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Anthologie

LESBISCHES JUGENDBUCH

Die Gewinnergeschichten des Wettbewerbs
Lesbisches Jugendbuch
von
édition el!es
und
Jugendzentrum anyway (Köln)

Originalausgabe:
© 2008
ePUB-Edition:
© 2013

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-014-1

Coverillustration:
© pixelio.de

Juliette Bensch 
Der Mut fährt voran 

Der Abspann begann über die Leinwand zu laufen. Gleich würde das Licht mit einem Dimmer sacht aufgedreht werden.

Sandra nahm die Hand ihrer Freundin und sah sie lächelnd an. »Na, das war doch ein schöner Film, oder?«

Ana lächelte zurück. Ihr Kopf lehnte noch immer im weichen Sitz. Sie mussten sich nicht mit dem Aufstehen beeilen, denn sie saßen allein in ihrer Reihe.

Sandra streichelte zärtlich die Hand ihrer Freundin, blickte ihr in die Augen und gab ihr einen Kuss.

Diese Geste war so simpel und doch so bedeutsam. Die beiden Frauen waren nun schon mehr als vier Jahre lang zusammen, noch immer verliebt und glücklich wie am ersten Tag. Sie verstanden sich fast schon ohne Worte.

Sandra strich Ana über ihre Wange. »Alles okay?«

Ana nickte und lächelte, dann führte sie ihren Mund an Sandras Lippen und gab ihr eine Antwort auf ihren Kuss. In diesem Moment verwandelte sich die Finsternis im Kino über einen Dämmerzustand in warmes Licht. Ana zog schlagartig ihren Kopf zurück, sah noch einmal kurz nach vorn zum Abspann, nahm ihre Tasche und stand auf. Auch Sandra erhob sich, wenn auch weniger hastig.

Als die zwei durch die Eingangstür das Kino verließen, legte Sandra ihren Arm um Anas Schultern, schmiegte sich an sie, und gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg.

Binnen weniger Schritte hatten sie den gleichen Laufrhythmus gefunden, doch plötzlich blieb Ana stehen und öffnete ihre Handtasche.

»Hast du was vergessen?« fragte Sandra.

»Ich will nur sichergehen«, antwortete Ana verwirrt, »ich bin mir nicht sicher, ob ich meinen Schlüssel eingesteckt hab’.«

Sandra wollte entgegnen, dass sie selbst doch ohnehin ihren Schlüssel mithatte und sie definitiv nicht draußen nächtigen müssten, aber da begriff sie, was da passierte und nahm ihren Arm von Anas Schultern.

»Ach, da ist er ja«, sagte diese nun freudig. Dann griff sie noch tiefer in ihre Tasche und bot Sandra ein Pfefferminz an, auf das sie mit einem Kopfschütteln verzichtete.

Als Ana ihre Tasche wieder geschlossen und umgehängt hatte, gingen beide wortlos nebeneinander her.

Sandra hatte ihre Hände in den Taschen ihrer Jacke vergraben und starrte trist auf den Weg. Da ließ Ana ihre Hand in Sandras Armbeuge gleiten, und hakte sich so bei ihr unter. Sandra streichelte Anas Hand kurz mit ihrer anderen, bevor sie sie wieder in der Jackentasche verschwinden ließ. Sie verstanden sich eben ohne Worte. Und wie sie nebeneinander nach Hause schlenderten, hätte jeder Passant sie für gute Freundinnen gehalten, mehr aber auch nicht.

Ana hatte eine sehr feminine Erscheinung. Sie trug ihr schwarzes, langes, leicht welliges Haar meist offen. Dazu war sie recht klein und hatte eine sehr weibliche Figur, mit entzückenden Rundungen. Sie hatte einen sehr dunklen Teint, denn sie war gebürtige Argentinierin. Sandra verglich ihre Haut gern mit der Farbe von Cappuccino. Ana hatte dunkelbraune Augen und ein rundliches Gesicht. Sie liebte nichts mehr, als den Sonnenschein, vor allem, wenn er die Temperaturen steigen ließ, weshalb sie an diesem doch recht kühlen Märzabend Körper an Körper neben Sandra ging.

Auch beim Blick auf Sandra wäre kein Passant unbedingt auf die Idee gekommen, dass sie nicht Anas gute Freundin, sondern ihre Geliebte war. Sie war größer und schlanker als Ana, hatte ein schmales, weibliches Gesicht und trug ihr Haar in einem blonden Bob. Sie besaß eine Lesebrille, die sie noch intelligenter aussehen ließ, als sie ohnehin schon war. Die trug sie aber nicht immer. Sandra besaß trotz ihrer Weiblichkeit keinen einzigen Rock, liebte es aber, wenn Ana Röcke trug. Obwohl beide so unschuldig nebeneinander herliefen, bestritten sie doch den Weg zu ihrem gemeinsamen Heim, und zwar nicht als Mitbewohnerinnen. Sie lebten seit über einem Jahr in einer gemeinsamen Wohnung.

Als sie dort angekommen waren, spürte Sandra, wie Ana sich entspannte. Sie wurde wieder ausgelassen und hatte kein Problem mehr damit, ihre Geliebte beiläufig zu liebkosen und ihr damit ihre Gefühle zu offenbaren. Sandra störte es ein bisschen, dass Ana ein Problem damit hatte, in der Öffentlichkeit zu ihr und zu sich selbst zu stehen, aber sie hatte sich größtenteils mit dieser Tatsache arrangiert.

Zu Beginn ihrer Verliebtheit hatte sie besonders viel Verständnis für Ana gehabt. Schließlich kannten sie sich noch nicht so lange, und Sandra wollte sie auf keinen Fall vor irgendwem unfreiwillig outen. Ihr genügte es, wenn sie in den privaten vier Wänden ihre Gefühle zeigen konnte, und selbst in diesem Punkt war Ana anfangs sehr zurückhaltend.

Irgendwann, als sie schon eine Weile zusammen waren, begann Sandra, auf der Straße Anas Hand zu nehmen oder sie zu küssen, doch Ana wurde in diesen Momenten kühl und zog sich zurück. Irgendwann hatte sie ihr erklärt, dass ihre Mentalität eine andere war. Sie war in Argentinien sozialisiert worden, einem sehr konservativen Land, in dem der Katholizismus vorherrschte. Dort sprach man einfach nicht über Sex, auch nicht in Jugendkreisen, oder zumindest äußerst selten und nie in gemischten Gruppen, sondern nur, wenn die Mädchen oder Jungen unter sich waren.

Es herrschte die Meinung, dass ein Mädchen jungfräulich in die Ehe gehen sollte. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, würde das kein Mädchen offen über sich zugeben. Von Homosexualität hatte Ana in ihrer Jugend eigentlich nie etwas gehört und wenn, dann nur Verächtliches. Es wurde in Argentinien totgeschwiegen und mit wenig Toleranz begegnet. Es war einfach ein Tabu-Thema.

Sie konnte sich nun hier in Deutschland nicht völlig umkrempeln und in die Welt hinausschreien, dass sie eine Frau liebte. Das wollte sie auch gar nicht, und sie hatte immer wieder versucht, Sandra das zu erklären. Waren die beiden allein, gestand sie ihr immer wieder ihre Liebe, und Sandra zweifelte diese auch kein bisschen an. Dennoch wünschte sie sich insgeheim, dass Ana irgendwann mehr aus sich herausgehen würde. Sie war sich sicher, wenn sie selbst ein Mann wäre, würde Ana sich in der Öffentlichkeit anders verhalten, und das machte sie hin und wieder traurig, doch sie verbarg diese Gefühle vor ihrer Freundin.

Während Sandra es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, zog Ana sich aus und ging in Unterwäsche ins Bad, ließ die Tür aber offen. »War der kleine Junge in dem Film nicht süß?« sagte sie laut genug, dass Sandra es problemlos hören konnte.

Sie musste schmunzeln und konnte Ana nur beipflichten. »Ja, der war wirklich goldig. Hast du gesehen, wie er sich über sein Geburtstagsgeschenk gefreut hat? So süß!« Sandras Arm lag auf der Couchlehne, und nun bettete sie ihren Kopf darauf und war in ihrer Schwärmerei versunken.

Ana lugte noch einmal um die Ecke. In der Hand hielt sie ihre Zahnbürste. »Das wäre doch was für dich, so ein kleiner Teufelsbraten! Ich wette, du wärst die beste Mami auf der Welt.« Ana lächelte zärtlich, ging wieder ins Bad und begann ihre Zähne zu putzen.

Melancholisch stand Sandra auf und ging zum Bad. Dort lehnte sie sich an den Türrahmen und beobachtete Ana. Dann sprach sie: »Wir haben ja schon mal drüber geredet. Ich finde . . .«, sie zögerte, »ich finde, wir sind tatsächlich bereit dafür. Ich liebe dich und du liebst mich, und wir wünschen uns nichts sehnlicher, als ein Kind. Warum reden wir nicht mal ernsthaft darüber, wie wir das genau anstellen wollen? Du hast bisher immer wieder unsere Gespräche abgebrochen, aber ich seh’ doch, wie deine Augen glänzen, wenn du auf der Straße kleine Kinder siehst. Ana, ich will dich zu nichts drängen, aber ich weiß, dass du es dir doch auch wünschst.«

Ana, die währenddessen aufgrund der Zahnbürste in ihrem Mund nicht widersprechen konnte, spuckte die Zahnpasta nun aus und spülte ihren Mund. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, schüttelte sie den Kopf. »Sind wir nicht noch ein bisschen zu jung dafür?«

»Ana, du bist achtundzwanzig. Du hast dein Studium in der Tasche. Wie lange willst du noch warten?« Ana fiel nichts ein, was sie ihr entgegenhalten konnte. Da fasste Sandra sie bei den Schultern und fügte hinzu: »Mensch, meine Mutter würde sich doch auch so freuen, wenn sie endlich doch noch Enkelkinder bekommen würde.«

Ana riss sich los, schnappte ihr Nachthemd und verließ das Badezimmer. Im Vorbeigehen sagte sie gereizt: »Ich glaube aber nicht, dass sich mein Vater so sehr darüber freuen würde.«

Sandra folgte ihr. »Das ist es nämlich. Dein Vater weiß nicht Bescheid. Willst du es ihm nicht endlich mal sagen? Was kann schon passieren? Rausschmeißen kann er dich nicht, du wohnst ja nicht mehr bei ihm.«

Ana schüttelte nur den Kopf, zog fast schon wütend ihr Nachthemd über, und als sie fertig war, wandte sie sich Sandra entgegen, sah ihr aber nicht in die Augen und sagte: »Ich will seinen Segen. Für die Beziehung und für das Kind. Versteh das doch.« Dann legte sie sich unter die Bettdecke und drehte sich von Sandra weg.

Ihre Freundin aber ließ sie nicht allein mit sich selbst, sondern legte sich auf der Decke eng neben sie, ihr Arm ruhte auf Anas. Sandra küßte ihre Schläfe und legte dann ihre Stirn an die geküsste Stelle. »Ich bin mir sicher, er wird . . .«

»Du kennst ihn doch kaum«, unterbrach Ana sie fast patzig.

»Ja, weil er viel zu selten zu Besuch ist.« Sandra entfernte sich von Ana und legte sich auf den Rücken.

Eine Stille machte sich breit und zerschnitt die Luft zwischen den beiden.

Endlich bereitete Sandra dem ein Ende. »Willst du denn dein Leben lang unglücklich sein, weil dein Vater dir seinen Segen nicht gibt?« Sie hatte es sehr leise gesagt, aber für Ana schallte es meilenweit.

Sie setzte sich auf und sah Sandra an. »Er ist mir so wichtig, Sandra. Ich liebe ihn und er liebt mich, aber ich bin mir sicher, dass er damit ein Problem haben würde. Er würde sich für mich schämen. Wenn es überhaupt soweit käme. Er hat bis heute sicherlich genauso viel von Homosexualität gehört wie ich, bis ich nach Deutschland gezogen bin. Ich bin mir sicher, er wird mein ganzes restliches Leben nicht mehr mit mir reden. Und dann führe ich ein genauso unglückliches Leben, wie ohne Kinder. Du weißt doch, dass ich nur noch ihn habe.«

Ana machte eine bedeutungsschwere Pause. Sie spielte darauf an, dass ihre Mutter gestorben war, als sie noch ganz klein war. Ihr Vater war für sie immer der Ruhepunkt, ja sogar der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Sie waren immer ein Herz und eine Seele gewesen, und das hatte sich erst geändert, als Ana für ein Auslandssemester von Argentinien nach Deutschland gezogen war. Ihre innere Verbindung war ihnen natürlich immer geblieben, aber sie hatten sich nicht mehr jeden Tag sehen, sondern nur noch ab und zu telefonieren oder chatten können.

Als Ana ihre bereits vorhandenen Kenntnisse der deutschen Sprache perfektioniert hatte und der Zeitpunkt gekommen war, wieder zurückzukehren, hatte sie sich so sehr in das Land verliebt, dass sie bleiben wollte. Und nicht nur in das Land: Sie hatte auch Sandra lieben gelernt.

Ihr Vater war ihr irgendwann nachgereist. Er führte als Gründe bessere berufliche Perspektiven an und die Tatsache, dass ihn in Argentinien nichts mehr hielt, aber Ana ahnte, dass ihr unsichtbares Band an ihm gezogen hatte. Nun konnten sie sich wieder häufiger sehen und waren eigentlich mit den Verhältnissen sehr zufrieden.

Nur seit sie und Sandra begonnen hatten, über Kinder und Heiraten zu sprechen, hatte sie das Gefühl, sich zwischen ihr und ihrem Vater entscheiden zu müssen. »Ich will ihn einfach nicht verlieren«, schloss sie ihre Erklärung ab.

Da umarmte Sandra wortlos ihre Freundin, in deren Augen sich während ihrer Rechtfertigungen Tränen gesammelt hatten.

In den folgenden Tagen lag dieses Gespräch Ana schwer im Magen. Auch Sandra war sich der unausgesprochenen Spannungen bewusst. Sie war sich nicht sicher, ob sie zu weit gegangen war und Ana bedrängt hatte.

Doch das war nicht der Fall. Ana sah von Tag zu Tag mehr ein, dass ihre Liebe zu Sandra mindestens einen genauso großen Platz in ihrem Leben einnahm, wie die Liebe zu ihrem Vater. Tag für Tag freundete sie sich mehr mit dem Gedanken an, ihm irgendwann doch reinen Wein einschenken zu müssen.

Natürlich durchdachte sie auch alternative Lösungen. Sie könnte diesen Teil ihres Lebens ihrem Vater genauso gut vorenthalten. Dann fiel ihr aber wieder auf, wie unmöglich das war. Sie konnte schließlich nicht einfach so ein Kind bekommen. Was sollte sie denn sagen, wenn ihr Vater zu Besuch kam? Die gemeinsame Beziehung hatte sie bisher ihm gegenüber als Wohngemeinschaft dargestellt. Konnte sie das Kind als Sandras ausgeben? Aber was war, wenn sie selbst schwanger werden wollte, denn daran dachte sie immer, wenn sie an eine Zukunft mit Kind dachte. Das würde bedeuten, dass sie ihren Vater mehrere Monate lang nicht sehen durfte. Solch ein Geheimnis würde sie doch nicht vor ihm verstecken können, dachte sie sich.

Eines Abends saß Sandra auf der Eckcouch und las gemütlich ein Buch. Im Hintergrund lief eine CD von Norah Jones. Derweil ging Ana unruhig in der Wohnung umher und schaffte Ordnung. Sandra sah von ihrem Buch auf. »Hey Süße, magst du nicht zu mir kommen und dich an mich kuscheln und mitlesen?«

Aber Ana entgegnete fahrig: »Ich muss erst noch etwas erledigen.«

Sandra wandte sich wieder ihrem Roman zu und kümmerte sich nicht weiter um ihre Freundin. Sie bekam aber mit, dass Ana das Telefon nahm und eine Nummer wählte. Es herrschte einen Moment Stille, dann hörte Sandra, wie Ana einige Zeit lang fließend Spanisch in den Hörer plauderte. Das Benutzen ihrer Muttersprache bereitete ihr sichtbare Freude, denn sie lächelte vor sich hin und drehte gedankenverloren an einer Haarsträhne. Dann verschwand ihr Lächeln, und ihr Blick wurde ernster. Nachdem sie einen weiteren Satz geäußert hatte, lauschte sie der Stimme im Hörer und nickte dann zufrieden mit dem Kopf. Es war immer mal wieder ein zu hören, eines der wenigen spanischen Wörter, die Sandra verstand. Sie bemühte sich sehr, Anas Muttersprache zu erlernen, aber in dem Tempo, in dem sie sich mit anderen Muttersprachlern unterhielt, bekam Sandra nicht viel mit.

Schließlich legte Ana auf.

Sandra hatte das ganze Gespräch über den Blick von ihrem Buch gehoben und betrachtete nun Ana, die sich wie angekündigt zu ihrer Freundin auf die Couch setzte und sich an sie kuschelte. »Ich habe Papa für Samstag zum Essen eingeladen«, verkündete sie.

Sandra sah zu, wie sie wortlos ihren Kopf auf ihre Schulter legte und ihre Hand auf Sandras Oberschenkel ruhen ließ. »Willst du etwa . . .?« begann sie leise, doch Ana legte ihren Zeigefinger auf Sandras Mund und bewahrte sie so davor, den Satz zu beenden.

Dann warf sie einen Blick auf das Buch in Sandras Händen und forderte sie auf: »Lies mir doch ein bisschen was vor.« Sie legte die Beine hoch und bettete ihren Kopf in Sandras Schoß.

Diese zögerte nicht lange und begann, wie sie es schon so oft getan hatte, Ana vorzulesen.

Beide hatten kein Wort darüber verloren, aber Sandra spürte an Anas Nervosität, dass sie es ihrem Vater sagen wollte. Andere hätten es vielleicht nicht bemerkt, aber sie spürte, dass für Ana die Zeit gekommen war, ihm die Wahrheit zu beichten.

Sandra wollte ihr keine Belastung sein und sprach sie nicht darauf an, schenkte ihr aber durch vermehrte Liebkosungen den Mut, den sie brauchte.

An dem Abend, an dem es nun soweit sein sollte, rannte Ana ständig in der Wohnung umher und putzte, räumte auf und sortierte. Natürlich wollte sie ihrem Vater eine perfekte Wohnung zeigen, aber vor allem wirbelte sie herum, um sich zu zerstreuen und nicht darüber nachdenken zu müssen, was sie konkret sagen wollte.

Eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit, begann sie zu kochen. Sie schnitt Gemüse, während sie schon das Fett für die Hühnerbrust in der Pfanne heißwerden ließ. Dem gab sie ein wenig zu viel Zeit, sodass schon bald das Fett zu spritzen begann. Als sie es bemerkte, machte sie sich daran, die Pfanne von der Platte zu heben und legte dafür ihr Schneidemesser auf das Brettchen. Dadurch kullerten einzelne Möhrenscheiben vom Brett und fielen auf den Boden. Ana fluchte leise vor sich hin und bekam einen Spritzer vom heißen Fett ab.

Sandra eilte herbei, nahm Ana die Pfanne aus der Hand und drehte an den Reglern für die Herdplatten. »Ich mach’ das schon. Geh dich doch noch mal frischmachen oder so. Oder deck den Tisch.«

Ana nickte nur und begann den Tisch vorzubereiten. Danach ging sie ins Schlafzimmer und gönnte sich einige ruhige Minuten. Sie zog ihr T-Shirt aus und wählte eine Bluse aus ihrem Kleiderschrank. Als sie angezogen war, beugte sie sich über die zwei zusammengeschobenen Betten und wollte kräftig an einem ziehen. So verfuhren sie immer, wenn ihr Vater zu Besuch kam. Getrennte Betten sind getrennte Leben, hatte Ana immer gedacht. Sie hatten die Betten immer auseinandergeschoben, obwohl ihr Vater fast nie ins Schlafzimmer gekommen war. Das war schließlich auch ein eher privater Raum. Um sicher zu gehen, hatte sie aber bisher jeden Hinweis auf ihre Beziehung zwischenzeitlich auslöschen wollen.

Diesmal allerdings besann sie sich und erhob sich wieder. Sie würde die Betten beieinander lassen. Sie führten nun mal keine getrennten Leben. War sie wirklich bereit dazu, es ihm zu sagen? Ana stand gedankenverloren vorm Spiegel. Dann fiel ihr Blick auf das Bild von sich und Sandra, das neben ihr auf der Kommode stand. Auf dem Bild umarmte Sandra sie von hinten, und ihr Kopf ruhte auf Anas Schulter.

Ana fuhr mit ihrer Hand über den Bilderrahmen. Nein, sie würde es diesmal nicht verstecken. Sie liebte diese Frau. Das sollte nicht mehr versteckt werden. Da klingelte es auch schon, und Ana ging zur Tür, um zu öffnen.

»Hm, das war wirklich lecker«, lobte Anas Vater mit seinem starken spanischen Akzent, nachdem er mit einer Serviette über seinen Mund getupft hatte. »Wer hat denn das gekocht?«

»Das haben wir gemeinsam gemacht«, antwortete Sandra schnell.

»Wirklich gut«, wiederholte er nickend.

Ana war schon aufgestanden und hatte die Kompottschälchen geholt, die sie nun auf dem Tisch platzierte. Es gab eine Joghurtcreme mit Zitronengeschmack.

»Ach, es ist wirklich schön, mal wieder bei euch zu sein«, sagte Anas Vater, als er sein Schälchen geleert hatte, und legte seine Hand auf die seiner Tochter.

Sandra beobachtete diese Geste und stand schließlich auf, um die Schälchen in die Küche zu bringen. Ana wollte sich ebenfalls erheben, aber Sandra legte ihre Hand auf Anas Schulter und drückte sie leicht wieder hinunter. »Lass nur. Ich erledige den Abwasch.«

Ana hörte diesen Satz allerdings gar nicht gern, denn sie wusste, was er bedeutete. Die Hand ihres Vaters ruhte noch immer auf ihrer, nur seine Augen verfolgten Sandra, bis sie in der Küche verschwunden war. Sie war nun ganz offensichtlich außer Hörweite.

Anas Vater sah seiner Tochter in die Augen. Er nickte wieder leicht vor sich hin. »Ihr wohnt also immer noch zusammen«, stellte er fest. Nun da sie allein waren, hatte er ins Spanische gewechselt.

Ana nickte und betrachtete die Tischdecke. Ein Kloß machte sich in ihrem Hals breit. Sie versuchte dagegen anzukämpfen. Schließlich begann sie zaghaft: »Sandra und ich, . . . wir . . .«

»Ah«, setzte ihr Vater etwas lauter und mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme ein, »wollt ihr endlich in getrennte Wohnungen ziehen?«

Ana runzelte die Stirn und sah ihn überrascht an. »Nein, nein –«, begann sie.

Doch er überhörte ihren Einwand. »Ihr wohnt ja nun schon lange genug zusammen. Ich finde, du solltest langsam mal anfangen, dein eigenes Leben zu leben. Wohngemeinschaften sind doch wirklich nur was für Studenten, die es sich anders nicht leisten können. Du stehst doch nun schon mit beiden Beinen im Leben. Deine Studienzeit ist vorbei, du verdienst gut. Du kannst es dir doch wirklich leisten, in deinem eigenen Schlafzimmer zu schlafen.« Den letzten Satz sprach er mit so viel Beharrlichkeit aus, als wollte er ihr etwas bewusst machen, das ihr selbst in den letzten Monaten entgangen sein musste.

Anas Mund öffnete und schloss sich wie der eines Fisches.

»Du willst doch sicherlich auch irgendwann eine eigene Familie gründen. Ich wünschte, deine Mutter hätte das noch erleben können.« Er machte eine Pause und redete dann weiter auf sie ein, diesmal aber etwas leiser: »Du könntest hier doch nie einen jungen Mann mitbringen. Hier wärt ihr doch nie ungestört.«

Bei diesen Worten schlug Ana die Augen nieder und blickte verlegen auf den Tisch. Ihr Herz pochte.

Ihr Vater schaute ihr ins Gesicht, suchte den Augenkontakt mit ihr und sprach erst weiter, als er ihr in die Augen sehen konnte. »Ich kann dir doch bei der Finanzierung des Umzugs helfen, das ist doch gar kein Problem.« Das hatte er fast geflüstert.

Ana schüttelte beharrlich den Kopf. »Nein, nein«, sagte sie wieder nur.

Ihr Vater lächelte und begann auf seine übliche Art zu nicken, als er feststellte: »Zusammen ist man weniger allein, ich verstehe das schon. Aber das ist ein Teufelskreis, Ana. Du wirst nie einen Mann finden, wenn du keine eigene Wohnung hast.«

Ana war hundeelend zumute: ihre geliebte Sandra und der Teufel in einem Atemzug, obwohl sie denn nun wirklich nichts miteinander zu tun hatten. Mit einem verzweifelten Blick begann sie, mit ihren Fingernägeln an ihren Lippen zu zupfen.

Für ihren Vater schien es, als wäre Ana ihre Einsamkeit bewusst vor Augen geführt worden. Natürlich war sie als Single nicht glücklich, dachte er, aber da half es ja nichts, sich mit ihrer besten Freundin zu verschanzen. Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange und sah sie mitfühlend an. Dann richtete er sich wieder auf und nahm einen Schluck aus seinem Weinglas.

In dem Moment blickte Sandra durch den Türrahmen. Sie hatte die Flasche aus der Küche mitgebracht. »Noch Wein?« fragte sie unschuldig.

»Nein, nein, vielen Dank«, sagte Anas Vater und schwenkte seine flache Hand über seinem Glas.

Sandra setzte sich wieder auf ihren Platz und goss Ana und sich selbst noch etwas ein. Forschend blickte sie von einem Gesicht zum anderen. Ana sah ungewöhnlich mitgenommen aus, doch ihr Vater machte wider Erwarten einen geradezu fröhlichen Eindruck.

Als er jetzt wieder auf Deutsch sprach, klang es holpriger als zuvor. Nach seiner langen Rede, musste er sich erst wieder an die fremde Sprache gewöhnen. »Sagen Sie mal, Sandra, so unter uns, haben Sie eigentlich einen festen Freund?«

Sandra lächelte selbstbewusst und schüttelte den Kopf, als mache ihr diese Tatsache nicht im geringsten etwas aus. Aber seine Frage war die Antwort auf ihre Ungewissheit. Sie überlegte, ob sie ihre Antwort revidieren sollte und blickte auf ihre Geliebte, deren innere Qualen für sie so offensichtlich waren. Vielleicht brauchte sie Hilfe. Vielleicht brauchte es einen mutigen Schritt, um den Stein ins Rollen zu bringen.

Doch da kam ihr Anas Vater zuvor. »Ach, dachte ich es mir doch«, seufzte er, »bei meiner Ana ist es ja auch so. Sie glauben gar nicht, wie sie das belastet«, offenbarte er trotz Anas Gegenwart. »Wissen Sie, ich wünsche mir doch auch nur, dass sie eine Familie gründen kann.«

Wollen Sie Enkelkinder? dachte Sandra vor sich hin, schaffte es aber nicht, diese Frage auszusprechen, denn kam er ihr wieder zuvor.

»Es wird doch wohl nicht so schwierig sein, einen vernünftigen Mann kennenzulernen.«

Da verwandelte sich auch Sandras mutiges Lächeln in einen hilflosen Ausdruck.

»Wir werden ja alle nicht jünger, nicht wahr?« sagte er abschließend und trank den letzten Schluck aus seinem Glas. Unter dem Tisch nahm derweil Sandra heimlich Anas Hand in ihre und drückte sie mitfühlend.

Nach diesem Abend sprachen Sandra und Ana erst einmal kein Wort mehr über ein gemeinsames Kind oder Anas Coming out. Eine bedrückende Schwere hing in der Luft. Anas Mut wurde von einem Schleier der Schwäche bedeckt. Nur in Sandra funkelten die letzten Reste Entschlossenheit. Irgendwann würde sie es nicht mehr aushalten, ihr Leben nach einem Mann zu richten, der nichts von ihr wusste. Wenn Ana es nicht schaffte, würde sie es selbst in die Hand nehmen.

Ana entdeckte die ungewollten, unausgesprochenen Vorwürfe in Sandras Augen. Aber vielleicht bildete sie es sich nur ein und projizierte ihre eigenen Anschuldigungen auf Sandra. Ihr Mut fuhr in einer Achterbahn im Wagen vor ihr und bei jeder neuen Gelegenheit, ihrem Vater ihr Herz auszuschütten, war ihr Mut schon wieder im Tal. Dabei hatte sie wirklich vor, es ihm zu sagen.

Dieses Hin und Her der Gefühle ging einige Wochen so. Bis zu dem Tag, an dem das Telefon klingelte und jemand vom Krankenhaus am Ende der Leitung war.

Sandra fuhr Ana mit dem Auto hin. Sie erlebte alles wie in einer dicken Nebelschwade: den mitleidigen Blick der Ärztin, ihre kargen Worte, das Wort Herzinfarkt, ihre fachlichen Erläuterungen, die Berührung ihrer Schulter.

Noch während die Ärztin mit Ana sprach, sah Sandra völliges Unglauben und Sekunden später fassungslose Leere in Anas Augen. Nachdem die Ärztin sich entfernt hatte, umarmte Sandra ihre Freundin, die steif in ihren Armen stand. Ihr Atem klang, als wäre er nicht mehr vorhanden, dann setzte er kräftig und stockend wieder ein. Ana stützte sich an Sandras Schultern ab und begann unwillkürlich zu schluchzen. Ihr Wehklagen wurde lauter und mündete in einem endlosen, heiseren Schrei. Dann sank sie in Sandras Armen zusammen, als wäre plötzlich alle Energie aus ihr geflossen.

Sandra hatte Mühe, sie zu halten, zog sie aber mit all ihrer Kraft und Liebe zu einer Sitzecke. Sie setzten sich hin und Sandra ließ Ana in ihrem Schoß weinen. Sie spürte, wie ihr Mund sich öffnete und schloss und an ihrem Oberschenkel verkrampfte, fast so, als wollte sie sie beißen. Anas Tränen flossen ohne Unterlass und durchtränkten Sandras Hose. Sie umschloss Anas Kopf mit ihren Armen, wiegte sie sanft und küßte sie immer wieder auf ihre Haare.

Nach einer Weile kam eine kleine Familie durch den Gang geschlurft. Ein kleiner Junge von etwa drei Jahren blieb neben dem weinenden Paar stehen und sah sie mit großen, die Welt bewundernden Augen an. Er riss sich von der Hand los, die ihn den Flur entlanggeführt hatte, und tippelte schnell zu den beiden hin, um dann erstaunt vor ihnen stehenzubleiben.

Ana spürte seine Nähe, hob den Kopf aus Sandras Schoß und sah den Jungen direkt vor sich stehen. Seine riesigen Kulleraugen trafen sie mitten in der Seele. Mit seinen kleinen, wulstigen Händen strich er forschend über Anas tränennasse Wange, bevor er von seinen peinlich berührten Eltern zurückgeholt wurde.

Inga Beißwänger 
Sprachlos in Köln 

Ich spüre ihre süßen Lippen auf den meinen, immer fordernder und intensiver. So zärtlich und gleichzeitig so leidenschaftlich – ich erwache. Schade, war nur ein Traum gewesen. Ich blicke mich um. Da liegt sie, rechts neben mir, aus der Decke schaut nicht viel mehr als ihr dunkler Schopf hervor. Ein Lächeln huscht mir bei diesem Anblick über das Gesicht. Sie zuckt kurz im Schlaf. Was sie wohl träumt? Ganz sacht möchte ich mit einem Finger über ihre weiche Wange streichen. Doch da fällt es mir wieder ein: Die morgendliche Idylle trügt. Schnell ziehe ich meine Hand wieder zurück. Langsam dringen die Erlebnisse der Nacht in mein Bewusstsein. Diesen Anblick werde ich nicht mehr genießen können, nie wieder. Heute bin ich das letzte Mal neben meiner Geliebten aufgewacht.

Dabei hatte alles so schön angefangen, vor fast genau neunzehn Monaten. Eigentlich hielt ich ja nicht viel von Internet-Foren, aber aus Neugierde und weil fast alle meine Freundinnen nur noch über ein Lesben-Portal miteinander kommunizierten, meldete ich mich auch bei einem solchen an. Eigentlich nicht, um andere Frauen kennenzulernen. Doch als ich gerade mit einer Freundin Pläne für das kommende Wochenende schmiedete, poppte ein Fenster mit einer Nachricht auf.

»Hey du, du magst auch Filme von David Lynch?«

Na so was, da hatte ich mein Profil schon so spärlich ausgefüllt, und dann sprach beziehungsweise schrieb mich jemand auf das einzige Detail an, das ich preisgegeben hatte. Da konnte ich nicht anders, als zu antworten.

Und so ging es noch eine Weile hin und her; wir kamen von Filmen auf Musik und endeten bei unserem Privatleben.

»Bist du Single?« fragte Eva mich schließlich. Tja, unter der Rubrik Partnerstatus hatte ich nichts angegeben.

Nach einem kurzen Zögern antwortete ich: »Ja. Ich muss jetzt aber schlafengehen. Hab’ morgen einen anstrengenden Tag. Gute Nacht.« Ziemlich feige, aber so bin ich nun mal. Ich brauche meine Zeit zum Auftauen.

Eigentlich hatte ich nicht gedacht, dass Eva mir nochmal antworten würde, nachdem ich sie so forsch hatte abblitzen lassen. Doch zwei Tage später war wieder eine Message von köllegirl26 in meiner Mailbox: Hallo, war eine nette Unterhaltung mit dir neulich. Vielleicht fandst du das ja auch?

Bei dieser freundlichen Unverbindlichkeit konnte ich nicht anders, als ihr zurückzuschreiben.

Schließlich kam es zum ersten Treffen. Wir verabredeten uns in einem Café am Alter Markt. Da ich kein Foto in meinem Internet-Profil hatte, lag es an mir, sie anzusprechen. Wie immer, war ich zu spät. Als ich den Raum betrat, sah ich sie leicht versteckt hinter einem Pfosten sitzen, vor sich eine große Teetasse. Ihre langen, braunen Haare umschmeichelten ihr schönes, dezent geschminktes Gesicht. Unter ihrem enganliegenden, hellgelben T-Shirt zeichneten sich ihre kleinen, wohlgeformten Brüste ab. Mein Herz machte vor Aufregung einen kleinen Hüpfer. Sie sah noch viel besser und vor allem sympathischer aus als auf dem Bild ihres Internet-Profils.

Langsam schritt ich auf sie zu. »Hallo, ich bin Olivia. Du darfst aber Olli zu mir sagen.«

»Ach ja? So weit sind wir also schon?« antwortete sie mit einem süffisanten Lächeln. Der Rest ist Geschichte. So oder so . . .

»Wie konntest du mir das antun?« empfing mich meine Liebste gestern, kaum, dass ich zur Tür hereingekommen war. Wie ich diese konkreten Aussagen liebe. Eva fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum, als versuchte sie, die Worte, die sie mir gleich an den Kopf werfen würde, aus der Luft einzusammeln. »Irina hat euch beide zusammen gesehen! In einem Café auf der Schildergasse!« Eigentlich müssten hinter jedem Satz mindestens fünf Ausrufezeichen stehen, so laut und vorwurfsvoll hat sie gezetert.

Als sie in ihrem Schrei-Konzert eine kurze Pause einlegte, konnte ich darüber nachdenken, wie ich mich zu dieser Aussage äußern wollte. Frauen . . . Ganz zufällig war ich meiner Ex in der Stadt begegnet, bei H&M in der Unterwäscheabteilung (ausgerechnet . . .). Zuerst hatten wir wohl beide nicht gewusst, wie wir uns verhalten sollten, da zwischen uns schon fast zwei Jahre lang Funkstille geherrscht hatte. Nach einem leisen »Hallo« und schüchternem Kichern, haben wir dann angefangen zu quatschen. Und da es gemütlichere Orte zum Nachrichtenaustausch gibt, als stehend zwischen Schlafanzügen und BHs, sind wir in das nächstgelegene Café gezogen.

Zugegeben, wir haben uns gut verstanden, Lara und ich; es war fast so, als würden wir uns ein zweites Mal kennenlernen. Doch natürlich war klar, dass nichts laufen würde. Ich weiß ja nicht, was Irina– Evas beste Freundin und wohl die einzige Person auf der Welt, die unter noch größerem Verfolgungswahn leidet als sie – da gesehen haben will. Aber bei Eva läuten die Alarmglocken schon, bevor es überhaupt zu einem Unglück gekommen ist. Das ist auch unser größtes Problem. War unser größtes Problem.

»Ja und? Ich hab’ Lara schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Gestern haben wir uns zufällig in der Stadt getroffen und uns dann gegenseitig upgedatet«, versuchte ich mich zu verteidigen. Sehr schwierig bei einer Frau, die jedes Wort entweder auf die Goldwaage legt oder in den falschen Hals bekommt.

»Ach, das hört sich so an, als ob du sie vermisst hättest. Waren die letzten anderthalb Jahre so schrecklich mit mir?«

Was wollte frau da noch sagen? Doch da sie ja auch sauer war, wenn ich nichts sagte, warf ich ihr auch einige unschöne Dinge an den Kopf. »Du bist doch verrückt. Wir haben nur miteinander geredet, ganz normal. Aber das geht wohl nicht in deinen Kopf, dass zwei Frauen auch was andres miteinander machen können, als zu vögeln.«

Starker Tobak. Mit einem einzigen Satz hatte ich unsere beiden größten Problemzonen angesprochen. Erstens war Eva übertrieben eifersüchtig. Sie hatte selbst nur männliche Freunde, und wenn ich mit einer rein platonischen Freundin etwas allein unternehmen wollte, kam von ihr die ganze Bandbreite, von Stirnrunzeln zu großer Szene. Sogar wenn überhaupt keine Gefahr bestehen konnte, da die Freundin eine Hetera war.

Die zweite Problemzone, na ja, wie soll ich’s ausdrücken? Oft hatte ich das Gefühl, dass zwischen uns nur im Bett Kommunikation herrschte, wenn überhaupt. Es schien eher so, als ob wir uns überhaupt nichts zu sagen hatten, und dieser Eindruck hatte sich in letzter Zeit noch verschärft. Zu anderen Vergnügungen schien Eva nicht bereit zu sein; ausgehen war schwierig, da sie ja immer darauf bedacht war, dass keine andere Frau näher als zehn Meter an mich herankam. Zu gemeinsamen Unternehmungen, wie ins Kino gehen oder auch nur Spazierengehen, war sie meist zu müde oder zu lustlos. Also blieben wir fast nur zu Hause. Und so viele Beschäftigungsmöglichkeiten gab es da ja nun nicht . . .

Wenn ich sie so friedlich schlafend da liegen sehe, kann ich gar nicht glauben, dass sie auch anders sein kann. Eine wilde Furie, die mir die Luft zum Atmen nimmt. Leise stehe ich auf, sammle meine Klamotten zusammen und schleiche auf Zehenspitzen ins Badezimmer. Was, wenn sie jetzt aufwacht? Was soll ich sagen? Gibt es überhaupt noch etwas zu sagen?

Ich wasche mein Gesicht, das von all den Tränen und der Wut immer noch leicht geschwollen ist.

Wie soll ich es meinen Freundinnen und Freunden, Eltern und Verwandten sagen? Nach dem, was ich mir von Eva alles anhören musste, über meine Beziehungsunfähigkeit und meinen Egoismus, war mein Selbstbewusstsein auf einen Rekord-Tiefstand gesunken.

In meinem jetzigen Zustand würde ich zugeben, dass alles mein Fehler war und dass Eva recht damit hatte, Schluss zu machen. Vielleicht warte ich besser ein paar Tage, bis ich die Hiobsbotschaft in die Welt hinaustrage. Alle hatten sich für mich gefreut und mochten Eva mehr als Lara. Sie dachten wohl, dass sie mich mit ihrer ruhigen Art vor Ungemach schützen würde, das mein stellenweise wildes Leben mit sich gebracht hatte.

Tja, tragischerweise wurde es mir, der abgehobenen Superwoman, dann doch zu langweilig mit dieser sehr besonnenen Frau, die nichts so leicht aus der Bahn werfen konnte – außer natürlich, wenn sie einen vermeintlichen Grund zum Ausrasten hatte, dann war von ihrer Ruhe nicht mehr viel übrig.

Vielleicht werde ich mir von meinen Lieben auch bescheuerte Kommentare anhören müssen, wie »Versuch’s doch noch mal mit ’nem Mann, vielleicht klappt das besser. Schließlich bist du mit deinen siebenundzwanzig Jahren auch nicht mehr die Jüngste, und du willst doch auch Kinder?« Eva war erst meine zweite Freundin, und die Beziehung mit Lara hatte auch nicht gerade rühmlich geendet – sie hatte mich für eine andere verlassen.

Während ich mich anziehe, spult mein Kopf die schrecklichen Szenen der vergangenen Nacht immer und immer wieder ab: wir machen einander Vorwürfe, schaukeln uns regelrecht gegenseitig hoch, knallen mit den Türen. Nichts war mehr da von der Harmonie, die wir am Anfang unserer Beziehung verspürt hatten. Keine von uns fühlte sich in Anwesenheit der anderen mehr wohl. Alles war weg, verlorengegangen irgendwo zwischen Alltag und Egos.

Wir hatten es ja wirklich eine Zeitlang versucht, konnten aber keine Lösung finden; die Verbundenheit der Rosaroten-Brillen-Phase war nicht mehr auffindbar.

Als jede von uns wieder in ihr eigenes Leben hatte zurückkehren müssen, hatten die Probleme angefangen.

Ein Problem war, dass ich viel arbeiten musste, da ich mich gerade als Übersetzerin selbständig gemacht hatte und jeden Auftrag annehmen musste, der hereingeflattert kam. Sie hatte jeden Abend auf mich gewartet und war bitter enttäuscht gewesen, wenn ich ihr absagen musste, weil ich zu müde war oder noch kurzfristig eine Übersetzung fertigstellen musste und deshalb nicht zu ihr fahren konnte.

Vielleicht hätte ich schon damals erkennen müssen, dass wir zu unterschiedlich waren: sie eher der passive Typ, der lieber zu Hause vor der Glotze saß, ich hingegen wollte in meiner knappen Freizeit etwas erleben, an der Kultur und der Szene teilhaben – schließlich war ich nicht umsonst aus der ostwestfälischen Provinz in die »Homo-Hauptstadt« gezogen.

Ich kämme mein Haar, über das sie noch vor wenigen Stunden gestrichen hatte. Nachdem wir uns beide leergetobt hatten, war es still zwischen uns geworden. Erschreckend still.

Schließlich hatte sie die Worte gesagt, die ich so gefürchtet hatte: »Ich kann nicht mehr. Es ist besser, wenn wir uns trennen.«

Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich richtig gehört hatte. Ich starrte sie nur an. Alles in mir schien gelähmt.

Eva setzte sich auf ihr Bett und fing an zu weinen. Ich spürte immer noch nichts. Doch als ich die Frau, die ich trotz allem noch liebte, jämmerlich schluchzen sah, stiegen auch mir die Tränen in die Augen. Ich setzte mich neben sie und nahm sie in den Arm. Sofort umschmeichelte ihr süßlich-herber Duft meine Nase.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

»Wieso? Ich habe ja mindestens genauso viel Anteil daran«, erwiderte ich. Schließlich gehören nicht nur zu einer funktionierenden, sondern auch zu einer endenden Beziehung meistens zwei.