Über das Buch:
Trauer kann unerträglichen seelischen Schmerz auslösen und ist gleichzeitig eines der häufigsten Gefühle überhaupt. Viele Menschen versuchen, möglichst nicht an sie zu denken.

Dieses Buch geht anders vor. Es hilft, Trauer zu verstehen: was sie ist, wie sie wirkt und was sie von der Depression unterscheidet. Damit zeigt es einen Weg aus der Hilflosigkeit, in der sich viele Trauernde, aber auch deren Freunde und Angehörige befinden. Und es zeigt auch, warum menschliche Reife nur über diesen unwillkommenen Umweg zu haben ist.

Über den Autor:
Dr. med. Martin Grabe, Psychiater und Psychotherapeut, ist Chefarzt der Psychotherapieabteilung der Klinik Hohe Mark bei Frankfurt und leitet die Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS). Lehraufträge in verschiedenen Master-Studiengängen im Fach Praktische Theologie. Martin Grabe ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in Kronberg im Taunus.

7. Wie kann man Trauernden helfen?

Trotz allem, was bisher gesagt wurde, bleibt es eine Tatsache, dass von außen herangetragene Einsichten Menschen wenig nützen, die gerade in einer schweren Krise oder einem Trauerprozess sind. Es gibt keinen Bedarf an Pauschalantworten von außen.

Solche deutenden oder erklärenden Antworten mögen durchdacht sein und einfühlsam vorgetragen werden, doch sie richten meist mehr Schaden an als Nutzen. Das Buch Hiob bringt auch dafür eindrückliche Beispiele.

Der Trauernde muss letztlich selbst die Antwort darauf finden, was das Ereignis, das ihm widerfahren ist, für sein Leben bedeutet. Und in der Regel findet er sie. Für Außenstehende ist es allerdings manchmal nicht die erwartete.

Menschen, die gläubig sind, sind hier in einer speziellen Situation. Sie müssen sich zusätzlich mit ihrem Gottesbild auseinandersetzen, wenn ihnen ein für sie wichtiges Stück Lebensglück verweigert oder genommen wird. Zum anderen bietet die Hoffnung auf das ewige Leben aber oft einen starken Trost, gerade im stärksten Schmerz über den Verlust.

Wie kann man Trauernden dann helfen? Man kann vor allem für sie da sein.

Das heißt zunächst einmal, tatsächlich anwesend zu sein. Viele, die einen wichtigen Menschen verloren haben, stellen zusätzlich auch noch fest, dass manche Bekannte und Freunde sich nicht melden oder ihnen sogar aus dem Weg gehen. Das Thema Tod ist in unserer Gesellschaft zu einem so ausgeprägten Tabu geworden, dass bei vielen eine große Verhaltensunsicherheit herrscht, wenn sie ihm doch einmal begegnen. Vielleicht ist die erste Hürde, dass ein Bekannter einfach nicht weiß, wie er „Beileid wünschen“ soll, weil er darüber irgendwelche förmlichen und steifen Klischees im Kopf hat. Es ist ja auch richtig: In der Situation, dass jemand einen ihm sehr wichtigen Menschen verloren hat, ist eigentlich jeder Wunsch oder Kommentar unbeholfen. Verglichen mit dem, was der Betroffene durchmacht, ist ein „Es tut mir leid“ eine sehr schwache Formulierung. So ist für viele die Hemmschwelle für ein spontanes Telefonat zu hoch. Nur ist ihnen leider oft nicht klar: Die Hemmschwelle wächst mit jedem weiteren Tag. Denn jetzt müssten sie sich auch noch entschuldigen, sich nicht eher gemeldet zu haben.

So habe ich schon von vielen Menschen gehört, wie einsam sie in einer solchen Trauersituation waren. Sie fühlten sich von allen Freunden verlassen. Das betrifft vor allem Menschen, die in städtischen Wohngebieten leben – heutzutage die weitaus meisten. Es gibt dort keine Trauerkultur mehr, keine Rituale, jeder ist sich selbst überlassen. Das ist die Kehrseite der großen Freiheit und Selbstbestimmtheit unserer Gesellschaft.

In vielen Dorfgemeinschaften gibt es noch feste Rituale, die diese Verhaltensunsicherheit überwinden helfen. Es gibt klare Regeln, die alle Nachbarn und Bekannten zu ersten Kontakten mit den Trauernden bringen. Angehörige einer Trauerfamilie können dann durchs Dorf gehen, ohne befürchten zu müssen, dass es zu peinlichen Situationen kommt. Denn alle Nachbarn haben ihnen schon Beileid gewünscht, und alle werden auch zur Beerdigung kommen. Es kann für Trauernde eine Wohltat sein, wenn im ganzen Dorf wegen ihres Angehörigen einmal für einige Zeit die Uhr still steht und sie erleben, dass ihm Ehre erwiesen wird.

Aber auch in großstädtischen Wohngebieten bleibt es eine Tatsache, dass Trauernde Menschen brauchen. Auch wenn sie sich vielleicht zurückziehen, um ihre starken Gefühle, die zum Teil auch sehr schwanken, vor anderen zu verbergen. So haben sie selbst meist eher die Tendenz, die Isolierung zu verstärken, und sind umso mehr auf andere angewiesen, die auf sie zuzugehen.

So ist es im Falle eines Falles ungleich besser, mit einem vielleicht ungeschickt klingenden „Du, es tut mir leid, was da passiert ist“ frühzeitig auf einen Trauernden zuzugehen, als das aus Unsicherheit zu vermeiden. Ist der erste Kontakt erst wiederhergestellt, ergibt sich meist das Weitere ohne große Schwierigkeiten. Wir werden schnell merken, was der Trauernde uns erzählt, an welcher Stelle er uns braucht. Vielleicht geht es ganz schlicht um die Hilfe bei einem praktischen Problem. Vielleicht merken wir auch, dass er jetzt gerade nicht in der Lage ist, lange zu sprechen und in Ruhe gelassen werden will. Aber der erste Schritt ist getan. Der Trauernde hat das Signal bekommen, dass er nicht allein ist, und er weiß auch, dass er im Bedarfsfall auf uns zukommen darf.

Im Gespräch über den Verlust geht es zunächst einmal vor allem darum, dem Betroffenen durch unser Verhalten zu signalisieren, dass seine Mischung an Gefühlen sein darf, die ihn selbst verwirrt und die er vielleicht ablehnt. Trauerbegleitung bedeutet großenteils annehmendes Zuhören.

Wenn es nicht um den Tod Angehöriger geht, sondern um andersartige schwere Verluste, dann ist außer dem Schmerz vielleicht auch viel Ärger da, vielleicht auch Angst vor weiterem Unglück, was eine tiefe Verunsicherung bewirken kann. Vielleicht spielt auch Scham über eine Entwicklung, die der Betroffene als Gesichtsverlust erlebt, eine wichtige Rolle.

Stehen Ängste oder quälende Selbstanklagen im Vordergrund, kann es sinnvoll sein, diese immer wieder ruhig und beharrlich zu widerlegen. Am besten im „sokratischen“ Dialog. Für Trauernde ist es oft nicht leicht, Antworten auch von guten Freunden anzunehmen. Das Gefühl ist da: „Du kannst einfach nicht wissen, wie es mir geht“ oder „Du hast gut reden, genauso hätte ich das früher auch gesagt“ oder: „So kann man das sehr klug sagen, wenn es einem selbst gut geht“. Betroffene können viel eher Antworten akzeptieren, die sie selbst herausfinden.

Solch ein Gespräch könnte vielleicht folgendermaßen verlaufen:

Eine Mutter, deren Kind überfahren wurde, beginnt, sich wieder einmal in Gegenwart ihrer Freundin anzuschuldigen.

„Hätte ich besser auf J. aufgepasst, wäre er nicht verunglückt!“

„Denkst du wirklich, dass eine Mutter ununterbrochen, den ganzen Tag lang, ihr Kind in den Augen behalten kann? Denkst du das wirklich?“

„Nein, aber wenn ich in dem Augenblick da gewesen wäre, als J. gestürzt ist, hätte ich bestimmt das Schlimmste verhüten können!“

„Du meinst also, du hättest voraussehen müssen, dass du in genau diesem Augenblick da sein musstest.“

„Ja, eigentlich ja.“

„Meinst du, das geht? So – als gewöhnlicher Mensch?“

„Hm.“

Viel weiter ist bei einer Gelegenheit möglicherweise gar nicht zu kommen, die Freundin sollte in diesem Beispiel ruhig aufhören und lieber die nächste Gelegenheit wieder aufgreifen. Der Prozess braucht Zeit, und es bringt nur Blockierungen, wenn sich die Trauernde in die Enge gedrängt fühlt.

Wichtig ist, Gelegenheiten zu nutzen, den Blick auf das Gute und die Chancen zu lenken, die noch vorhanden sind. Denn das Problem der akuten Trauer ist ja, dass Betroffene nur auf das quälend Fehlende starren und den Schmerz darüber immer wieder verzweifelt empfinden.

Es wird allerdings nicht viel dabei herauskommen, wenn Gesprächspartner theoretisch und belehrend über verbliebene Möglichkeiten sprechen, über „das halb volle Glas“. Es geht vielmehr darum, in der anwesenden, konkreten Lebensrealität diese Dinge wahrzunehmen – also selbst lebendig zu sein! – und das Erlebte dann in unaufdringlicher Weise ins Gespräch zu bringen. Das können die kleinen Dinge des Lebens sein: der Tee, den es gerade gibt, die Natur, das Wetter, oder, noch besser, auch die wichtigeren: Beziehungen, die geblieben sind und dem Trauernden viel bedeuten. Zum Beispiel kann das Erzählen gerade selbst erlebter kleiner Begebenheiten mit diesen Menschen, die noch da sind, die Blickrichtung wieder stärker auf das Vorhandene, das Gute richten. Aber nicht zu viel davon.

Das Tempo muss die Seele des Trauernden selbst bestimmen.

Vor allem muss es darum gehen, dass der Trauernde Raum bekommt, wo er in selbst formulierten Sätzen wieder Anschluss an sich selbst, seine Werte, seine Lebensumgebung bekommen kann und wo er die Beziehung zum Verstorbenen würdigen kann. Das Erzählen von gemeinsamen Erlebnissen, die man mit dem Verstorbenen hatte, fördert den Prozess, dass der Trauernde diesen immer mehr als bleibenden Bestandteil des eigenen Lebens empfinden kann. Es ist gut, wenn es Freunde gibt, die sich für diese Geschichten interessieren.

Allerdings hat jeder, der Trauernden helfen möchte, auch seine eigenen Grenzen. Und es ist sehr wichtig, diese in einer Trauerbegleitung zu beachten. Gerade Trauer kann sehr verwickeln. Wir haben das Gefühl, Rücksicht auf den Trauernden nehmen zu müssen, und merken vielleicht gar nicht, wie wir selbst in diese hoffnungslose, glücklose Stimmung mit hineingezogen werden, der wir uns dort aussetzen. Vielleicht weit mehr, als uns guttut. Helfende, die sich nach einem Besuch ausgelaugt und ausgesaugt fühlen, werden den nächsten lange hinauszögern. Oder, wenn es Menschen mit hohem Selbstanspruch sind, trotzdem zum nächsten Besuch kommen, aber mit schlechtem Gefühl und negativen Erwartungen. Der Misserfolg ist für beide Beteiligten dann schon vorprogrammiert.

Weit besser ist es, eigene Grenzen beizeiten zu beachten und sich nicht tiefer auf den Trauerprozess einzulassen, als man es gut aushalten kann und möchte. Zum Beispiel kann man Besuche von vornherein zeitlich eingrenzen. Besser zu wenig, als zu viel. Für den Trauernden ist es letztlich im Ergebnis wesentlich besser, wenn eine Beziehung auf diese Weise gehalten wird, so wie es für beide in Ordnung ist, als wenn Helfer irgendwann völlig überfordert den Kontakt abbrechen.

Glücklicherweise erleben aber die meisten Menschen, die als Freunde mit Trauernden zu tun haben, ihren Anteil an der Entwicklung, die wir als Vertiefung von Beziehungen und Freundschaften im Verlauf der Trauerarbeit schon kennengelernt haben. Sozusagen die komplementäre Seite. Auch ihre Freundschaft zu den Trauernden erlebt eine Bereicherung und Vertiefung. Viele der intensivsten und beglückendsten Freundschaften, die wir haben, sind aus dem gemeinsamen Durchstehen schwerer Phasen entstanden.