Über das Buch:
Berufung – ein etwas sperriger Begriff, dessen Perspektive und Bedeutung uns häufig verloren gegangen ist. Wie finde ich eine Lebensform, die meinem Wesen entspricht? Wofür soll ich mein Leben einsetzen? Mit anderen Worten: Was ist meine Berufung?

Auf die Frage nach dem „Wie“ gibt der Autor praktische Antworten, die sich nicht nur in der Psychotherapie bewährt haben. Auf die existenzielle Frage nach dem „Wofür“ bietet die Bibel Lösungen, die zu einem frohen, schöpferischen und einsatzbereiten Leben freisetzen.

Dieses Buch kann einem Leben neue Richtung geben.

Mit Illustrationen von Marion Schowalter

Über den Autoren:
Jörg Berger, Jahrgang 1970, ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut. Er lebt mit seiner Familie in Heidelberg und ist dort in eigener Praxis tätig.

Verstehen Sie sich als Teil eines Ganzen

Bei sich beginnnen, aber nicht bei sich enden,
von sich ausgehen, aber nicht auf sich abzielen,
sich erfasssen, aber nicht sich mit sich befassen.

Martin Buber,
„Der Weg des Menschen“


Die Worte von Martin Buber bringen eine zentrale Bewegung bei der Berufungsfindung auf den Punkt. Es ist kein kraftvolles Engagement denkbar, das nicht im Wesen und in den Begabungen dessen wurzelt, der sich einsetzt. Es wird aber auch kein kraftvolles Engagement geben, wenn es bei einer individualistischen Perspektive bleibt, wenn nur der Einzelne mit seinen Neigungen und Fähigkeiten im Blick ist. Wenn nicht das Ganze gesehen wird, zu dem das Engagement eines Einzelnen etwas beiträgt, ergeben sich Probleme, die schnell in Frust und Überanstrengung führen. Ein Beispiel mag das verdeutlichen:

Lars hat begonnen, sich für Obdachlose zu engagieren. Ein städtischer Treffpunkt bietet im Winter eine warme Stube mit einem Kontakt- und Frühstücksangebot an. Lars hilft in der Küche und setzt sich immer wieder zu den Männern, die sich gern auf ein Gespräch einlassen. Er hat sich inzwischen viel Wissen über die Resozialisation Nichtsesshafter angelesen und versucht es in die Gespräche einfließen zu lassen. Aber sobald er solche Worte wie „Arbeitstraining“ oder „Eigenverantwortung“ in den Mund nimmt, weichen die Männer auf andere Themen aus oder berichten detailliert, wie übel ihnen das Leben bisher mitgespielt hat. „Diese Berber!“, schimpft Lars nach einem besonders frustrierenden Vormittag. „Die wollen doch in ihrem Dreck sitzen bleiben!“ Er hat etwas Wesentliches übersehen. Mit seinem Engagement ist er nur ein kleines, aber bedeutsames Glied in einer Kette von Maßnahmen und Entwicklungen, die später durchaus dazu führen, dass manche wieder ein selbstbestimmtes und weniger leidvolles Leben führen. Er sieht nur seinen eigenen Einsatz, nicht das Ganze. Und deshalb will er als Einzelner gleich alles erreichen. Er überfordert sich und sein Gegenüber. Kritisch betrachtet macht er die Obdachlosen zum Objekt seines Engagements und ist sauer, wenn diese nicht so wie geplant reagieren.

Wenn der Beitrag eines Einzelnen im größeren Zusammenhang gesehen wird, beugt das auch einer Leistungsmentalität vor. Betrachten wir zum Beispiel ein behindertes Kind, das nie in der Lage sein wird, eigenständig zu leben oder eigenes Geld zu verdienen. Sollen wir es in unseren Überlegungen zur Berufung ausschließen, nur weil es nicht leistungsfähig genug ist? Sehen wir auf das Ganze, die Familie, in der es lebt:

Zunächst ist die Behinderung vermutlich ein Schreck, ein traumatisierender Einbruch in die Familien- und Lebenspläne, eine an die Belastungsgrenzen führende Verantwortung. Mit den Jahren kann die Behinderung zu einem großen Reifungsanstoß für die ganze Familie werden. Wenn die übrigen Familienmitglieder diese Lebensaufgabe annehmen und positiv gestalten, kann sie eine große Kraft und Ausstrahlung gewinnen. Die Menge ihres Einsatzes wird sicher lange durch die gebundenen Kräfte begrenzt sein, aber die gelassene, menschliche und auf die wesentlichen Dinge bezogene Qualität ihrer Lebensführung wird für viele Menschen richtungweisend sein.

Es scheint mir, dass Geschwister von behinderten Menschen häufiger in sozialen Berufen zu finden sind. Diejenigen, die ich kennen gelernt habe, haben in ihrer Reife und ihren menschlichen Fähigkeiten einen Vorsprung. So kann ein behinderter Mensch mit seiner Fröhlichkeit, Kindlichkeit, Unbeholfenheit und Begrenztheit einen wertvollen Beitrag leisten, wenn man die Auswirkung auf das Ganze betrachtet. Nicht sein Tun, sondern sein Sein macht seine Berufung aus. (Das gelingt nicht automatisch, wie ich aus leidvollen Gegenbeispielen aus der psychotherapeutischen Praxis weiß. Es braucht – gerade wenn ein Glied der Gemeinschaft einen sehr kleinen Gestaltungsspielraum hat – eine Bereitschaft des Umfeldes, das Wertvolle des Einzelnen zu sehen und sich auch von belastenden Herausforderungen positiv formen zu lassen.)

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Unterschiedliche Sichtweisen

Wer nicht über den eigenen Tellerrand hinaus sieht, gerät schnell in die Alltagsfalle. Die vielen Tätigkeiten, die der Beruf und das Privatleben fordern, werden zur Last, weil sie langweilig, unbedeutend, manchmal sogar sinnlos erscheinen. Woher die Motivation nehmen, Tag für Tag neu ans Werk zu gehen? Auch für die Motivation zählt, wie eine Sache gesehen und innerlich bewertet wird. Wer ein Brett bearbeitet, kann sich als jemand fühlen, der sägt. Oder er sieht sich als Kabinenhersteller, einen Mann mit einer wichtigen Aufgabe. Vielleicht versteht er sich aber auch als Schiffsbauer! Wer einen Haushalt führt, kann sich als unbezahlte Putzkraft fühlen. Oder als Familienmanager(in). Oder als jemand, der das Geschenk des Lebens an seine Kinder weitergibt.