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Dirk van den Boom

Tentakelreich

Das Titelbild fehlt!

 

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Februar 2020

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild: Allan J. Stark
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-193-0
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-941258-43-3

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.

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www.atlantis-verlag.de

1

Als Slap diesmal erwachte, war es nicht wie beim letzten Mal, denn er konnte sich erinnern. Er stützte sich in der seidig anfühlenden Bettwäsche auf und schaute sich um. Seine Unterkunft. Er lauschte.

Das Rauschen kam aus der Nasszelle und in Kürze würde eine entzückend aussehende Mirinda aus derselben treten, sauber wie der junge Morgen und durchaus bereit, diesen durch etwas dreckigen Sex noch ein wenig in die Länge zu ziehen. Das war sicher auch das Mindeste, was er erwarten konnte. Andererseits würde sich der Effekt mit der Zeit sicher abnutzen. Es war daher in seinem Interesse, die Abfolge von gewaltsamen Toden zu begrenzen. Eine andere Erklärung für den plötzlichen Filmriss hatte er nicht. Natürlich konnte es sein, dass er seine erneute Inkarnation mit einem heftigen Besäufnis gefeiert hatte. Aber irgendwie glaubte er nicht daran, denn dann würde er sich jetzt anders fühlen. Was er nunmehr genau zu unterscheiden vermochte, waren reale und virtuelle Existenz – zumindest bildete er sich das ein. Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass er sich wieder ganz im Virtuum aufhielt.

Mirinda sagte irgendwas aus dem Badezimmer. Die Vorstellung der tentakeligen Braut unter der Dusche weckte Slaps Lebensgeister.

Slap würde sich diese Chance natürlich trotz Virtuum nicht entgehen lassen. Aber er wusste jetzt, warum er hier gelandet war. Seine letzte offizielle Erinnerung war keinesfalls angenehm: geschlüpft in einen physischen Körper hatte er sich aufgemacht, Empfangsdackel für ankommende Sphärenflüchtlinge zu geben.

Dabei musste etwas schiefgelaufen sein, denn er wusste nicht, was danach passiert war. Eines war aber sicher: Es hatte seine kurze Phase fleischlicher Existenz wieder abrupt beendet und Slap war mit dieser Abfolge von Ereignissen nicht recht einverstanden.

Das Rauschen hörte auf und kurze Zeit später trat Mirinda in das Schlafzimmer. Slap hielt inne, betrachtete die exotische Mischung aus vielseitigen Tentakeln, gigantischen Brüsten und einem Hintern, in den er eintauchen wollte – nicht, dass er das nicht das eine oder andere Mal bereits getan hätte –, und genoss den Anblick. Er war natürlich neugierig darauf, was ihn wieder hierher geführt hatte, aber andererseits sollte man die Segnungen des Schicksals nicht vergeuden und so hielt er für einen Moment den Mund. Er beobachtete mit Wohlgefallen, wie Mirinda sich nach vorne beugte und auf das Bett krabbelte, da diese Bewegung interessante Dinge mit den großartigen Dingern machte, zwischen denen winzige, leicht feucht schimmernde Tentakelchen vorwitzig und verheißungsvoll wimmelten. Seine unmittelbare körperliche Reaktion mochte simuliert sein, sie fühlte sich aber wunderbar echt an. Er lächelte und beugte sich nach vorne, um Mirinda zu küssen, doch seine Lippen gingen ins Leere.

Er räusperte sich.

»Was ist?«, fragte er nur.

»Jemand hat dich erschossen!«, sagte Mirinda und hockte ich auf ein Kissen.

Slap, noch ganz fasziniert von der verheißungsvollen Kurve ihres Beckens, benötigte einen Augenblick, um sich der Bedeutung ihrer Worte klar zu werden. Nicht, dass er damit nicht gerechnet hätte, aber dennoch war diese Eröffnung fast so etwas wie eine kalte Dusche. Er sah, wie der kleine Slap beleidigt verschrumpelte, und seufzte.

Es war kein Coitus interruptus, aber viel hätte wohl nicht mehr gefehlt.

Er würde sich mit dieser Sache befassen müssen.

»Wie ist es passiert?«

»Ein Offizier hat eine Waffe auf dich gerichtet und abgedrückt, ehe eine Drohne reagieren konnte.«

Ein Offizier. Das bestärkte seine negative Meinung zu diesem Menschenschlag.

»Was war der Grund? Habe ich einen Drink auf seinen Orden verschüttet?«

Mirinda sah ihn tadelnd an. Sie wollte die Sache wohl nicht ins Lächerliche ziehen.

»Er reagierte allergisch auf deinen Namen.«

»Wie war der seine?«

»Estevez. Er sprach von seiner Tochter.« Mirinda sah ihn forschend an. »Eine verflossene Liebe, entehrt und erniedrigt?«

Slap nickte. Natürlich, das entsprach seinem üblichen Glück. Der Vater der verrückten Vergewaltigerin musste zu den ersten eintreffenden Flüchtlingen von Terra gehören. Und da er die gleiche Art von Psychopath wie seine Tochter war, trug er natürlich eine Waffe bei sich. Slap tastete unwillkürlich an seine Brust, aber sein virtueller Körper war einwandfrei und unverletzt.

»Was ist mit ihm geschehen?«, fragte er und ignorierte damit Mirindas Bemerkung. Er hatte sich wohl geirrt, sie wollte sich doch lustig machen. Doch der Spaß war ihm bei der Erwähnung von Estevez’ Namen sofort vergangen.

»Er ist in Haft. Der kommandierende Offizier der ersten Flüchtlingstruppe hat sich entschuldigt.«

»Da geht mir das Herz auf. Was wird mit ihm geschehen?«

»Er kommt auf das neue Habitat der Menschen und wir denken nicht, dass du ihm jemals wieder begegnen wirst.«

»Hm?«

»Ihm wird der Prozess gemacht und er wird bestraft. Wir haben auch hier wenig Verständnis für Mord, weißt du?«

»Ich lebe.«

»Der Gedanke zählt bereits.«

»Wie lange ist es her?«

»Acht Stunden Realzeit. Mittlerweile sind drei weitere Fluchtkapseln mit Menschen eingetroffen. Wünschst du, andere deiner Spezies zu treffen? Ich vermute, dass nicht alle sofort das Bedürfnis entwickeln werden, dich zu töten.«

Slap hielt inne und dachte über diese Frage nach. Er fühlte, dass sein Bedürfnis nach der Gesellschaft »richtiger« Menschen nicht halb so stark war, wie man es sich hätte vorstellen können. Das mochte natürlich mit der Tatsache zusammenhängen, dass ihn gerade eines dieser Exemplare erschossen hatte. So was trug nicht zur allgemeinen Sympathie bei. Abgesehen davon handelte es sich bei den Flüchtlingen um Offiziere und ihre Familien, vielleicht einige wichtige Politiker, doch alles in allem niemand, um dessen persönliche Bekanntschaft Slap sich gerissen hätte. Da mochte auch die eine oder andere nette Person dabei sein, aber letztlich war Mirinda diejenige, auf deren Gegenwart er wirklich Wert legte, und das machte ihm die Entscheidung letztendlich leicht.

»Nein, lass mal.«

Mirinda nickte. »Ich habe deine Antwort erwartet. Willst du noch etwas Ruhe?«

Slap starrte wieder auf Mirindas Brüste und die dazwischen träge auf und ab streichelnden Tentakelchen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob Ruhe das richtige Wort ist.«

Sie hob ihre Augenbrauen. »Du wurdest gerade erschossen, Slap!«

Er lächelte sie an.

»Dann ist es wohl der Drang, mir selbst zu beweisen, am Leben zu sein. Etwas sehr Kreatürliches, was du vielleicht nur schwer begreifst.«

Mirinda schüttelte den Kopf. »Wir haben bald wieder Dienst. Loban wartet auf uns.«

»Was ist? Kopfschmerzen?« Slap grinste gierig.

Mirinda schüttelte weiter ihren Kopf, rückte aber näher, küsste ihn sanft auf die Schulter. Dann legte sie ihre Arme um seinen Oberkörper und ihre Brusttentakel begannen, ihn sanft zu streicheln. »Willkommen zurück, Slap«, murmelte sie.

Slap berührte sie. Er runzelte die Stirn.

»Mirinda.«

»Was ist?«

»War dieser Tentakel vorher auch da oder ist der neu?«

Sie lächelte.

»Du hast es bemerkt! Ich dachte, Männer sehen so was nicht.«

Slap grinste.

»Ich achte eben auf Details. Das schreit nach einer Belohnung. Loban kann warten.«

Mirinda schüttelte ergeben den Kopf.

2

Mengsk wies auf die Abzweigung.

»Rechts oder links?«

»Ist das nicht egal?«, murmelte Roby und versuchte, das beständige Jucken seines rechten Ohrs zu ignorieren. Wie die gesamte überlebende Besatzung der zerstörten Hanna trug er einen Raumanzug, weil an Bord des Tentakelsammlers keine Atmosphäre herrschte. Es war sicher möglich, das Schiff unter Druck zu setzen. Die entsprechenden Anlagen waren vorhanden, davon hatten sie sich mittlerweile überzeugen können. Doch wie man diese aktivierte – auch noch, ohne großen Alarm auszulösen –, blieb fraglich. Also konnte er sich nicht kratzen, da er einen Helm auf dem Kopf sitzen hatte. Das Problem würde sich in sieben Stunden lösen, denn dann war der Sauerstoffvorrat aufgebraucht und er konnte sich möglicherweise kurz vor dem Ersticken noch einmal Linderung verschaffen.

»Ist es nicht«, meinte Mengsk. »Wenn wir …«

Sie begann mit einer Erklärung, der Roby schon nicht mehr zuhörte. Smith würde ohnehin derjenige sein, der diese Entscheidung traf. Fast fünf Stunden irrten sie nun bereits durch das große Spezialschiff, dessen Aufgabe es war, Tentakelwracks aufzusammeln und, das war zumindest die Theorie, einer erneuten Verwertung zuzuführen. So verschwenderisch die Aliens mit ihrem eigenen Leben umgingen, vor allem mit dem niederer Spezies ihres Volkes, so sorgsam achteten sie auf die effiziente Nutzung anderer Ressourcen. Aus den gut zwanzig Schiffswracks, die sie in den gigantischen Hangars des Sammlers gefunden hatten, konnten findige Tentakelingenieure vielleicht drei oder vier wieder funktionsfähige Kampfschiffe machen oder die Reste sonst wie verwenden.

Seit fünf Stunden hatten sie keinen lebenden Tentakel entdeckt und auch der genaue Standort der Zentrale dieses Schiffes war ihnen bislang entgangen. Roby kam zu dem Schluss, dass dieses Schiff ein Roboter war und gar keine Brücke besaß, deren Kontrollen sie manipulieren konnten. Es gab sicher mal eine Besatzung, aber nur fallweise. Derzeit schien sich jedenfalls niemand an Bord zu befinden.

Neben dem schwindenden Sauerstoffvorrat war gleichfalls beunruhigend, dass der Sammler Fahrt aufgenommen hatte. Mengsk war die Erste gewesen, die die Vermutung geäußert hatte, dass der Transporter nun voll sei. In der Tat fand auch Roby, dass die Hangars gut gefüllt worden waren. Die Triebwerke schienen hochgefahren worden zu sein, soweit die gefühlten Vibrationen darauf Rückschlüsse zuließen. Wenn der Sammler nun einer der Tentakelstationen im äußeren Sonnensystem zueilte, dann waren sie auf der einen Seite erst einmal eine Weile unterwegs, auf der anderen bedeutete es aber, dass sie am Ende ihrer Reise eine Station oder Basis voller Tentakel erwartete.

Roby schüttelte den Kopf, was ihn sofort an seinen Juckreiz erinnerte.

Ein unnötiger Gedanke. Der Flug würde länger als sieben Stunden dauern. Wenn sie vorher keine Sauerstoffquelle fanden, waren sie lange tot, ehe sie ihr Ziel erreichten.

Smith trat nach vorne. Durch das Glas seines Helms konnte Roby die Erschöpfung in seinem Gesicht ausmachen. Der Mann hatte in den letzten Tagen eine schwierige Entscheidung nach der anderen treffen müssen. Nach einer jeden waren sie ein Stück tiefer in die Scheiße geritten, ohne dass es seine Schuld gewesen wäre. Roby hätte nicht anders entschieden. Andere hätten sich gar nicht erst zu einer Entscheidung aufraffen können. Es war Smith aber anzusehen, dass er niemand war, der sich und seine Taten selbst entschuldigte.

»Was ist das dort drüben?«, fragte er und wies auf ein rotes Schott, das den Gang abschloss. Rot war auch bei den Tentakeln eine Art Warnfarbe, aber nicht notwendigerweise vor einer Gefahr, wie sie mittlerweile herausgefunden hatten. Rot war wichtig. Wichtig war möglicherweise gut. Gut könnten sie jetzt auch gut gebrauchen.

»Ich kann öffnen«, erklärte Mengsk, deren technische Fähigkeiten außer Zweifel standen. »Ich glaube aber nicht, dass es etwas Spezielles ist. Die letzte Tür, mit der ich mich eine halbe Stunde befasst habe, führte in diesen Lagerraum.«

Einen Raum voller Werkzeuge, wie sie von Arbeitsteams der Tentakel verwendet wurden, sobald diese das Schiff betraten, um die Wracks zu zerteilen und funktionsfähige Anlagen abzubauen. Alles vorrätig, aber abgesehen von ihrer potenziellen Zerstörungskraft für die Flüchtlinge absolut nicht zu verwenden.

»Die letzte Tür war nicht rot«, erinnerte Roby sie.

Mengsk zuckte mit den Schultern.

»Trotzdem besser, als durch die Gänge zu irren. Wir sind alle müde«, erklärte Smith. »Und irgendwann müssen wir ja mal Glück haben. Also los.«

Mengsks Gesichtsausdruck war anzusehen, für wie wahrscheinlich sie diese Aussicht hielt, aber sie widersprach nicht. Auch sie war gewiss zu dem Schluss gekommen, dass das eine so gut oder schlecht wie das andere war. Sie machte sich ohne weiteren Kommentar an die Arbeit. Die roten Schotts waren im Regelfall unverschlossen, aber ohne Zugangscode arbeitete die Automatik nicht, sodass sie sie manuell aufstemmen mussten. Das dauerte einige Zeit, da Mengsk den Warnschaltkreis vorher deaktivieren musste. Der Sammler schien nicht über Innenkameras zu verfügen, aber eine unautorisierte Türöffnung eines speziellen Bereiches würde irgendeine Reaktion nach sich ziehen und derzeit war ihnen allen nicht nach Reaktionen.

Es dauerte nicht allzu lange. Mengsk hatte sich eine gewisse Übung erarbeitet.

»Geschafft«, sagte sie schließlich. Alle rafften sich auf, starrten durch die Öffnung und keiner sagte etwas.

»Das ist …«

»Gehen wir rein.«

Smith führte sie an. Er starrte in den langen, schmalen Raum und schaute auf die lange Reihe an röhrenförmigen Tanks, die aufrecht an der Wand standen. Alle waren sie mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllt. Roby trat an eine der Röhren heran.

So etwas hatte sicher keiner von ihnen jemals erblickt.

In allen waren die Umrisse von Lebewesen erkennbar und es war eine bedrückende Vielzahl an Körperformen, die ihnen hier präsentiert wurde. Die Röhren waren alle ungefähr gleich groß, was dazu führte, dass der eine Leib frei in der Flüssigkeit schwebte, der andere eng an die Röhrenwände gepresst wurde.

Für einige Minuten wanderten sie andächtig durch den Raum, betrachteten die Lebensformen, deuteten auf besonders skurril anmutende Wesen und kontemplierten die Nähe der Humanoiden zur eigenen Spezies. Sie alle hatten sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass es viele Intelligenzen im Weltraum gab, und hatten mit den Tentakeln sowie den Gesandten der Allianz einige Beispiele präsentiert bekommen. Dieses Panoptikum aber war gleichermaßen beeindruckend wie verwirrend, mitunter einschüchternd, beinahe beängstigend. Nicht jeder ging damit gleichermaßen offen und neugierig um. Einigen war anzusehen, dass die Konfrontation mit »noch mehr« Aliens ihnen eher zusätzliche Befürchtungen bereitete als alles andere. Sie wanderten schweigsam und staunend umher, bis Smith die entscheidende Frage stellte.

»Wozu dient dies alles hier?«

Mengsk zuckte mit den Achseln. »Eine Probensammlung. Jemand hat Stauraum für sein Hobby gebraucht. Eroberte Spezies – von jeder ein Exemplar, aus Sammelleidenschaft. Trophäen. Wie ausgestopfte Tiere oder eingelegte Organe. Eklig, aber ich kenne schlimmere Hobbys.« Sie zog die Stirn kraus. »Nein, eigentlich kenne ich die nicht.«

»Tentakel haben Leidenschaften?«, fragte Smith mit zweifelndem Unterton.

»Ja«, sagte nun Roby. »Das gilt zumindest für die höher entwickelten Exemplare: die Wissenschaftler und Tentakelfürsten, manche Kategorien der militärischen Führer, also Offiziere, und die Gärtner, die für den komplexeren Nachwuchs verantwortlich sind. Die agieren sehr individuell, zu uns vergleichbar, und haben dementsprechend auch ihre Macken. Ich weiß nicht, ob Mengsks Erklärung zutreffend ist, aber es ist zumindest eine Möglichkeit. Sie irritiert mich mehr, als sie mich zufriedenstellt, aber was die Tentakel tun, ist immer irritierend.«

»Jemand sammelt Proben einer jeden eroberten Spezies?«, wiederholte Smith. »Um sie sich anzuschauen? Sich vor den Röhren einen runterzuholen? Experimente anzustellen? Und warum in einem Sammler, einem Abwrackschiff, einem Weltraumroboter?«

»Die Sammlerschiffe gehören zur ausgesandten Flotte und sind nichtmilitärische Einheiten, die hinter der Front operieren. Ein sicherer Ort, soweit es einen solchen gibt. Für mitreisende Wissenschaftler oder Fürsten eine gute Möglichkeit der Aufbewahrung wichtiger Dinge, die keinen offiziellen Nutzen erfüllen und ansonsten Platz verschwenden würden. Oder die Fragen wecken. Die Tentakel sind keine harmonische Zivilisation. Es gibt interne Konflikte, Eifersüchteleien und Wettbewerb, zumindest nach allem, was wir wissen. Die Idee ist nicht so abwegig, wie sie klingt.«

Smith sah Roby zweifelnd an, dann legte er eine Hand auf eine der Röhren und schaute hinein.

»Das ist pervers. Entwürdigend. Ob am Ende auch ein Mensch in einer solchen Röhre landen wird?«

»Kann gut sein. Und vielleicht weckt der Besitzer sie irgendwann auf, um mit ihnen zu spielen.«

»Wie bitte? Aufwecken?«

Unwillkürlich hob Smith die Hand und starrte die Röhre mit neuem Interesse an.

»Ich bin kein Experte«, sagte Roby, »aber niemand baut so viele Kontrollelemente um einen Probentank, der nur totes Gewebe vor der Verwesung retten möchte. Diese Anzeigen dort … die erinnern mich fatal an die Angaben, die in unseren Krankenstationen Lebensfunktionen symbolisieren. Da pulsiert was. Da laufen Grafen ab. Energieanzeigen. Lebenszeichen. Zumindest interpretiere ich das so.«

Mengsk trat vor eine der Konsolen und nickte bedächtig. »Roby hat recht. Unter diesem Gesichtspunkt gesehen ergeben manche der Angaben Sinn.« Sie wies auf eine pulsierende Anzeige.

»Herzschlag, extrem verlangsamt. Das da … Gehirntätigkeit?«

Roby hob die Arme. »Weiß nicht. Kann gut sein. Jedenfalls glaube ich, dass die hier alle am Leben sind und aus diesem Zustand auch wieder herausgeholt werden können. Das ist nicht nur einfach eine Sammlung, zumindest nicht im Sinne eingemachter Gurken.«

Smith kratzte sich am Kopf, was angesichts des Helms eine tragikomische Note bekam und Roby leider erneut an seinen wilden Juckreiz erinnerte.

»Was können wir mit dieser Entdeckung anfangen?«

»Wir könnten die alle aufwecken«, erklärte die Technikerin.

Alle starrten sie an, viele sicher, dass die Frau nicht mehr ganz dicht sei. Roby hingegen fand die Idee nicht so abwegig.

Mengsk legte eine Hand an den Rand der Konsole. »Diese Taste dort, da wette ich drauf, aktiviert die Erweckungsroutine. Soll ich diesen komischen Tintenfischmenschen mal aus seinen Träumen reißen?«

»Finger weg, Mengsk!«, sagte Smith scharf. »Warum sollten wir so etwas tun? Die werden doch alle sofort ersticken. Vielleicht atmen die nicht einmal alle das Gleiche! Und selbst wenn es eine geeignete Atmosphäre gäbe – was würde es uns nützen, einige Dutzend desorientierter Aliens aufzuwecken?«

»Desorientiert?«, murmelte Roby. »Überlegen wir einmal. Zum Ersten: Die Tentakel atmen in etwa die gleiche Luft wie wir. Ich vermute, wenn wir die Erweckung einleiten, dass das Schiff für Luft sorgen wird und dass diese Aliens alle damit zurechtkommen. Eine Luftschleuse oder so was sehe ich hier nämlich nicht. Zum Zweiten: Wenn der Besitzer dieser Röhren eine Erweckung vorgesehen hat, dann hat er sie auch benutzt. Die Aliens hier wissen, wo sie sind. Sie leiden vermutlich unter jeder Erweckung und sind rechtschaffen sauer oder schlicht fatalistisch, aber desorientiert? Nein, das glaube ich nicht. Meine Theorie ist, dass jeder von denen schon das eine oder andere mal wieder angeknipst wurde, wenngleich möglicherweise nicht alle zusammen.«

»Das sind weit hergeholte Vermutungen«, erwiderte Smith.

»Wenn ich mich irre, erlösen wir die hier aus ihrem Leid. Daran darf wohl kaum Zweifel bestehen.«

Smith holte tief Luft.

»Gut. Aber was nützt es uns?«

»Wenn wir die Aliens aus der Kontrolle der Tentakel befreien, können sie uns vielleicht helfen. Habt ihr bemerkt, dass viele der Wesen hier Kleidung tragen? Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber wenn ich mir diese Kleidung so ansehe – gut die Hälfte der Bekleideten hat etwas an, das ich für eine Uniform halte. Damit mag ich nun furchtbar falschliegen, andererseits – mit etwas Glück wecken wir da Leute auf, die eine Ahnung haben.«

»Und wie kommunizieren wir mit ihnen?«

»Gar nicht. Wir lassen sie einfach frei. Dann nehmen die Dinge ihren Lauf.«

»Eine Erweckung wird einen Alarm auslösen.«

Roby nickte.

»Exakt. Das ist das einzige echte Risiko, über das wir nachdenken müssen. Doch worin bestehen unsere Alternativen? Ersticken! Von Tentakeln aufgesammelt werden! Also, hat jemand eine bessere Idee?«

Er schaute sich um. Die meisten sagten nichts, zumindest für einige Augenblicke.

»Wir könnten weiter das Schiff durchsuchen – wir sind damit noch nicht fertig«, meinte Smith.

»Das könnten wir. Aber wonach suchen wir eigentlich?«

»Nach einer Kommunikationsmöglichkeit mit der Flotte.«

»Die sofort losdüst, um uns zu retten? Wer glaubt daran? Wir sind Zivilisten, Kultisten, geduldet, ohne strategische oder taktische Bedeutung«, wandte Roby ein. Er wies auf die Röhren. »Da steht eine potenzielle Rettung, die ein solides Eigeninteresse daran hat, aus ihrer Situation zu entkommen. Ja, es ist alles unkalkulierbar, riskant und möglicherweise töricht – aber es ist eine Alternative und ich bin dafür, dass wir es einfach tun. Allzu viele andere Chancen werden sich für uns nicht mehr ergeben und wir sind, seien wir doch ehrlich, mit unserem Latein am Ende. Also …«

Smith schaute sich um. »Ich will das nicht allein entscheiden. Wer ist dagegen?«

Niemand meldete sich.

Der Kommandant der Hanna verbarg seine Furcht und seinen Zweifel nicht. Er schaute Roby lange an, bis er ein Seufzen ausstieß, das seine Gefühlslage sehr gut zusammenfasste. Dann wandte er sich an Mengsk.

»Dann mach mal. Wir gehen alle zur Tür und sind damit bereit, sofort abzuhauen, wenn es schiefgehen sollte. Mengsk, musst du jede Röhre einzeln auftauen?«

»Ja. Aber das ist kein Problem. Ich fange mit der hintersten an und arbeite mich nach vorne durch. Ehe die Automatik richtig anläuft, bin ich bei euch. So schnell wird das nicht gehen.«

Roby sah Mengsk an, erkannte die Selbstsicherheit in ihren grauen Augen, die selbst durch die Helmscheibe hindurchzuscheinen schien. Sie war sich ihrer Sache sicher und war damit Smith überlegen, den Selbstzweifel beutelten. Smith wollte nicht derjenige sein, der eine kleine Chance auf Rettung durch Zögerlichkeit vergab, andererseits hatte ihn dieses Panoptikum an Aliens tiefer beeindruckt, als er zugeben wollte. Roby glaubte, dass Smith Angst hatte. Sehr große Angst vor den unheimlichen, manchen direkt wirren Albträumen entsprungenen Gestalten, die da auf sie warteten.

Roby schaute auf eine Röhre in der Nähe. Die schlanke, annähernd humanoide Gestalt sah aus wie ein wandelnder Oktopus, seine beiden Arme waren lang und wirkten extrem biegsam und das Gesicht wurde durch ein großes, geschlossenes Auge dominiert. Er wirkte sehr fremd, aber Roby fand es mühevoll, automatisch Angst zu empfinden. Der Typ konnte der Netteste und Freundlichste von allen hier sein. Mengsk folgte seinem Blick und lächelte ihm dann zu. Hier war er sich mit der Technikerin ganz offenbar einig.

Sie schritt langsam den langen Gang entlang, während alle anderen sich zur Tür zurückzogen. Als sie am Ende angekommen war, warf sie einen Blick zurück und drückte mit einer fließenden Bewegung den ersten Knopf an einer der Konsolen. Dann drehte sie sich um und drückte den nächsten. Und so arbeitete sie sich ihnen entgegen. Sie tänzelte fast. Mengsk machte diese Sache Spaß. Es gehörte schon eine Menge Fatalismus dazu, in dieser Situation Amüsement zu empfinden.

Als sie etwa in der Mitte des Raumes angekommen war, begann die erste der Röhren, grünen Dampf abzulassen.

Es hatte begonnen.

3

»Rene ist schuld.«

Tom Vallentons Blick fiel auf den hageren Typen mit dem wie aufgemalt wirkenden, schwachen Backenbart. Rene Nowott hatte noch bis vor Kurzem seinen Lebensunterhalt als Untergrundmusiker verdient, dessen stumpfe elektronische Musik den mit Drogen aufgeputschten Junkies als passender Hintergrund für ihren Vollrausch gegolten hatte. Seitdem die Tentakel seine Heimatstadt erobert hatten und der Großteil seines Publikums den Tentakelsporen als Zuchtbeet diente, war seine musikalische Karriere an einem toten Punkt angekommen – und das im wahrsten Sinne des Wortes.

John Khanaara runzelte die Stirn. Sie saßen zu fünft im Keller unter dem alten 3D-Kino, dem Ort, an dem sie vormals jede freie Sekunde zugebracht hatten, um alte und im Regelfall dumme Krawallfilme aus der Filmgeschichte der Erde zu sehen, Filme, in denen Monster, Aliens und Heldinnen in zu engen Uniformen vorkamen. Es war kein Zufall, dass bis auf Nowott, der durch sein Musikerimage über Jahre immer einen Hasen oder zwei am Start hatte, alle anderen kaum jemals eine Frau aus der Nähe gesehen hatten. Vallenton war als Programmierer tätig gewesen und hatte preiswerte 3D-Pornos für den Hausgebrauch entworfen. Sein dreckiges T-Shirt zeigte den Oberkörper von Isabella Tourini, eine seiner atombusigen Kreationen, die dem Betrachter neckisch entgegenlächelte.

Khanaara war professioneller Gamer gewesen, ein Mann, der stundenlang an den internationalen Ligen beteiligt gewesen war, um sich die Preisgelder bei Shootern zu verdienen, die er für sein karges Leben und seinen niemals ausreichenden Vorrat an Softdrinks und billigen Kartoffelchips benötigte.

Der Vierte im Bunde stach aus der Gruppe der heruntergekommenen Gestalten heraus: Alf Kruse trug einen zerrissenen Anzug, der einmal gut ausgesehen hatte, damals, vor vier Wochen, als die Tentakel ihn aus der Bank gebombt hatten, in der er bis zuletzt treu Risiko-Kapitalanlagen verkauft hatte, deren Risikoeinstufung zum Schluss übel in die Höhe geschossen war. Kruse starrte die ganze Zeit auf Khanaaras T-Shirt und sagte kein Wort. Er sprach ohnehin nie viel, jedenfalls nicht, wenn er kein Verkaufsgespräch führte. Er gehörte zu denjenigen, die noch Bücher lasen, was bei Khanaara und Vallenton für eine gewisse Verachtung sorgte. Sie hatten ihn bisher immer nur deswegen in ihrer Clique geduldet, weil er über genug Geld verfügte, sie alle in das alte Kino einzuladen. Jetzt war er relativ nutzlos. Aber er störte auch nicht besonders.

Die fünfte Person, die mit den anderen zusammen im dunklen und miefigen Keller saß, war Uschi Z.

Vallenton hatte größte Hochachtung vor ihr, denn sie schrieb die Texte für die 3D-Pornos, die er programmierte. Sie war eine Meisterin, eine Künstlerin hohen Ranges, eine Virtuosin des Wortes. Ihre Karriere hatte mit Pferderomanen begonnen, einem Genre, das langsam aus der Mode kam, da diese Tiere fast ausgestorben waren. Sie hatte Isabella Tourini eine charakterliche Tiefe bereitet, die er der Protagonistin selbst niemals hätte geben können, ungefähr äquivalent zur Körbchengröße, was eine durchaus reizvolle Kombination darstellte.

Auch Uschi Z. war jetzt arbeitslos, wie so ziemlich jeder auf der Erde, der nicht mit einer Waffe in der Hand gegen die Tentakel kämpfte. Von den fünf Flüchtlingen trug fast keiner ein Gewehr, obgleich sie alle von der Regierung ausgerüstet worden waren. Selbst Khanaara, der Herr der Highscores, hatte feststellen müssen, dass der reale Kampf gegen reale Gegner für ihn eine große Überforderung darstellte. Es war bezeichnend, dass allein Uschi eines der modernen automatischen Schrotgewehre trug und mehrfach ihre Bereitschaft geäußert hatte, es auch einzusetzen.

Jetzt saßen sie hier und schauten Rene an, der alles andere als schuldbewusst aussah, obgleich er gerade angeklagt worden war, die letzte Schachtel mit Schokolade verspeist zu haben.

»Ich war das nicht«, sagte er dann. »Es war Uschi.«

»Niemals!«, erklärte diese mit einem zischenden Unterton, der alle davon überzeugte, diese Richtung der Ermittlungen nicht weiterzuverfolgen. Außerdem hatte sie das Gewehr.

»Streiten wir uns nicht«, erklärte Khanaara müde und schaute auf das Häuflein an Vorräten, das in ihrer Mitte lag. »Was haben wir noch? Drei Konserven, ein paar Kraftriegel, etwa fünf Liter Wasser.«

»Ich habe noch Kekse«, erklärte Vallenton und schob eine Plastikpackung auf den Haufen.

»Noch jemand etwas?«

»Ich habe nur Hunger«, sagte Kruse und kratzte sich am Kopf. »Wann essen wir etwas?«

»Einmal am Tag«, erinnerte Vallenton ihn an die Regel. »Bevor wir uns schlafen legen. Man kann schlechter einschlafen, wenn man hungrig ist. Wir haben das doch schon besprochen.«

Kruse nickte und senkte den Kopf. Mit der Rechten rückte er seine \mbox{Krawatte} fest, die genauso speckig war wie der Rest seiner Erscheidung. Immerhin, wenn alle Nahrungsmittel aufgebraucht waren, konnte er sich mit ihr erhängen. Vielleicht achtete er deswegen ständig auf ihren tadellosen Sitz.

»Was machen wir, wenn alles weg ist?«, fragte Khanaara. »Dann müssen wir doch hier raus und uns was suchen.«

»Das müssten wir eigentlich schon vorher, solange wir noch bei Kräften sind. Hungern wir bereits, ist es zu spät«, belehrte ihn Uschi und fügte hinzu: »Das ist hier kein Computerspiel, John. Deine Erfahrungspunkte helfen dir hier nicht. Und es liegen nirgends Upgrades rum.«

Khanaara sah Z. böse an. »Ich muss mir so was nicht anhören.«

»Das musst du wohl. Weichei!«

»Du kannst mich mal.«

»Das hättest du wohl gerne.«

Vallenton hob die Hand. »Ich darf doch bitten. Reicht es nicht, dass die Tentakel uns umbringen wollen? Können wir da nicht etwas zivilisierter miteinander umgehen?«

Wie zur Bestätigung seiner Aussage ging Kruses Rechte wieder an den Hals, um die Krawatte gerade zu rücken. Immerhin, so viel Zivilisation hatte er sich bewahrt. Der Kragen seines ehemals blütenweißen Hemdes war allerdings völlig verdreckt und Kruse roch genauso nach abgestandenem Schweiß wie alle anderen, aber er versuchte, dabei einigermaßen würdevoll auszusehen. Das konnte man von seinen Gefährten nicht notwendigerweise behaupten, was aber auch daran liegen mochte, dass sie sich bereits vor der Invasion in unterschiedlich weit fortgeschrittenen Phasen körperlichen Verfalls befunden hatten.

»Ich werd nach draußen gehen und mich mal umsehen«, erklärte Z. in einem plötzlichen Anfall von Entschlossenheit.

»Ich begleite dich«, fügte nun Khanaara hinzu, der sich möglicherweise daran erinnerte, dass er in seinen Spielen auch meist ritterlicher agierte als in ihrer aktuellen Situation. Z. nahm diese Hilfestellung dankend zur Kenntnis. Sie ergriff die Waffe. Die moderne Flinte konnte auf kurze Entfernung sehr effektiv sein und lud sich automatisch nach. Khanaara hatte sie mitgebracht, obgleich er sie kaum jemals benutzt hatte. Er fand, dass die Realität etwas ganz anderes war als die Simulationen seiner VR-Brille, und erkannte, dass zerfetzte Eingeweide nur halb so lustig waren, wenn sie als stinkender Schleim über die eigene Kleidung spritzten. Z. hingegen hatte nicht ganz seine Skrupel, was auch daran liegen konnte, dass sie die Tentakel des Öfteren mit »Kampfpimmeln« verglich. Khanaara vermutete, dass sie unterdrückte sexuelle Aggressionen abreagierte, wenn sie auf die Aliens anlegte.

Das war ihm relativ egal, Hauptsache, sie tat es.

»Ich komme mit«, sagte nun auch Vallenton, der nicht wie ein Feigling erscheinen wollte. Diese drei Worte schienen auch bei Nowott und Kruse Testosteron auszuschütten, jedenfalls murmelten sie nunmehr gleichfalls die Bereitschaft, sich an einer kleinen Erkundungsmission zu beteiligen. Kruse bestand auf »klein« und machte erst dann Anstalten, sich zu bewegen, als ihm dies von Z. zugesichert wurde.

Sie kämpften sich an die Oberfläche. Der Zugang war teilweise verschüttet, wohl eine der Ursachen dafür, dass umherstreifende Tentakelpatrouillen sie bisher weitgehend ignoriert hatten. Als sie schließlich im heruntergekommenen Foyer des alten Kinos standen, fiel Khanaaras Blick auf ein halb zerrissenes Plakat.

»Schaut mal, sie hätten demnächst die alte Verfilmung der Kaiserkrieger-Romane gebracht!«, wies er die anderen darauf hin.

Z. warf ihm einen abschätzigen Blick zu.

»Wenn der Film genauso ein Mist ist wie die Romane, dann kam die Tentakelinvasion gerade noch rechtzeitig. Den Scheiß hätten wir uns nur unter Schmerzen angesehen.«

Kruse nickte. »Uschi hat recht. Ganz mieser Rotz. Stark überbewertet. Ich habe damals in meinem Blog darüber geschrieben.« Das erwähnte er gerne. Keine Sau hatte sein Blog jemals gelesen, aber das hinderte ihn nicht daran, immer wieder darauf hinzuweisen.

»Ich schau mal auf die Straße«, erklärte Z. und hob die Flinte in Anschlag. Die Männer der Gruppe sahen sich wechselseitig abwartend an, bis schließlich Khanaara aufseufzte und sich an die Seite der Pornoautorin gesellte, die entschlossen über die zerbrochenen Glasscheiben durch einen der Fensterrahmen hindurch ins Freie trat.

Es war später Nachmittag und gespenstisch still. Khanaara konnte keine Bewegung ausmachen.

Fahrzeugwracks lagen auf der Straße, die Häuser trugen die Narben der Schusswechsel, die ihn und seine Freunde in den Keller getrieben hatten. In der Luft lag eine seltsame Mischung aus Gerüchen, etwas Süßliches wie Verwesung, etwas Verbranntes wie von vielen, erkalteten Feuern und etwas, das beides kombinierte, verbranntes Fleisch auf einem Grill, nur stechender. Es beschrieb das Ausmaß seines Hungergefühls recht gut, dass er trotz dieser Gerüche und der damit verbundenen Vorstellungen weiterhin bereit war, den Verzehr einer ordentlich gegrillten Bratwurst in Erwägung zu ziehen.

»Ich hab was!«

Alle drehten sich nach Kruse um, der aus einem zerbrochenen Automaten eine Handvoll gebrannte Erdnüsse holte. Nowott beugte sich neben ihn und beide holten weitere Süßigkeiten aus den Trümmern. Sie steckten sich in die Hosentaschen, was sie finden konnten. Khanaara beschwerte sich nicht. Die Gruppe bestand aus Spinnern, aber bis auf den kürzlich gegenüber dem Musiker geäußerten Verdacht war bisher nie der Eindruck entstanden, dass sie nicht zu teilen bereit waren. Er war da auch weiterhin zuversichtlich.

»Da drüben ist ein Supermarkt«, meinte Z., die nun wieder die Straße beobachtete.

»Bestimmt ausgeplündert«, mutmaßte Vallenton.

»Plünderer sind oft schnell unterwegs und agieren in der Regel wahllos«, belehrte ihn Z.

»Stimmt, allein die Reste, die sie achtlos zur Seite geworfen haben, könnten uns weiterbringen«, meinte nun auch Kruse, der sich zu ihnen gesellte. Die Taschen seiner Nadelstreifenhose waren auf groteske Weise ausgebeult und der Stil eines Lutschers hing aus seinem Mund.

»Da gibt es hoffentlich auch noch Tüten«, murmelte Khanaara und nickte den anderen zu. »Der Supermarkt also?«

Es gab keine Gegenstimmen.

Sie trauten sich auf die Straße. Egal, wie viele schlechte Kriegsfilme und Spiele sie bereits konsumiert hatten, sie wanderten schnurstracks hinaus und schauten nur gelegentlich nach links und rechts. Ein aufmerksamer Tentakelsoldat hätte sie mit einer gezielten Garbe aus seinen Sporenöffnungen unmittelbar in ein Blumenbeet verwandeln können, doch glücklicherweise war in diesem Moment keiner in der Nähe. Sie erreichten den Supermarkt ohne weitere Probleme.

Das Innere war erwartungsgemäß verwüstet. Plünderer hatten hier ganze Arbeit geleistet. Vallenton und Khanaara wollten bereits aufgeben, doch die anderen überzeugten sie, doch noch etwas zu warten. Sie beschäftigten sich die kommende Stunde damit, durch die umgestürzten Auslagen und Schränke zu stöbern, fanden den Lagerraum und sammelten schließlich ihre Beute auf einem kleinen Haufen: einige angestoßene Konserven; ein Paar Nahrungsriegel des Militärs, die wohl von einem Plünderer aus Platzgründen zurückgelassen worden waren; einige weitere Süßigkeiten, die zumindest den Magen für eine Weile zukleisterten; und zu ihrer aller Überraschung, eine Flasche Rotwein, nicht einmal angekratzt und, wie Khanaara feststellte, ein guter Jahrgang. Sie packten die Beute, die sie einige weitere Tage am Leben halten würde, in einige herumliegende Plastiktaschen. Als Vallenton zufällig noch über ein Sixpack großer Wasserflaschen stolperte, die in einer Ecke lagen, kannte ihre Freude keine Grenzen. Alle waren der Überzeugung, dass ihre Expedition ein voller Erfolg gewesen war. Da der allgemeine Mut damit auch weitgehend verbraucht worden war, beschloss man in seltener Einigkeit, nunmehr zum Versteck zurückzukehren und dort weitere Schritte zu planen.

Leider waren die Tentakel anderer Ansicht.

Als sie den Supermarkt verlassen wollten, bemerkte Z. als Erste die Kolonne an Aliens, die sich von einem Straßenende her näherte. Alle duckten sich sofort hinter die Regale. Hatten die Tentakel sie bemerkt? Würden sie einfach so vorbeimarschieren und die heruntergekommene Gruppe nicht weiter beachten? Und, so fragte Kruse schüchtern, hatte irgendwer eine Packung Ersatzunterhosen in den Trümmern bemerkt, weil …?

Ihre Diskussion wurde unterbrochen, als die Tentakelkolonne direkt vor dem Supermarkt zum Stillstand kam. Die hochgewachsenen, kraftvollen Gestalten mussten sich nicht umdrehen, da ihr Augenkranz ihnen eine fast perfekte Rundumsicht gewährte. Die Körperöffnungen, aus denen sie die tödlichen Sporen verschossen, waren mit Geschossen wohlgefüllt. Die Gruppe stand unter dem Kommando eines etwas filigraner gebauten Exemplars, das sich dadurch auszeichnete, eine nichtorganische Schusswaffe in den schlanken und biegsamen Armen zu halten. Ein Tentakeloffizier, das war allen sofort klar. Die Soldaten wären auch ohne seine Befehle in der Lage, zu kämpfen – und eine Basis zu finden –, aber ohne Offizier gab es keine komplizierteren taktischen Entscheidungen, keine kreativen Ideen und keine angemessenen Reaktionen, die aus mehr als nur stupidem Gegenfeuer bestanden.

Z. starrte den Tentakeloffizier an wie einen persönlichen Feind. Ihre Augen glänzten und sie hielt die Flinte schussbereit. Sie schien die Gefahr gar nicht als solche wahrzunehmen. In diesem Moment war sie bereit, gnadenlose Vergeltung an den Tentakeln zu üben. Für einfach alles, und wenn nicht das, dann aus Prinzip. Khanaara und Vallenton wechselten einen sorgenvollen Blick. Es war vielleicht keine so gute Idee, dass die einzige Waffe der Gruppe in Händen einer Frau mit leicht psychopathischen Tendenzen lag.

Vallenton rutschte langsam näher an die Frau heran.

»Nicht schießen!«, wisperte er. Z. sah ihn unwillig an. Sie nahm nicht gerne Anweisungen von Männern entgegen, die schon große Probleme damit hatten, in der Dunkelheit ihren Hintern zu finden. Sie trug die Waffe.

Z. verzog das Gesicht.

»Bitte!«, flehte Vallenton kaum hörbar.

Z. fletschte die Zähne. Es sah nicht beeindruckend wild aus, aber es erzielte zumindest bei den besorgten Männern die gewünschte Wirkung. Sie bekamen alle gleich noch einmal mehr Angst. Wenn man den Gesichtsausdruck von Z. richtig interpretierte, kam man unweigerlich zu der Überzeugung, dass ihr dies großen Spaß bereitete, und das war nicht das Gefühl, das in dieser Situation sehr vertrauenerweckend wirkte.

»Lasst mich in Ruhe!«, flüsterte sie zurück.

Tentakel hatten gute Ohren.

Irgendein Teil der geführten Konversation hatte die notwendige Dezibelstärke erreicht, um vom feinen Gehör eines Tentakelkriegers vernommen zu werden. Es kam Bewegung in die Gruppe der Alienkrieger. Wie ein Tentakel wandten sie sich der zerschossenen Front des Supermarktes zu, die Körper in plötzlicher Aufmerksamkeit gestreckt.

Die Menschen drückten sich hinter den Regalen auf den Boden und hofften. Sie wagten es nicht, die Tentakel anzusehen, um nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen. Sie hörten ein Gezwitscher in der Sprache der Invasoren, offenbar gab der Offizier Anweisungen. Dann knirschten Glassplittter unter den Gehwülsten der Tentakelkrieger, als diese sich dem Inneren des Marktes näherten. Sie machten keinerlei Anstalten, vorsichtig zu sein. Regale fielen um, als sie aus dem Weg geräumt worden. Es schepperte, als ein Krieger einen Kassenscanner umwarf und das dünne Glas vor dem Laserabtaster zerbarst. Von beiden Seiten kamen sie auf das Versteck der Gruppe zu, mit unerbittlicher Gelassenheit.

Uschi Z. schrie auf.

Sie schnellte aus der Deckung, sah direkt vor sich einen Tentakel, der für einen Moment erschrocken zu verharren schien.

Z. hatte die Waffe im Anschlag, zog den Abzug durch und pumpte das Magazin der Flinte aus nächster Nähe in den Körper des Aliens. Die Wirkung war vernichtend. Der Leib des Tentakels wurde zurückgeworfen, als die Geschosse breitflächig gestreut in seinen Körper eindrangen, Haut und Innereien aufrissen. Der Tentakel schrie auf, feuerte ziellos einige seiner Sporen ab, die in die Decke des Marktes fuhren, ohne jemanden zu treffen.

Der war erledigt. Die Frau lachte triumphierend. Vallenton starrte mit aufgerissenen Augen auf die zerfetzte Leiche. Jetzt waren sie tot und begraben, das wurde ihm in diesem Moment klar.

Uschi Z. hantierte an der Waffe, wollte ein neues Magazin einsetzen.

Dann aber eröffneten die anderen Tentakel das Feuer.

Es dauerte nur einige wenige Augenblicke, da war ihr Körper mit Sporen übersät, die sich in ihr Fleisch bohrten: am Torso, an Armen, Beinen, einer senkte sich direkt in ihr rechtes Auge. Sie schrie nicht einmal mehr, sondern sackte klaglos zu Boden, jedes Leben aus ihr gewichen, und im gleichen Moment begannen die Sporen, von ihrem Körper zu essen und Wurzeln zu schlagen. Einer würde sich zu einem Tentakelkrieger entwickeln und irgendwann die anderen, weniger weit entwickelten Setzlinge zusammen mit der sterblichen Hülle der Frau konsumieren. Uschi Z. war das erste Blumenbeet ihrer Gruppe und sicher nicht das letzte.

Dann traten die Tentakel um die Deckung, entdecken die dahinter kauernden Männer. Ob bewaffnet oder nicht, die Krieger waren nun auf Gefahrenabwehr programmiert.

Vallenton hob abwehrend die Hände, fühlte mit Entsetzen, wie eine Spore seine Handfläche durchschlug und sich in seine Brust bohrte. Er fiel zu Boden, hörte die Schreie seiner sterbenden Freunde. Irgendwas kullerte über den Boden, als aus den Taschen des mehrmals getroffenen Kruse die Erdnüsse auf den Boden regneten, und dann, halb bewusstlos, hörte Vallenton Schüsse, Rufe und keine weitere Spore traf ihn. Er erkannte verschwommen, wie der Tentakel vor ihm förmlich zerplatzte und seine stinkenden Innereien auf ihn herabspritzte, ehe er neben Vallenton zu Boden sackte, dann schaute er hoch, bereits mit verschleiertem Blick, sah eine Frau, hochgewachsen, in einem Kampfanzug, mit bläulicher Haut und …

Vallenton grinste im Sterben.

Gott, was für Titten!

Dann starb er, als Letzter der Gruppe, ein vorbildliches Blumenbeet, ein Hort für einen neuen, süßen Tentakel, wenn er ungestört wachsen durfte.

Stille senkte sich über das Gemetzel.

Mirinda sah mitleidig auf die Toten hinab. Sie waren nur einige wenige Minuten zu spät gekommen, aber eben doch zu spät. Von diesen Flüchtlingen würde sich keiner mehr regen, alle starrten sie aus gebrochenen Augen ins Leere.

Ein Mann trat neben sie, vierschrötig, breit wie hoch, mit einem mächtigen Flammenwerfer auf dem Rücken.

»Alle infiziert«, sagte er mit Kennerblick. »Blumenbeete, ohne Ausnahme.«

Mirinda schaute immer noch auf die Toten hinab, zwang sich zu einem langsamen Nicken, bedächtig, betrübt, ehe sie sich abwandte.

»Alle verbrennen!«, sagte sie heiser.

Sie ging hinaus, hörte nur noch das Fauchen des Werfers, als er den Tentakeln zumindest den letzten Triumph verwehrte.

4

Loban sah Slap an und wirkte dabei nicht erfreut. Das war nicht anders zu erwarten gewesen, denn der in einem Gummianzug steckende Alien war so gut wie nie erfreut, und wenn er es war, hatte Slap große Probleme, es zu bemerken. Er hatte Slaps Datenintegrität einem Test unterzogen und war immerhin damit zufrieden gewesen. Er schien ansonsten nicht weiter motiviert zu sein, dem jungen Mann den Grund für seine schlechte Laune mitzuteilen. Auch das war nicht verwunderlich, denn er äußerte sich selten über seine Gefühlswelt.

»Wir nehmen Kontakt mit den Fremden auf, dessen Kundschafter du im Virtuum getroffen hast«, hatte er Slap gegenüber eröffnet, und während der junge Terraner das für eine gute Nachricht hielt, wollte Loban nur an alle damit verbundenen Probleme denken. Ob das aber wirklich zu seinem emotionalen Tief beitrug oder er sich einfach immer so fühlte, das würde Slap wahrscheinlich nicht erfahren.

»Wir haben einen Weg gefunden. Du musst einen Quantenschlüssel bei dir tragen, aber das ist wie immer nur eine eingebildete Bürde. Wir konnten den Zugangsbereich für das System der Fremden identifizieren und sind uns einigermaßen sicher, dass es eine angemessene Möglichkeit der Kommunikation geben wird, und sei sie nur nichtstofflicher Natur.«

Slap runzelte die Stirn. »Einigermaßen sicher? Ich? Wieso ich?«

»Das sollte genügen. Das Prinzip ist das Gleiche und wir dürfen annehmen …«

»Ihr nehmt eine Menge Dinge an.«

»Ich habe nicht gesagt, dass es ohne Risiko sein würde.«

»Ob du’s glaubst oder nicht, Loban, aber ich empfinde keine Freude daran, immer wieder an- und ausgeknipst zu werden. Ich bin durchaus an einer kontinuierlichen Existenz ohne sich wiederholende Todesfälle interessiert. Also: wieso ich gleich wieder?«

Loban schaute Slap für einen Moment an, als hätte er diese Tatsache bisher noch gar nicht richtig bedacht, dann aber wurde klar, dass Slap für seine Sichtweise nur eine Selbstverständlichkeit geäußert hatte.

»Ich weiß das, Slap. Wir treffen alle Vorkehrungen. Du bist jedoch zweifelsohne am besten als Bote geeignet. Als Kundschafter. Wäre ja nicht das erste Mal. Du bist eine wunderbar effektive Ressource. Niemand wird dich zwingen. Aber es wäre doch mal wieder eine schöne Aufgabe, bei der du deine Fähigkeiten unter Beweis stellen könntest.«

Slap seufzte. Seine erste Mission für die Sphäre, eingezwängt in eine Kapsel, die in die Jupiteratmosphäre hinabgelassen wurde, um durch ein Dimensionaltor das Allianzsystem zu erreichen, gehörte im Großen und Ganzen nicht zu seinen bevorzugten Lebensabschnitten. Aber Loban hatte natürlich recht. Außerdem – was sollte er sonst tun? Durch das Habitat der Terra-Flüchtlinge spazieren, bis ihn wieder jemand erschoss?

»Was soll ich da, was ist meine Botschaft?«

Loban machte jetzt einen zufriedenen Eindruck, bei ihm ein Gefühl nahe an hysterischer Euphorie.

»Du bist unser Botschafter. Wir werden dir keine großartigen Vollmachten geben, aber es geht sicher um mehr als nur darum, mal an die Tür zu klopfen.«

»Loban, das beantwortet meine Frage nicht.«

»Natürlich. Aber ich bin auch nicht derjenige, der sie dir richtig beantworten kann. Ich stelle eine Verbindung her, einen Augenblick.«

Ehe Slap eine weitere Äußerung tun konnte, entstand das dreidimensional wirkende Abbild eines alten Bekannten vor Slaps Auge. Es handelte sich um den mit Greiftentakeln bewehrten Wal, den er als Fischer-im-Trüben kennengelernt hatte. Slap entspannte sich. Der uralte Alien, Ratsmitglied der Allianz, war nicht nur einer seiner wenigen Gönner, er war auch ein obzwar etwas seltsamer, aber verlässlicher Freund. Slap hatte nicht vor allzu vielen Lebewesen Respekt, was sich aus seiner Lebensgeschichte erklärte. Bei Fischer-im-Trüben war das anders. Er war nicht sehr respekteinflößend, sprach man erst einmal mit ihm. Aber irgendwann merkte man, wie viele Lebensjahre dieses Wesen bereits hinter sich gebracht hatte und wie steinalt das Volk war, das er repräsentierte. Man bemerkte es in Worten und in den Emotionen, die durch diese ausgedrückt wurden, und man merkte es am Verhalten aller anderen, die mit ihm interagierten, Freund wie Feind.

Slap lächelte. Er wusste, dass diese Mimik an den Ratsherrn übertragen wurde und dieser sehr gut wusste, was sie bedeutete.

»Slap, alter Freund.«