat weh, furchtbar weh, aber er wurde etwas tiefer getroffen, riss die bereits geschlagene Wunde nicht noch weiter ein. Choi stöhnte, bis zu exakt dem Maß, das akzeptabel war. Er hätte lieber geschrien, laut, und dann wäre er gerne auf die Empore gestürmt und hätte seine Hände um den Hals des Obersts gelegt und zugedrückt, eine blutige Spur hinter sich herziehend.

Die zauberhafte Blume hätte nichts dagegen gehabt. Yuna hasste ihren Vater und die Liste aus Gründen war lang, sehr lang sogar. Chois Erniedrigung, die sie glücklicherweise nicht bezeugen musste, war da nur die Spitze des Eisbergs.

Ein Schlag noch. Fünf für den Offizier. Mehr gab es nur bei wirklich schlimmen Vergehen und Choi war wertvoll, fähig, zumindest kompetent, und gehorsam. Der Geliebte Marschall verschwendete nichts, er maßregelte nur. Er brauchte jeden seiner Söhne, um die Welt zu erobern, und obgleich sie auf einem guten Weg waren, gab es noch sehr viel zu tun. Auch für Choi.

Wenn seine Wunden verheilt waren.

Es pfiff und knallte, und der Schmerz zuckte über seinen Rücken, das letzte Mal und wieder an einer anderen Stelle. Er stöhnte, soweit er es durfte, und sackte zusammen, entspannte seine Muskeln. Er hörte die Schritte und stählte sich. Cheong machte ihn los, packte ihn grob unter den Schultern, stützte ihn in Wirklichkeit, ohne dass die Beobachter das merkten.

Choi musste jetzt vor den Oberst treten und er musste gerade stehen, Haltung annehmen, mit brennender Haut, das Blut, das ihm herunterrann, das Scheuern der Fetzen auf den rohen Wunden. Er schaffte es ohne einen Laut, nur die Tränen in seinen Augen konnte er nicht fortwischen. Cheong ließ ihn los, als sie unter dem harten Blick Lims zum Stehen kamen. Choi stand stramm, salutierte.

»Leutnant Choi dankt für die Zurechtweisung. Die Lektion ist gelernt!«, rief er aus voller Kehle, die Stimme etwas krächzend vielleicht, aber ohne eine Spur von Gejammer darin. Lim verzog das Gesicht. Choi zeigte Mut und Selbstdisziplin, und die 26 Offiziere bedeuteten, dass der Oberst ihn nicht ohne Grund weiter schikanieren konnte. Er musste es akzeptieren. Er tat es mit nur schwer unterdrückter Wut.

»Lang lebe der Geliebte Marschall, unser großartiger Anführer!«, schrie Oberst Lim zurück und er ersetzte Begeisterung durch leidenschaftliche Wut, die er jetzt auf keine andere Weise mehr gegen Leutnant Choi richten konnte als durch diese nicht sehr blumige Art. Choi nahm das zur Kenntnis und schrie zurück, lautstark und mit Emotion, wie es von ihm erwartet wurde, und mit einem Grundton des Trotzes, der Oberst Lim auf keinen Fall entgehen konnte.

»Der Geliebte Marschall, die Sonne des Berges Paektu, weise uns den Weg!«

Die Worte waren vorgegeben, man lernte sie bereits in der Schule und auf der Offiziersakademie wurden diese Formeln als eigenes Fach gelehrt. Es gab Lobpreisungen für jeden Anlass, von der Hochzeit über den Erntedank zum Geburtstag bis hin zur Dankbarkeit für eine wertvolle, wenngleich schmerzhafte Lektion, die der große Anführer erteilte, meistens nicht direkt, sondern durch seine getreuen Gefolgsleute, wie Oberst Lim einer war.

Alles war wohlgeordnet in Chosun und auf jeden Fehler gab es die richtige Antwort, ebenso wie es für jede richtige und wohlfeile Handlung die entsprechende Reaktion gab. Es war eigentümlich genug, dass es sich bei manchen dieser Reaktionen um exakt die gleichen Worte handelte. Egal ob Schmerz oder Leid, kam es aus dem Willen des Geliebten Marschalls, war es Anlass für Dankbarkeit und Respekt. Choi fiel es schwer, die Logik dahinter zu verstehen, vor allem jetzt, da er erneut fühlte, wie ihm dünne Rinnsale seines Blutes den brennenden Rücken hinunterliefen, aber er würde sich hüten, dem in irgendeiner Form Ausdruck zu geben.

Er wollte sich nicht so bald für weitere Zurechtweisungen bedanken müssen. Die drei Monate im Lager würden schwer genug sein, wenngleich er sie überleben dürfte. Er war als Offizier und direkter Nachfahre eines Zeitreisenden in einer durchweg privilegierten Position: Er würde in ein Lager der Kategorie A kommen, in dem die Lektionen vornehmlich verbal und das Essen ausreichend waren. Die Lager der anderen Kategorien, bis zu D, waren weniger erfreulich für ihre Insassen, und aus D wurden viele Delinquenten im Leichensack herausgetragen, wie jeder wusste. Sein Aufenthalt würde kein Urlaub werden, doch wenn er sich ordentlich verhielt, würde er keine weiteren Blessuren davontragen und auch seine weitere Karriere war dadurch nicht gefährdet. Der Krieg brauchte Männer wie ihn, und solange er sich darin bewährte, die Macht Chosuns zu vergrößern, musste er sich keine ernsthaften Sorgen machen.

»Abtreten!«, brüllte Lim. Das galt für die 26 Zuschauer ebenso wie für Choi, der damit entlassen war und der nun die Erlaubnis hatte, sich um seine Wunden zu kümmern und seine Angelegenheiten zu regeln, bis er sich früh am kommenden Tag auf den Weg ins Lager zu begeben hatte. Keine Wache würde ihn abführen, keine Fessel ihm angelegt werden: In ein Lager der Kategorie A ging man freiwillig und guten Mutes, froh, in den Genuss der Lektionen und weiterer, umfassender Erkenntnis über den Sinn seiner Existenz zu kommen. Wer dort nicht antrat, das war ebenfalls sehr motivierend, landete sofort in einem Lager der Kategorie B und das wollte man schon gemeinhin vermeiden.

Choi wollte das ganz gewiss.

Er würde brav sein, folgsam und pünktlich.

Seinem tiefen, bitteren Hass auf Oberst Lim tat dies natürlich keinen Abbruch.

Und seiner Sehnsucht nach der schönen Yuna gleichfalls nicht.

2

»Du meinst …«

»Es war eine Finte, ein Verrat, eine Verschwörung … nur nicht so, wie wir es uns gedacht haben. Es lief alles schief, überall, in allen Städten und auf allen Ebenen. Das scheint sich zumindest jetzt deutlich abzuzeichnen. Allein Mutal ist befreit worden, allein wir haben derzeit noch das Heft des Handelns in der Hand. Die aufständischen Gefolgsleute von Metzli sind tot oder gefangen. Die Aufstände in den eroberten Städten sind niedergeschlagen oder in sich zusammengefallen. Wir wissen noch nicht, was in Teotihuacán selbst passiert ist, aber ich befürchte auch dort das Allerschlimmste. Wir hatten die größten Hoffnungen, doch jetzt ist nicht mehr viel davon übrig. Sagt mir, dass es anders ist. Ich will gerne, dass ich mich irre.«

Aritomo sah Lengsley an, der die Lage für sie alle zusammengefasst hatte, dann wanderte sein Blick zu Isamu, der mehr und mehr die Rolle einer Art Prinzregent einnahm, ohne dass diese Funktion offiziell gemacht wurde oder jemand darüber diskutierte. Sawada war bei ihnen, schweigsam, müde, gezeichnet von den Anstrengungen tagelanger Arbeiten an den Befestigungen der Stadt, die er beaufsichtigt hatte, mit einer ansteckenden, sehr motivierenden Ruhelosigkeit, die aber ganz offensichtlich Raubbau an seinen Kräften trieb.

»Niemand hier sieht es anders«, murmelte der alte Mann leise. »Es war alles umsonst.« Er seufzte. »Alles umsonst.«

»Wir müssen unsere römischen Freunde über diese Entwicklung informieren«, sagte Aritomo leise und gleichzeitig betont, als müsse er sich nach dieser schlechten Nachricht zwingen, die Ruhe zu bewahren und nicht laut schreiend davonzurennen. Tatsächlich beschrieb das seine aktuelle Gefühlslage recht gut. Doch die Stimmung drohte in eine tiefe, umfassende Niedergeschlagenheit umzukippen und das konnte für sie alle nicht gut sein.

»Für die wird es jetzt auch nicht leichter«, fügte der Brite hinzu. »Metzli wird sich früher oder später um Cozumel kümmern und ich befürchte, eher früher als später. Die potenzielle Beute ist für jemanden wie ihn einfach zu attraktiv. Und er weiß genau, welche Vorteile ihm moderne Waffentechnologie bietet. Die Römer sind außerdem ein Störfaktor, und zwar einer, auf den viele Maya ihre Hoffnung setzen. Ein psychologisches Ventil, das er uns allen nehmen möchte.«

»Waffen? Er bekommt doch wahrscheinlich schon einiges von seinen neuen Verbündeten aus dem Fernen Osten«, sagte Aritomo. »Oder Westen, je nach Perspektive.«

Die Informationen waren bei ihnen auch nur tröpfchenweise angekommen, aber manche Dinge ließen sich nicht dauerhaft verheimlichen. Viele triumphierende Anhänger des Königs von Teotihuacán brüsteten sich mit Taten und Errungenschaften, für die sie gar nicht verantwortlich waren, mit denen man aber vortrefflich angeben konnte. Ixchel konnte immer noch auf ein beachtliches Netzwerk an Zuträgern zurückgreifen, die ihr zwar den Krieg nicht gewinnen würden, aber sie immerhin über das Ausmaß der nahenden Niederlage informiert hielten. Und dieses wuchs mit jedem Tag und damit auch die Verzweiflung, die sich nach der kurzen Euphorie des Sieges über Mutal legte und drückender erschien als das schwülwarme Wetter, unter dem sie alle litten.

Niemand sagte etwas zu seinem Einwand. Sie waren alle nicht in der Stimmung zu streiten.

»Ich entsende Boten«, beschloss Aritomo. »Und dann müssen wir entscheiden, was wir jetzt tun. Bleiben wir in der Stadt? Verlassen wir sie und kehren nach Cozumel zurück? Ich befürchte, uns stehen da sehr schwierige Fragen bevor.«

»Die Stadt aufzugeben, dürfte Ixchel eher schwerfallen. Sie sitzt auf dem gerade gewonnenen Thron. Ihn wieder zu verlassen, schadet ihrer Autorität«, sagte Sawada. »Und es ist eben auch eine Sache, viel für etwas geopfert und eingesetzt zu haben und es dann gleich wieder aufgeben zu müssen. Das verstehen ja wir kaum, wie wird es dann erst für sie sein?«

Zustimmendes Gemurmel antwortete den Worten Sawadas. Was er sagte, war zutreffend, aber er argumentierte auf einer Ebene der Gefühle und Einstellungen. Aritomo dagegen zwang sich, rational vorzugehen.

»Eine Autorität über eine Stadt, die dem Untergang geweiht ist«, gab er zu bedenken.

Sawada ließ sich nicht darauf ein.

»So denken die Maya nicht, zumindest die meisten. Aber manche sind natürlich der Vernunft durchaus zugänglich. Ich bin mir nur nicht sicher, ob unsere jugendliche Königin Herrin des Verfahrens ist. Alle sind ihr gefolgt bis hierhin, dem Ziel der Aktion, der Rückeroberung. Ein gemeinsames Ziel verband sich mit ihrer Autorität, gewonnen aus ihrer Herkunft. Nun jedoch ist das Ziel erreicht, die Stadt in der Hand der Mutalesen, zumindest vorübergehend befreit von aller Fremdherrschaft. Die Autorität der Königin ist eine andere. Sie ist nicht mehr so stark wie vorher und sie muss durch weitere, richtige Entscheidungen untermauert werden …«

Aritomo unterbrach seinen Vortrag und sah Isamu an. »Wie sieht das unser Prinz?«

»Ich bin kein Prinz mehr.«

Sawada verzog sein Gesicht, kommentierte es aber nicht. Aritomo nickte dem jungen Mann zu.

»Kein Prinz, dafür bald ein König? Alle glauben an eine Verbindung.«

Isamu lächelte gequält. »Dann wissen alle mehr als ich.«

»Es ist nichts passiert?«

»Ich bin in keiner Position, das beurteilen zu können.«

Das war eine sehr gewählte Ausdrucksweise für einen Jugendlichen, der nicht wusste, ob er bei der Flamme seines Herzens ankam oder nicht. Aritomo, der selbst seine Höhen und Tiefen in dieser Hinsicht erlebt hatte, konnte es ihm gut nachfühlen.

»Dennoch gehörst du zu den Vertrauten Ixchels. Was ist deine Einschätzung?«

Froh, das unangenehme Thema verlassen zu dürfen, konzentrierte sich Isamu auf seine Antwort. Immer dann, wenn er nicht wehleidig oder selbstmitleidig war, enthüllten seine Worte einen scharfen Verstand und eine schnelle Auffassungsgabe. Ixchel konnte sich wahrlich einen schlechteren Gefährten auswählen als ihn. Doch sie würde, wie in allem, ganz bestimmt ihre eigene Entscheidung treffen.

»Ixchel hat viele Freunde und viele loyale Untertanen«, begann Isamu. »Sie alle unterschätzen sie, in positiver wie negativer Hinsicht. Ihr größtes Problem ist aber, dass sie furchtbare Angst vor einer falschen Entscheidung hat, wenn ihr zu lange Zeit gegeben wird, über diese nachzudenken. Sie ist gut, wenn sie schnelle und klare Befehle erteilen kann. Wenn sie zögert und Gelegenheit für Grübeleien hat, beginnt sie zu hadern und verliert manchmal ein wenig die Orientierung. Das Sitzen auf dem Thron Mutals tut ihr nicht gut.« Er lächelte versonnen. »Sie vergräbt sich in Arbeit, aber de facto nehmen ihr viele die täglichen Pflichten jetzt ab. Wir sind also gewissermaßen in einer sehr ungünstigen Position: Sie hat zu viel Zeit.«

Das klang nicht respektlos, ganz im Gegenteil. Der Unterton tiefer Sorge in Isamus Stimme war nicht zu überhören. Aritomo nickte dem jungen Mann dankbar zu. Das war eine hilfreiche Einschätzung, die seine eigenen Eindrücke widerspiegelte.

»Wo ist Metzli?«, fragte Sawada den Offizier.

»Unsere Späher machen ihn zwei Tagesreisen von hier aus. Er kampiert. Wenn man mich fragt, wartet er auf Verstärkungen. Und damit meine ich nicht notwendigerweise alleine mehr Soldaten – er hat eigentlich schon eine recht beachtliche Streitmacht beisammen. Wenn man mich fragt, dann würde ich vermuten, dass er zusätzliche Waffen heranführt, vielleicht sogar schon die ersten Früchte seiner Kooperation mit seinen neuen Verbündeten.« Aritomo kratzte sich am Kopf. Der Schweiß stand ihm schon wieder im Gesicht, obgleich er sich gar nicht großartig körperlich anstrengte. Die Götter der Maya waren mit der Gesamtsituation ebenso unzufrieden wie er und äußerten ihre Missgunst durch einen besonders heißen und schwülen Tag, der zu beinahe unerträglichen Temperaturen führte.

»Das bedeutet, wenn er angreift, dann richtig«, murmelte Lengsley. »Und wir haben zu wenig oder sind zu wenige, um dem zu widerstehen. Verdammt, wenn er größere Truppenteile mit modernen Waffen ausrüsten kann, sind auch die Römer geliefert. Sie werden Cozumel aufgeben und Fersengeld geben und ich werde es ihnen nicht einmal vorwerfen.«

»Aber wenn wir eine Chance haben, dann nur mit ihnen, nicht gegen sie«, schloss Aritomo und sprach damit eine unangenehme Wahrheit aus. »Unsere ursprüngliche Kalkulation scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Wir wollten durch einen Flächenbrand Metzlis Kräfte aufsplittern und sie dadurch leichter angreifbar machen, ihm die Basis für seine imperialen Pläne entziehen. Darin sind wir gescheitert, und zwar umfassend, wie es scheint. Jetzt bleiben uns nur noch wenige Rückzugsgebiete – um genau zu sein, exakt drei: diese Stadt, über deren strategische und taktische Situation wir uns wohl alle im Klaren sind; Cozumel, mit unseren römischen Verbündeten; und schließlich die noch freien Mayastädte, deren Allianz uns hier geholfen hat, die aber nun vor dem gleichen Dilemma stehen wie wir. Alles in allem eine höchst verfahrene Situation, die uns nur noch wenig Raum lässt.« Er fuhr sich mit der Hand über die Haare. »Ihr seht mich ratlos.«

»Rückzug, ich höre nur Rückzug«, sagte Isamu. »Warum greifen wir nicht Metzli frontal an, jetzt, wo er selbst noch auf Unterstützung wartet? Ein Überraschungsangriff, der ihm das Genick bricht. Ich kann nicht verstehen, dass wir auch nur daran denken, Mutal jetzt aufzugeben! So viele Kämpfer haben ihr Leben gelassen, so viele aus der Bevölkerung, die die Waffen gegen die Eroberer erhoben! So viele haben Ixchel nicht nur die Treue geschworen, sondern ihre ganze Kraft in ihren Erfolg gesteckt, ihr eigenes Wohl mit dem ihren verbunden! Wie können wir erwarten, dass sie jetzt alles hinwerfen? Das ist nicht nur ungerecht, es ist eine Verhöhnung ihres Opfers! Es ist falsch! Hört ihr … es ist falsch, einfach falsch!«

Isamus Stimme klang zum Schluss fast fiebrig vor nur schwer unterdrückter Wut – oder war es nur Verzweiflung? In jedem Fall war dem Prinzen anzumerken, dass er diese Art des defensiven Denkens nicht zu akzeptieren bereit war. Und er war emotional involviert. Aritomo verstand es. Aber er wusste – er fühlte! –, dass ihnen allen zu viele Emotionen jetzt nur im Wege stehen würden.

»Es gibt keinen Überraschungsangriff«, belehrte ihn Sawada ruhig. »Wir wissen durch unsere Späher, wie sich der Feind bewegt, umgekehrt ist es natürlich genauso. Metzli ist flexibel. Marschieren wir los, kann er sich in Ruhe auf die Schlacht vorbereiten oder zurückziehen, vielleicht in Richtung seiner nachkommenden Verstärkung. Wir haben diesen Luxus nicht. Die Stadt bietet uns natürlich auch einen gewissen Schutz, ohne sie sind wir vor allem den hochmodernen Schusswaffen unserer Feinde hilflos ausgeliefert. Aber unsere Position ist eine statische. Wir sind im Nachteil, unausweichlich. Die einzige Option ist der Rückzug. Das ist vernünftig.«

»Nur wohin?«, fragte Lengsley. Der Brite widersprach nicht, er war Aritomo im Zweifelsfall ein guter Verbündeter.

»Ixchel wird das nicht mitmachen. Sie wird nicht aufgeben, was sie gerade zurückerobert hat. Dies ist ihre Stadt«, versetzte der junge Prinz. »Und ich bin da auf ihrer Seite. Wie kann ich ihr raten, anders zu denken? Sie wird mich nicht einfach nur auslachen, sie wird mich verachten!«

Und es gab ganz offenbar nichts, was für ihn schlimmer war. Auch das verstand Aritomo gut. Doch der junge Mann war eben genau das … jung. Er brachte noch nicht die Distanz auf, die nun notwendig war.

Das konnte zu einem Problem werden. Aritomo war noch nicht beunruhigt. Aber wie immer musste er jeden Unsicherheitsfaktor bedenken.

»Dann wird sie mit ihr untergehen«, entgegnete Lengsley dem Prinzen mit harter Stimme. »Sie kann wieder in den Untergrund gehen, den Guerillakampf fortsetzen. Sie kann mit uns gehen und sich neu formieren, neue Optionen erwägen. Oder sie kann Mutal verteidigen und wird dabei scheitern. Auch dann, wenn wir hierbleiben und uns an ihre Seite stellen, Isamu, und alles in mir möchte das, denn ihr Kampf ist eine edle, eine gerechte Sache. Aber edel und gerecht alleine genügt nun einmal nicht. So ein Kampf muss auch gewinnbar sein und dieser ist es nicht. Er ist es nicht, Isamu. Das musst du begreifen, das müssen wir – und auch Ixchel sollte es, wenn sie die langfristige Zukunft, die möglichen Optionen eines späteren Sieges für sich offenhalten möchte.«

Isamu sah für einen Moment sehr trotzig aus und es war klar, dass er für Ixchel als Person wie auch für ihre Pläne und Absichten, ja ihre Träume, eine wirklich starke Loyalität empfand. Aritomo fand, dass dies an sich eine gute Entwicklung war, besser, als sich darüber Gedanken zu machen, wer oder was er nicht sein wollte. So fand Isamu langsam in eine Position, wo er sich am Platze fühlte, und so schwierig diese auch sein mochte, so herausfordernd und letztlich konfliktreich, es war ein Ort, von dem aus er argumentierte, ein Ort, an dem er für etwas war und nicht nur dagegen. Isamu wurde erwachsen und er wurde er selbst.

Ein kleiner Lichtblick in dem düsteren Szenario, mit dem sie sich hier befassten, wenn Isamu mit diesen Gefühlen nur richtig umging. Aritomo sah Sawada an, der zufrieden, ja liebevoll auf seinen ehemaligen Schützling blickte. Der alte Lehrer empfand wie er und er sah das Gute in dem Streit genauso wie der Leutnant. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment zu einem Austausch stummer Übereinstimmung. Immerhin.

»Wer redet mit ihr?«, fragte Aritomo. »Und wer mit den Vertretern der Allianz? Wir müssen zu einer Entscheidung kommen.«

Alle Blicke richteten sich auf Isamu. Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Wie kann ich ihr zu etwas raten, was ich ablehne?«

»Diskutiere die Fakten mit ihr.«

»Sie ist keine Närrin. Sie kennt die Fakten wie alle anderen.«

»Dann muss sie Vernunft annehmen!«, insistierte Lengsley.

»Vernunft?« Isamu spuckte das Wort aus wie ein Schimpfwort. »Was ist das für eine Vernunft? Auf den toten Körpern der für Mutal Gefallenen die Stadt wieder zu verlassen? Jeden Stolz, jeden Mut damit in den gleichen Dreck zu trampeln, in dem ihre Leichen liegen? Das ist Vernunft? Das ist für einen Maya Irrsinn, nichts anderes. Ich werde ihr das nicht raten. Ich werde ihr nicht vorschlagen, so vernünftig zu sein, dass sie sich in letzter Konsequenz gleich selbst vom höchsten Tempel in den Tod werfen kann.«

»Isamu …«, sagte Aritomo besänftigend, doch das kam bei diesem nicht an.

»Ich rede mit ihr«, sagte er laut und mit zitternder Stimme. »Ich berichte ihr, was hier beratschlagt wurde. Ich werde es so nennen, wie es ist: Verrat, Treulosigkeit, Feigheit. Fallen mir noch andere Worte ein? Fällt jemandem hier ein anderes Wort ein?«

»Wie wäre es mit Verantwortung, dem Retten von Leben, dem Eröffnen späterer Chancen?«, sagte Sawada umständlich und so sperrig, dass der Gehalt seiner Worte bei Isamu erkennbar nicht ankam.

»Nein!«, rief er, schrie es fast, wirkte für einen Moment trotzig, wie ein kleiner Junge, der etwas partout nicht wollte, und so falsch war das Bild nicht. Gleichzeitig aber, so ahnte Aritomo, hatte er absolut recht. Ixchel würde vor einem Dilemma stehen, erkannte es möglicherweise schon jetzt. Und es war nicht Isamu, der sie damit zu konfrontieren gedachte, erst recht nicht als Bote mit einer Nachricht, die sie kaum akzeptieren konnte. Es würde ihn von ihr entfremden.

Und das wiederum wollte Isamu nicht riskieren.

Er war nicht der Richtige für diese Aufgabe. Niemand war der Richtige. Aber Sawada hatte ein wichtiges Wort gesagt: Verantwortung. Die lastete weiterhin drückend auf den Schultern von Unterleutnant Aritomo Hara.

Er räusperte sich in die Stille hinein, die nach dem letzten Ausbruch Isamus angehalten hatte.

»Ich werde zu den Vertretern der Allianztruppen gehen und mit ihnen konferieren. Es sind erfahrene Anführer dabei, Veteranen vieler Schlachten. Wenn ich mit klaren militärischen Argumenten komme, sollte es mir gelingen, zu ihnen durchzudringen. Voraussetzung für beides ist aber, dass wir unter uns einig sind. Einig zumindest jene, die in der Lage sind, unabhängige Entscheidungen zu treffen.« Er sah Isamu an, der seine Lippen aufeinanderpresste, den Blick abwandte, es nicht hören wollte.

Auch gut.

»Also, wohin führt unser Weg?«, fragte Aritomo.

»Zurück nach Cozumel. Zurück zu den Römern«, sagte Lengsley mit fester Stimme.

»Ich bin auch dafür«, meldete sich Sawada.

»Dagegen«, sagte Isamu. »Kämpfen. Verteidigen. Meinetwegen verhandeln. Aber Mutal aufgeben, einfach wieder gehen, als sei nichts geschehen, als sei niemand gestorben …«

»Wir griffen unter anderen Annahmen an«, unterbrach Sawada mit sichtlich wachsender Verzweiflung in der Stimme. »Es gab keine Revolution, keinen Umsturz. Bei allen Göttern dieser Zeit, das musst du doch erkennen, Isamu! Es ist nicht so gelaufen, wie wir es wollten. Wir müssen darauf reagieren.«

»Aber nicht so! Nicht so!« Es klang endgültig.

Stille, erneut für einige Augenblicke.

»Dann sind wir uns also einig, mehr oder weniger«, sagte er mit einem Seitenblick auf Isamu, der nichts mehr sagte, das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, sichtlich um Fassung ringend. Allen fehlte die Begeisterung, als sie zustimmten. Niemand rannte nach einem frisch errungenen Erfolg gerne sofort wieder davon. Doch was war die Alternative?

»Ich rede auch mit Ixchel«, sagte Aritomo sanft. »Ich werde es zumindest versuchen. Wirst du mir helfen, dass sie mich anhört, Isamu?«

»Es bedarf meiner Hilfe nicht«, erwiderte der junge Mann dumpf, sein Gesicht durch die Niederlage gezeichnet. »Sie wird jederzeit mit Ihnen sprechen, Unterleutnant Hara.« Die kalte Förmlichkeit schlug Aritomo entgegen wie eine Ohrfeige.

Er sagte nichts weiter. Er nickte nur, beendete die Auseinandersetzung, zumindest fürs Erste.

Aritomo hatte es so nicht ausdrücken wollen, aber er fühlte sich, als würde sich die Schlinge um seinen Hals zuschnüren. Als sich die Versammlung auflöste, hielt er Lengsley am Arm fest.

»Einen Moment noch«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Der Brite sah ihn wachsam an.

»Wenn wir tatsächlich zu den Römern zurückkehren«, begann Aritomo leise, »dann wissen wir doch beide, was als Nächstes passieren wird. Metzli wird sich dieses Problems früher oder später annehmen, das dürfte klar sein.«

»Zweifellos.«

»Und was werden die Römer tun? Sich mit aller Macht verteidigen, die Insel um jeden Preis halten?«

Lengsley nickte langsam. »Nein, eher nicht. Wäre ich in ihren Schuhen, ich würde irgendwann meine Sachen packen und den Heimweg antreten. Mit einer größeren Flotte zurückkommen oder Mittelamerika gleich vergessen. Es ist verdammt weit weg und ich habe nicht den Eindruck, als wolle das Römische Reich hier eine Kolonie errichten.«

»Exakt. Und was bedeutet das für uns?«

»Langenhagen hat sich ja bereits geäußert. Er würde sicher uns, der Mannschaft des U-Boots, Asyl anbieten. Vielleicht noch einigen ausgewählten Maya, soweit Platz an Bord seiner Schiffe ist.«

»Aber mehr auch nicht«, schloss Aritomo.

»Seine Flotte ist nicht groß genug.«

»Und er wird sich schnell entscheiden müssen, rechtzeitig genug, um größeren Schaden von seinen Schiffen abzuwehren.«

Lengsley nickte langsam. »Wir sollten uns also darauf vorbereiten. Wir werden viele Mutalesen in einem solchen Fall zurücklassen, mit einem ungewissen Schicksal. Wenn die davon Wind bekommen …«

»… dann könnte es schneller unangenehm werden als geplant und erwartet«, beendete Aritomo den Satz. »Wir müssen uns wirklich vorbereiten. Einen Fluchtplan erstellen, mit einer Liste an Personen, für eine mögliche Flucht vor unseren Feinden …«

»… und unseren Freunden gleichermaßen«, schloss Lengsley bitter. Doch es kam keine Gegenrede von ihm, kein Zweifel.

Es war genau so, wie Aritomo Hara es sagte.

3

Als Köhler erwachte, hatte er Sand im Mund.

Das war nicht gut.

Nicht nur, weil Sand nicht schmeckte, sondern vor allem, weil er da nicht hingehörte. Vieles gehörte nicht hin, wo es war, unter anderem er, denn er lag auf einer sandigen Oberfläche, die definitiv nicht zu einem Schiff gehörte, und er hatte nasse Kleidung am Leib, Kopfschmerzen und seine Augen waren vom Salz verkrustet, das er aus dem Meer …

Aus dem Meer.

Sein Schiff.

Was war nur passiert?

Er hustete den Sand heraus, spuckte, doch es war kaum Speichel da, also hustete er noch mehr, spürte den brennenden Durst, den salzig-sandigen Geschmack an seinem Gaumen. Es ging ihm nicht gut. Er spuckte erneut und zumindest das latente Würgen in seinem Hals ließ nach, doch all dies erschöpfte ihn sehr.

Er versuchte, sich zu erinnern. Sein Gedächtnis war nicht mehr das, was es einmal gewesen war, spätestens seit dem, was ihm in der Gefangenschaft zugestoßen war. Es hatte sich gebessert, merklich sogar, aber das hieß nicht, dass er wieder ganz der Alte war, und etwas war geschehen. Köhler lag auf seiner Seite, achtete darauf, ruhig zu atmen. Er spürte, außer in seinem Kopf, keinen Schmerz, hatte aber unwillkürlich Angst, eine seiner Gliedmaßen zu bewegen, denn dann würde er sehr schnell merken, ob er ernsthafte Verletzungen davongetragen hatte oder nicht. Wenn er einfach so dalag, völlig unbeweglich, tat ihm nichts weh und er konnte sich die Hoffnung bewahren, dass alles in Ordnung war.

Nein. Nichts war in Ordnung.

Er sollte nicht hier sein. Er sollte auf der Brücke seines Schiffes stehen! Köhlers Gedanken klärten sich und mit jedem Erinnerungsbruchstück wuchsen seine innere Erregung, seine Angst und seine Sorge. Er entsann sich des Sturms, der ihn um das Kap Hoorn getrieben hatte und der auch nicht nachgelassen hatte, als sie es auf die andere Seite Südamerikas geschafft hatten. Die Winde hatten sie vor sich hergetrieben, waren umgesprungen und er erinnerte sich an einen tiefschwarzen Himmel am helllichten Tage, mit tief hängenden Wolken, aus denen Wind und Wasser auf sie einpeitschten. Ein Unwetter, wie er es in seinem Leben noch nicht erlebt hatte, keiner von ihnen, und sie alle hatten zum Schluss nur noch Angst gehabt und darum gebetet, dass es bald ein Ende nehmen würde.

Köhler schmeckte wieder den restlichen Sand auf seiner Zunge.

Es hatte ein Ende genommen – offensichtlich kein gutes.

Er öffnete die verkrusteten Augen. Es half ja nichts. Er sah Strand, Algen, alles etwas verschwommen. Er drehte sich um sich selbst, begutachtete die Aussicht von der anderen Seite.

Er sah direkt in das Gesicht eines Mannes, wächsern, feucht, der auch die Augen aufgerissen hatte, nur ohne jedes Leben hinter den Pupillen. Köhler kannte den Mann, es war ein Matrose namens Titus und er musste ihn sich nicht lange ansehen, ihn nicht berühren oder ansprechen, um zu wissen, dass jener es nicht geschafft hatte. Er lag neben einer Leiche.

Wenn sonst nichts, so motivierte das den Trierarchen, sich zu erheben. Er bewegte sich nun richtig und seine Glieder fühlten sich schwach an, die Gelenke schmerzten, doch nichts wies auf eine ernsthafte Verletzung hin. Er zog sich hoch, mit bedächtigen Bewegungen, richtete den Blick auf die Küste, an der er angespült worden war. Sand und Stein, Holzreste, ein paar Seile und einige reglos daliegende Gestalten wie er bis gerade. Alle tot?

Köhler wollte es nicht glauben. Der Sturm hatte sein Schiff überwältigt, daran bestand nun kein Zweifel. Sie hatten sich in der Nähe der Küste gehalten und einige von ihnen hatten es bis hierher geschafft, manche lebend, andere wie Titus, um ihre letzte Ruhe an Land zu finden, dem nassen Grab entkommen.

Köhler erhob sich, ächzte. Er wollte rufen, aber seiner Kehle entrang sich nur ein Stöhnen. Er spuckte schon wieder Sand aus, mehrmals, und merkte erneut, wie durstig er war. Wie lange lag er schon da? Wie viel Salzwasser hatte er unfreiwillig geschluckt? Er musste dringend etwas zu trinken finden, sonst würde er nicht mehr allzu lange durchhalten.

Doch erst …

Tizia!

Der Gedanke sprang ihn förmlich an, als hätte dieser darauf gewartet, dass Köhler richtig zu Sinnen käme und ihn besser ertragen könnte. Das war eine Illusion. Als sich Tizia in seine Erinnerung drängte, empfand er sofort brennende Sorge, große Angst und einen Schmerz, als wisse er schon, dass sie ebenfalls ein Opfer des Sturms geworden sei. Er musste an sich halten, nicht wieder auf seine Knie zu sinken. Köhler schleppte sich weiter, stolperte das Uferstück entlang und seine Augen suchten in plötzlicher, fiebriger Anstrengung nach den vertrauten Konturen in Körper und Gesicht. Er ging an regungslos daliegenden Männern vorbei. Er sah, wie sich einer zu bewegen begann, bekam mit, dass dieser ein leises Stöhnen von sich gab, ein Überlebender, den er aber auf Anhieb nicht identifizieren konnte. Ein zweiter Mann gab Laute von sich, diese klangen nach Schmerzen. Dann war Köhler am Ende der auf dem Boden verstreuten Gestalten angekommen, soweit er sie erkennen konnte, und die meisten waren nicht nur tot, sie waren auch nicht Tizia.

Er blieb stehen, plötzlich wieder sehr erschöpft, ihm war schwindelig. Was bedeutete das? Lagen die anderen alle am Grunde des Meeres? Oder gab es noch andere Stellen an der lang gestreckten Küste, an die Überlebende sich gerettet hatten? Und wie konnte er das herausfinden?

Sicher nicht, indem er hier verdurstete. Und auch nicht, indem er die beiden Männer, die zweifelsohne mit ihm am Leben waren, ihrem Schicksal überließ. Trierarch Köhler entsann sich seiner Pflichten, drängte Schmerz und Angst beiseite, die damit verbundene Trauer, und ermahnte sich.

»Wasser«, sagte er krächzend, das erste Wort, das er richtig hervorbrachte.

Sie brauchten alle Wasser.

Sein Blick wanderte ins Landesinnere. Da glitzerte es, nicht weit von hier. Ein Teich vielleicht oder ein Bach – weit genug vom Meer entfernt, um Süßwasser zu enthalten? Er kniff die Augen zusammen, dann wandte er sich ab. Erst wollte er sich der beiden Kameraden vergewissern, dann musste er sich auf den Weg machen. Außerdem brauchte er einen Behälter. Er betrachtete den Boden, die kläglichen Reste seines toten Schiffes, Ausrüstungsgegenstände, die an Land gespült worden waren: das meiste nicht zu gebrauchen, vieles gar nicht mehr zu identifizieren, zertrümmert von der Macht eines Sturms, der seinesgleichen suchte. Dann bückte er sich und hob eine der Wasserflaschen aus Leder und Holz auf, wie Seeleute sie oft bei sich trugen. Sie wirkte unbeschädigt. Er wog sie in der Hand. Sie war schwer. Plötzliche Hoffnung erfüllte ihn, er entfernte den Stöpsel, roch. Wasser. Er trank, vorsichtig, die eigene Gier unterdrückend, bewegte die Flüssigkeit vorsichtig im Mund, spülte den Sand und den Salzgeschmack aus den Zähnen. Wasser. Fast gegen seinen Willen spuckte er aus, die sandige Brühe wäre ihm sicher nicht gut bekommen. Ein zweiter Schluck, langsam und kontrolliert, und er fühlte sich sogleich besser.

Er erinnerte sich an seine beiden Kameraden. Jetzt durfte er nicht egoistisch sein. Das durfte er sowieso nicht, wenn sie alle gemeinsam überleben wollten.

Er kümmerte sich. Es half ihm, nicht an jene zu denken, um die er sich nicht kümmern konnte und deren Fehlen, die Ungewissheit über ihr Schicksal, ein großes Loch in sein Herz riss.

Zwei Männer, einer ein Matrose, der andere ein Legionär der Landstreitkräfte, beides Gesichter, die Köhler vage bekannt vorkamen, mit denen er aber nie allzu viel zu tun gehabt hatte. Er half ihnen, sich aufzurichten, teilte das Wasser, verhinderte, dass einer mehr bekam als der andere. Flavius, der Matrose, hatte sich den Knöchel verrenkt, wenn nicht gebrochen, und der Schmerz machte einem erschöpften und durstigen Mann mehr zu schaffen als einem, der davon abgesehen im Vollbesitz seiner Kräfte war. Marcus, der Legionär, war auch sehr erschöpft, aber sonst unverletzt bis auf einige kleinere Blessuren, wie sie alle welche davongetragen hatten.

Beide waren dankbar. Beide waren, als sie das Ausmaß der Katastrophe begriffen, erschüttert. Beide sahen Köhler erwartungsvoll an und sie erwarteten Befehle von ihm. Es war diese Erwartungshaltung, die dem Trierarch half, die eigene innere Lähmung zu überwinden. Er erläuterte die Notwendigkeiten und Marcus nickte zustimmend.

»Ich bleibe bei Flavius«, sagte er, als Köhler Anstalten machte, nach Wasser zu suchen. »Ich weiß, wie man eine Schiene baut, und es liegt ja genug Krempel herum. Ich werde uns beschäftigen. Viel Glück, Trierarch!«

Solchermaßen vorübergehend aus seiner Verantwortung entlassen, machte sich Köhler auf den Weg. Er hatte mittlerweile eine weitere der Trinkflaschen gefunden, diesmal leider leer, doch weiterhin ein höchst geeigneter Behälter. Etwas mühsam, immer noch zeitweise mit Schwindel kämpfend, bahnte er sich den Weg in Richtung der Reflexion, von der er weiterhin hoffte, eine Quelle für Süßwasser zu sein.

Diesmal winkte ihm das Glück im Unglück.

Er fand, was er suchte. Ein Teich, etwa einen halben Kilometer von der Küste entfernt und gespeist aus einem Bach, fast nur einem Rinnsal, das aus den nahen Anhöhen floss. Köhler kostete vorsichtig von dem Nass, fand es trinkbar und füllte beide Flaschen bis zum Rand. Sie alle wären besser beraten, ihr vorübergehendes Lager hier aufzuschlagen, in der Nähe der Wasserquelle, um dann das weitere Vorgehen zu planen. Köhler war sich nicht sicher, woraus dieses im Einzelnen bestehen würde, aber er wollte unbedingt nach weiteren Überlebenden suchen, um dann eine Möglichkeit zu finden, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Auf der Basis konnte man Entscheidungen treffen. Mit leerem Magen und krank war das so gut wie nicht möglich.

Er stand auf und sah sich um. Die Sonne ging langsam unter und es wurde kühl. Sie mussten ein Feuer machen, eine windgeschützte Ecke finden, die Kleider trocknen, möglicherweise die Leichen der Kameraden fleddern. Keine schöne Aussicht, doch die Lebenden mussten alles tun, um ihre Situation zu verbessern, und Köhler war nicht bereit, allzu große Rücksichten zu nehmen.

Er ging zurück zu Marcus und Flavius, alle tranken sie in Ruhe, und als Köhler seine Pläne ausbreitete, gab es keine Opposition. Der Legionär hatte sein Versprechen gehalten und seine Fähigkeiten nicht unter den Scheffel gestellt, wie Köhler sich vergewissern durfte. Die Beinverletzung des Kameraden war geschient und mit Hilfe konnte der Verletzte sich aufrichten. Sie legten gemeinsam den Weg bis zur Wasserstelle zurück, dann begannen Köhler und Marcus damit, trockenes Holz für die Nacht zu sammeln. Die Feuersteine, die alle gewohnheitsmäßig in kleinen Beuteln am Gürtel trugen, waren mittlerweile ebenso getrocknet wie ihre Kleidung am Leib, wenngleich sie sich dreckig fühlten und dringend waschen mussten. Köhler fand eine herausgerissene Tür aus dem Inneren seines zerschlagenen Schiffes, noch an einem Stück, und schleppte sie zur Lagerstätte. Mit Steinen und Balken errichteten sie auf diese Weise einen Windschutz, hinter dem sie sich zusammenkauerten. Schnell war ein Feuer entfacht und wärmte sie angenehm. Der Hunger war das Nächste, was sich bemerkbar machte, doch nun wurde es dunkel und es war weder an Jagd zu denken noch an das Sammeln von Früchten. Sie würden eine einigermaßen erträgliche und trockene Nacht haben, was von allen als echter Fortschritt bewertet wurde, und sie legten sich zur Ruhe, in der Gewissheit, nicht mehr ganz so hilflos zu sein wie noch vor wenigen Stunden.

Die Aktivität verebbte. Mit der Ruhe kamen die Sorgen zurück, die sich bisher durch Ablenkung nicht weiter aufgedrängt hatten. Dagegen war nichts zu tun und so begannen sie einen Wettstreit mit der Müdigkeit und Köhler hatte keinen Einfluss darauf, wer am Ende siegen würde.

Köhler schlief also mit dem Gedanken an Tizia ein. Es war ein Schmerz, der nur darauf wartete, dass er ihm erneute Aufmerksamkeit schenkte und ihn anfachte wie das flackernde Feuer vor ihm. Morgen früh würde er auf ihn warten und ihn anspringen, sobald er erwacht war.

Er würde ihn so bald nicht wieder loslassen.