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Buch

Ihre Karriere als Anwältin hat sich Viola anders vorgestellt: Die Kanzleikollegen sind schrecklich altmodisch, die Arbeitsabläufe von vorgestern, und der Chef ist ein albtraumhafter Schnösel. Violas einziger Lichtblick scheint ihr attraktiver Kollege Matthias zu sein. Wenn der nur nicht so arrogant wäre! Um Männer kennenzulernen, die keinen Stock im Hintern haben, flirtet sie unter falschem Namen auf einer Onlinebörse – und zwar ausgerechnet mit dem Ex-Date ihrer besten Freundin. Als Viola dann auch noch von ihrem kontrollsüchtigen Chef auf dem Portal entdeckt wird, gerät ihr Leben ganz schön ins Schlingern.

Autorin

Julia Bähr, geboren 1982, hat das Schreibhandwerk auf der Deutschen Journalistenschule in München gelernt und arbeitet als freie Journalistin in den Bereichen Kultur und Gesellschaft. Zusammen mit Christian Böhm verfasste sie die romantische Hochzeitskomödie »Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen« – gefolgt von ihrem neuen Stand-alone »Im Zweifel für die Liebe«. Julia Bähr lebt in München und Frankfurt.

JULIA BÄHR

Sei mein
Frosch

ROMAN

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1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2015 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, München
Umschlagmotiv: Getty Images/retales botijero
Redaktion: Hannah Jarosch
Herstellung: sam
Satz: DTP Service Apel, Hannover
ISBN: 978-3-641-14570-5

www.blanvalet.de

Für A.,
die einzig wahre Anwaltsgranate

Kapitel 1

»Sehr geehrter Herr Maierhofer, Komma, Absatz.« Klick, klick, macht das Diktiergerät, als ich es aus- und gleich wieder einschalte. »Hiermit zeigen wir ausweislich beigefügter Vollmacht in Kopie an, Komma, dass wir Ihre Ehefrau Nina Maierhofer anwaltlich vertreten, Punkt. Frau Maierhofer hat uns damit beauftragt, Komma, ihren Anspruch auf Trennungsunterhalt sowie die Unterhaltsansprüche für die bei ihr lebenden gemeinsamen minderjährigen Kinder Paula und Elias gegen Sie geltend zu machen, Punkt.« Klick. Klick. »Trotz mehrfacher mündlicher und schriftlicher Aufforderung durch unsere Mandantin sind Sie Ihrer Pflicht, Komma, Auskunft über Ihr aktuelles Einkommen zu erteilen und sodann den sich daraus ergebenden Unterhalt zu bezahlen«, klick, klick, »Komma, bislang nicht nachgekommen, Punkt. Für die Auskunftserteilung samt Vorlage der entsprechenden Belege setzen wir Ihnen eine Frist bis spätestens«, klick, klick, »10. Juni, Punkt. Sollten Sie diese Frist nicht einhalten, Komma, wird unsere Mandantin ohne weiteres Zuwarten Klage erheben. Punkt. Absatz. Mit freundlichen Grüßen, Komma, Absatz, Viola Nienhaus.« Klick.

Ich lasse das Diktiergerät auf die schweinslederne Schreibunterlage sinken und fiesele die Kassette heraus. Anschließend schließe ich schnell die Datei mit dem Brief, den ich soeben abgelesen habe. Die darf keiner finden. Ich schiebe sie in einen Ordner, der Entwürfe heißt. Niemand öffnet jemals einen Entwurfsordner.

Seit fünf Wochen schummele ich jetzt schon so.

»Unsere Anwälte schreiben die Briefe nicht selbst. Sie diktieren«, wurde mir an meinem ersten Tag hier kühl befohlen. Die Chefsekretärin besteht darauf, dass diese Sitte erhalten bleibt – wahrscheinlich, weil sie und ihre kleinen Sklavinnen im Vorzimmer sonst arbeitslos wären. Nach einigen peinlichen, ausgesprochen stümperhaften Versuchen voller »Äh« und »Nein, falsch« habe ich mir angewöhnt, die Briefe heimlich selbst zu tippen. Anschließend lese ich sie langsam ab. Dazwischen nehme ich immer wieder den Finger von der Sprechtaste, um Denkpausen zu simulieren. Beim Abtippen ist das typische Klick, klick deutlich zu hören. Manchmal baue ich absichtlich einen kleinen Fehler ein. Man sagt, ich würde sehr gut diktieren. Ich kann nie mehr mit der Trickserei aufhören, sonst fliege ich auf.

Langsam drehe ich mich auf meinem schicken Bürostuhl einmal um mich selbst. Ich bin immer noch begeistert, dass ich morgens nicht mehr in einen miefigen Hörsaal muss. Stattdessen fahre ich mit dem Rad in die Münchner Innenstadt, nehme den Aufzug in die dritte Etage eines großen Gebäudes, betrete die Kanzlei von Schilo und Partner und laufe ab da über dicken, hellgrau gemusterten Teppichboden, der die Schritte schluckt. In allen Büros hängt moderne Kunst an den Wänden. Auch bei mir. Ich schaue den ganzen Tag von meinem dunklen Holzschreibtisch aus auf eine stilisierte Sportszene: Läufer kurz vor dem Start. Nicht ganz mein Fall, auch ein bisschen arg bunt mit der roten Bahn und den farbigen Trikots. Trotzdem: Es ist Kunst! Und vielleicht drehe ich den Schreibtisch irgendwann einfach und schaue lieber zum Panoramafenster hinaus, hinter dem sich ein paar Münchner Dächer zeigen.

Meine Mutter ist fast ausgerastet vor Freude, als ich ihr mein Büro zeigte. »Jetzt bist du eine richtige Anwältin, kleine Viola!«, flüsterte sie so leise, dass die ganze Kanzlei sie hören konnte.

Als ich meine Kassette ins Vorzimmer bringe, laufe ich Matthias Fischer in die Arme. Oder besser gesagt: an die kalte Schulter. Die zeigt mir der Kollege nämlich grundsätzlich, was schade ist, denn er ist zumindest optisch der einzige Sonnenstrahl in den düsteren Gängen dieser Kanzlei. Abgesehen davon regt er mich auf. Erstens, weil er nur zwei Jahre älter ist als ich und darauf besteht, dass wir uns siezen. Und zweitens, weil ich mich fühle wie ein Teenager, der in den coolsten Typen der Schule verknallt ist, aber nicht mal wahrgenommen wird.

»Hallo«, hauche ich im Vorbeigehen. Da sollte natürlich ein lässiges, toughes Hallo rauskommen. Aber das Ergebnis ist eher so ein laszives Wie lange hab ich geschlafen?-Hallo.

Ein entsprechend irritierter Blick aus himmelblauen Augen trifft mich. Und ein »Hi«. Mist, er hat kürzer gegrüßt als ich. Er ist cooler. Ich hab verloren! Mit einem letzten Rest Selbstachtung im Leib rette ich mich an den Schreibtisch von Liane, die meine Briefe meistens abtippt. Ich habe ihr das Du angeboten, weil ich sie nett fand und sie ebenfalls in meinem Alter ist. Mein Chef schaute, als hätte sein Sohn gerade das Hausmädchen geschwängert, als er es mitbekam. Er ist etwas, nun ja, sagen wir: versnobt. Liane drückt das freilich gern bildhafter aus.

»Danke«, sagt sie und sieht lächelnd zu mir auf, als ich die Kassette auf ihren Schreibtisch lege.

»Liane, kannst du bitte aufhören, dich dafür zu bedanken? Ich muss Danke sagen.«

»Sorry, ich find’s ja auch bescheuert. Aber deine Kollegen bestehen drauf. Sie nennen es Höflichkeit.«

»Höflichkeit, was ist das?« Ich schneide eine Grimasse, über die Liane zu kichern beginnt.

Sofort ertönt ein ärgerliches Zischen vom Chefdrachen. »Wenn die jungen Damen ihre Privatgespräche vielleicht woanders führen könnten?«

Frau Blettinger ist der Zerberus dieser Kanzlei: Sie greift alles an, was noch lebt. Mit Ausnahme des Chefs natürlich, aber der hat sie ja auch eingestellt.

Ich stelle mich besonders aufrecht hin, hole Luft und sage … nichts. Mir fällt nichts ein.

Die Blettinger beobachtet mich. »Ja, Fräulein Nienhaus?«

Darauf wenigstens weiß ich eine Antwort. »Frau Blettinger, ich habe Sie schon hundertmal gebeten, mich nicht Fräulein zu nennen. Das ist sexistisch. Der Wert einer Frau definiert sich nicht über eine etwaige Ehe«, sage ich in bereits leicht genervtem Tonfall. Ich habe ihr diese Kassette wirklich schon häufiger ans Ohr gehalten.

»Solange Sie unverheiratet sind, nenn ich Sie Fräulein«, sagt die Blettinger unbeirrt und kampfeslustig.

Alle drei Assistentinnen haben die Arbeit eingestellt und starren uns an. Liane zupft mich am Ärmel, aber ich ignoriere sie.

»Solange Sie mich Fräulein nennen, kann ich Sie nicht leiden«, schieße ich zurück.

»Was ist hier los?«, dröhnt es auf einmal hinter mir.

Ich sehe, wie Liane bedröppelt das Gesicht verzieht, bevor ich mich langsam und mit klopfendem Herzen umdrehe. Vor mir steht mein Chef, mit verschränkten Armen und durchdringendem Blick. Viel zu nah vor mir für meinen Geschmack.

Stefan von Schilo ist kein angenehmer Mensch. Seine Haut ist so hell, dass sie fast bläulich schimmert, und man sieht viel von ihr, weil er kein einziges Haar mehr auf dem Schädel hat. Er hat dünne Beinchen, die seinen wachsenden Bauch nur widerwillig tragen und vor Anstrengung allmählich ein O formen. Dank Ellbogen, geschicktem Netzwerken und wohl auch Papas Kohle besitzt er mit Mitte vierzig eine gut laufende eigene Kanzlei – in der ich gerade seine engste Angestellte angefaucht habe. Vielleicht sollte ich seine Reaktionszeit nutzen und einfach wegrennen.

»Fräulein Nienhaus hat gesagt, sie kann mich nicht leiden«, petzt die Blettinger.

»Frau Blettinger nennt mich immer noch Fräulein«, schnaufe ich.

»Wissen Sie, junge Frauen wie Sie nehmen immer alles zu persönlich«, salbadert mein Chef los. Jetzt legt er mir auch noch betont kumpelhaft die Hand auf die Schulter. »Da muss man auch mal ein bisschen locker sein! Sonst steht man schnell als humorlose Zicke da.«

Angeekelt mache ich einen Schritt zur Seite. Die Blettinger schaut triumphierend.

»Sie wollen hier doch nicht die Zicke sein, oder?«, fragt von Schilo lauernd.

»Ich bin keine Zicke«, sage ich und streiche mein Jackett glatt. Übersprunghandlung.

»Na also. Und jetzt gehen Sie wieder an die Arbeit!«

Liane wirft mir einen mitfühlenden Blick zu, als ich verschämt die Segel streiche. Ich schleiche zurück in mein Büro mit dem Gefühl, gerade den zweiten kleinen Machtkampf des Tages verloren zu haben.

Zwei Stunden später lässt meine Freundin Hanna angewidert die Speckdattel sinken, die sie eben noch zum Mund führen wollte. »Igitt! Er hat dich angefasst?«

»Er hat mir die Hand auf die Schulter gelegt«, konkretisiere ich leicht überrascht. Hanna ist nicht gerade zimperlich, was Berührungen von Männern angeht. »Das geht sicher nicht als sexuelle Belästigung durch.«

»Vielleicht nicht sexuell. Aber schon mit dem Typen in einem Raum sein zu müssen, ist doch eine Belästigung. Als ich sein Foto gegoogelt habe, habe ich vor Schreck fast die Maus zerquetscht.«

»Hanna, ich finde ihn ja auch grauenvoll. Aber er war nun mal der Einzige, der mir einen akzeptablen Job angeboten hat.«

»Was deine eigene Schuld ist«, schimpft Hanna und zeigt streng mit dem Finger auf mich.

Sie hat ja recht. Ein halbes Jahr vor meinem zweiten Staatsexamen hatte ich mich von meinem langjährigen Freund getrennt, was meinen Lernfortschritten nicht gerade zuträglich war. Kaum waren meine Tränen getrocknet, verliebte ich mich unglücklich in den Kumpel eines Kommilitonen. Sebastian fand mich zwar nicht sonderlich attraktiv, aber doch attraktiv genug, um mich zweimal die Woche mit einem gezielten Anruf von meinen Büchern weg und in sein Bett zu locken. Ansonsten rief er nicht an. Nie. Ich muss es wissen, denn ich habe verdammt viel Zeit damit verbracht, das Telefon anzustarren und zu warten.

Das Ende vom Lied war, dass ich ein mittelmäßiges Examen hinlegte und mir den Staatsdienst abschminken konnte.

Die Kanzlei von Schilo deckt fast alle Bereiche ab, was von spezialisierten Kollegen gerne mit verächtlichem Unterton als Feld-Wald-und-Wiesen-Kanzlei bezeichnet wird. Der äußerst gemütlich veranlagte Kollege Haberstolz und ich sind gemeinsam für Familienrecht zuständig.

Warum Stefan von Schilo ausgerechnet mich eingestellt hat, weiß ich allerdings nicht so recht. Ich könnte mir vorstellen, dass er fand, man bräuchte mal eine junge Frau neben all den Anzügen. Er behauptet gern, unsere scheidungswilligen weiblichen Klienten würden einen ungesunden Männerhass pflegen. Und die anderen jungen Anwältinnen waren ihm vielleicht zu forsch. Ich dagegen saß nach all dem Liebeskummer reichlich wundgeweint in seinem Büro, bewahrte mit großer Anstrengung eine professionelle Fassade und wirkte wahrscheinlich wie ein Mäuschen.

Die Löwin in mir regt sich erst wieder, seit ich auf die Booty Calls von Sebastian nicht mehr reagiere. Wehmütig, denn andere Gelegenheiten haben sich in der Zwischenzeit auch nicht aufgetan. Ich bin achtundzwanzig. Ich hätte echt gern mal wieder Sex.

Hanna beobachtet mich genau, während ich den Blick durch das Café Glockenspiel schweifen lasse. Wir treffen uns hier mindestens einmal die Woche nach der Arbeit. Mittlerweile stellen uns die Kellner ohne Bestellung unsere Favoriten hin: mir eine Weißweinschorle, Hanna einen Prosecco mit Erdbeermark. Falls das klingt, als gebe es in ihrem Leben mehr zu feiern als in meinem, ist das absolut zutreffend.

»Erzähl mal«, bitte ich sie. »Was gibt’s bei dir Neues?«

»Ich hatte gestern ein Date«, beginnt Hanna.

Das ist nichts Ungewöhnliches. Hanna schreibt für eine Frauenzeitschrift eine Kolumne, die hauptsächlich ihre missglückten Dates mit irgendwelchen Typen zum Inhalt hat. Persönliches Interesse und berufliche Sensationslust verbinden sich zu einer starken Motivation. Mittlerweile hat sie ihr erweitertes Umfeld durch und rekrutiert die Männer im Internet. Es gibt wahrscheinlich keine größere Partnerbörse, bei der sie nicht angemeldet ist.

»Woher war er?«

»EdelPartner.«

Ich nicke kundig. EdelPartner heißt meistens, so viel habe ich inzwischen gelernt: Arzt sucht promovierte Historikerin, die nach der Hochzeit daheim bleibt und die Kinder dank ihrer hervorragenden Qualifikation optimal fördert.

»Diesmal war es ein Germanist«, fährt Hanna fort. »Viola, ich glaube, jetzt ist die Emanzipation endlich auch in meiner Kolumne angekommen. Der sucht nämlich eine Frau, die ihn versorgt.«

»Mit einem Germanistikstudium ist diese Idee wahrscheinlich ganz vernünftig.«

»In der Tat. Er schwafelte irgendwas von Gedichten, die er für Literaturmagazine schreibt. Und dass er aber eigentlich eine Frau sucht, die gut verdient und es ihm ermöglicht, sich ganz der Kunst zu widmen.«

»Lass mich raten: Der sucht schon länger.«

»Das wollte er mir nicht verraten.« Hanna grinst und nimmt einen Schluck von ihrem Prosecco. »Aber ich fand es eigentlich toll, dass er so offen ist. Wie viele Frauen machen ihren Job denn nur alibihalber, um ihn sofort an den Nagel hängen zu können, wenn sich endlich ein Versorger findet?«

»Meine halbe Abiturklasse. Trotzdem: Gibt es Frauen, die so einen Mann wollen?«

»Keine Ahnung. Ich ruf ihn jedenfalls nicht mehr an.«

»Das wird auch nicht nötig sein. Er kann ja in deiner nächsten Kolumne lesen, wie du ihn so fandest«, witzele ich. »Wie heißt er eigentlich?«

»Hab ich vergessen. Lohnte nicht, sich den Namen zu merken. Er war der schlechteste Küsser des Monats.«

»Hanna, wir haben den 11. des Monats.«

»Ja, macht ja nichts. Ich leg mich fest!« Ganz ladylike tupft Hanna ihre Mundwinkel mit der Stoffserviette ab, bevor sie sich entspannt zurücklehnt.

»Ich werde es nie verstehen, dass du sogar mit den Typen knutschst, die du vom ersten Moment an blöd findest.«

»Es rundet meinen Eindruck ab. Außerdem knutsche ich gerne. Und danach schicke ich sie ja immer allein nach Hause.«

Dass die Typen auch alle Hanna küssen wollen, wundert mich wiederum gar nicht. Meine Freundin hat strahlend blaue Augen, wilde blonde Locken und ist so sturmerprobt wie humorbegabt. Sie kann saufen wie ein Russe und flirten wie eine Französin. Wenn wir zusammen ausgehen, schenken mir nur die wenigen Männer Aufmerksamkeit, die aus irgendwelchen Gründen mit Blondinen absolut nichts anfangen können. Zu meinem Glück gibt es ein paar davon. Zu meinem Pech erzählen die auch gerne, warum das so ist. Ich kenne wahrscheinlich die Hälfte aller Herzen, die in München und Umgebung mal von einer Blondine gebrochen wurden. Neulich erzählte mir ein Augsburger, man solle überhaupt nur dunkelhaarige Frauen heiraten. Kurz war ich geschmeichelt. Dann führte er seine These weiter aus und erklärte, die blonden Frauen seien zum Vögeln da. Exakt das war seine Wortwahl. Ich verließ die Bar schnell, weil mir plötzlich klar war: Ich werde dem Impuls, in sein Bierglas zu spucken, nicht mehr lange standhalten können.

»Wie geht’s eigentlich dem schönen Matthias?« So nennt Hanna ihn immer. Sie will mich ärgern.

»Er ist nicht schön. Er ist … tiefgründig und unnahbar«, seufze ich.

»Du schaust zu viel Rosamunde Pilcher.«

»Aber es ist wahr! Komm doch mal in der Kanzlei vorbei!«, schlage ich vor und schiebe mir das letzte Stück Käse von unserem Tapas-Teller in den Mund. »Wir tun so, als wärst du eine Mandantin, und dann rufe ich ihn dazu.«

»Ist er blöd genug, darauf reinzufallen?«

»Weiß nicht. Er spricht ja nie mit mir.«

»Darauf bestelle ich uns noch eine Runde«, sagt Hanna, nickt dem Kellner durch den halben Raum zu und macht mit dem Finger eine anmutige Kreisbewegung über unseren Gläsern. »Viola, hältst du es wirklich für romantisch, in einen Typen verliebt zu sein, der nicht mit dir spricht?«

»Ja, irgendwie schon.«

»Du musst dringend an deinem Selbstwertgefühl arbeiten.«

»Außerdem bin ich gar nicht in ihn verliebt!«, schiebe ich schnell hinterher.

»Na klar. Tut mir leid, der Einspruch kam zu spät.«

»Hm. Höchstens ein bisschen?«

»Versuchst du gerade, mit mir darüber zu verhandeln? Niedlich.«

»Du hast ja auch leicht reden«, beschwere ich mich. »Wenn ich ständig Dates hätte …«

»Wenn du mir mal erlaubt hättest, dir ein Profil bei einer Dating-Seite anzulegen …«, unterbricht Hanna mich.

»Ich möchte mich halt nicht mit Fremden treffen.«

»Ist nicht jeder Mensch ein Fremder, bevor man ihn trifft?« Nach dem zweiten Glas Prosecco wird meine Freundin manchmal philosophisch.

»Die meisten sind Frösche«, brumme ich stur. »Und das sind sie bisher auch alle geblieben. Sogar die, die ich geküsst habe.«

»Hast du schon mal versucht, einen gegen die Wand zu werfen?« Hanna lacht mich aus. »Außerdem ist diese Frosch-Prinz-Idee doch Unsinn. Die Männer sind so, wie sie sind. Sie ändern sich nicht, deshalb musst du dir von vornherein einen guten suchen. Und ich helfe dir dabei!«

Ich sehe ein, dass Argumente jetzt nicht mehr ziehen.

»Okay, irgendwann melde ich mich auch bei deinem Fleischmarkt an. Ehrlich«, verspreche ich.

»Gut. Wann?«

»Wenn die Hölle zufriert.«

Zu Hause lege ich mich mit meinem Handy ins Bett und checke noch schnell meine dienstlichen Mails. Stefan von Schilo erwartet von allen Mitarbeitern, dass wir das ständig tun. Soweit ich es mitbekommen habe, sitzen die anderen tatsächlich jeden Abend nach der Arbeit mit dem Handy auf dem Tisch da und lesen sofort jeden unwichtigen Kleinkram, der nach 18 Uhr einläuft. Sie antworten dann gerne an alle Mitarbeiter, um zu zeigen, dass sie die Mails auch außerhalb der Arbeitszeiten lesen. Daraufhin fühlen sich andere Mitarbeiter berufen nachzuziehen. Selbstverständlich auch wieder mit dem großen Verteiler in Kopie. Dann denken wiederum andere, sie könnten sich eine Bronzemedaille erkämpfen, indem sie auch noch antworten. Es ist lächerlich. Ich habe mir frühzeitig vorgenommen, mich an diesem Unsinn nicht zu beteiligen. Mein Feierabend ist tabu. Nur kurz vorm Schlafengehen überprüfe ich noch kurz, ob es etwas gibt, das ich wissen sollte, bevor ich am nächsten Tag ins Büro gehe.

Eine Mail von Stefan von Schilo. Kam um 18.05 Uhr, da war ich gerade mit wehenden Rockschößen aus der Kanzlei geeilt. Hoffentlich nicht wegen der unschönen Szene im Vorzimmer? Ach nein, sie ging an alle. Betreff: Turnier.

Liebe Kollegen,

wie manche von Ihnen wissen, fechte ich seit ein paar Jahren in meiner Freizeit. Das ist eine tolle sportliche Betätigung, die den Kampfgeist weckt und die Sinne schärft. Angriff und Verteidigung – wie in unserer Branche! Ich möchte fünf von Ihnen die Möglichkeit bieten, das auch auszuprobieren. Am Freitag, den 5. Juni, haben wir am Nachmittag die Halle und den Trainer ein paar Stunden lang für uns, und Sie können die Grundlagen erlernen. Anschließend veranstalten wir ein kleines Turnier, um zu sehen, wer von Ihnen am meisten Biss hat. Die ersten fünf, die sich melden, dürfen mitkommen. Als zusätzliche Belohnung für ihr Interesse müssen die Teilnehmer die ausfallenden Arbeitsstunden nicht nachholen.

Beste Grüße,

Stefan von Schilo

Ächz. Und natürlich haben die lieben Kollegen diesmal ausnahmsweise nicht an alle geantwortet, sondern ihren Schleim direkt beim Chef abgeladen. Keine einzige Antwort finde ich in meinem Posteingang. Was tue ich nur?

Abwarten. Schlafen.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen bin ich um halb neun im Büro. Wenn ich jetzt auf die gestrige Mail von meinem Chef antworte, dürfte ich auf der sicheren Seite sein. Bestimmt haben meine permanent Squash spielenden und im Sommer am Gardasee windsurfenden Kollegen sich schon alle angemeldet. Aber Interesse heucheln muss ich, sonst stehe ich als die Zicke ohne Biss da. Also, antworten.

Lieber Herr von Schilo,

bin ich zu spät dran? Ich musste noch abklären, ob das Datum bei mir passt. Hoffentlich ist noch ein Platz für mich frei. Ich würde Ihren Sport sehr gerne mal ausprobieren.

Mit besten Grüßen,

Viola Nienhaus

Lüge. Alles Lüge. Allmählich verstehe ich, warum die Hölle voller Anwälte ist.

Nur zehn Minuten später flattert die Antwort in meinen Posteingang.

Frau Nienhaus,

Sie sind dabei! Melde mich bald mit Details.

Grüße,

SvS

Und wenn ich fürs Lügen nicht in die Hölle komme, dann fürs Fluchen.

Es gibt in unserer Kanzlei eine Sitte, auf die man meines Erachtens gut verzichten könnte: Jeden Tag wird um 11 Uhr die Post aller Anwälte gemeinsam geöffnet und gelesen. Das dient der Transparenz, und ich als Neuling lerne dabei auch viel darüber, wie die Kollegen mit ihren Mandanten und Fällen umgehen. Leider hat Stefan von Schilo besondere Freude daran, Passagen vorzulesen, in denen die Gegenseite meine Kollegen und mich persönlich beleidigt. Unter Anwälten kommt das eigentlich nicht häufig vor, aber gerade bei Zivilprozessen vor dem Amtsgericht vertreten sich die größten Spinner am liebsten selbst. Und einen davon hat meine Kollegin Silvia Schreiner gerade an der Backe. Es geht in dem Fall, oh Wunder, um Schadenersatz wegen Körperverletzung. Und der Beschuldigte demonstriert uns gerade schwarz auf weiß sein Aggressionspotenzial.

»Sehr geehrte Frau Dr. Schreiner, ich habe Ihr Profil im Internet gesehen. Offensichtlich haben Ihnen die Dämpfe Ihres Haarfärbemittels geistigen Schaden zugefügt«, liest mein Chef genüsslich vor. »Aber dieses Wechseljahrerot steht Ihnen ausgezeichnet.«

Silvia Schreiner sitzt mir gegenüber und blickt gequält auf den großen Mahagonitisch.

»Trotz Ihres fortgeschrittenen Alters möchte ich Ihnen Mut machen: Es ist noch nicht zu spät, auf Grundschullehrerin umzusatteln! Zur Anwältin taugen Sie jedenfalls nicht.« Von Schilo grinst hämisch. »Oder wie möchten Sie es entschuldigen, dass bei einem klaren Fall von Notwehr gar kein Schadenersatz bezahlt wird? Da hätten Sie sich wohl mal besser informiert!«

Peinlich berührt scharre ich mit den Füßen auf dem Boden herum. Matthias, der kalte Fisch, schaut gelangweilt aus dem Fenster. Im Gesicht der Kollegin sehe ich eine Röte aufsteigen, die zu ihrer Haarfarbe tatsächlich ganz gut passt. Jetzt zu widersprechen wäre ein großer Fehler. Es ist offensichtlich, dass dieser Brief Mumpitz ist. Und genauso offensichtlich ist, dass unser Chef sich an der unterdrückten Wut seiner Mitarbeiterin weidet. Mit seinem Muränenlächeln lässt er den Brief sinken.

»Na, Frau Schreiner? Das mit der Grundschullehrerin ist natürlich Quatsch. Sie haben ja reich geheiratet und sollten besser den ganzen Tag zu Hause bleiben und Angestellte befehligen! Ha! Ha!« Er lacht sein hässliches, kehliges Lachen. Das ist sein liebster wunder Punkt an der Kollegin.

Allmählich treten an Silvia Schreiners Hals die Adern hervor, aber sie fixiert weiterhin die Tischplatte und verzieht keine Miene. Sie ist in zweiter Ehe mit einem Großgrundbesitzer verheiratet, der sein Geld am liebsten in Pferde investiert. Aber nicht etwa in Rennpferde, die Siegprämien bringen. Er hat einen ganz normalen Reitstall, in dem unter anderem Lianes kleine Nichte reitet. Besonders elitär oder reich, versicherte sie mir einmal, wirke da gar nichts.

Meinem Chef fällt offenbar nicht auf, dass außer ihm keiner lacht. Nur zwei der Kollegen zeigen ein dünnes Lächeln. Einem davon patscht von Schilo keuchend auf die Schulter. »Angestellte, wissen Sie? Ha ha!« Die Minuten ziehen sich endlos, bis er die Zusammenkunft endlich für beendet erklärt.

Ich muss mittlerweile dringend auf die Toilette, aber vor der Tür kann ich mich nicht dazu durchringen, in die gleiche Richtung wie mein Chef zu gehen und womöglich auch noch Konversation betreiben zu müssen. Deshalb mache ich einen kleinen Umweg über die Kaffeeküche. Als ich wenig später die Tür zur Damentoilette öffne, höre ich, wie sich jemand in der rechten Kabine geräuschvoll die Nase putzt. Für mich bleibt die linke. Anschließend wasche ich mir die Hände und wundere mich: Kein Laut dringt aus der anderen Kabine. Wie viel Zeit kann man eigentlich damit verbringen, in der Nase zu bohren?

Ich trockne meine Hände ab, werfe mit gerunzelter Stirn einen Blick in den Spiegel und mache dann doch noch einmal zwei Schritte auf die hellgrün gestrichenen Kabinen zu. Wer auch immer da drin ist, sie macht keinen Mucks.

»Hallo?«, sage ich vorsichtig. Meine Stimme hallt von den Fliesen wider.

»Gehen Sie weg!«, kommt es müde und nasal aus der Kabine.

»Frau Schreiner? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Ich höre ein Seufzen, dann dreht sich der Riegel. Silvia Schreiner steht vor mir und schaut mich genervt an.

»Sie versuchen wahrscheinlich gerade, nett zu sein«, sagt sie gepresst. »Mir wäre es trotzdem lieber, Sie würden wieder in Ihr Büro gehen und mich in Ruhe auf dem Klo flennen lassen.«

Mit offenem Mund starre ich sie an. Silvia Schreiner flennt heimlich auf dem Klo? Die Frau könnte meine Mutter sein und ist eine gefürchtete Anwältin. Selbst mit geröteten Augen wirkt sie noch respekteinflößend. Außerdem überragt sie mich um Haupteslänge. Sie macht mich nervös. Eine tröstende Umarmung meinerseits ist hier sicher nicht erwünscht. Aber ich muss doch etwas sagen. Irgendetwas.

»Essen?«, höre ich mich fragen.

Meine Kollegin sieht mich erst verständnislos, dann zweifelnd an. Dann zuckt sie mit den Schultern und tritt ans Waschbecken. »Warum nicht.«

Kurz darauf sitzen wir in einem schicken Restaurant in der Theatinerstraße. Fast ein bisschen zu schick für meinen Geschmack. Diese Anwälte. Silvia hat mir als Erstes das Du angeboten und sich dann ein Pils bestellt. Ansonsten wirkt sie schon wieder ganz gefasst. Zähes Weib.

»Ich möchte nicht, dass du denkst, ich weine nach jeder dieser Konferenzen«, sagt sie zu mir.

»Äh, nein?«

»Nein. Höchstens einmal im Monat. Und auch das widerwillig, weil ich ihm diesen Gefallen eigentlich nicht tun will.«

»Wem, ihm?«, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne.

»Na, Lord Voldemort natürlich.«

»Lord Voldemort? So nennen Sie – ich meine, so nennst du ihn?« Ich platze fast vor Lachen. Mein Chef sieht tatsächlich ein bisschen aus wie der Bösewicht bei Harry Potter.

»So nennt ihn mittlerweile die halbe Kanzlei«, erzählt Silvia zufrieden und nimmt einen Schluck von ihrem Bier. »Manche bezeichnen ihn auch als den Hassprediger. Aber das ist mir zu verbissen.«

»Verdient hätte er es.«

»Ja, allerdings. Ist dir schon aufgefallen, dass er nur dann grüßt, wenn er einen Mandanten im Schlepptau hat?«

»Mir ist aufgefallen, dass er meistens nicht grüßt. Am Anfang war ich immer sehr peinlich berührt, aber dann habe ich selbst angefangen, auf dem Gang an ihm vorbeizuschauen.«

»Und wann hat er dich zuletzt gegrüßt?«

»Da ist er mit so einem dicken Mann über den Flur gegangen und hat ›Hallo, Frau Nienhaus‹ zu mir gesagt.«

»Ja, er zeigt dann gerne, dass er die Namen seiner Mitarbeiter alle kennt. Ist ja auch echt eine Leistung bei zehn Anwälten«, lästert Silvia augenrollend.

»Sag mal, bist du eigentlich unter den Fünfen, die bei diesem Fecht-Quatsch mitmachen müssen?«

»Müssen?« Silvia grinst wölfisch. »Ich habe mich geradezu aufgedrängt! Die Gelegenheit, mit einem Säbel in der Hand meinem Chef gegenüberzustehen, lasse ich mir doch nicht entgehen. Und du?«

»Na ja, ich bin eher so aus Versehen dabei.« Ich erzähle von meiner misslungenen Heuchelei und lasse mich dafür auslachen.

»Mach dir nichts draus«, sagt Silvia, als sie mich genug veräppelt hat. »Wir machen es uns schon lustig. Und Herr Fischer kommt auch, habe ich gehört.« Zwinker, zwinker.

Matthias Fischer. Matthias Fischer und ich. Ich Grobmotoriker muss vor ihm Leibesübungen machen. Oh weh! »Oh, wie nett«, sage ich unverbindlich.

»Ja, nicht wahr? Ich könnte mir vorstellen, dass du bei ihm vielleicht gerne ein paar Körpertreffer landen würdest«, sagt Silvia im gleichen höflichen Tonfall und beobachtet mich genau.

Ich schließe für eine Sekunde fest die Augen. »Bin ich so leicht zu durchschauen? Wer weiß das noch alles?«, frage ich resigniert.

»Bis jetzt niemand. Es war nur ein Versuchsballon. Aber jetzt weiß ich ja Bescheid.«

Ah, verdammt! Schnell stopfe ich mir ein Stück Weißbrot in den Mund, damit er nicht offen stehen bleibt. Während ich kaue, blickt Silvia mich freundlich und ein kleines bisschen triumphierend an.

»Bitte sag es keinem, ja?«, flehe ich. »Meine Güte, gegen dich möchte ich nie einen Prozess führen.«

»Das musst du nicht.« Silvia prostet mir zu. »Wir gehören ja zur selben Kanzlei.«

Als ich am Abend nach Hause komme, ist dort offensichtlich gerade eine Fliegerbombe explodiert. In der Küche stehen meine beiden Mitbewohner und kochen. Zumindest denken sie wohl, dass das Kochen ist.

»Was ist denn hier passiert?«, frage ich und fühle mich sofort wie meine eigene Großmutter. Vor ein paar Monaten war ich auch noch Studentin und habe den Tag damit verbracht, mich mit allen Mitteln vom Lernen abzulenken. Kochen war da noch die zivilisierteste Beschäftigung. Jetzt bin ich eine Anwaltsspießerin. Genau so schauen mich Sarah und Leo jedenfalls an. Mir wird bewusst, dass sie Jogginghosen und Flipflops tragen und ich Pumps und ein Kostümchen. Sarahs blonde Sturmfrisur verrät, dass sie gerade aufgestanden sein muss, während ich meine Haare morgens um acht zu einem strengen Knoten zusammengesteckt habe, aus dem immer noch keine einzige Strähne einen Ausweg gefunden hat.

»Wir räumen nachher auf«, sagt Leo schließlich. Unterton: Stress nicht rum, Mutti! Dann wendet er sich wieder dem Öffnen einer Packung Mozzarella zu. Die beiden machen Pizza. Das erkenne ich aber erst jetzt, vorher sah ich nur Zerstörung. Verlegen trete ich von einem Bein aufs andere. Sarah schaut zu, wie ich mich winde, und erbarmt sich schließlich.

»Willst du mitessen, Viola?«

»Ja, gerne! Wenn ich darf?«

»Du darfst sogar helfen.« Grinsend wirft sie mir eine Zwiebel zu, die ich tollpatschig vor meinem Bauch auffange. Auge-Hand-Koordination ist nicht so meins.

»Ich ziehe mich noch schnell um.«

»Ja«, meint Leo kühl. »Das wäre wohl besser.«

Eine Stunde später sitzen wir um den Küchentisch, mampfen Pizza und reden über Sarahs Pläne, zum dritten Mal den Studiengang zu wechseln.

»Natürlich ist Soziologie toll, und ich bin ja jetzt auch schon zwei Jahre dabeigeblieben«, sagt sie stolz. »Aber findet ihr nicht, internationale Medienkommunikation klingt noch besser?«

»Doch, es klingt viel besser!«, springt Leo ihr bei.

»Ja, klingt super. Aber was soll das eigentlich heißen?«, frage ich.

Peinliche Stille. Drei Sekunden können lang sein.

»Ich könnte damit zum Beispiel Online-Marketing-Manager werden. Steht auf der Website.«

»Online-Marketing-Manager? Interessiert dich das überhaupt? Du bist doch nicht mal bei Facebook.«

Sarah schiebt die Unterlippe vor. Was ist in dieser WG eigentlich passiert, dass ich plötzlich die klugscheißende Erziehungsberechtigte geworden bin?

»Von meinen Soziologie-Kommilitonen ist fast niemand auf Facebook.«

»Sie kann doch jederzeit ein Profil anlegen, wenn sie das Fach wechselt.« Leo schaut mich indigniert an und verzieht unzufrieden seinen schmalen Mund. Er steht auf Sarah, da bin ich mir sicher. Seit mehr als einem halben Jahr wohnen wir zusammen hier, und er war noch nie in irgendetwas nicht ihrer Meinung. Sie hat ihn aber auch noch nie rangelassen, soweit ich weiß. Vielleicht mag sie Männer mit eigenem Kopf.

»Sarah, ich weiß, du willst das nicht hören«, beginne ich vorsichtig. »Aber findest du nicht, mit sechsundzwanzig wäre es allmählich ein Wert an sich, überhaupt ein Studium zu Ende zu kriegen? Zumal dir Soziologie doch eigentlich ganz gut gefiel, oder?«

»Es ist halt nicht jedermanns Sache, schnell zu studieren, damit man möglichst bald viel Kohle verdient.«

»Meinst du damit etwa mich?«

»Siehst du hier noch einen Juristen sitzen?«

Sicher nicht. Leo studiert Maschinenbau. Was sonst? Gerade versucht er offenbar, sich unsichtbar zu machen, indem er konzentriert die Raufasertapete anstarrt.

»Ich bin nicht des Geldes wegen Anwältin geworden«, sage ich und breche meine Verteidigungsrede dann ab. Eigentlich habe ich überhaupt kein Interesse, mich abends auch noch für meinen Job rechtfertigen zu müssen. Schon gar nicht vor einer am späten Nachmittag aus dem Bett gekrabbelten Sarah. Es ist mir auch egal, was sie denkt. Soll sie doch argwöhnen, ich spare auf ein Chalet in der Schweiz, indem ich Mandanten ausnehme.

»Warum denn dann?« Sarah will es trotzdem genau wissen.

»Es geht mir um Gerechtigkeit«, antworte ich müde.

»Pfff, Gerechtigkeit. Na klar.«

»Du brauchst das gar nicht so verächtlich zu sagen.«

»Ich sag gar nichts mehr.« Sarah wirft Leo einen auffordernden Blick zu. »Leo und ich haben den Teig gemacht, du räumst die Küche auf.« Sie erhebt sich und verlässt den Raum, gefolgt von ihrem treuen Vasallen.

Ich bleibe allein im Chaos zurück und bemerke bald mit Freuden, dass die Herrschaften kein Backpapier benutzt haben.

Später liege ich in meinem Zimmer auf meinem Bett und starre auf meinen Kleiderschrank. Viel mehr steht hier auch nicht drin. Ein Bücherregal noch und ein kleiner Tisch mit Stuhl davor. Daneben ein Ventilator, weil ich die Südseite erwischt habe und sich das Zimmer im Sommer in eine kleine Sauna verwandelt. Das war’s. Dafür stehen immer noch Umzugskisten im Keller meiner Eltern, die ich in hysterischer Eile gepackt habe, als ich nach zwei wechselhaften Jahren bei Thomas ausgezogen bin. Es klappte am Ende einfach nicht mehr mit uns beiden. Während andere Paare es schon als Gefährdung ihrer Beziehung sehen, wenn sie jeden Abend gemeinsam eine DVD ansehen, schafften wir solche Harmonie gar nicht mehr: Wir stritten nur noch. Und als er schließlich mit seiner besten Freundin in Urlaub fuhr statt mit mir, verspürte ich Erleichterung. Aber auch Eifersucht. Tagsüber genoss ich die Woche, die ich alleine in unserer schönen, geräumigen Wohnung verbringen konnte. Nachts ging ich die Wände hoch bei der Vorstellung, dass ein venezianisches Doppelbett eine langjährige Freundschaft ja doch mal um ein paar Features erweitern könnte.

Am Morgen seiner Heimkehr beschloss ich, dass es sich nicht mehr lohnte, um diese Beziehung zu kämpfen. Ich fuhr mit dem Auto meiner Mutter zum Baumarkt, kaufte Umzugskartons und warf alles hinein, was mir gehörte. Dann suchte ich im Internet nach einem WG-Zimmer ab sofort.

Sarah meldete sich telefonisch auf meine E-Mail und hörte sich meine von gelegentlichen Schluchzern durchzogene Schilderung der Lage geduldig an. Dann sagte sie, ich könne das Zimmer haben. Zwei Stunden später war ich eingezogen. Und Sarah hat wirklich was gut bei mir.

Trotzdem sollte ich mir jetzt vielleicht eine eigene Wohnung suchen. Das hier passte alles ganz prächtig, als ich noch tagsüber schlief und nachts zum Lernen in die Staatsbibliothek ging, weil es dort ruhiger war. Oder aber auf dem Weg dorthin irgendwann plötzlich eine andere Richtung einschlug, weil eine SMS von Sebastian mich in sein Bett lockte. Müsste ich dieses Examen noch mal schreiben, ich würde mich vorher in einen Ganzkörperkeuschheitsgürtel einschweißen lassen. Eine Art Blechburka. Dann hätte dieser Wicht mich nicht vom Lernen abhalten können.

Als das Examen vorüber war, feierte ich wie alle anderen Studenten. Aber verzweifelter. Ich sehnte mich immer noch nach Sebastian und war mir nicht sicher, ob ich bestanden hatte. In dieser Zeit passte mein Lebensrhythmus mit dem von Sarah und Leo am besten zusammen. Wir frühstückten am frühen Nachmittag ausgiebig und fielen morgens um fünf auf irgendwelchen Partys vom Barhocker.

Dann fing ich in der Kanzlei an, und alles wurde anders. Ich kaufte mir Business-Klamotten und stehe inzwischen auch am Wochenende um acht Uhr auf, weil ich nicht mehr so lange ausschlafen kann. Eigentlich sehe ich die beiden anderen kaum noch. Und wenn doch, stelle ich fest, wie unterschiedlich wir geworden sind. Meine Arbeit finden sie angepasst, meine Kleider zu erwachsen und mich oft zu genervt, weil ich abends gerne meine Ruhe haben und keine House-Musik zum Vorglühen hören möchte. Ich glühe nicht vor. Ich gehe ja nicht mal mehr richtig aus. Zumindest nicht unter der Woche.