Über das Buch:
Nellie Mae Fisher hat sich entschieden. Für den neuen Glauben an einen gnädigen Gott – und damit gegen ihren geliebten Caleb. Jetzt sehnt sie sich danach, in ihrem Glauben zu wachsen. Doch auch die Sehnsucht nach einem Ehemann bleibt. Als völlig unerwartet ein neuer Mann in ihr Leben tritt, wächst Nellies Spannung: Wohin wird Gottes Weg sie wohl führen?
Caleb dagegen ist durch einen tragischen Unfall an seinen Vater gekettet. Sein Plan, die Amisch-Gemeinschaft von Honeybrook zu verlassen, ist vereitelt. Während Caleb von einem Leben in Freiheit träumt, wächst die Sehnsucht nach Nellie. Er kann das einzige Mädchen, das er je geliebt hat, einfach nicht vergessen ...

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Amisch-Land in Lancaster/Pennsylvania geboren. Ihre Großmutter wuchs in einer Mennonitengemeinde alter Ordnung auf. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Colorado.

Kapitel 6

Nellie war überrascht, als sie am nächsten Morgen Rebekah Yoder bei Rosannas Quilttreffen sah, da es ihrem Vater immer noch sehr schlecht ging. Trotzdem saßen sie und neben ihr noch sechs andere junge Frauen um Rosannas Küchentisch herum und arbeiteten an verschiedenen Babydecken aus hellgelben, grünen und blauen Farbtönen.

Rosannas Schwägerin Essie war nicht dabei und auch keine ihrer anderen Verwandten aus der alten Kirche. Nellie machte das um Rosannas willen traurig, die früher genau das befürchtet hatte – dass enge Verwandte den Kontakt zu ihr und Elias abbrechen würden, weil sie beide in die Neue Ordnung eingetreten waren.

Ein hoher Preis ...

Nellie besuchte Rosanna jede Woche, seit sie ihre Zwillinge den leiblichen Eltern, John und Kate Beiler, zurückgegeben hatten. Und obwohl Rosanna stark wirkte, wusste Nellie aufgrund der Dinge, die ihre liebe Freundin ihr anvertraute, dass Rosanna immer noch sehr unter dem Verlust des kleinen Eli und der kleinen Rosie litt.

Wie tapfer und fürsorglich von Rosanna, dass sie Babyquilts näht, dachte Nellie, die ihrer Freundin gegenübersaß. Deren Blick war ganz auf ihre Quiltdecke konzentriert. Ihre schlanken Finger bearbeiteten gekonnt den Stoff und bewegten die Nadel flink auf und nieder. Rosanna gab die kleinen Quiltdecken amischen und mennonitischen Hebammen, die sie bei der Geburt eines neuen Babys weiterschenkten. Obwohl die Quiltgeschenke anonym sein sollten, hatte die Gerüchteküche Rosanna in Verdacht, und falls jemand sie fragte, scheute sie nicht davor zurück, die Wahrheit zu sagen.

Nellie dachte wieder über Kusine Trevas Brief nach. So vollkommen überraschend. Trotzdem wagte sie es nicht, diese gefährliche Tür zu öffnen, nur damit sie vielleicht gleich wieder zugeschlagen würde, wie sie und Mama gestern Abend überlegt hatten. Rosannas Kusine Kate hatte ihr das Herz gebrochen, und Nellie wollte nicht an einer Wiederholung eines solchen Schmerzes beteiligt sein.

Trotzdem saß beharrlich in ihrem Hinterkopf der quälende Gedanke, dass sie vielleicht einen Fehler beging, wenn sie Rosanna die erstaunliche Nachricht nicht erzählte. Wenn sie diese verschwieg und ihre liebe Freundin später davon Wind bekam – vielleicht durch Treva persönlich – wäre Rosanna dann nicht verletzt, wenn sie herausfand, dass Nellie die ganze Zeit Bescheid gewusst hatte?

Sie zwang sich, ihre Gedanken auf Rebekah zu konzentrieren, die neben Rosanna am Tisch saß. Nellie fragte sich, ob Rebekah die Erlaubnis bekommen hatte, ihrer Mutter zu helfen, die sie jetzt doch bestimmt mehr als je zuvor brauchte.

Was ist mit Caleb? Er leidet sicher auch unter dieser neuen Last.

Nellie war am ganzen Körper angespannt und hatte leichte Kopfschmerzen. Sie drehte den Kopf ein wenig, bevor sie ihre Aufmerksamkeit darauf richtete, den Rest des Babyquilts zu nähen.

Nach einer Weile wurde das Gespräch am Tisch überraschend fröhlich. Es war, als bemühten sich alle, das schmerzliche Thema von David Yoders Unfall nicht anzusprechen.

Nellie blickte sich am Tisch um und erkannte erfreut, dass jede der anwesenden Frauen sich als erlöste Christin bezeichnete. Sie genoss das Gefühl der Nadel zwischen ihren Fingern und die hübschen Farben der Stoffe, alles Reste von anderen Quiltprojekten. Einige waren bereits vier Jahre alt und stammten aus der Zeit, als Rosanna mit erst siebzehn frisch verheiratet gewesen war.

Langsam verebbten die Gespräche ein wenig, und als nichts anderes mehr zu hören war als der Faden, der durch den Stoff gezogen wurde, und das Schneiden der Schere, ergriff Rosanna das Wort und lud sie alle zu ihrem geplanten Schwesterntag ein. „Bringt eure Schwester oder eine enge Freundin mit und natürlich auch deren Schwester. Wir machen uns eine gute Zeit mit einem leichten Mittagessen und vielen Kuchen.“ Mit einem Lächeln schaute sie Nellie an, die sie mit einem Nicken wissen ließ, dass sie gern ein halbes Dutzend verschiedene Kuchensorten backen würde.

Rosannas Lächeln wurde breiter. „Wir wissen alle, wie köstlich Nellies Kuchen sind, nicht wahr?“

Das löste in der Runde ein zustimmendes Lächeln und Kopfnicken aus, was Nellie ein wenig verlegen machte. Sie war zutiefst dankbar dafür, Rosanna als ihre Freundin zu haben. Eine so liebe Freundin verdiente das Glück, viele Kinder zu haben. Genauso wie Mama – mit ihren neun Kindern.

Nellie fragte sich, ob irgendjemand je um Heilung für Rosanna gebetet hatte – ein Heilungsgebet, von dem Prediger Manny in seinen sehr praktischen Predigten manchmal sprach. Nellie wäre gewiss nicht so kühn, Rosanna danach zu fragen, es sei denn, das Gespräch kam zufällig auf dieses Thema ... und auch dann nur, wenn sie zu zweit allein wären. Aber in ihrem Herzen spürte sie den dringenden Wunsch, Rosannas Heilung in ihre immer länger werdende Gebetsliste aufzunehmen. Der Herr könnte ihre Freundin stärken und sie fähig machen, ein Baby bis zum Geburtstermin auszutragen. Das Gebet war das beste Geschenk, das Nellie ihr machen konnte.

* * *

Chris Yoder ging zu seinem Auto auf den Schulparkplatz hinaus und genoss die Möglichkeit, in der Mittagspause das Schulgelände zu verlassen. Heute hatte er Appetit auf einen großen, saftigen Hamburger und heiße Pommes frites mit Salz und Pfeffer. Während des Essens wollte er wenigstens noch schnell die Zeitung für seine Unterrichtsstunde über aktuelle Ereignisse und Zeitgeschichte an diesem Nachmittag durchlesen, da es ihm gestern Abend nicht mehr gelungen war, die Nachrichten anzuschauen. Physik, stöhnte er leise bei der Erinnerung und fragte sich, warum einige Lehrer bei den Aufgaben so übertreiben mussten.

Auf dem Weg zu einem Fast-Food-Restaurant kam er am Honey-Brook-Restaurant vorbei und wurde wieder an seine Idee erinnert: Brächte er den Mut auf, Nellie Mae Fisher zu seiner Abschlussfeier einzuladen? Warum ließ ihn dieser Gedanke nicht los, obwohl er doch alles dafür tat, ihn zu verdrängen?

Die ganze Situation war sonderbar. Zuerst hat sich Zach in ein amisches Mädchen verliebt ... und dann habe ich ihre Schwester getroffen. Wie klug war es, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, er könnte Nellie besser kennenlernen? Er konnte sich vorstellen, was sein Vater dazu sagen würde, aber mit Zach wollte er am liebsten überhaupt nicht darüber reden. Chris hatte es nicht nötig, von seinem jüngeren Bruder daran erinnert zu werden, dass sein Interesse lachhaft sei. Im Gegenteil, Zach könnte vielleicht durch die Erinnerung an das Mädchen, das er verloren hatte, noch zusätzlich beunruhigt werden. Es war auch nicht gerade hilfreich, dass Nellie Mae die Schwester von Suzy war.

Er setzte sich mit seinem Mittagessen an einen Tisch und überflog die Schlagzeilen auf dem Titelblatt. Die immer höheren Zahlen von gefallenen Soldaten im Vietnamkrieg und das bevorstehende Basketballfinale zwischen den Philadelphia 76ers und den Boston Celtics nahmen den meisten Platz ein.

Chris blätterte zu den Lokalnachrichten und blieb an einem Artikel über einen amischen Bauern hängen, der einen Tritt von seinem Maultier an den Kopf überlebt hatte. Der langjährige Milchbauer David D. Yoder aus Honey Brook war nach dem tragischen Unfall gelähmt.

„David Yoder?“, sagte Chris laut. Dads Cousin! Er las den Artikel noch einmal. Es war einige Jahre her, seit seine Familie das letzte Mal auf den amischen Bauernhof gefahren war, aber er hatte ihre vielen Samstagnachmittagbesuche nicht vergessen. Er starrte aus dem Fenster und erinnerte sich, wie er mit Caleb und dessen älterem Bruder Jonah auf einer Seilschaukel durch den Stall gesegelt war. Er hatte auch mit der Heugabel für die neugeborenen Kälber Heu in den Stall gebracht und beim Melken geholfen, sehr zum Erstaunen der anderen Jungen – und ihrer Eltern. Kühe reagierten sehr empfindlich auf Fremde, aber Chris hatten sie damals akzeptiert, als sei er einer von Calebs Brüdern.

Bei ihrem letzten Besuch war er neun oder zehn gewesen. Es war ein Samstag gewesen, einen Tag, bevor der Predigtgottesdienst bei den Yoders stattfinden sollte. Er erinnerte sich an die Aufregung, als der große amische Leiterwagen vor dem Haus vorfuhr. Die Männer hatten die ganzen Zwischenwände im Erdgeschoss des Yoderhauses entfernt und anschließend lange Holzbänke hineingeschleppt, um einen provisorischen Gottesdienstraum zu schaffen. In dem Wagen waren auch Stapel mit amischen Liederbüchern gewesen und Dutzende von Schüsseln für das große gemeinsame Essen nach dem Gottesdienst.

Chris und seine eigenen Brüder waren von den Vorbereitungen bald genauso fasziniert und von der Begeisterung angesteckt gewesen wie seine vielen Vettern und Cousinen. Die Yoders hatten jeden, der mithalf, mit Popcorn und kaltem Apfelsaft versorgt, und er und Caleb – der Cousin, der ihm altersmäßig am nächsten stand – hatten mehr davon verdrückt, als ihnen guttat. Anschließend hatten sie – Chris, Zach und Caleb – unter den im Hof gestapelten Bänken Verstecken gespielt.

Chris fragte sich, wie viel sich seit den Tagen seines eigenen Großvaters Yoder verändert hatte, der die Amisch verlassen hatte, um ein englisches Mädchen zu heiraten. Da Großvater damals noch nicht in die amische Kirche eingetreten gewesen war, war er für sein Verhalten nicht mit dem Bann belegt worden, sodass die Familie von Chris’ Vater ihre amischen Verwandten besuchen konnte, sooft sie wollte.

Plötzlich war seine Neugier auf das Bauernhaus der Yoders geweckt. Außerdem fühlte sich Chris gezwungen, in dieser schweren Situation seine Hilfe anzubieten. Und es wäre auch schön, Caleb wiederzusehen.

Er fragte sich, ob die Verwandten seines Vaters einen starken Glauben hatten, der ihnen Halt gab.

Ja, ich denke, es ist Zeit, meinen amischen Wurzeln nachzugehen. Chris musste unwillkürlich grinsen, als Nellie Mae wieder in seinen Gedanken auftauchte.

* * *

Seit ihr Bruder James Rhoda bei den Kraybills abgesetzt hatte, war der Tag wunderschön. Strahlend schien die Sonne vom leuchtend blauen Himmel. Rhoda bewunderte das große Schindelhaus, die frei stehende Garage und das Stück Land hinter dem Grundstück der Kraybills. Am allermeisten freute sie sich jedoch darauf, ihren Buick wiederzusehen. Meine Fahrkarte in die Freiheit. Sie hatte ihn mit Mrs Kraybill als Fahrlehrerin mindestens ein Dutzend Mal gefahren, und auch mit ihrem Bruder James – bis er ihr die neuen, strengen Regeln in seinem Haus unmissverständlich klargemacht hatte.

Sie war seit dem Schnee im Januar, als sie unabsichtlich rückwärts in den Vorgarten der Kraybills gefahren war und den Schneemann der Kinder umgefahren hatte, weit gekommen. Aber sie wollte sowohl auf die praktische als auch auf die theoretische Führerscheinprüfung perfekt vorbereitet sein.

Ken drängte sie, die Prüfung bald zu machen, damit sie unabhängig überallhin fahren und ihn treffen konnte und auch zum Abendessen zu ihm kommen konnte. Ihr Herz schlug höher, sobald sie an Ken dachte ... und an seine schöne Wohnung. Obwohl sie sich noch nicht so lange kannten, fragte sie sich, wann er ihr wohl einen Heiratsantrag machen würde.

Jetzt musste sie sich aber beeilen. Schnell ging Rhoda daran, in den Zimmern im Erdgeschoss Staub zu wischen und gründlich sauber zu machen. Die verliebten Gefühle mussten vorerst warten. Sie hoffte, etwas später fände sie ein paar Minuten Zeit, um die Wohnungsanzeigen durchzusehen. Mit einem leisen Lächeln erinnerte sie sich daran, dass es noch nicht sehr lange her war, dass sie auf der Suche nach einem Auto über den Anzeigen gebrütet hatte. Das Auto war ein großer Erfolg, dachte sie und gratulierte sich selbst, während sie vorsichtig den vielen Nippes auf dem alten Schreibtisch im Wohnzimmer verschob, um darunter Staub zu wischen.

Meine größten Wünsche werden wahr ... und morgen habe ich meinen Führerschein. Wenn alles gut läuft.

Unzählige Male, seit sie Ken in diesem Haus das erste Mal gesehen hatte, hatte sie sich gezwickt, um sich zu vergewissern, dass dies alles nicht nur ein Traum war. Dass sie für die Kraybills arbeitete, war wirklich eine gute Fügung gewesen. Sie war davon nach wie vor überzeugt, obwohl sie sich zwischendurch fragte, ob Ken vielleicht doch recht hatte. Er sah die Dinge anders: Im Leben ging es allein darum, was man auf lange Sicht daraus macht. Das sei alles, was zählt, sagte er immer.

Es liegt allein bei mir, rief sich Rhoda ins Gedächtnis.

Mit diesen Überzeugungen im Hinterkopf warf sie einen Blick auf die Zeitung, bereit zu einer Kaffeepause. Sie hatte ein gutes Gefühl bei dem Gedanken, in eine eigene Wohnung zu ziehen, und schlug die Kleinanzeigen auf. Dort sah sie, dass es mehrere Wohnungen gab, die sofort bezogen werden konnten. Eine Wohnung, die nicht allzu weit weg war, fiel ihr besonders ins Auge, obwohl sie sich fragte, ob sie sich diese Wohnung leisten könnte.

Mrs Kraybill kam in die Küche. „Na, was willst du als Nächstes kaufen?“

„Na ja, man hat mir sozusagen die Tür gewiesen.“ Sie erklärte, dass James für ihren Geschmack viel zu streng war. „Ken ist von seinen Regeln auch nicht gerade begeistert.“

Als sie den Namen ihres Neffen hörte, legte Mrs Kraybill den Kopf schief und zog die Brauen in die Höhe. „Oh, das zwischen euch beiden wird etwas Festeres?“

Rhoda war es nicht gewohnt, über persönliche Dinge zu sprechen. „Ich glaube, man kann sagen, dass wir einander mögen.“

„Und dein Bruder hat etwas dagegen, dass du dich mit einem Mann triffst, der nicht amisch ist?“

„Sehr gelinde ausgedrückt, ja.“ Sie hatte diese Formulierung, die ihr sehr gefiel, von Ken gehört. „Jetzt bin ich also auf der Suche nach einer Wohnung.“ Mrs Kraybill beugte sich vor, um zu sehen, wohin Rhoda deutete. „Was halten Sie von dieser hier?“

Mrs Kraybill las die Anzeige. „Wenn die Wohnung so nett ist, wie in der Anzeige beschrieben, könntest du dich dort sehr wohlfühlen.“ Sie richtete sich auf und betrachtete sie nachdenklich. „Ich bin sicher, mein Mann hätte nichts dagegen, wenn du unser Gästezimmer mietest, Rhoda. Bis du auf eigenen Füßen stehst.“

Meint sie damit, bis ich heirate?

„Oh, vielen Dank für das Angebot“, antwortete sie. „Ich gebe Ihnen bald Bescheid, wie ich mich entschieden habe.“

Rhoda war nicht allzu begeistert von der Idee, aber sie wollte auch nicht unhöflich sein. Ehrlich gesagt, fragte sie sich, ob es eine so gute Idee sei, unter dem Dach ihrer Arbeitgeberin zu wohnen, auch wenn diese sehr freundlich war.

Zum Glück drängte Mrs Kraybill sie nicht weiter. Rhoda überflog noch mehr Anzeigen und stellte fest, dass sie sich eigentlich darüber freute, eine Wohnung zu suchen, die sie ihr Eigen nennen könnte – auch wenn James sie zwang, aus seinem Haus auszuziehen. Vielleicht wäre Ken bereit, sie nach ihrem gemeinsamen Essen heute Abend zu den Wohnungen zu fahren, die in der Zeitung angeboten wurden.

Und wenn nicht, erfahre ich vielleicht, wie ernst er es mit mir meint, dachte sie und fragte sich, ob diese Wende ihn vielleicht sogar veranlassen könnte, um ihre Hand anzuhalten.

Kapitel 7

Begleitet von der Musik seines Lieblingsradiosenders ließ Chris den Anblick der Umgebung auf sich wirken, während er auf der Beaver Dam Road an der schmalen Brücke vorbeifuhr. Ganz in der Nähe war die Stelle, an der er Nellie Fisher das erste Mal getroffen hatte. Im Gegensatz zu damals fiel ihm heute ein kleines Schild auf, das am Straßenrand angebracht war – Nellies Bäckerei. Konnte das ihr Laden sein?

Ohne der Versuchung, etwas langsamer zu fahren, nachzugeben, steuerte er auf die Mühle zu. Er war klug genug, seine Gedanken auf etwas anderes zu richten als auf die zwei Begegnungen, bei denen er mit ihr gesprochen hatte. Suzys Schwester war für ihn tabu. Das war für jeden klar.

Aber was sollte er tun? Sie aus seinem Denken verdrängen – diese faszinierenden, braunen Augen, ihre süße Unschuld?

Was für ein strahlend heller Nachmittag, dachte Chris, während er die alte Steinmühle passierte. Seine Mutter hatte das historische Gebäude mit seinem Mühlteich und dem breiten Bach, der parallel zur Straße verlief, schon oft bestaunt. Obwohl er nicht allzu weit von hier entfernt wohnte, mutete Chris die Gegend irgendwie ganz anders an als die Vertrautheit der Stadt. Nur wenige Bäume milderten die Sonnenstrahlen, die warm und golden auf die Straße geworfen wurden. Überall, wohin er auch blickte, schien die Natur wieder zu vollem Leben zu erwachen.

Er kniff die Augen zusammen und setzte seine Sonnenbrille auf. Je tiefer er ins Hinterland gelangte – eine Gegend mit weiten Wiesen und den zerstreuten Silos und Ställen –, desto deutlicher konnte er sich wieder David Yoders Hof vorstellen. Eine lange Schaukel, die hoch oben an einem Ast befestigt gewesen war, hatte an einem Baum vor dem Haus gehangen.

Einmal hatte er sich mit Zach und Caleb zu einem Wasserloch geschlichen. Auf dem Weg dorthin hatten sie ihre gesamte Kleidung verstreut – alles bis auf die Unterhosen. Anschließend waren sie hoch auf eine Platane hinaufgeklettert und von dem dicken, mittleren Zweig in das kalte, klare Wasser darunter gesprungen.

Was für ein Abenteuer das war!

So viele Erinnerungen an ihre Besuche auf dem Land prasselten auf ihn ein, dass Chris absichtlich langsamer fuhr, weil er sonst vor Aufregung und Vorfreude viel zu viel Gas gegeben hätte.

* * *

Ruben ärgerte sich über die ablehnende Haltung der Yoders gegenüber seinem letzten Angebot, ihnen zu helfen – „Uns reicht die Hilfe unserer Familie“, hatte der älteste Sohn, Gideon, ihm gesagt. Er brachte seine Frustration im Gebet vor Gott. Er war nicht der Einzige, dem es so ging – eine ganze Reihe anderer Bauern der Neuen Ordnung waren ebenfalls abgewiesen worden. Vor der Kirchenspaltung hatten die Amisch immer zusammengehalten, wenn sich eine Tragödie ereignete – egal ob das Opfer zur Familie gehörte oder nicht, ob es in der alten Kirche war oder nicht – die einzige Ausnahme waren ehemalige Kirchenmitglieder gewesen, die mit dem Bann belegt worden waren.

Aber jetzt? Die Yoders schienen die Trennung gewaltsam durchsetzen zu wollen, und das zu einem Zeitpunkt, wo sie am meisten Hilfe benötigten.

Vor Sorge niedergedrückt, kniete Ruben neben dem Sofa im Schlafzimmer nieder. „Oh Herr, mach mein Herz weich gegenüber den Yoders ... egal, was kommen mag.“ Er betete dafür, dass Davids Haus Erlösung fand, um körperliche Heilung und um Gottes Hilfe für die ganze Familie. Er blieb auf seinen Knien und nahm Gottes Verheißungen in Anspruch.

Nach einer Weile stand er auf und spürte den bekannten Drang, noch einmal auf David zuzugehen. Ich tue, was du von mir verlangst, Herr.

Er eilte nach draußen und ging zum Pferdestall, um zwei seiner besten Zugpferde auf der Trainingskoppel Auslauf zu geben. Zwei Bauern aus Chester County würden bald kommen und mit ihm über einen Preis verhandeln wollen. Ruben müsste in diesem Frühling mehr als zwei Pferde verkaufen, wenn er seine Familie über Wasser halten wollte, aber genauso wie er es jetzt in allen Bereichen seines Lebens hielt, wollte er auch hier Gott vertrauen.

* * *

Bevor er mit dem Nachmittagsmelken anfing, steuerte Caleb auf das Haus zu, um etwas Eistee zu trinken. Als er vorhin an ihr vorbeigeeilt war, hatte er gesehen, wie seine Schwester Leah Tee gekocht hatte. Sie hatte viel Zucker in den Tee getan, genau so, wie er ihn gern mochte. Er trat in die Küche. Da sowohl seine Mutter als auch sein Vater fort waren, war es im Haus viel zu ruhig. Er fragte sich, wie es wohl Daed in einem Krankenhausbett ging, der seine Beine nicht bewegen, ja sie nicht einmal fühlen konnte.

Meine Brüder waren alle im Krankenhaus und haben Daed besucht ...

Wenn er ehrlich war, konnte er den Gedanken nicht ertragen, seinen kranken Vater zu sehen, der von englischen Leuten gepflegt wurde, die er nur notgedrungen tolerierte. Aber sie sorgten zweifellos mit Schmerzmedikamenten dafür, dass er seine Situation ertragen konnte ... und am Leben blieb. Er wusste nicht alle Einzelheiten über den genauen Zustand seines Vaters. Mama sprach momentan nicht viel, wenn sie nach Hause kam, und keiner seiner älteren Brüder war besonders gesprächig. Von den dreien war Abe am häufigsten auf dem Hof und kümmerte sich, so gut er konnte, um alles, obwohl er wie Gideon und Jonah einen eigenen Hof und eine immer größer werdende Familie hatte, die er versorgen musste.

Caleb war sich bewusst, dass manchmal ein kleiner Schatten mitten in seiner Brust Einzug hielt, sich in seinem Inneren breitmachte und ihm manchmal fast den Atem abzuschnüren drohte. Er durfte diesem Gedanken keinen Raum geben, und die großen, schwarzen Krähen nicht ihre Nester in seinem Herzen bauen lassen.

Da er sich von den Gedanken an seinen strengen Vater nicht niederdrücken lassen wollte, trank er schnell den süßen Tee leer und eilte wieder zum Stall hinaus. Es war schon wieder fast vier Uhr. Daed hatte einen strengen Zeitplan für das Melken der ganzen Herde aufgestellt. Die Kühe wurden morgens um vier Uhr gemolken und das zweite Mal nachmittags um vier. „Wie ein Uhrwerk“, hatte Daed einmal bemerkt, und sein Vater musste Dinge normalerweise nur ein einziges Mal sagen.

Calebs rechter Arm war heute früh am Morgen bei einer schwierigen Geburt stark gequetscht worden. In einem Versuch, den Schmerz zu vertreiben, bewegte er seinen Arm im Kreis wie ein Baseballspieler, der sich darauf vorbereitet, einen Ball zu werfen. Für einen Moment musste er lächeln. Er hoffte, er könnte im kommenden Sommer ein wenig aus dem Haus kommen, um Softball zu spielen, falls er ein paar Stunden freie Zeit fände. Mama und seine Schwestern hätten währenddessen alle Hände voll damit zu tun, die Ernte aus ihrem Gemüsegarten – fast ein halber Hektar Fläche, die er bald umgraben müsste – zu schälen, zu schneiden und einzumachen. Zum Singen und zu anderen Jugendveranstaltungen zu gehen war für ihn kein Thema mehr – auch wenn er im heiratsfähigen Alter war. Susannah Lapp hatte ihm vor Kurzem nach dem Predigtgottesdienst die kalte Schulter gezeigt, obwohl sie ihn doch früher immer verführerisch angelächelt hatte. Zweifellos hatte sie gehört, dass er auf das Land seines Vaters verzichtet hatte und jetzt einer Braut nichts mehr zu bieten hatte. „Nicht dass mir das etwas ausmachen würde“, murmelte er und rieb sich seinen schmerzenden Arm. Das arme Kalb hatte falsch gelegen, sodass sich die Geburt über Stunden hingezogen hatte. Er war dankbar, dass sein Arm die Wehen der Mutterkuh so lange ausgehalten hatte und er das wertvolle Kalb tief im Bauch seiner Mutter hatte drehen können, ohne sich die Knochen zu brechen. Fast hätte er das schöne Geschöpf verloren.

Während er über den breiten Hof ging, begrüßte er fast freudig den Gedanken an die anstrengenden, arbeitsreichen Tage, die vor ihm lagen. Er hatte immer noch mehrere Tonnen Heu abzuladen – Heu, das von Nachbarhöfen geholt worden war, da die Dürre im letzten Sommer viele Heufelder hier in der Gegend vernichtet hatte. Er erinnerte sich daran, dass Nellie ausführlich darüber gesprochen hatte. Meine Güte, er erinnerte sich lebhaft an jedes Gespräch, das er je mit Nellie Mae geführt hatte. War das immer so, wenn eine Beziehung zu Ende ging ... man erinnerte sich viel zu deutlich daran, wie alles angefangen hatte?

Als er den Stall erreichte, hörte Caleb langsam ein Auto die Auffahrt heraufkommen. Ein unbekannter, hellbrauner Wagen wurde immer langsamer und blieb dann neben dem hinteren Gehweg stehen.

Ein junger Mann, ungefähr in seinem Alter, sprang heraus. Seine Haare hatten die Farbe von reifen Weizenfeldern. „Hallo, Caleb!“, rief er und winkte.

Caleb erkannte ihn sofort als seinen entfernten Vetter. „Hallo, Christian!“

Grinsend kam Christian auf ihn zu und ließ seinen Blick dabei über den ganzen Hof schweifen. „Es sieht hier noch ganz genauso aus, wie ich es in Erinnerung habe.“

„Alles bis auf den Stall ... er muss dringend gestrichen werden, würde ich sagen.“ Er hielt ihm die Hand hin. „Schön, dich zu sehen.“

„Finde ich auch. Das letzte Mal war ... wo?“

„In der Stadt, in der Eisenwarenhandlung, glaube ich. Ein Jingle, wie du ihn nanntest, spielte im Radio hinter der Verkaufstheke.“ Caleb trat einen Schritt zurück, um seinen Vetter zu mustern, der in seiner dunklen Jeans und der braunen Wildlederjacke sehr schick aussah. „Was führt dich hierher?“

Nun zeigte Christian das erste Zögern, seit er gekommen war. „Das mit dem Unfall deines Vaters tut mir sehr leid, Caleb. Ich habe es in der Zeitung gelesen.“

Calebs Rücken verkrampfte sich. Er wusste nicht, wie er mit dem Mitleid seines Cousins angemessen umgehen sollte. „Wir bekommen keine englische Zeitung. Haben wir noch nie.“

Christian blickte zum Haus hinüber. „Ich war nicht sicher, ob ich euren Hof gleich finden würde. Es ist eine Weile her ...“

Caleb wurde plötzlich ungeduldig und konnte es nicht länger erwarten, endlich mit dem Melken anzufangen. „Also ... ich würde dich herumführen“, sagte er und deutete mit dem Daumen zum Stall. „Aber ich habe momentan viel Arbeit, da Daed im Krankenhaus ist. Ich sollte also lieber ...“

„Kann ich dir ein wenig helfen?“

„Was?“ Er steckte die Hände in seine Hosentaschen. „Eigentlich ... nicht.“

„Es ist mein Ernst. Ich habe etwas Zeit und habe auch schon bei früheren Gelegenheiten gemolken.“

Caleb erinnerte sich daran, wie sein Vater Christian vor Jahren das Melken beigebracht hatte. Wie alt war ich damals?

„Ich bin sicher, dass ich noch weiß, wie es geht.“ Christian grinste wieder. „Außerdem wäre das eine Gelegenheit, uns wieder näher kennenzulernen.“

Wieder kennenzulernen? Caleb war verwirrt. Normalerweise hätte er ihn fortgeschickt, genauso wie er die Leute von der neuen Kirche wegschickte, die seit Daeds Unfall häufig vorbeikamen. Männer, die viel zu erpicht darauf waren, sie alle zu bekehren – genauso wie es der Haufen von Mannys Kirche mit Nellie Mae und ihrer Familie getan hatte. Genau wie sie wirkte Chris viel zu freundlich. Andererseits – was konnte es schon schaden? Er gehörte schließlich zur Familie, auch wenn er ein Englischer war, und das ganze Melken war für einen einzigen Mann allein wirklich viel Arbeit.

Er zuckte die Achseln. „Wenn du wirklich willst, dann meinetwegen. Du weißt noch, wie man sich den Kühen nähert?“

Christian nickte mit unübersehbarem Selbstvertrauen. „Das werde ich nie vergessen!“ Christian marschierte neben ihm her zum Stall.

„Dann schauen wir einmal, wie die Kühe auf dich reagieren, okay? Sie sind gegenüber Fremden ziemlich vorsichtig.“

Es stellte sich heraus, dass Christian sich wirklich noch erinnerte, und nach nur wenigen Tipps arbeitete er sich selbständig durch die Reihen der schwersten Milchkühe.

Über eine Stunde war vergangen, als Caleb seinen Vetter zu einer kurzen Pause mit zum Milchhaus nahm.

„Du hast nicht übertrieben.“ Caleb zeigte ihm den großen Milchtank. „Du hast wirklich fast nichts vergessen. Irgendwie ein Wunder, finde ich.“

Christian klopfte das Stroh von seinen Hosenbeinen. „Hey, ich habe ganz vergessen, wie gut es mir hier gefällt.“

„Es riecht eklig.“ Caleb schmunzelte. „Wenigstens sagen das die Städter immer.“

Christian schüttelte den Kopf. „Ich muss verrückt sein. Ich habe den Mistgeruch im Frühling immer gemocht.“

Sie lachten, dann sah Christian Caleb fragend an. „Wann melkst du das nächste Mal?“

„Um vier Uhr, morgen in der Früh. Kommst du dann auch und hilfst mir?“

Christian schmunzelte. „Nein. Aber im Ernst: ich könnte mehrere Male in der Woche nach der Schule kommen.“

Caleb starrte seinen Vetter, den er so lange nicht gesehen hatte, ungläubig an und dachte über dessen unerwartetes Angebot nach. Der Mann war so sympathisch, wie der Tag lang war. Er hatte etwas Entwaffnendes an sich ... und auch etwas Erfrischendes.

Er warf einen Blick auf Christians Schuhe. „Für das nächste Mal sind Tennisschuhe vielleicht nicht so gut.“

Christian hob seinen rechten Fuß hoch: getrockneter Mist klebte an der Sohle. „Ja, ich sehe, was du meinst.“

„Du brauchst Arbeitsstiefel.“

„Ist das ein Ja?“, fragte Christian, und ein breites Grinsen zog über sein Gesicht.

Caleb klopfte ihm auf den Rücken. „Wir machen noch einen richtigen Bauern aus dir, Christian.“

„Soll mir recht sein ... und bitte sag Chris zu mir.“

Caleb hoffte, er hatte in Bezug auf John Yoders Sohn richtig gehandelt ... und er hoffte außerdem, dass Daed nicht allzu schnell Wind davon bekäme, dass Chris ihm auf dem Hof half.

* * *

Rhoda wollte vor Freude Luftsprünge machen, aber sie schritt züchtig die Stufen der Führerscheinstelle hinab. Sie trug ihren geblümten Baumwollrock und einen hellbraunen Pullover. Über ihrem Rücken hing ein langer, einzelner Zopf herab, wobei ihre Haare an der Seite statt, wie bei den Amisch üblich, in der Mitte gescheitelt waren. Sie wollte auf keinen Fall für schlicht gehalten werden. Nicht heute!

Ein Kollege und Freund von Ken war ihr und Ken hierher in die Stadt Reading gefolgt, den nächstgelegenen Ort, an dem sie ihren Führerschein machen konnte. Ken und sein Freund waren bereits in ihr Immobilienbüro nach Strasburg zurückgefahren. Rhoda war darüber insgeheim froh, da sie es nicht erwarten konnte, ihre erste Fahrt allein zu genießen – jetzt, da sie sowohl ihre theoretische als auch ihre praktische Führerscheinprüfung mit Bravour, wie der Prüfer gesagt hatte, bestanden hatte.

Mit Bravour. Was für ein seltsames Wort!

Sie eilte zu ihrem Auto, öffnete die Tür und rutschte auf den Fahrersitz. „Ich habe es geschafft!“, sagte sie und lehnte sich lachend zurück.

Mit neuem Selbstvertrauen, da die Prüfung jetzt erfolgreich der Vergangenheit angehörte, bog sie aus dem Parkplatz und war erleichtert, dass sie nicht rückwärts ausparken musste, wie es vorhin ihre Aufgabe gewesen war. Ihre einzige leichte Schwäche, hatte der Prüfer gesagt, aber hinzugefügt, dass viele Fahranfänger diese Fähigkeit im Laufe der Zeit verbesserten.

Sie steuerte auf der Route 222 in Richtung Süden. Vor der Arbeit im Restaurant wollte sie unbedingt noch durch das ländliche Honey Brook fahren. Nach wie vor staunte Rhoda darüber, dass sie in ihrer amischen Kleidung die Stelle als Kellnerin bekommen hatte. Es muss Vorsehung gewesen sein, dachte sie, doch dann wurde sie nachdenklich. Glaubte sie noch daran? Sie wollte in jeder Hinsicht modern werden, aber so sehr sie es auch versuchte und sich bemühte, war es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, diesen Teil ihrer Erziehung von sich abzuschütteln.

Rhoda kam zu einem Stoppschild. Sie freute sich sogar über das Schild, aber nicht, weil es ihr Spaß machte, langsamer zu fahren oder gar stehen zu bleiben. Vielmehr genoss sie es, in einen anderen Gang zu schalten und den wechselnden Rhythmus des Kupplungs- und des Gaspedals so glatt wie Vanillepudding zu beherrschen.

Nach weiteren zwanzig Minuten wurde die Landschaft weiter, aber Rhoda gönnte sich nicht den Luxus, aus dem Seitenfenster zu schauen. Sie konzentrierte sich auf die Straße vor sich ... und auf die Zukunft, wie sie sich vor ihrem inneren Auge ausbreitete.

„Zuerst zahle ich dieses Auto ab ... dann spare ich für meine Reisen. Unsere Reisen“, verbesserte sie sich und dachte an Ken. Er war immerhin die beste Wahl für einen Ehemann.

An der Kreuzung der Route 10 und der Beaver Dam Road verlangsamte sie ihr Tempo und blickte aufmerksam nach links und rechts, bevor sie wieder Gas gab. Sie bemerkte mehrere Bauern, die mit ihren Maultiergespannen anfingen zu pflügen, und unwillkürlich dachte sie an Dat und ihre Brüder. Ephram würde noch eine Weile warten, bevor er mit dem Pflügen begann, weil er den Boden gern ein wenig weicher hatte, aber Thomas und Jeremiah – und auch James – konnten mit ihrem neuen Traktor jederzeit damit anfangen. Eine kurze Traurigkeit befiel sie. Sie vermisste ihre Eltern und auch ihre Schwestern, aber ihr neuer, moderner Lebensstil war viel aufregender, als es das Leben ihrer Eltern je sein könnte.

Als sie sich von links dem Bauernhaus ihres Vaters näherte, bemerkte Rhoda eine Entenfamilie neben der Straße. Sie bremste und wartete, bis sie auf die andere Straßenseite gewatschelt waren. „Seid vorsichtig, ihr Kleinen“, warnte sie die Tiere mit einer Stimme, die sie normalerweise gegenüber ihren Nichten und Neffen verwendete. „Seid schön vorsichtig ...“

Als der bekannte Pferdestall und das Haus auftauchten – das Haus ihres Vaters –, sah Rhoda absichtlich nicht hin. Fest entschlossen richtete sie ihren Blick starr geradeaus. Es war nicht gut zurückzuschauen – das sagte sogar schon die Bibel.

* * *

In einer kleinen Pause während des Essens – genaugenommen zwischen dem Salat und dem Hauptgang, der noch einige Minuten in Kens Backofen brauchte – faltete Rhoda unter dem weißen Leinentischtuch die Hände auf ihrem Schoß. Sie sah zu Ken, der sich in Schale geworfen hatte – so zumindest beschrieb er sich und auch sie, wenn sie sich schick anzogen. Was sollte sie über ihr Dilemma sagen? Sollte sie es überhaupt erwähnen?

Er blickte sie fragend an. „Ist alles in Ordnung, Rhoda?“ Er schob die Hand mit der Handfläche nach oben über den Tisch, aber sie drückte die Hände weiterhin fest zusammen.

„Ich ziehe bei meinem Bruder aus.“

Kens Augen wurden größer, und er runzelte die Stirn. „Nach so kurzer Zeit?“

Seine Antwort machte Rhoda noch unruhiger.

„Ich muss einfach von dort weg, das ist alles.“

Er seufzte und zog seine Hand zurück. „Falls du eine Wohnung brauchst, mir hat gestern ein Mieter gekündigt. Ich habe eine freie Wohnung unten im zweiten Stock. Es ist ein großes Einzimmerapartment mit eigenem Badezimmer, aber es ist erst in drei Wochen geputzt und einzugsbereit.“

Im zweiten Stock?

„Danke für das Angebot ... aber ich habe mich noch nicht entschieden, was ich tun werde.“ Sie überlegte, was ihre Mutter wohl dazu sagen würde, wenn Rhoda im selben Haus wie ihr Freund wohnte, wenn auch ein Stockwerk tiefer. Vermeide den Anschein von Sünde.

Nein, ihre Mutter würde es nicht verstehen und die Kraybills vermutlich auch nicht, besonders da Mrs Kraybill so freundlich gewesen war, Rhoda ihr Gästezimmer anzubieten. Jetzt saß Rhoda in der Zwickmühle. Was sollte sie tun?

James würde fragen, warum ich mich nicht einfach an die Regeln halte, dachte sie, verdrängte den Gedanken aber schnell wieder.

„Ich glaube, du würdest dich in diesem Einzimmerapartment sehr wohl fühlen“, sagte Ken. „Aber ich will natürlich keinen Druck auf dich ausüben.“

Nach dem Essen bestand Ken darauf, Eisbecher zu machen. „Magst du einen großen Becher?“, fragte er. „Schokosirup, Nüsse, Schlagsahne ... und eine Kirsche obendrauf?“

„Klingt gut. Denki ... äh, danke.“

Als er ihren Becher brachte und ihn vor ihr auf den Tisch stellte, beugte er sich nach unten und küsste sie. „Mein Glückwunsch, Rhoda. Du hast jetzt deinen Führerschein.“

Sie errötete und freute sich darüber, dass sie ihre Prüfung bestanden hatte, fast genauso sehr wie über seinen Kuss. Die schriftliche Prüfung war ziemlich gut gelaufen, nachdem sie das Lehrbuch so oft sowohl mit Ken als auch mit seiner Tante durchgelesen hatte.

Sie lächelte, und Ken sah sie grinsend an. „Ich glaube, du kennst die Straßenregeln von Pennsylvania besser als die meisten Highschoolschüler, die ihren Führerschein machen.“

Er neckte sie, das gefiel ihr. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die Ken ihr entgegenbrachte. Was sie für ihn empfand, war mit nichts aus der Vergangenheit vergleichbar, da sich nie zuvor jemand so sehr für sie interessiert hatte.

Sie vermutete, dass er sie auch lieben musste, obwohl er ihr seine Liebe bis jetzt nicht mit Worten gestanden hatte. Aber sprachen seine Küsse nicht eine deutliche Sprache? Mama sagte doch auch oft: „Taten sprechen lauter als Worte.“ Vielleicht galt das ja auch, wenn man sich verliebte.

Aus keinem ersichtlichen Grund zwinkerte Ken ihr zu. Dann ergriff er ihre Hand, und dieses Mal ging sie darauf ein. „Du siehst müde aus.“

„Ich habe nur nachgedacht. Was würdest du sagen, wenn ich mir die Haare schneiden ließe?“

Er betrachtete sie mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck. „Ich würde mir nie anmaßen, einer Dame zu sagen, was sie mit ihren Haaren machen soll.“

Sie wollte nicht verraten, dass sie schon für den nächsten Morgen, bevor sie gegen Mittag zur Arbeit musste, einen Friseurtermin vereinbart hatte. „Wie du meinst. Aber es wird sehr kurz.“

„Eine drastische Veränderung?“ Er schwieg einen Moment. „Ich habe deine Haare nie offen gesehen.“

Das solltest du wahrscheinlich auch nicht.

„Wie lang sind deine Haare, Rhoda?“ Sein Blick war so weich geworden, dass sie fürchtete, es könnte ihm leidtun, wenn sie ihre Haare tatsächlich schneiden ließ.

„Sie gehen bis über meine Hüften.“

„Wirklich?“ Seine Augen strahlten auf.

„Aber nicht mehr lange.“

Er lächelte nachdenklich. „Egal, was du damit machst, für mich wirst du immer hübsch sein.“

Ach, hübsch ...

Mit einem Mal war Rhoda nach Tanzen zumute, obwohl sie noch nie in ihrem Leben einen Schritt getanzt hatte.