AERA Die Rückkehr der Götter

Markus Heitz

AERA
Die Rückkehr der Götter

Episode 7
TÖDLICHES VERGNÜGEN

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Markus Heitz

Markus Heitz, geboren 1971, studierte Germanistik und Geschichte. Kein anderer Autor wurde so oft wie er mit dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichnet, weshalb er zu Recht als Großmeister der deutschen Fantasy gilt. Mit der Bestsellerserie um »Die Zwerge« drückte er der klassischen Fantasy seinen Stempel auf und eroberte mit seinen Werwolf- und Vampirthrillern auch die Urban Fantasy. Markus Heitz lebt in Homburg.

Impressum

© 2015 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Innenabbildungen: Heiko Jung

Redaktion: Hanka Jobke

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Coverabbildung: Anke Koopmann, Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von
© Elm Haßfurth/www.elmstreet.org

ISBN 978-3-426-43695-0

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Episode 7
TÖDLICHES VERGNÜGEN

 

»Da ließ der HERR Schwefel und Feuer regnen von Himmel herab auf Sodom und Gomorrah und kehrte die Städte um und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war.

Und sein [Lots] Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule.

Abraham aber machte sich des Morgens früh auf an den Ort, da er gestanden vor dem HERRN, und wandte sein Angesicht gegen Sodom und Gomorrah und alles Land der Gegend und schaute; und siehe, da ging Rauch auf vom Lande wie ein Rauch vom Ofen.«

 

1. Buch Mose, Kapitel 19,

Luther-Bibel, Ausgabe von 1912

 

 

 

Nippon (Japan), Honshū (Hauptinsel), Tokio, November 2019

 

»Ich lasse Sie zurück in Ihr Hotel bringen, Mister Bourreau«, sagte Oona Milord über den eingebauten Funk der Helme, während sie im Hubschrauber über das nächtliche Tokio geflogen wurden. Ihre schwarze Kampfkombination war überzogen mit Schmutz und beschädigt. Die Kevlarweste, die sie und ihr Begleiter trugen, hatte viel von der Schuttattacke abgehalten.

Die gewaltigen Hochhausschluchten zogen sich hin, durch die kleinen Fenster drangen die bunten Lichter der Leuchtreklamen zu ihnen hinein.

Malleus Bourreau sah auf seine verstaubte, teilweise zerrissene Garderobe, für die er seinem Schneider sehr viel Geld bezahlte. Nun besaß er noch einen Satz Kleidung, danach würde er sich etwas von der Stange kaufen müssen, bis der Meisternäher Nachschub liefern konnte. Der Einsatz auf dem Dach gegen den unbekannten Gott hatte mehr von ihm verlangt, als abzusehen gewesen war. Nur sein Militärmantel trotzte jeglichem Verschleiß.

Die brünette Agentin mit der roten Haarsträhne legte den Gazestoff zur Seite, der mit dem Blut aus ihrer Nase getränkt war, und inspizierte den Knochenbruch bei ihrem Begleiter; den dritten Mann hatten sie tot im Hochhaus zurücklassen müssen. »Sobald wir Sie abgesetzt haben, fliegen wir weiter ins Krankenhaus.«

Malleus nickte, paffte an seiner schiefen Culebra und schob die Gedanken an den neuen Auftrag, der ihn für Interpol nach Gomorrah bringen würde, für einen Moment zur Seite. Erst will ich mehr von ihr erfahren. »Fangen wir mit den einfachen Sachen an, Miss Milord: Was ist D. E. M.

»Eine Behörde, von der die Öffentlichkeit nichts weiß und die wie Interpol kontinentübergreifend arbeitet, allerdings ohne Austausch mit anderen Behörden«, antwortete sie knapp. »Viel kann ich Ihnen nicht sagen. Da bitte ich um Verständnis.« Bevor er reagieren konnte, nahm sie ihm die Zigarre ab und paffte rasch, um sie dann zurückzugeben.

Malleus grinste. Das wird nun überraschend für sie werden. Die Banderole war blau, es war für ungewohnte Raucher wie Milord nicht lebensgefährlich, daran zu ziehen, doch die Wirkung unterschied sich deutlich von den bekannten Tabaken.

Milord machte plötzlich große Augen, die Pupillen weiteten sich.

»Das ist … sehr stark«, kam es krächzend und zusammen mit Rauch über ihre Lippen, der sich kräuselte und wand wie Regenwürmer.

Er verschwieg ihr, dass die blauen zu den harmlosen Sorten gehörten. »Die Abkürzung, werte Miss Milord?«

»Deus Ex Machina«, erwiderte sie und langte unter den Sitz, wo sich Trinkwasserflaschen befanden. Sie verteilte sie an ihren Begleiter und Malleus. »Was wir machen, berichtete ich Ihnen schon in Rom.«

»Ich erinnere mich: Die Welt vor Fremdgottheiten schützen.« Malleus drehte den Verschluss auf und nahm einen Schluck. Nach dem Kampf im Staub genau das Richtige. »Damit habe ich soeben Ihre Aufgabe erledigt.«

»Sie kamen mir zuvor«, korrigierte sie mit einem Lächeln und rieb sich das Gesicht mit Wasser ab. »Der Gott, den Sie aufhielten, wird von uns zu den Calatoren gezählt, was Lateinisch ist und so viel wie Rufer bedeutet. Die Astralzeichen, die auf seiner Haut aufflammten, sind Leuchtfeuer für weitere Wesen, damit sie wissen, wohin sie reisen müssen. Was sie genau bedeuten, müssen wir noch entschlüsseln. Unsere Experten sind dran.« Sie hob ihre Flasche zum respektvollen Gruß. »Glückwunsch. Sie haben verhindert, dass der Calator das Signal gefährlich lange aussandte.«

Der Hubschrauber legte sich in die Kurve und sank nach dem Abbremsen senkrecht nach unten, drehte sich dabei um die eigene Achse. Das Hotel war erreicht, die Maschine setzte zur Landung an.

Das passte Malleus nicht. Er hatte noch viele Fragen. »Demnach handelt es sich bei den Calatoren um eine Gruppe?«

Milord nickte, Staub rieselte aus den brünetten Haaren. »Zumindest unseren Erkenntnissen nach. Ich war mir nicht sicher, ob wir es bei dem Wesen mit einer Kopie zu tun hatten oder es sich um ein Original handelt. Calatoren finden sich überall auf der Welt, und sie haben gemeinsam: Sie sind uralt und in Vergessenheit geraten. Deswegen stößt man selten auf sie. Wenn überhaupt, dann bei Ausgrabungen.«

Spürbar und doch sachte setzten die Kufen des Helikopters auf.

Ein livrierter Angestellter des Hotels kam über das Dach gelaufen, um den Gast zu empfangen, wie Malleus durch das Fenster sah. »Aber es gibt eine Anhängerschaft.«

»Leider, ja. Sie wollen Calatoren dazu einsetzen, um gegen die weltweit herrschenden Pantheons vorzugehen und die Erde von den bekannten Entitäten zu befreien. Sie dulden keine anderen Gottheiten neben sich.« Oona Milord nahm noch einen Schluck Wasser. »Einen neuerlichen Versuch haben Sie heute verhindert, Bourreau. Und keiner darf es jemals wissen. Verstanden?«

Malleus sparte sich eine Antwort. Er, der Atheist, der die Gottheiten als Hirngespinst, als Regierungsexperiment der Mächtigen oder mit anderen Erklärungen ablehnte, hatte eventuell für ihren Fortbestand gesorgt. Welch Paradoxon.

Er zog den Helm ab und setzte den Hut auf. »Ich schicke D. E. M. eine Rechnung über mein Honorar und meine Garderobe«, sagte er und öffnete die Türverriegelung. »Versuchen Sie nicht noch mal, mich reinzulegen. Ich werde es früher merken als bei diesem Fall.«

Milord zeigte ein schuldbewusstes Lächeln.

Malleus stieg aus dem Hubschrauber und ging einige Meter, als er ein Fingertippen auf seiner Schulter spürte. Habe ich was in der Kabine verloren?

Er drehte sich um, sah die Agentin dicht vor sich und in ihre dunklen, braunen Augen – und spürte im nächsten Moment Milords weiche Lippen auf seinen.

Zu seinem eigenen Erstaunen breitete sich augenblicklich ein Kribbeln in ihm aus.

Sie küsste ihn lange und intensiv, bevor sie sich von ihm löste. Die schwarzen Haare flogen im Wind des Rotors, sie lächelte ihn an. »Danke, Bourreau«, rief sie gegen das Surren. »Danke für mein Leben.«

Bevor der verdutzte Malleus etwas zu erwidern vermochte, kehrte sie eilends zur Maschine zurück und schloss den Eingang.

Er sah dem abhebenden Hubschrauber nach – und fühlte ihren samtigen Kuss noch immer.

Das warme, angenehme Gefühl schien sich zu halten, breitete sich weiter in ihm aus, ehe es langsam verebbte, so wie der Heli hinter den Hochhaustürmen verschwand.

»Haben Sie Gepäck, Sir?«, fragte der Hotelangestellte laut, den das mitgenommene Äußere nicht aus der Fasson brachte.

»Nein. Ich bin bereits Gast in Ihrem Haus.« Malleus fuhr sich über den Fu-Manchu und ging neben dem Livrierten zum Fahrstuhl. »Danke.«

Gleich darauf befand er sich in seiner Suite und legte die schmutzigen, ramponierten Kleider ab.

Milords Parfum haftete leicht an ihm, was ihm vorher durch den Wind und den Blutgeruch nicht aufgefallen war. Ein schönes kleines Andenken, das er dennoch gleich abwaschen würde, um den Betonstaub vom Körper zu spülen. So schwand Gutes und Schlechtes.

Malleus betrat die Dusche, die mit einer Glaswand ausgestattet war, welche eine Aussicht in die bunten belebten Straßen von Tokio erlaubte, ohne dass man ihn beobachten konnte.

Er ließ das heiße Wasser auf sich prasseln und schäumte sich ein, genoss dabei den Anblick der lebendigen, modernen Stadt, der er eine Katastrophe erspart hatte.

Wird darüber berichtet? Mit einem kurzen Befehl ließ er auf der gleichen Scheibe das Fernsehprogramm einblenden, um die Nachrichten zu checken.

Die verschiedenen Kanäle brachten Bilder vom beschädigten Hochhaus, unisono sprachen die Reporterinnen und Reporter von einer Gasexplosion. Drohnenkameras gelangten nur bis zum Heliport, Innenaufnahmen von der vermutlich illegalen oder zumindest rechtlich fragwürdigen Sammlung der Artefakte gelangten nicht in die Öffentlichkeit.

Schöne Lügen. Malleus wechselte den Kanal.

Ein Sprecher von Tanaka-HighLevelLiving, die den Wolkenkratzer verwaltete, sprach bei einer spontanen Pressekonferenz auf dem Dach vor etlichen Kameras von einem bedauerlichen Unfall, bedingt durch menschliches Versagen beim Betätigen des offenen Gaskamins. Statiker seien bereits bei der Arbeit, um die Standfestigkeit der Masten und Antennen zu garantieren.

Malleus war beruhigt. Weder tauchte sein Name noch sein Konterfei auf. Sicherlich würde Tokio die Wahrheit nie erfahren. Höchstens einige Kami ahnten wohl, was sich minutenlang auf dem Dach zugetragen hatte.

Er ließ das Wasser laufen, streifte die längeren schwarzen Strähnen aus dem Gesicht nach hinten und ging kurz in die Suite, um sich eine Culebra zu holen, dieses Mal eine mit grüner Banderole. Dabei stellte er fest: Nicht nur seine Garderobe ging ihm aus, auch der Rauchwarenbestand näherte sich gefährlich nahe dem Nullpunkt.

Ich muss meinen Ausstatter kontaktieren. So einfach waren die krummen Zigarren, die er benötigte, nicht zu besorgen.

Malleus schnitt das Mundstück ab, entzündete sie mit einem Span, danach kehrte er qualmend in die Dusche zurück und aktivierte jene Düsen, die maximal bis zum narbenverzierten Oberkörper sprühten. Andenken an Fälle, an den Krieg, an überlebte Gefechte.

Paffend verfolgte er die Berichterstattung, danach suchte er nach einem europäischen Sender.

Er driftete gedanklich zu seinem Einsatz in Gomorrah, zu dem ihn sein Vorgesetzter Lautrec aussandte, um zu klären, ob die Mörderin eine Entität gewesen war oder nicht.

Dabei vermied er es, sich zu sehr auf die junge Mutter mit der Tätowierung im Nacken zu konzentrieren, die dort lebte, wie er in Neu Karthago erfahren hatte. Dafür ist nicht die richtige Zeit. Nicht, wenn ich in einem offiziellen Fall in Gomorrah ermitteln muss. Privates und Berufliches durften sich nicht vermischen.

Malleus fand mehrere TV-Programme, die zwar eine Meldung brachten, sich aber diskret zurückhielten, was die genauen Umstände vom Ableben des Politikers anging.

Bekannt war, dass der Abgeordnete und Minister für Inneres, Gunnar Olof Hansson, bei einem »Freundschaftsbesuch der schwedischen Regierung« vor vier Stunden zu Tode kam. Ein Unfall, hieß es, und es wurde darauf hingewiesen, dass die Kriminalermittler von Gomorrah jegliches Fremdverschulden ausschlossen, aber der genaue Ablauf des tragischen Unglücks noch nicht zu hundert Prozent geklärt sei. Mehr nicht.

Dementi im Vorfeld sind nie ein gutes Zeichen. Malleus wusste, dass die schwedische Regierung kein Interesse daran hatte, den Tod aufzubauschen. Ein ermordeter Minister brachte Unruhe in ein Land, und je undurchsichtiger sich die Umstände gestalteten, desto gefährlicher wurde die Lage für die Staatsriege.

Ich wusste nicht, dass es dort überhaupt Polizisten gibt. Malleus ließ sich auf der Scheibe Informationen und Bilder zu Gomorrah anzeigen.

Zusammen mit Sodom bildete es einen eigenen Staat, dessen Exterritorialität von den umliegenden Staaten anerkannt wurde. Es gab ein Konsortium, das die Geschicke als S&G Limited undemokratisch und konzerngleich gewinnmaximiert leitete.

Der Gewinn konnte sich sehen lassen, alleine 2018 ganze einundfünfzig Milliarden Euro Umsatz, ein geschätzter Gewinn von dreißig Milliarden.

Was immer man sich an Unterhaltung vorstellen mochte, gab es in Sodom und Gomorrah: Kunst, Kultur, Konzerte von herausragender Klassik bis übelstem Death Metal, aber auch Spielstätten, Bordelle, Clubs und andere Orte mit Vergnügungsangeboten, denen das Wort bizarr nicht ansatzweise gerecht wurde.

Für Geld bekam man alles.

Wirklich alles, wofür man in anderen Ländern ins Gefängnis gewandert oder mit dem Tode bestraft worden wäre. Das Wort tabu gab es nicht, und nur wenige Regeln. Selbst Mord durfte geschehen, wenn das Opfer vorher schriftlich einwilligte. Die Städte hielten für jeden Fetisch ein Angebot parat.

Es würde den Tod von Minister Hansson unappetitlicher machen, falls herauskäme, dass er nicht unbedingt auf die Hochkultur gestanden hatte und nicht beim begeisterten Applaudieren aus der Loge während eines klassischen Konzerts gefallen war.

Ultimative Sünde und Ausschweifungen brachen die ehrenhaftesten Männer und Frauen oder weckten Gelüste, die sie zu treuen Kunden der Städte machten. Abhängigkeiten steigerten Macht und Einfluss des Konsortiums.

Malleus sah sich bereits in Situationen wieder, um die ihn niemand beneidete. Gar niemand.

Er rauchte die Culebra behutsam und genießerisch. Es ließ sich nicht vermeiden, dass er dabei an Oona Milords Kuss dachte.

Es war ein Kuss, wie er ihn schon sehr lange nicht mehr erhalten hatte und der etwas bei ihm auslöste.

Mit bleibendem Effekt.

* * *

Celtica, Paris-Lutetia, November 2019

 

Mon Dieu. Der Kaffee ist schon wieder leer. Marianne Lagrande gönnte sich kaum Schlaf und stand bereits um sechs Uhr wieder auf, obwohl sie erst kurz nach zwei Uhr zu Bett gegangen war.

Bevor sie ins Büro fuhr, widmete sie sich noch eine Stunde der Übersetzung um die beiden Tlingit-Artefakte, die aus Hannes Heins Kabuff gestohlen worden waren.

Lagrande sah auf das, was sie herausgefunden hatte. Eine Rahmentrommel und eine Maske!

Der etwa zwanzigtausend Mitglieder umfassende Stamm der First Nations nannte Gebiete sowohl auf kanadischem als auch auf US-amerikanischem Gebiet sein Eigen und übte damit sehr viel Einfluss auf die Regierungen aus.

Hannes Hein vermerkte zu den beiden Gegenständen:

TLINGIT

Inv.-Nr. 231:

Maske (A) und Trommel (B), Indianer (Tlingit)

A) eine Schamanenmaske

*Geist – unbekannt bzw. multi.

*Material: Holz, Knochen, Sehnen, Menschenhaar, Leder (Bison)

*Alter: ca. 800 Jahre

*Preis: 40.000+ Euro

B) eine Rahmentrommel

*Bespannung: Menschenhaut (Träger unbekannt)

*Material: Holz, Knochen, Sehnen

*bemalt, benutzt, funktionsfähig

*Preis: 40.000+ Euro

Achtung: Beide Objekte stehen auf der Liste der First-Nations-Kulturgüter.

Herkunft in beiden Fällen: Tlingit.

Großer Sonderfall, einmalig. Rahmentrommel kann verschiedene Geister in diese Maske bannen bzw. jeden Geist rufen. Nur EINE Maske nötig.

Lagrande wusste nach ihrer Recherche, was die Artefakte so einmalig machte: Je weiter man sich vom Polarkreis wegbewegte, desto seltener nutzten die Schamanen noch Rahmentrommeln, um ihre Beschwörungen oder Orakel vorzunehmen. Die Schamanen der Tlingit wurden ausdrücklich erwähnt: dass sie mehrere Hilfsgeister beschwören und einsetzen konnten. Die Maske spielte dabei eine große Rolle. Solange man diese trug, galt man als vom beschworenen Wesen besessen und sprach mit dessen Zunge. Normalerweise brauchte man für jeden Geist eine eigene Larve.

Dieses Duo von Trommel und Maske kann jeden Geist rufen. Lagrande würde sich erst weiter durchs Netz und anschließend durch Ausstellungskataloge suchen. Ich finde garantiert noch mehr Informationen.

Die Beschreibung einer solchen Beschwörung las sich recht nüchtern: Der Schamane wählte den Geist aus, den er rufen wollte, anschließend versetzte er sich durch Trommeln, Gesang und Tanz um ein großes Feuer in Trance.

»Anzeichen: verdrehte Augen, Anzeichen von Besessenheit, kaum mehr kontrollierte Bewegungen«, las Lagrande halblaut aus der Entfernung von ihrem Bildschirm mit halb zusammengekniffenen Augen und brühte sich einen neuen Kaffee. »Dann: Innehalten, Starren auf die Trommel und Ausstoßen eines lauten Schreis. Alle weiteren Worte folgen durch den Willen des beschworenen Geistes.«

Auf ihrem Klapprechner ging ein Videoanruf ein. Bourreau meldete sich aus Japan.

Schnell nahm sie die Anfrage entgegen, und noch während sich das Bild aufbaute und die Kamera sie um die halbe Welt übertrug, fiel ihr siedend heiß ein, dass sie immer noch die Shorts und ihr Schlabbershirt trug, während die langen blonden Haare als Zopf nach vorne über die Brust fielen.

Für ein Entkommen war es zu spät, Bourreaus Gesicht erschien bereits.

»Bonjour, Madame«, grüßte er freundlich. Zu ihrer Erleichterung trug er einen nicht minder legeren Kimono-Morgenmantel, auch wenn es in Tokio schon Mittag sein musste. »Ich sehe, wir tragen fast Partnerlook.«

Lagrande lachte auf. »Ich habe recherchiert.«

»Ich habe Tokio gerettet. Wir haben uns beide was Bequemes verdient.« Er lächelte verschmitzt. »In Wahrheit warte ich darauf, dass meine Garderobe aus der Reinigung kommt. Es wurde dreckig.«

»Aha«, machte sie und verkleinerte seine Ansicht, um ihre neusten Übersetzungstexte und Informationen zu sehen. »Sie haben das sicherlich wunderbar gemacht, Monsieur l’Inspecteur.«

Sie nahm sich vom frischen Kaffee, den sie als den besten der Welt betrachtete, und setzte sich an den schmalen Küchentisch. Banlieue-Wohnungen boten wenig Komfort; in der Suite von Bourreau hingegen sah man ihn deutlich.

»Ich habe ein neuerliches Artefakt übersetzen können.« Stolz las Lagrande vor und berichtete, was sie zu den Tlingit herausgefunden hatte. »Die Maske und die Trommel gelten seit zweihundert Jahren als verschollen. Manche Quellen sprachen von einem Brand, bei dem sie vernichtet wurden«, referierte sie, was in einem der Textfenster stand. »Dabei kamen Schamane Der-mit-Krähen-spricht samt seiner Familie ums Leben.«