Über das Buch:
Maggie Montgomery ist lebenslustig, mutig und unkonventionell. Ihr Job als Kamerafrau führt sie rund um den Globus. Doch ihre perfekte Welt steht Kopf, als sie wegen eines Notfalls in ihre alte Heimat zurückkehren muss. Nichts scheut die furchtlose Maggie so sehr wie Ivy, das Städtchen ihrer Kindheit, die Begegnung mit ihrem Vater und … den See.
Ihre 10-jährige Nichte Riley, ein unbändiger kleiner Wildfang, treibt Maggie bald an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Doch damit nicht genug, reißt sie die Freundschaft zu dem attraktiven Tierarzt Connor Blake in einen Strudel von Gefühlen, der ihr Angst macht. Denn die echte Maggie hat Angst vor der Liebe, Angst vor dem Leben und Angst vor sich selbst. Aber am meisten fürchtet sie die Erinnerung an den Abend, an dem ihre Mutter im See ertrank … 
Ein tiefgründiger, aber auch humorvoller und temporeicher Roman, der zeigt, dass die herausforderndste und befreiendste Reise nicht auf den Meeren oder über den Wolken stattfindet, sondern in uns selbst – hin zu dem Menschen, als den Gott uns geschaffen hat.

Über die Autorin:
Jenny B. Jones lebt als Highschoollehrerin in Arkansas. Der Durchbruch als Autorin gelang ihr mit einer erfolgreichen Jugendbuchserie. „Ein Sommer am See“ ist ihr erster Erwachsenenroman.

Kapitel 6

Ich will zurück nach Chicago. Ich habe bereits unzählige Nächte an quasi unerträglichen Orten verbracht, die meinen Rücken überstrapaziert haben, aber nichts davon kam auch nur im Entferntesten an letzte Nacht und das unbequeme Bett im Haus meines Vaters heran. Den Großteil der Nacht habe ich damit verbracht, einfach nur die Decke anzustarren, während mir tausend Gedanken durch den Kopf gingen und mir den Schlaf raubten – besonders das Gespräch mit Riley im Baumhaus.

Zwischen diesen langen Phasen, in denen mich meine Gedanken gequält haben, bin ich immer mal wieder für kurze Zeit in einen unruhigen Schlaf gefallen. Es können höchstens Minuten gewesen sein. Und ich habe von meiner Mutter geträumt. Sogar jetzt, wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie vor mir, wie sie auf einer Wasserfläche geht und ihre Hand nach mir ausstreckt.

„Komm her zu mir“, sagte sie. „Nimm meine Hand.“

Aber ich konnte einfach nicht. Ich stand auf dem Pier. Allein. Unfähig, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Ich wollte loslaufen, aber ich wusste, dass ich sinken würde, sobald meine Füße den festen Boden unter sich verlieren.

Als ich aufgewacht bin, war da immer noch dieses Gefühl des Bedauerns. Ich konnte es quasi schmecken.

Und heute Morgen am Frühstückstisch hat mich Dad dazu bringen wollen, noch eine Woche länger zu bleiben. Aber wie soll das bitte gehen? Ich habe wahnsinnig viel zu tun!

„Ich kann dich auch bezahlen“, hatte Dad gesagt. „wie viel willst du haben?“

„Ich brauche dein Geld nicht. Darum geht es doch gar nicht.“

„Die Schule hat gestern mit dem Jugendamt gesprochen. Rileys Direktorin hat mich angerufen. Weißt du, sie erlauben mir nicht, sie hierzubehalten, wenn ich arbeiten gehe und niemanden habe, der auf sie aufpasst.“

„Also willst du, dass ich mich jetzt dazu bereit erkläre, wieder hierherzuziehen?“

„Ich will nur, dass du erst einmal auf unbestimmte Zeit hierbleibst.“

„Freitagmorgen geht mein Flieger nach Taiwan. Das heißt für mich definitiv nicht ‚auf unbestimmte Zeit‘.“

„Du bist genauso egoistisch wie deine Mutter.“

Das war zu viel. Ich habe mir meinen iPod und meine Sonnenbrille geschnappt und bin erst einmal eine Runde joggen gegangen, um meinen Frust am Straßenbelag auszulassen. Als ich zurückkam, war mein Vater weg. Aber meine miese Stimmung war noch da.

Den Rest des Tages habe ich dann vor meinem Laptop verbracht und Videomaterial angeschaut, das ich noch schnell vor meiner Abreise heruntergeladen hatte. Nichts für Passport to the World, sondern Material, das ich für mich selbst gesammelt habe. Stundenlange Aufnahmen von Kindern aus all den Ländern, in denen ich im letzten Jahr gewesen bin. Es war, als hätte Gott mir auf einmal die Augen für das geöffnet, was sonst noch alles um uns herum passiert, während wir unsere Reisesendung produzierten. Überall dort, wo wir filmten, fielen mir plötzlich all diese Kinder auf, die in lebensunwürdigen Verhältnissen aufwachsen müssen – sei es Armut oder Prostitution. Und trotzdem kann ich nichts dagegen tun. Außer meine Kamera zu nehmen und einige flüchtige Eindrücke ihres Lebens einzufangen.

Am Anfang hatte ich keine Ahnung, warum ich diese Kinder überhaupt gefilmt oder das ganze Videomaterial aufgehoben habe. Aber bald wurde es zu einem inneren Bedürfnis für mich. So, als müssten ihre Geschichten erzählt werden. Doch wo sind ihre Stimmen geblieben? Manchmal liege ich nachts wach und frage mich, ob ich vielleicht ihre Stimme sein soll. Und das erschreckt mich zu Tode. Wer bin ich denn schon?

Mit der Anweisung, Riley um drei Uhr nachmittags abzuholen, verlasse ich das Haus und reihe mich mit meinem Ford in die Schlange von wartenden Autos vor der Grundschule ein. Und ich muss eine halbe Ewigkeit warten. Wer auch immer gesagt hat, Geduld sei eine Tugend, musste offensichtlich noch nie ein Kind von der Schule abholen.

Ich bin etwas erleichtert, als ich Riley bei einigen anderen Schülern stehen sehe.

„Hey.“ Ich nehme meine Handtasche vom Beifahrersitz, damit sie sich hinsetzen kann. „Wie war’s?“

Sie sieht mich wieder einmal an, als wäre ich verrückt geworden. „Ganz toll. Übrigens war ich so gut, dass mir vorgeschlagen wurde, doch gleich ein paar Klassen zu überspringen.“

Wahrscheinlich wollen sie dich eher in eine Gummizelle stecken. „Dad hat mir gestern mal ein paar deiner Noten gezeigt. Ich denke, dass du mit der vierten Klasse erst einmal genug zu tun haben wirst.“

„Ich bin nicht dumm.“

„Das habe ich auch gar nicht gesagt.“ Ich lege den Gang ein, fahre langsam aus der Parklücke und winke dem genervten Schülerlotsen mit der orangenen Weste zu. „Du bist sehr klug, Riley. Um das festzustellen, musste ich nur zehn Minuten mit dir verbringen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass du dich nicht besonders anstrengst.“

„Du hast doch überhaupt keine Ahnung.“

„Stimmt, von manchen Sachen. Aber in dieser Sache habe ich recht.“

„Bring mich einfach nach Hause.“ Sie starrt aus dem Fenster, während wir durch die Stadt fahren. „Ich will Kekse.“

„Wir müssen noch bei der Tierklinik vorbeischauen, damit du deiner gemeinnützigen Arbeit nachkommen kannst, nicht zu vergessen die Rechnung, die du bei Buford und Delroy noch offen hast.“

„Die sind wieder sauber, oder?“

„Von Delroy soll ich dir ausrichten, dass er von der vielen Seife Ausschlag bekommen hat.“

Ich sehe ein leichtes Zucken um ihre Mundwinkel. Es war nur eine klitzekleine Bewegung. Aber ich habe es genau gesehen.

„Eine gute Tante wüsste, dass ich nach der Schule etwas zu essen brauche. Weißt du eigentlich überhaupt etwas? Und du willst erwachsen sein!“

Mir bleibt die Spucke weg. Sie hat recht. Die meisten Menschen würden so etwas wissen. Warum sind Kinder eigentlich so benutzerunfreundlich? Im Umgang mit Kindern verhalte ich mich echt wie ein Idiot.

„Da sind wir.“ Ich parke vor der Tierklinik am See. Neben uns steht eine Frau an ihrem Auto und redet auf ihren würstchengroßen Hund ein.

Ich öffne die Tür und steige aus. „Los, Riley.“

„So, Mr Pickles“, sagt die Frau. „Du steigst jetzt sofort in dieses Auto. Wir bleiben nicht hier. Du bekommst von mir kein weiteres Leckerli mehr. Und mir ist es völlig egal, ob da drinnen eine süße Schnauzerdame auf dich wartet, wir fahren nach Hause. Ins Auto mit dir!“

Ich lege meine Hand auf Rileys Schulter. „Wenn es Mr Pickles hier so gut gefällt, kann es doch nicht ganz so schlecht sein.“

Sie zuckt mit der Schulter und schüttelt meine Hand ab.

„Hi, ich bin Maggie Montgomery“, erkläre ich der Frau an der Anmeldung. „Dr. Blake hat meine Nichte Riley eingeladen, damit sie einige besondere Aufträge für ihn erledigen kann.“

Verwirrt runzelt sie die Stirn. „Welcher Dr. Blake?“

„Wie viele davon gibt es denn?“ Mir reicht schon einer.

„Dr. William Blake arbeitet nur noch halbtags hier. Sein Sohn Connor ist der leitende Tierarzt.“

„Connor.“

„Und was ist der Grund für Ihren Besuch?“

„Ich soll Hundekacke wegschaufeln“, erwidert Riley schnippisch. „Sie wissen schon, Sklavenarbeit. Verletzung der Kinderarbeitsschutzverordnung.“

„Sandy, ich kümmere mich darum.“

Ich drehe mich langsam um und sehe Dr. Gutaussehend direkt hinter mir stehen. Ich sage: „Hallo“, und versuche vor den Augen des Kindes ein Vorbild an Höflichkeit zu sein. Der unausgesprochene Sarkasmus springt ihm förmlich aus den Augen, die kurz über mein Gesicht wandern, bevor er sich dann Riley zuwendet. „Schön, dass du heute gekommen bist, Riley.“

Sie sieht in meine Richtung und scheint mich mit ihren Blicken aufspießen zu wollen. „Als hätte ich eine Wahl gehabt.“

Connors Stimme ist bestimmt, aber freundlich. „Erstens ist es richtig so und zweitens hilfst du mit deiner Arbeit heute auch ein paar Tieren.“

„Indem ich Kacke –“

„Indem du Käfige sauber machst und danach mit einigen herrenlosen Katzen und Hunden spielst, die wir gerade hierhaben.“

„Niemand will sie?“ Es ist das erste Mal, dass ich merke, wie meine Nichte wenigstens an irgendetwas Interesse zeigt.

Connor schüttelt seinen dunkelhaarigen Kopf. „Wir haben meistens ein paar Tiere hier, die die Leute vorbeibringen. Wir versuchen, ein gutes Zuhause für sie zu finden. Du machst ihnen eine große Freude, wenn du etwas Zeit mit ihnen verbringst.“

Ein bisschen scheint die Feindseligkeit aus Rileys Gesicht zu weichen und ich starre den Mann mit großen Augen an. Wie kann er mich so unfreundlich behandeln und gleichzeitig zu Riley so nett sein? Als wüsste er genau, wie er mit ihr reden und was sie hören muss.

Er greift in seine Tasche und holt einen Müsliriegel hervor. „Ich dachte, vielleicht magst du nach dem langen Schultag einen kleinen Snack.“

Mit einem selbstgefälligen Grinsen in Richtung ihrer Tante, die von solchen Dingen keine Ahnung hat, nimmt sie das Geschenk an und folgt dem Doktor in sein Büro.

„Hol sie in einer Stunde wieder ab“, sagt Connor, ohne sich auch nur umzudrehen. „Und sei pünktlich.“

Auf dem Weg zurück zum Auto brumme ich die ganze Zeit vor mich hin. Als ich wegfahre, zeigt sich Mr Pickles noch immer von seiner dickköpfigen Seite. Es muss in der Tierklinik offensichtlich einige besonders gute Leckerlis geben. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand freiwillig bei diesem Tierarzt bleiben will.

* * *

Fünfundfünfzig Minuten später finde ich mich auf dem gleichen Parkplatz wieder. Da ich den Tierarzt nebenan im Pferdestall erspäht habe, laufe ich dorthin.

Er streicht mit seinen großen Händen über die Flanken einer Fuchsstute. „Joe, Daisy muss geröntgt werden, damit wir sichergehen können, ob es tatsächlich eine Kolik ist.“ Connor tritt näher an das Pferd heran und redet der Stute beruhigend zu, während er ihren Kopf krault.

„Dr. Blake?“

Seine Augen werden auf einmal hart wie Stahl. Er gibt seinem Assistenten noch einige Anweisungen und kommt dann ein paar Schritte auf mich zu. „Du bist pünktlich.“

Ich runzle die Stirn. „Sie kennen mich doch überhaupt nicht. Meinen Sie nicht, dass es in Anbetracht dessen etwas komisch ist, dass Sie sich ein Urteil über meine Pünktlichkeit erlauben wollen?“

„Und ob ich dich kenne, Maggie Montgomery.“

„Wir sind zusammen zur Schule gegangen, aber genauso wie Sie bin auch ich heute ein völlig anderer Mensch als damals.“

Connors direkter Blick jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Ich ziehe die Träger meiner Handtasche zurecht. „Ist Riley hier irgendwo in der Nähe?“

„Nein.“

„Was? Ist sie ausgebüchst?“ Mein Herz pocht wild in meiner Brust. „Ich habe mir gleich gedacht, dass das passieren würde. Und ich nehme an, Sie haben ihr nicht vorsichtshalber einen Mikrochip eingepflanzt, bevor sie weggelaufen ist, oder?“

Sein Gesichtsausdruck verrät nichts über seinen Gemütszustand. „Sie ist in der Klinik und hilft Sandy mit einem kleinen Kätzchen, das wir mit der Flasche aufziehen müssen.“

„Oh.“ Ich zupfe einen Fussel von meinem T-Shirt. Dann noch einen. „Können wir die Mikrochipsache vielleicht einfach vergessen?“

„Du hast keine Ahnung, was du mit Riley machen sollst, oder?“

Ich atme tief ein, wobei mir der Geruch von warmem Heu und Tieren in die Nase steigt. „Das ist alles etwas kompliziert.“

Er legt seinen Kopf zur Seite. „Muss es das denn sein?“

„Ja.“ Und halte dich jetzt gefälligst da raus.

„Riley braucht Stabilität.“ Er zieht eine Augenbraue hoch. „Sie braucht jemanden, der sie lieb hat.“

„Ich bin ihre Tante, Connor. Nicht ihr Vormund.“

„Du hast dich nie um sie gekümmert.“

Ich weiche einen Schritt zurück. „Was wird das hier? Sie haben keine Ahnung, was mit mir und meiner Familie los ist. Also denken Sie nicht, Sie könnten mir Erziehungsratschläge geben, Tierarzt Doktor Blake. Ich weiß nicht, was ich Ihnen vielleicht vor langer Zeit getan habe, aber es ist mehr als überfällig, dass Sie darüber hinwegkommen.“ Ich gehe wieder einen Schritt auf ihn zu und tippe mit meinem Finger auf seine Brust. „Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein, Connor. Als Teenager war ich schrecklich rücksichtslos und gemein. Und ich habe vielen Leuten wehgetan, die anders aussahen und sich anders verhielten als ich. Also wenn Sie einer von ihnen waren, tut es mir sehr leid. Aber ein Mensch kann in seinem Leben nur eine bestimmte Anzahl an Schuldscheinen mit sich herumtragen und Ihr Name steht auf keinem davon.“

Er schiebt meinen Zeigefinger weg und streicht dabei mit seinem Daumen über meine Hand. „Okay, vorsichtshalber nehme ich die Entschuldigung im Namen all derer an, denen von der wilden Maggie Montgomery Unrecht getan wurde.“

Ich atme so hastig ein und aus, als hätte ich gerade einen Marathon gelaufen. Wir starren einander sekundenlang in die Augen. „Ich muss jetzt ganz dringend meine Nichte abholen.“

Er nickt bedächtig, erst einmal, dann noch einmal. „Ich würde sagen, ihr Leben hängt davon ab.“

Kapitel 7

Erst als ich am nächsten Morgen höre, wie Dad das Haus verlässt, gehe ich nach unten. Ich könnte jetzt echt eine Schüssel Fruchtmüsli vertragen, aber wir haben keines im Haus. Obwohl ich meine Fressattacken eigentlich seit Jahren unter Kontrolle hatte, kommen sie hier mit aller Macht zurück. In den letzten Tagen habe ich mehr unnützes Zeug in mich hineingestopft als im ganzen letzten Jahr. Meine Hosen sind gar nicht erfreut darüber.

Ich tapse zum Kühlschrank und rutsche dabei mit meinen Joggingsocken über den gefliesten Fußboden. Nachdem ich den Kühlschrank geöffnet habe, stehe ich für einen Moment davor und suche den Saft.

Das Telefon an der Wand klingelt und ich bleibe wie versteinert stehen, während ich den Saft in der Hand halte. Soll ich rangehen? Nachdem es hartnäckig immer weiterklingelt, hebe ich schließlich doch den Hörer ab. „Hallo?“

„Ich bin’s.“

„Ja?“

„Dein Dad.“

„Ich weiß.“ Ich rolle ganz nach Riley-Art mit den Augen.

„Du musst deine Nichte von der Schule abholen.“

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. „Sie ist doch gerade erst seit dreißig Minuten dort. Was kann sie denn in der kurzen Zeit schon angestellt haben?“

„Ich kann nicht von der Arbeit weg. Es kommen Gewerkschaftsvertreter, mit denen wir die Schließung der Firma besprechen müssen.“

„Also wird die Reliant Tires tatsächlich geschlossen? Warum hast du mir nichts davon gesagt?“

Im Hintergrund ist ein Summton zu hören. „Ich muss gehen. Bitte hol sie ab.“

„Aber warte, ich –“

Er hat aufgelegt. Ich schütte zwei Gläser Saft hinunter und bete, dass Jesus und das Vitamin C den Tag für mich retten.

Zwanzig Minuten später betrete ich das Sekretariat der Grundschule.

„Ich komme wegen Riley Montgomery.“ Meine Schwester wusste von Anfang an, dass Rileys Vater nicht wirklich auf der Bildfläche erscheinen würde, also trägt sie unseren Namen. Und ist auch genauso verrückt wie wir alle.

Die Sekretärin presst ihre Lippen zusammen. „Einen Moment bitte.“ Sie telefoniert eine Weile. „Sie können jetzt zu Mrs Chapel hineingehen.“ Sie deutet auf den Flur hinter sich.

„Mrs Chapel?“

„Die Direktorin.“

„Oh.“ Mann, das weckt vielleicht Erinnerungen. Ich folge der Richtung, in die sie mit ihrem Finger gezeigt hat, und finde eine offene Tür. Ich klopfe zweimal an.

Eine dünne Frau steht hinter dem Schreibtisch. „Kommen Sie herein.“ Sie reicht mir ihre Hand, drückt meine aber nur leicht.

„Ich bin Maggie Mont –“ Als ich ihren Gesichtsausdruck sehe, möchte ich am liebsten gar nichts mehr sagen. Diesen Blick kenne ich mittlerweile nur zu gut. Lass mich raten. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, ich habe dich auf irgendeine Art und Weise schikaniert und du trägst es mir immer noch nach.

„Du erinnerst dich gar nicht an mich?“ Die dunkelhaarige Frau setzt sich hin, also tue ich es ihr nach.

Ich schaue auf das Namensschild auf ihrem Schreibtisch. Dann auf die Zeugnisse, die hinter ihr an der Wand hängen.

„Natürlich erinnere ich mich, Danielle.“ Schnell die Augen zusammenkneifen, als würde ich ihren Namen in den Tiefen meines Gedächtnisses suchen. „Danielle Pierce, nicht wahr?“

Sie sieht nicht gerade überzeugt aus. „Ja. Jetzt Chapel. Ich bin geschieden.“

„Entschuldige bitte.“

Überrascht zwinkert sie mit den Augen. „Wofür?“

„Dafür, wie ich mich dir gegenüber von der siebten bis zur zwölften Klasse verhalten habe. Okay, nun zu Riley.“

Danielles Blick bleibt noch eine Weile an mir hängen, bevor sie mit ihren rot lackierten Fingernägeln eine Mappe öffnet. „Ja, die kleine Riley. Sie hat heute eine Prügelei angefacht.“

„Im Unterricht?“

„Noch vor Beginn des Unterrichts. Auf dem Schulhof.“

„Warum?“

Danielle zuckt mit ihren zierlichen Schultern. „Sie sagte, einige Mädchen hätten eine Schülerin namens Sarah geärgert, aber Sarah hat das abgestritten, genauso wie das Mädchen, dessen Nase deine Nichte blutig geschlagen hat.“

„Ist irgendetwas gebrochen?“

„Nein. Wäre dir das lieber?“

Als ich ihren giftigen Ton vernehme, richte ich mich unwillkürlich auf. Ich muss Beth unbedingt fragen, was ich mit diesem Mädel angestellt habe. „Nein, natürlich nicht. Ich war nie selbst in Gewalt verwickelt. Ich nehme an, Prügeleien waren wohl ungefähr das Einzige, wovon ich mich ferngehalten habe.“

„Dem Kind wird es bald wieder gut gehen, aber natürlich ist sie für heute erst einmal nach Hause gegangen und ihre Eltern sind ziemlich aufgebracht.“

„Das kann ich mir gut vorstellen.“

„Rileys Akte weist bereits eine stattliche Reihe an Vergehen auf, besonders, wenn man bedenkt, dass wir sie erst für einen Monat hier bei uns haben.“ Danielle blättert die Seiten durch. „Sie hat einen Feueralarm ausgelöst, die Wüstenrennmaus ihrer Klasse freigelassen, einem Jungen ein Bein gestellt, den Stuhl eines Vertretungslehrers mit Leim beschmiert, ihre Mitschüler mit Chickennuggets beworfen und ist mehrmals ausgerissen.“

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. „Mir wird langsam klar, dass sie sich sehr auffällig verhält.“

Danielle klappt die Mappe mit einem lauten Knall zu. „Ich weiß, dass dein Vater wieder arbeiten geht. Wer kümmert sich also nach der Schule und an den Abenden, an denen er Spätschicht hat, um das Kind?“

„Ehm …“

„Mr Montgomery erwähnte, dass du für eine gewisse Zeit kommen würdest, um dich um Riley zu kümmern.“

„Sagte er das?“

„Wie lange wirst du bleiben?“

Ich muss schlucken und erwidere Danielles eisigen Blick. „Auf unbestimmte Zeit erst einmal.“

Nach einer langen Belehrung, einigen Warnungen und vielen guten Ratschlägen sitze ich endlich mit meiner Nichte im Auto. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, noch eine Woche länger bleiben zu müssen. Warum ich, Gott? Warum jetzt?

„Du hättest hier abbiegen müssen, Tantchen.“

„Pass auf deinen Ton auf, du kleine Boxerin. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, das kleine Mädchen zu verprügeln?“

„Sie sollte endlich ihre Pfoten von Sarah lassen. Sarah ist die Kleine.“

„Die Direktorin sagte, dass Sarah die Version des anderen Mädchens bestätigt hat, nämlich dass du es ohne Grund angegriffen hättest.“

Riley macht einen auf beleidigt und starrt aus dem Fenster. „Ist doch eh egal.“

„Nein, das ist es nicht. Sag mir die Wahrheit.“

„Es glaubt mir doch sowieso niemand. Was bringt es denn dann?“

„Versuchs doch mal bei mir.“

„Als ob dich das interessieren würde.“

Ich lenke das Auto abrupt auf den Standstreifen und nehme den Gang raus. „Riley, es interessiert mich wirklich. Ich will nicht, dass meine Nichte Leute schlägt oder Feueralarm auslöst oder was du sonst noch so zu bieten hast.“ Mein Blick fällt auf Rileys zerrissenen Ärmel. „Du kannst dich nicht so verhalten.“

Sie dreht ihren Kopf weg, sodass ich nur noch ihren lockigen roten Hinterkopf sehe.

„Sieh mich an.“

Nichts.

Ich atme tief ein und mir entfährt ein Seufzer, der so nur von einer Frau kommen kann, die einfach nicht weiß, was sie mit dem Kind noch machen soll. „Ich weiß, dass das alles gerade sehr hart für dich ist.“

„Du weißt überhaupt nichts über mich.“

„Ich weiß zum Beispiel, wann du Geburtstag hast.“

Sie wirft mir über ihre Schulter hinweg einen grimmigen Blick zu. „Ich weiß auch, wann Zac Efron Geburtstag hat, aber das bedeutet überhaupt nichts.“

„Ich bin deine Tante.“

Sie lacht. „Das bringt mir ja jetzt ganz viel. Ich habe dich vielleicht ungefähr, sagen wir, dreimal in meinem ganzen Leben gesehen.“

Ich massiere meine Schultern und versuche dadurch vergeblich, meine Schuldgefühle loszuwerden. „Ich habe dir was zum Geburtstag und zu Weihnachten geschenkt.“ Noch dazu ziemlich tolle Sachen. Eine Wii-Spielekonsole zum Beispiel und einen superschicken Roller.

Riley wirft ihren Kopf herum. „Ja, vielen Dank auch. Mom hat das alles verpfändet. Vielleicht schenkst du mir das nächste Mal einfach ein paar Socken oder Stifte – irgendetwas, was sie nicht stiehlt.“

Oh. „Das … das wusste ich nicht.“ Was in aller Welt hat Allison dem Kind bloß nur angetan? Wenn ich das nur gewusst hätte, dann –

Wem will ich hier eigentlich etwas vormachen? Ich weiß nicht, was ich getan hätte. Meine Schwester wollte nicht wirklich etwas mit mir zu tun haben und ich habe mich auch nicht dagegen gewehrt. Es war immer am einfachsten, sich aus allem rauszuhalten.

„Riley, ich weiß nicht, was deine Mom dir alles über mich erzählt hat, aber ich bin kein schlechter Mensch. Du bist mir wirklich wichtig.“ Jetzt wäre es eigentlich dran, „ich liebe dich“ zu sagen. Aber ich kann das einfach nicht. Wir wüssten beide, dass es nicht ehrlich wäre.

„Können wir einfach nach Hause fahren?“

„Wir gehen shoppen.“

„Hallo, ich habe gerade Megan Oberman verhauen!? Du solltest mich anschreien, nach Hause bringen, mich in mein Zimmer stecken und dann weiter anschreien.“ Sie stößt verächtlich die Luft aus. Hast du denn gar keine Ahnung?

„Du weißt selbst, dass du einen Fehler gemacht hast. Auch wenn Sarah Hilfe gebraucht hat, schlägt man nicht einfach zu. Man ruft einen Erwachsenen zu Hilfe.“

„Ich werde es mir für das nächste Mal merken.“

„Es wird hoffentlich kein nächstes Mal geben. Und wir brauchen ein paar schicke Klamotten für dich und neues Bettzeug. Die violette Bettwäsche ist schon aus der Mode, seit es die New Kids on the Block nicht mehr gibt. Du kannst deinem Großvater also sagen, dass ich dich ordentlich angeschrien habe, und damit ist die Sache erledigt.“

„Großvater schreit mich nie an.“

„Na ganz bestimmt.“ Ich habe noch nie erlebt, dass er sich damit bei irgendjemandem zurückgehalten hat – sei es Mann, Frau oder Fäuste schwingendes Kind.

Ich kann ihren durchdringenden Blick förmlich auf mir spüren. „Das war alles?“

„Solange du schön brav mitmachst und mir beim Einkaufen hilfst.“ Ich nehme die Ausfahrt zum Shopping-Center.

Sie kaut auf ihrer Lippe und denkt darüber nach, was ich gesagt habe. „Ich werde aber keine rosa Sachen tragen.“

„Na gut.“

„Und wenn du mir Hannah-Montana-Bettwäsche kaufst, werde ich jeden Feueralarm in dem Geschäft auslösen, den ich finden kann.“

„Einverstanden.“ Ich halte ihr meine Hand hin und Riley hebt nur verächtlich ihre Augenbrauen. „Schlag ein. Na komm schon!“

Ihr entfährt ein leises Kichern, aber sie unterdrückt es schnell wieder. „Du bist sowas von uncool!“

Kapitel 8

„Carley, ich weiß, dass der Zeitpunkt denkbar ungünstig ist. Aber meine Familie macht gerade eine schwere Krise durch und sie braucht mich.“ Ich laufe in meinem Zimmer auf und ab, während mir die Produzentin unserer Show sämtliche Gründe aufzählt, warum ich morgen früh unbedingt in diesem Flugzeug nach Taiwan sitzen muss. „Nur eine Woche. Das ist alles, worum ich bitte. Außerdem können wir so unserem Praktikanten die einmalige Chance geben, noch etwas mehr Erfahrung hinter der Kamera zu sammeln.“ Da ihr bewusst ist, welch stattliche Ansammlung an Urlaubstagen ich noch habe, muss Carley schließlich einwilligen. Aber ihre Enttäuschung ist selbst durch das Telefon spürbar. Ich kann sie quasi neben mir stehen sehen, wie sie mir auf die Schulter tippt und voller Unverständnis den Kopf schüttelt.

Okay, Gott. Jetzt bin ich hier. Für eine Woche. Aber mehr geht nicht. Und du musst mir durch jede einzelne Minute davon hindurchhelfen. Du und die Bonbons. Und andere Süßigkeiten. Und eventuell muss ich sogar zu härteren Sachen übergehen und mir einen Bottich Bananeneis mit Schokostückchen und Walnüssen besorgen.

Als mir der Duft von Tacos in die Nase steigt, gehe ich nach unten.

„Die Direktorin verlangt, dass du dich entschuldigst.“ Mein Dad stellt einen Teller vor Riley.

Riley zieht knurrend ihre Oberlippe nach oben. „Die Direktorin sieht immer so aus, als würde sie gerade in eine Zitrone beißen.“

Stimmt. „Komm, entschuldige dich doch einfach und damit ist die Sache erledigt“, sage ich, als ich zum Besteckkasten gehe. „Und pass morgen auf deine Fäuste auf.“

„Apropos morgen.“ Dad geht zurück zum Herd. „Ich muss morgen eher an der Arbeit sein. Du müsstest also Riley zur Schule bringen.“

„Warum arbeitest du denn wieder, Dad?“

„Weil es mir Spaß macht. Gib dem Kind was zu trinken.“

„Das Kind möchte eine Cola“, sagt Riley.

Dad schaut mich über seine Schulter hinweg an. „Milch oder Wasser.“

„Warum kocht Maggie eigentlich nicht?“, fragt Riley, als ich mir gerade die fettarme Milch schnappe.

„Weil sie nicht kochen kann.“ Dad rührt das Hackfleisch um. „Genauso wie ihre Mutter. Furchtbare Köche alle zusammen.“

Während mir der Kühlschrank kalte Luft ins Gesicht bläst, kommen Erinnerungen hoch. Zum Beispiel daran, dass ich einmal versucht habe, meinem Dad eine Freude zu bereiten, indem ich Schweinekoteletts zum Abendessen machte. Die Koteletts sind mir allerdings schrecklich angebrannt und alles, was er dazu zu sagen hatte, war: „Kannst du eigentlich gar nichts?“ Ich glaube, mein ganzes bisheriges Leben lang habe ich versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden.

„Hat sich meine Mom gemeldet?“, fragt Riley.

Auf einmal wird es still in der Küche.

Dad konzentriert sich darauf, das Essen auf die Teller zu verteilen. „Nein. Aber ich bin mir sicher, dass sie das bald tun wird. Sie muss nur erst einmal wieder klar im Kopf werden.“

„Übrigens werde ich am Sonntag zum Gottesdienst gehen.“ Ich bin selbst überrascht von meiner Ankündigung. „Wer will mitkommen?“

Dad setzt sich an den Tisch. „Muss arbeiten.“

Riley nimmt sich eine Maistortilla. „Ich auch.“

„Ich will aber nicht allein gehen, Riley. Du kannst doch mitkommen.“ Ich werde Beth anrufen und fragen, in welche Kirche sie geht.

„Nee.“

„Immerhin bin ich heute mit dir einkaufen gegangen.“

Sie kneift ihre grünen Augen zusammen. „Wirst du mir das jetzt mein ganzes Leben lang vorhalten oder nur diese Woche?“

„Du könntest deinen neuen schwarzen Rock und das Rocker-T-Shirt anziehen. Das würde toll aussehen. Es gibt im Gottesdienst bestimmt ein paar süße Jungs.“

„Jungs sind doof.“

„Vielleicht gibt es da auch neue Leute zum Verprügeln.“

„Maggie“, warnt mich mein Dad.

Nach dem Dessert, bestehend aus Eis mit Schokosoße, schiebt Riley ihre Schüssel von sich. „Ich gehe hoch und sehe fern.“

„Mach gefälligst zuerst deine Hausaufgaben!“ Dads Stimme lässt keine Diskussion zu, aber Riley scheint das kein bisschen zu beeindrucken.

„Hausaufgaben sind doof.“

„Genauso wie sein ganzes Leben lang bei McDonalds zu arbeiten.“ Ich streiche über ihre wilden Locken und nehme mir fest vor, ihr demnächst einen Friseurtermin zu verschaffen. „Geh schon mal hoch und fang mit deinen Aufgaben an. Ich komme dann später nach und helfe dir, deine neuen Gardinen aufzuhängen.“

Mit einem Seufzer, der aus den Tiefen ihrer Seele emporzusteigen scheint, schiebt sie quietschend ihren Stuhl zurück und schlurft aus dem Zimmer.

„Ich habe mich entschieden, noch eine Woche zu bleiben.“

Dad schaut erstaunt von seiner Tasse Kaffee auf. „Ehm … schön.“

Ich nehme an, das heißt so viel wie „danke“.

„Es kann sein, dass eine Woche nicht reicht, um deine Schwester aufzutreiben. Oder ein neues Kindermädchen.“

„Ich kann nicht hierherziehen. Ich muss zurück an meine Arbeit. Mein Leben spielt sich in Chicago ab.“ Und dann ist da noch John. Er hat mir während der letzten zwei Tage sechs Nachrichten hinterlassen. Meine innigen, vielsagenden SMS, die meistens aus ganzen vier Worten bestanden, waren ihm wohl nicht genug. Aber immerhin hatte ich ihm schon vorher angekündigt, dass wir Abstand bräuchten.

* * *

Um Mitternacht lege ich mein Buch weg, ziehe mir einen Bademantel über und tapse barfüßig über den Flur. Ich drücke vorsichtig die Türklinke zu Rileys Zimmer hinunter und öffne die Tür mit einem leisen Knarren.

Ich laufe im Dunkeln durch das Zimmer in die Richtung, in der ich das Bett vermute und – huch!

„Au!“, höre ich eine Stimme von unten.

Ich stolpere über etwas Hartes am Boden und falle mit dem Gesicht zuerst auf das Bett. Nachdem ich meine Orientierung wiedergefunden habe, knipse ich die Nachtischlampe an. „Was machst du denn da unten?“

Riley setzt sich auf. „Wonach sieht es denn aus?“

„Es sieht danach aus, als würdest du mit deiner neuen Bettdecke auf dem Boden schlafen.“

Riley blinzelt ins Licht. „Ich tue so, als würde ich zelten.“

„Warum das denn?“

„Einfach nur so. Geh weg. Wenn ich morgen über meinen Matheaufgaben einschlafe, bist du daran schuld. Was machst du überhaupt hier drin?“

Ich reibe mir das Knie, das ich an dem Bettgestell angestoßen habe. „Nach dir sehen.“

„Warum das denn?“

„Weil … weil Erwachsene das nun mal eben so machen!“ Oder tun sie das nicht? Irgendwie hat es sich richtig angefühlt, bis ich auf meine Nichte getreten bin und eine Bruchlandung gemacht habe.

Funkelnde Augen blicken zu mir auf. „Du bist nicht meine Mom.“

„Das versuche ich auch gar nicht zu sein.“

Meine Nichte lässt sich zurück in ihr Kissen fallen und wirft sich die Bettdecke über den Kopf. „Geh weg.“

„Riley, ich –“

„Versuch diesmal bitte, nicht auf mich zu treten.“

Ich schalte die Lampe aus und verlasse vorsichtig das Zimmer. Mir kommt es so vor, als würden mir jegliche mütterlichen Instinkte fehlen. Ich habe keine Antenne für Kinder. Ich brauche Mary Poppins!

Ich lasse mich in mein eigenes Bett gleiten, schließe die Augen und die Müdigkeit übermannt mich. Ein bekannter Traum zieht mich hinab in die Dunkelheit.

„Maggie –“

Ich stehe auf dem Pier am Ivy Lake. Der Mondschein ergießt sich über das Wasser wie flüssiges Licht. „Mom?“

Sie steht auf dem Wasser, das sich nur leicht kräuselt, und streckt ihre Hand nach mir aus. „Komm her zu mir.“

Meine Füße kleben an den abgenutzten Brettern des Piers. „Nein. Ich kann das nicht.“

Das Wasser schlägt an den Pier und spritzt über meine Füße. „Es tut mir leid, Mom. Es tut mir so leid.“

„Komm einfach raus zu mir, Maggie.“ Ihr Haar umweht ihr Gesicht, es ist genauso rot und lockig wie meines. Dann gleitet sie unter die Wasseroberfläche, langsam, Zentimeter um Zentimeter.

Mir bleibt die Luft weg, Tränen laufen mir über die Wangen. „Ich hole Hilfe. Verlass mich nur nicht. Bitte verlass mich nicht!“ Ich renne über die Planken zurück zum Strand.

„Du läufst in die falsche Richtung“, ruft sie hinter mir her.

Aber ich renne einfach weiter.

Immer weiter.

* * *

Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich einen trockenen Mund und so große Augenringe, dass sich ein kleines Kind darin verstecken könnte. Bevor ich auch nur einen Fuß aus dem Bett setze, nehme ich meine Bibel zur Hand und durchforste die Seiten nach ermutigenden Worten.

Nachdem ich mehrere Kapitel gelesen habe, binde ich meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, laufe über den Flur und reiße Riley mit einem schiefen Gesang unsanft aus dem Schlaf. „Wenn du nicht sofort aufstehst, muss ich zu dem einzigen Hannah-Montana-Song übergehen, den ich kenne.“

Schlagartig öffnet Riley daraufhin die Augen. „Ich stehe sofort auf.“

Auf dem Weg zur Schule versuche ich sie so gut wie möglich aufzumuntern und bin hoch erfreut darüber, wie gehorsam sie dasitzt, zuhört und jedes meiner Worte ruhig in sich aufnimmt. Erst als wir an der Grundschule angekommen sind und sie die Tür öffnet, bemerke ich, dass sie die ganze Zeit über meinen iPod im Ohr hatte. Ich greife nach den Kopfhörern und ziehe daran. „Den behalte ich mal besser. Übrigens siehst du heute echt süß aus in deinem neuen Outfit. Pass auf deine Fäuste auf, schmeiß nicht mit Essen um dich, löse keinen Feueralarm aus und beschmiere keine Lehrerstühle.“

„Schön. Vergiss nicht, mich abzuholen. Um halb drei habe ich Schluss.“

„Netter Versuch. Bis um drei dann.“ Was bedeutet, dass ich mich ungefähr um elf Uhr in die Schlange von Autos vor der Grundschule einreihen muss. Ich könnte wetten, dass einige der Mütter hier übernachten.

Zehn vor drei stehe ich also wieder vor der Grundschule. Und mit mir eine ganze Reihe von Erwachsenen, die darauf warten, ihre Kinder abzuholen. Ich habe inzwischen bereits ein ganzes Kapitel in einem Buch gelesen, meine Nägel gefeilt und das Kreuzworträtsel in der People gelöst. Und ich bin immer noch zu früh dran.

Auf einmal wird meine Autotür aufgerissen und Beth springt herein. „Hallo Mädel. Dachte ich’s mir doch, dass das dein Auto ist.“

Wunderbar! Endlich mal ein Erwachsener, mit dem ich reden kann. „Ich frage mich echt, wie du das hier jeden Tag aushältst.“

Sie fährt mit den Fingern durch ihre dunklen Haare. „Wolltest du heute nicht schon wieder abreisen?“

Ich zucke mit den Schultern und seufze. Wie soll ich das bloß erklären? „Riley macht gerade einiges durch. Ich hatte ja keine Ahnung davon.“ Mir steigt die Schamesröte ins Gesicht. „Allison und ich standen uns noch nie sehr nahe, aber nach Rileys Geburt hat sie mich komplett aus ihrem Leben ausgeschlossen. Sie hat alles dafür getan, dass ich Riley nicht kennenlerne. Wenn ich zu Besuch gekommen bin, hat Allison dafür gesorgt, dass die Kleine nicht da war.“ Ich schüttle den Kopf und blicke in das Gesicht meiner Freundin, die mich voller Mitgefühl ansieht. „Ich kenne noch nicht mal meine eigene Nichte. Ich bin die schlechteste Tante der Welt.“

„Nein, das bist du nicht.“ Beth nimmt meine Hand und tätschelt sie. „Jetzt bist du doch da, oder?“

„Für eine Woche. Und dann?“ So viele Fragen. Was, wenn Allison nicht zurückkommt? Und wenn sie zurückkommt, ist sie dann so weit, dass sie sich um ihre Tochter kümmern kann? „Ich weiß einfach nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll.“

„Weißt du, was du brauchst?“

„Einen Urlaub auf Hawaii?“

Beth schüttelt den Kopf. „Ein Abendessen bei mir.“

„Ich sollte wohl lieber zu Hause bleiben.“

„Ach komm schon. Mark ist diesen Abend mit den Kindern bei seiner Mom und wir machen was zusammen. Du hast noch eine ganze Woche vor dir.“

Ah. Erinnere mich nicht daran. Eine ganze Woche mit meinem Vater. Und das in einer Stadt, in der ich ständig daran erinnert werde, dass ich in der elften Klasse einen Bungeesprung vom Wasserturm gemacht habe.

„Nein sagen gilt nicht.“ Beth zwickt mich in die Schulter. „Wir werden eine Menge Spaß haben. Und außerdem hast du noch nie unser Haus gesehen.“

„Ich weiß nicht so recht.“

„Wenn du kommst, verzeihe ich dir auch, dass du mich in den letzten zehn Jahren kein einziges Mal besucht hast.“

Meine Entschlossenheit krümelt dahin wie ein trockener Brownie. „Um wie viel Uhr?“

Nachdem ich mich von Beth verabschiedet habe, bin ich endlich am vorderen Ende der Autoschlange angekommen. Ich beuge mich über den Beifahrersitz, öffne Rileys Tür und winke. „Da bin ich.“

Riley stapft auf mich zu und steckt ihren Kopf zur Tür herein. „Mrs Ellis möchte mit dir reden.“

„Wer?“

„Meine Lehrerin. Sie ist eine blöde Kuh.“

Ich fahre auf einen Parkplatz in der Nähe und steige aus. „Was soll das denn jetzt?“, frage ich Riley.

„Ich glaube, sie braucht nur deine Erlaubnis, damit sie mich direkt nach Harvard schicken kann. Ich bin so schlau, dass es ihr fast schon Angst macht. Ich bin eins von diesen hochbegabten Wunderkindern.“

Als ich schließlich Mrs Ellis in ihrem Klassenraum gegenübersitze, erfahre ich, dass sie weder eine blöde Kuh noch Riley eins von diesen Wunderkindern ist.

„Ich habe hier einen ganzen Stapel mit Aufgaben, die Riley noch nicht gemacht hat.“ Die ältere Frau schiebt mir eine dicke gelbe Mappe zu. „Vielleicht können Sie das am Wochenende ja mal zusammen durchgehen.“ Sie lächelt mich warmherzig an und ich stelle mir vor, wie sie im Einkaufszentrum während der Weihnachtszeit eine gute Weihnachtsmannfrau abgeben würde. „Ich freue mich sehr, dass Sie da sind, um auszuhelfen. Riley braucht jemanden, der ihr ein bisschen zur Seite steht.“ Sie zwinkert meiner Nichte zu, aber Riley starrt sie nur mit gelangweilter Miene an.

Ich werfe Riley einen bösen Blick zu. „Ich werde dafür sorgen, dass sie diese Aufgaben erledigt.“

„Rileys Noten sind sehr schlecht. Und während die anderen Kinder ihre Aufgaben machen, sitzt sie einfach nur herum.“ Sie legt ihre Hand auf Rileys Schulter. „Offensichtlich haben wir hier ein schlaues Köpfchen vor uns. Ich würde mich freuen, wenn wir auch sehen könnten, wie Riley es nutzt. Sie braucht eine Konstante in ihrem Leben. Und ein bisschen Hilfe.“

„Ich tue, was ich kann, Mrs Ellis.“ Vielleicht kann ich einen Nachhilfelehrer engagieren, bevor ich abreise.

Mrs Ellis faltet ihre Hände. „Wissen Sie, je besser sich ein Erwachsener um ein Kind kümmert, desto größer sind dessen Erfolgschancen.“

Bedauerlicherweise kann nicht ich dieser Erwachsene sein. „Da stimme ich völlig mit Ihnen überein.“

„Perfekt. Ich wusste, dass Sie das auch so sehen würden.“ Sie schlurft zurück zu ihrem Schreibtisch und kommt mit einem Formular zurück. „Wir machen am Montag eine Exkursion, aber für Riley wurde noch keine Erlaubnis dafür unterschrieben.“

„Oh, das kann ich schnell erledigen.“ Ich wühle in meiner Tasche, um etwas zum Schreiben zu finden.

„Eigentlich hatte ich gehofft, Sie könnten mit uns kommen.“

Ich lasse den Stift fallen. „Wie bitte?“

Wenn sie lächelt, zeigen sich Grübchen auf Mrs Ellis’ Wangen. „Wir haben zu wenig Aufsichtspersonen und es wäre für uns wirklich eine große Hilfe.“ Sie hebt wohlmeinend ihre Augenbrauen. „Ich bin mir sicher, dass sich Riley sehr freuen würde, Sie dabeizuhaben.“

Riley kaut auf ihren Fingernägeln. „Nicht wirklich.“

„Also …“ Ich habe keine Ahnung, wie ich aus dieser Nummer herauskommen soll.

„Es würde uns wirklich viel bedeuten.“ Mrs Ellis neigt ihren Kopf in Rileys Richtung. „Ich weiß, dass Sie alles tun würden, um der Schule zu helfen, und Ihrer Nichte natürlich.“

„Oh, ja natürlich.“

„Sehr schön! Sie werden sicher viel Spaß haben.“ Mrs Ellis klopft mir leicht auf die Schulter und strahlt. „Wir werden den ganzen Tag am See verbringen.“

Kapitel 9

Nichts bereitet mir größeres Unbehagen, als zwei leere Bonbonpapiere in meinem Zimmer zu finden, ohne mich überhaupt daran erinnern zu können, wann deren Inhalt in meinen Mund gewandert ist.

Fest entschlossen, augenblicklich mit dem Kalorienverbrennen anzufangen, ziehe ich meine Turnschuhe an, verabschiede mich von Dad und Riley und gehe die gut drei Kilometer zu Beths Haus zu Fuß.

Als ich an den Häusern, Gebäuden und Läden vorbeigehe, die mir einst so vertraut waren, muss ich an meine Highschoolzeit denken. Ich war echt ätzend. Ich habe mich um niemanden gekümmert als nur um mich selbst. Damals habe ich Jesus noch nicht gekannt. Die ganze Stadt war der festen Überzeugung, dass ich genauso wild wie meine Mutter sei. Und dieser Erwartung wollte ich unbedingt gerecht werden. Mein Ziel war es, dass meine Mutter und ich den Bewohnern dieses schönen Städtchens in Erinnerung bleiben würden. Einer von uns ist das definitiv gelungen.

Ich biege in eine Wohnsiedlung ab, die es vor fünf Jahren noch nicht einmal gab, und suche das vierte Haus auf der rechten Seite.

Das ist ja komisch. Mindestens fünf Autos stehen vor dem Haus. Ich krame den Zettel mit der Adresse aus meiner Hosentasche und sehe nach, ob ich wirklich richtig bin. Nightingale Lane Nummer acht.

Bevor ich den Klingelknopf drücken kann, reißt Beth schon temperamentvoll die Tür auf. „Komm rein.“ Sie zieht mich ins Haus und umarmt mich stürmisch. „Ich freue mich echt, dass du gekommen bist.“

„Ich mich auch.“ Ich erstarre, als ich an Beth vorbeiblicke. Ach du meine Güte. Das Wohnzimmer ist voller Leute. „Was ist denn hier los?“

„Also, das ist das Organisationsteam für unser Klassentreffen. Von drei Jahrgängen, um genau zu sein. Das Treffen war sowieso für heute Abend geplant und ich dachte, es wäre eine tolle Gelegenheit für dich, einige alte Freunde wiederzusehen.“

Ich sehe mich im Raum um und das Herz rutscht mir in die Hose. Der Tierarzt ist auch da, hat die Arme vor der Brust verschränkt und schaut mich an, als hätte ich gerade auf seine Geburtstagstorte gespuckt.

„Hey, Maggie.“ Ein großer Kerl mit Glatze löst sich aus der Gruppe und drückt mich fest an sich. „Lange nicht gesehen, eh?“

Ich lache und befreie mich aus seiner Umarmung. „Chris Parsons.“ Er war Quarterback bei den Ivy Lions. Ungefähr fünfzehn Kilo weniger, ein paar Haare mehr auf dem Kopf und er würde fast so aussehen wie damals. „Wie geht’s dir?“

„Gut. Bin zweimal geschieden, habe drei Kinder und bin der stellvertretende Geschäftsführer bei Walmart.“

„Wow.“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und versuche es zu vermeiden, Connor Blake anzuschauen. Der starrt mich allerdings ganz unverhohlen mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. „Wohnst du immer noch in Ivy, Chris?“

„Nee. Ich wohne bei meiner Mutter in Grapevine.“ Er stupst mich mit seinem Ellenbogen in die Seite. „Bei all dem Unterhalt für Ex-Frauen und Kinder ist Moms Keller das Einzige, was ich mir leisten kann!“

Okay, wechseln wir das Thema. „Beth, vielleicht sollte ich ein andermal wiederkommen. Ich möchte nicht bei eurem Treffen stören.“ Ich muss sofort weg hier.

Connor lehnt sich gegen eine Ledercouch. „Du hast wohl Angst davor, ein bisschen Zeit mit alten Freunden zu verbringen?“

Stella Frances, ein Mädchen aus der Stufe unter mir, lacht. „Oh, welche Geschichten könnten wir über Maggie erzählen!“

Chris schnippt mit den Fingern. „Ja, genau, wie damals als –“

„Mir ist gerade eingefallen, dass ich zu Hause vergessen habe, den Ofen auszuschalten.“ Und ich kann auch gleich meinen Kopf da reinstecken. „Ich sollte wirklich gehen.“

Beth steht neben mir und legt den Arm um mich. „Jetzt seid doch ein bisschen nett zueinander. Wir müssen ja nicht die ganzen alten Geschichten wieder aufwärmen.“ Sie drückt meine Schulter. „Lasst uns ins Esszimmer gehen, Lasagne essen und die Details für das Klassentreffen besprechen. Die Zeit läuft.“ Wir gehen ins Esszimmer und finden dort einen festlich gedeckten Tisch vor. Blaue und elfenbeinfarbene Teller, kunstvoll gefaltete Stoffservietten und aus kleinen Bilderrahmen gefertigte Platzkarten.

„Ich habe vier Kinder und wir essen normalerweise von Papptellern. Ich habe also kaum mal eine Gelegenheit, das gute Geschirr rauszuholen.“ Beth lädt uns ein, Platz zu nehmen.

Als ich meinen Namen gefunden habe, finde ich mich neben Mr Gutaussehend wieder. Dem Meister der Unhöflichkeit.

Ich mache es mir auf dem Stuhl bequem und zwinge mich dazu, nicht seinen Geruch einzuatmen. Tu das ja nicht. Denk nicht einmal daran. Mist! Er riecht gut. Überhaupt nicht wie ein Blödmann.

Beth holt ein Riesenblech Lasagne und stellt es mitten auf den Tisch. Hinzu kommen noch diverse Beilagen. Die Teller werden gefüllt und die Gespräche werden angeregt. Jedes Mal, wenn eine Schüssel weitergereicht wird, werfe ich einen kurzen, aber intensiven Seitenblick auf Connor Blake.

„So, lasst uns jetzt endlich über unser Klassentreffen reden. Es sind nur noch vier Wochen und die Zeit bis dahin wird wie im Flug vergehen.“ Beth sitzt am Kopfende des Tisches und leitet das Treffen so souverän wie eine Kongressabgeordnete. Oder wie eine vierfache Mutter. „Wir hatten uns ja letztes Mal schon darauf geeinigt, dass wir das Klassentreffen mal etwas anders machen wollen.“ Sie wendet sich mir zu. „Es soll während der Party einige Aktionen geben. Zum Beispiel eine kurze Tanzstunde oder ein bisschen Countrydancing oder Karaoke. So kommt etwas Abwechslung in den Abend und die Leute werden animiert mitzumachen.“