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Über die Autorin

Kathleen Popa und ihr Mann leben in der nordkalifornischen Wüste in einem alten, mit Büchern vollgestopften viktorianischen Haus. Sie haben zwei Söhne.

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Für Noah und Alex, meine beiden Jungs

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Nachwort

Indias Zimtschnecken

Prolog

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Die Kerzen sind reine Dekoration. Man braucht sie nicht, um zu beten. Tatsächlich ist es am besten, wenn man ohne alles auskommt und nur sich selbst einbringt.

Das ist eine der Wahrheiten, die ich lernen durfte.

Doch in dieser Jubelnacht in der Abgeschiedenheit meiner Berghütte, meines kleinen Verschlags, na ja, vielleicht eher in meiner Betonzelle, da möchte ich es feierlich haben. Heute will ich mich daran erinnern, wie es war, als ich hierher kam, getrieben von Ängsten und erfüllt von unzähligen Sorgen, die ich in Gebete verwandeln wollte. Welchen Reichtum habe ich seither gefunden! Gemessen daran wäre ein mit Samt und Seide dekorierter Raum durchaus angemessen, auch Weihrauch und Myrrhe würden passen. Doch ich habe ja allem Luxus abgeschworen. Was gerade noch geht, sind die Kerzen.

Vorsichtig entzünde ich die erste Kerze, dann die zweite, die dritte und vierte, schließlich die fünfte. Ich stelle sie in einer geraden Reihe auf den kahlen Beton. Dann verteile ich getrocknete Rosenblätter über den Boden und genieße ihren Duft, der sich mit dem süßen Aroma frischer Zimtschnecken mischt. Ich greife nach dem Granatapfel, den ich von Indias Baum gepflückt habe, und lasse meine Finger über die schon etwas verschrumpelte Haut gleiten. Dann teile ich die Frucht in zwei Hälften und drücke den Saft in eine Tasse. Sie wird mir gleich als Abendmahlskelch dienen. Andächtig stelle ich die Tasse neben die Kerzen.

Nun ziehe ich meine Schuhe aus, knie mich auf den Boden und schließe meine Augen. Beten kann so wunderbar sein. Zuerst bin ich dabei ganz allein – so fühle ich mich zumindest –, das machte mir früher gelegentlich Angst. Aber ich gehe weiter, immer wieder folge ich dem gleichen Pfad, der nun schon ausgetreten und leicht zu gehen ist. Bald bin ich nicht mehr allein. Ich bin bei dem besten Freund, den man nur haben kann.

Heute bedarf es keiner Worte. Ich muss nicht immer reden, wenn ich bete. Heute lasse ich mich nur von der Liebe tragen, von der Freude und der Dankbarkeit. Ich öffne meine Augen, um das Abendmahl zu feiern, ziehe den Teller näher zu mir heran und halte die Zimtschnecke mit beiden Händen in die Höhe.

„Das ist mein Leib, der für euch geopfert wird …“ Ich kann die Bibelstelle auswendig.

Während ich die Schnecke auseinanderziehe, fallen Zuckerguss, Rosinen und Walnüsse auf den Boden. Ich stecke ein Stückchen in den Mund, kaue und genieße.

Dann erhebe ich die Tasse. „Dieser Becher ist Gottes neuer Bund, der durch mein Blut in Kraft gesetzt wird …“ Ich führe die Tasse an meine Lippen und nehme einen Schluck.

Ein Jahr ist vergangen, seit ich hier angekommen bin. Nachdenklich ruht mein Blick auf dem flackernden Schein der Kerzen. Wie schön ist der feurige, zuckende Reigen von Licht und Schatten, der mich an die Nacht am Strand erinnert, als meine tanzenden Freunde ein ganzes Universum funkelnder Sterne in den Nachthimmel schleuderten. Auch ich brachte damals meinen ganz persönlichen Tanz dar, während die Zeugen vergangener Zeitalter mich endlich als eine der ihren in die erlauchten Reihen aufnahmen …

Kapitel 1

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Feuer hat mich schon immer fasziniert. Ich liebe das Orange der Flammen, das mich an die Farbe von Chrysanthemen erinnert. Ich mag es, wie das Feuer alles um sich auffrisst, während es sich unaufhaltsam ausbreitet.

Sogar an jenem Apriltag zog mich das Schauspiel in seinen Bann, obwohl die Flammen aus meinem eigenen Haus schlugen, als wären die Wände aus Wachs. Ich stand auf Susannes Rasen, immer noch in der schwarzen Kleidung, mit der ich von der Beerdigung gekommen war. Einen Schleier hatte ich nicht getragen, das war heutzutage in unserer Gegend nicht mehr üblich. Aber eigentlich hätte ich mein Gesicht gerne vor den Blicken der Trauergäste verborgen. Eine Beerdigung zerrt Schmerz an die Öffentlichkeit, den niemand sehen sollte. Und man sollte als Frau in dieser Situation nicht über sein Aussehen nachdenken müssen.

Schwarzer Rauch stieg auf, als ob das Haus, in dem Larry und ich gelebt hatten, sich hinter einem schwarzen Trauerschleier verbergen wollte, während das Feuer sein Inneres zerfraß.

Die Sonne war untergegangen und unwillkürlich näherte ich mich den Flammen, um mich zu wärmen. Susanne zog mich zurück.

„Du kannst nichts machen, Charlotte“, redete sie auf mich ein, ohne zu ahnen, worüber ich nachdachte. Sie legte ihren Arm um mich und drückte meinen Kopf an ihre Schulter. Einen Moment lang tat es gut, mich auf sie zu stützen. Doch dann richtete ich mich wieder auf. Ich musste diese Situation allein meistern, auf meine Art. Auch war mir bewusst, dass Susanne alles daran setzen würde, mich umzustimmen, sobald sie begriff, was ich vorhatte. Ich musste mich wappnen, denn zurzeit brauchte es nicht viel, um mich von etwas abzuhalten.

Aber mir erschien dieses Feuer wie ein Zeichen des Himmels, wie eine göttliche Zustimmung. Plötzlich hatte ich keinen Haushalt mehr, um den ich mich kümmern musste, Pflegebett und Rollstuhl mussten nicht mehr ins Parkinsonzentrum zurückgebracht werden. Das Feuer erledigte alles für mich. Ich hatte keinen Grund mehr zu zögern und es gab kein Zurück. Die Zeit war gekommen und ich konnte es einfach tun.

Dabei spielte Susannes Meinung eigentlich keine Rolle.

Es gab kein Thema, zu dem Susanne nicht eine klare Meinung vertrat. Während wir zur Beerdigung fuhren, bombardierte sie mich mit ihren Gedanken zum Verbleib meines Sohnes Garrett, der seit ungefähr vier Monaten verschwunden war. Sie wollte wissen, ob ich seine frühere Freundin angerufen hätte, ob seine Handynummer noch aktiv war und ob ich mit dem Personalleiter seiner früheren Firma gesprochen hätte.

Wie konnte sie nur annehmen, ich hätte irgendetwas unversucht gelassen, um Kontakt zu meinem Sohn zu bekommen? Natürlich, die meiste Zeit saß ich neben dem Rollstuhl, in dem Garretts Vater wie eine verwelkende Rose mehr und mehr in sich zusammensank und dieses schwache Schluchzen von sich gab, das die Krankheit ihm noch als letzten Ausdruck der Trauer gelassen hatte. Tag und Nacht verbrachte ich an seiner Seite und umsorgte ihn. Doch wenn die Krankenschwester zu ihren täglichen Besuchen kam, nahm ich mir die Zeit, um zu Garretts Wohnung zu fahren und an seine Tür zu klopfen, um Briefe in seinen Briefkasten zu stecken, ihn anzurufen und auf seinen Anrufbeantworter zu sprechen. An dem Tag, an dem Larry wieder mit Lungenentzündung ins Krankenhaus kam – war seitdem wirklich erst eine Woche vergangen? – startete ich meinen letzten verzweifelten Versuch, um Garrett an das Sterbebett seines Vaters zu bringen.

Sein Festnetzanschluss war tot, auch sein Handy war abgeschaltet. Ich hatte bereits herausgefunden, dass er ohne Vorwarnung eines Tages einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen war und mit seiner Wohnungsmiete drei Monate im Rückstand war. Schon ein Jahr zuvor hatte seine Freundin mit ihm Schluss gemacht. Als Grund hatte sie mir seine Wutausbrüche und seinen Jähzorn genannt.

Das Feuer war nicht halb so schlimm wie das Verschwinden meines Sohnes. Von allem, was mir geraubt worden war, schmerzte mich der Verlust des Hauses am wenigsten. Ohne das Haus konnte ich leben.

Das Feuerwehrauto rumpelte die Straße entlang, bis es neben unserem Ginkgobaum zum Stehen kam. Ein lautes Stimmengewirr drang aus dem Funkgerät, dem aber niemand Beachtung schenkte. Ich atmete Rauch ein, doch der Großteil des Qualms zog nach oben. Eine Wasserfontäne entsprang an der Stelle, an der zwei Feuerwehrmänner in gelben Overalls standen. Sie richteten den Strahl auf das Feuerwerk, das einmal mein Zuhause gewesen war.

Ich ließ meine Hand in meine Umhängetasche gleiten und tastete mich an den vertrauten Gegenständen entlang: ein zerfleddertes Buch, meine kleine Bibel und das in genarbtes Leder gebundene Tagebuch.

„Alles wird gut sein und alles wird gut sein und aller Art Dinge wird gut sein …“, flüsterte ich unhörbar.

Ein Feuerwehrmann hatte die Handschuhe ausgezogen und kam über die Straße auf uns zu. Er hielt ein Klemmbrett wie ein Schild vor seine Brust und musterte die kleine Schar der Schaulustigen, bis unsere Blicke sich trafen.

„Charlotte Denys?“

„Ja?“, antwortete ich fragend und gab ihm die Hand.

„Ich bin Matthew Huong von der Feuerwehr. Können Sie sich an mich erinnern?“

Ich sollte mich an ihn erinnern? Mühsam versuchte ich zu denken.

„Wir kennen uns aus der Gemeinde. Sie haben meine Tochter im Kindergottesdienst betreut. Es tut mir sehr leid, dass Sie Ihren Mann verloren haben.“

Susanne trat hinzu. „Ich kenne Sie, Mr Huong. Mein Name ist Susanne Keyes. Wir haben einmal zusammen das Krippenspiel aufgeführt.“

„Ja, stimmt.“ Er schüttelte ihr die Hand und wandte sich dann wieder mir zu. „Können wir unter vier Augen sprechen?“

Susanne trat zur Seite. Das gab mir Luft zum Atmen, während ich gleichzeitig ihren Halt vermisste. Ich folgte dem Feuerwehrmann.

„Das ist ein schrecklicher Tag für Sie, Mrs Denys. Es tut mir sehr leid. Wir können von Glück reden, dass es so windstill ist, sonst müssten wir befürchten, dass das Feuer auch die umliegenden Häuser erfassen würde. Aber Gott sei Dank haben wir es unter Kontrolle.“

Ich nickte.

„Außer Ihnen und Ihrem Mann lebte niemand in dem Haus, stimmt das? Sie hatten keine Kinder oder andere Angehörige bei sich im Haus?“

„Nein, wir waren nur zu zweit. Unser Sohn, mmmh … wohnt nicht mehr hier.“

„Haben Sie eine Vermutung, wodurch das Feuer entstanden sein könnte?“

Ich hatte keinen blassen Schimmer. „Den Heizlüfter hatte ich ausgeschaltet, bevor ich gegangen war, jedenfalls mache ich das normalerweise immer.“

„… konnte die Beerdigung seines Vaters ja nicht besuchen, wenn er gar nicht wusste, dass er tot ist.“ Hinter meiner rechten Schulter höre ich Susannes Flüstern.

Ich drehte mich um und begegnete dem Blick einer Frau, die neben Susanne stand. Sie war vor kurzem in unsere Gegend gezogen. Susanne sah mich an, deutete meinen missbilligenden Gesichtsausdruck richtig und schwieg.

Mr Huong räusperte sich. Ich zwang mich, ihm wieder zuzuhören. „Was ich Ihnen zu sagen habe, ist noch nicht offiziell, aber hier geht es auch um Ihren persönlichen Schutz. Im Normalfall reden wir über solche Dinge erst nach Abschluss der Ermittlungen, doch uns liegen eindeutige Hinweise auf Brandstiftung vor. Es ist noch nicht sicher, wie der Brand gelegt wurde, aber eine Ihrer Nachbarinnen, Mrs Carol ähm …“ Er sah suchend auf sein Klemmbrett.

„Graham.“

„Ja, genau, Carol Graham sah, wie eine Person von Ihrem Grundstück wegrannte, hinter dem Haus, durch den Garten. Es ist vermutlich ein Mann gewesen, doch weil er eine Kapuze trug, konnte sie ihn nicht beschreiben. Das Ganze ereignete sich während der Beerdigung, deshalb müssen wir davon ausgehen, dass der Brandstifter davon wusste.“

Brandstiftung.

Das Wort lag zwischen uns in der Luft, undurchsichtig und unfassbar. Ich versuchte, mir die Bedeutung des Gesagten klar zu machen, doch die Bilder, die ich vor Augen hatte, passten nicht dazu: Larrys verfallender Körper im Sarg. Eine Handvoll Rosenblätter, die in die Grube hinabsegelten …

„Haben Sie eine Vermutung, wer für das Feuer verantwortlich sein könnte? Gibt es jemanden, den Sie auf der Beerdigung vermisst haben?“

Ich schob meine Brille, die über den schweißnassen Nasenrücken gerutscht war, nach oben. Meine Hände zitterten. Ich verschränkte die Arme, um die Hände stillzuhalten.

Brandstiftung.

„Tut mir leid“, sagte Huong, „das ist wirklich mehr, als man verkraften kann, eine Beerdigung und ein Hausbrand am gleichen Tag.“

Ich sah schwach über meine Schulter. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Susanne …“

„Natürlich nicht.“

Ich streckte ihr meine Hand entgegen. Sofort war sie an meiner Seite und umfasste meinen Arm mit ihren perfekt manikürten Händen.

„Mrs Denys, gab es jemanden, der mit Ihnen oder Ihrem Mann im Streit lag? Vielleicht ein verärgerter Mitarbeiter Ihres Mannes …“

Susanne runzelte die Stirn und fiel ihm ins Wort: „Larry ist schon vor sechs Jahren in Rente gegangen.“

Er notierte diese Angabe. „Vor sechs Jahren … Gut. Mr Denys war der Chef von …“

„ConjuTech“, antwortete ich.

„Manche Menschen sind sehr nachtragend, auch noch nach Jahren. Kämen vielleicht auch Nachbarn oder Verwandte in Frage?“

„Nein“, antwortete ich, „mir fällt niemand ein.“

„Hatten Sie Ihre Alarmanlage ausgeschaltet? Es gab kein Signal.“

Susanne schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann nicht sein.“

„Wir hatten nur das Hauptgebäude gesichert“, erklärte ich, „in dem ich seit etlichen Monaten nicht war.“

„Seit Jahren“, verbesserte Susanne mich.

Ich spürte den tadelnden Unterton in ihrer Stimme und zuckte innerlich zusammen. Sie hatte recht. „Seit Jahren. Seit dem Ausbruch von Larrys Krankheit lebten wir im Gästehaus.“ Ich deutete auf den kleinen Anbau gegenüber der Garage. Die Flammen schlugen jetzt aus mehreren Fenstern an der vorderen Fassade.

Alles wird gut sein und alles wird gut sein …

Mr Huong zog eine Visitenkarte aus seinem Klemmbrett und reichte sie mir. „Vielen Dank, Mrs Denys. Ich denke, fürs Erste habe ich keine Fragen mehr. Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt, das unsere Ermittlungen voranbringen könnte.“

„Mache ich.“

„Wo werden Sie heute Nacht schlafen?“

„Bei mir“, antwortete Susanne. Ich sah sie fragend an. „In Ambers Zimmer. Sie ist schon seit zwei Jahren verheiratet.“

„Das weiß ich, Susanne, schließlich war ich bei ihrer Hochzeit dabei.“

Der Feuerwehrmann sah von mir zu Susanne und wieder zu mir. „Haben Sie eine Handynummer, unter der wir Sie erreichen können?“

Ich gab ihm meine Nummer und er kehrte zu seiner Mannschaft zurück. Die meisten der Umstehenden kannte ich nicht. Teenager in Fußballtrikots mischten sich zwischen Damen in Bürokleidung. Ein junger Mann trug genau die Oakland-Raiders-Footballkappe, die Garrett immer angehabt hatte. Einen Augenblick lang dachte ich, er wäre es.

Aber es war nicht Garrett.

Noch nie konnte ich es leiden, wenn Susanne mich so ansah, als erwarte sie, dass ich ihre Gedanken lesen könnte. „Was ist?“, fragte ich gereizt.

„Ich denke nur, es wäre gut, du würdest deinen Sohn bald finden.“

Was sollte ich darauf erwidern?

Ich sah zum Haus zurück. Mit einer erhobenen Axt in der Hand ging ein Feuerwehrmann auf meine Eingangstür zu. Die linke Außenwand meines Schlafzimmers brach gerade in sich zusammen.

Meine Hand wanderte wieder in meine Tasche und umklammerte meine Bücher, als wären sie Gottes Hand, während meine Lippen das berühmte Zitat der englischen Mystikerin Juliana von Norwich flüsterten: „Alles wird gut sein und alles wird gut sein und aller Art Dinge wird gut sein.“

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Einen Augenblick lang hätte ich mir fast selbst geglaubt.

Ich begleitete Susanne nach Hause und erledigte die Anrufe bei den Versicherungen – oder vielmehr, Susanne rief an und ich beantwortete die Fragen. Wie auch immer, wir erledigten es. Doch ehe sie anfangen konnte, wieder über Garrett zu reden oder mir vorzuhalten, was für eine schlechte Freundin ich ihr die letzten Jahre gewesen war, zog ich mich in das Zimmer ihrer Tochter zurück.

Drei Stunden lag ich in dem dunklen Raum und bemühte mich, geräuschlos zu schluchzen, als wäre ich die Darstellerin einer tragischen Rolle in einem Stummfilm. Einmal schneuzen und Susanne wäre an meiner Tür gewesen, da war ich sicher. Sie würde mich umsorgen, bemitleiden und sich um alles kümmern. Wahrscheinlich würde sie mir sogar die Tränen abwischen.

Ich versank in Trauer. Der berühmte Satz von Juliana von Norwich half auch nicht mehr. Im ersten Moment hatte ich geglaubt, der Situation gewachsen zu sein. Ich war eingehüllt in einen Nebel, der scharfe Kanten rund erscheinen ließ und die Härte meines Schicksals weich abzufedern schien. Geheimnisvoll, ja faszinierend wirkte der Anblick des brennenden Hauses zuerst.

War es nicht die beste Lösung? Larry musste nicht mehr in seinem Rollstuhl verkümmern, endlich war er diesem elenden Körper entkommen. Aber … nein! Ich vermisste ihn! Die Trauer traf mich mit solcher Wucht, dass ich mich vor Schmerz zusammenkrümmte und ein Kissen vor meinen Mund pressen musste, um nicht laut zu schreien.

Verzweifelt rieb ich mir die Augen, warf die Decken zurück und stand auf. Der dicke Teppich schluckte jedes Geräusch, dennoch schlich ich auf Zehenspitzen zur Tür, öffnete sie einen Spalt breit und versuchte, einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen.

Der Fernseher lief. Susanne saß im Schneidersitz vor dem Tisch und arbeitete an ihrem Laptop. Daran hatte ich nicht mehr gedacht. Diese Frau schlief fast nie. Vor allem dann nicht, wenn sie meinetwegen einen halben Arbeitstag verloren hatte.

Leise zog ich die Tür wieder zu und wandte mich um. Da fiel mein Blick auf das Fester. Das war die Lösung! Es war groß genug und dicht über der Erde. Ich schlüpfte in den Bademantel, den Susanne mir ausgeliehen hatte, dann öffnete ich den Fensterflügel weit.

Tief atmete ich die frische, kalte Luft ein. Direkt unterhalb des Fensters wuchs ein Wacholderstrauch. Vorsichtig kletterte ich über den Fenstersims und platzierte meine nackten Füße nacheinander auf dem schmalen Streifen zwischen der Mauer und dem Busch. Dabei verfing sich das Nachthemd in einem der Äste. Als ich weitergehen wollte, gab es ein unangenehmes Geräusch. Ein handbreiter Riss klaffte in dem Stoff.

Susannes Rasen war kühl und feucht unter meinen nackten Füßen. Ich schlich zu ihrer Gartenlaube und setzte mich in den Schaukelstuhl, zog die Füße an meinen Körper und wickelte mir den Bademantel um die Beine. Die Dunkelheit der Nacht legte sich schwer auf mich, nur schwach erhellt vom rötlichen Schein der Straßenlampen und diesig vom Rauch meines ehemaligen Zuhauses auf der anderen Straßenseite.

Morgen früh würde ich Susanne die Kosten für das zerrissene Nachthemd bezahlen. Sobald ich ihr gegenüber jedoch andeuten würde, was ich als Nächstes zu tun beabsichtigte, würde das Nachthemd sie nicht mehr interessieren, da war ich mir sicher. Meine Pläne waren nicht wirklich weltbewegend. Aber für Susanne, die den Sinn des Lebens darin sah, ein Leben im Überfluss zu führen …

Ich hatte das Gegenteil im Sinn. Der Verzicht auf so viel wie möglich würde von nun an mein Ziel sein.

Kapitel 2

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Zusammengekauert in der kalten Nachtluft konnte ich nicht mehr weinen, obwohl ich es wollte. Gerne hätte ich den Schmerz aus mir herausfließen lassen, doch stattdessen klumpte er sich wie ein Stein in meinem Magen zusammen.

Ich versuchte, mich an Larrys Gesicht zu erinnern. Nein, ich wollte nicht das wächserne, leblose Gesicht vor Augen haben, das ich zuletzt im Sarg gesehen hatte. Wie hatte er mich immer angesehen, wenn er mir sein Gesicht zuwandte, das Kinn leicht hob und lächelte? Er hatte diesen Ausdruck des Staunens und der Freude nie verloren, der mir immer das Gefühl gab, er würde mich zum ersten Mal sehen und das, was er da sah, würde ihm gefallen.

Wie lange war es her, seit er zuletzt so geschaut hatte? Seit etwa achtzehn Monaten hatte er seinen Kopf nicht mehr heben können, etwa zwölf Monate waren vergangen, seit er seine Augen nicht mehr hatte öffnen können. Nein, an diesen Larry wollte ich jetzt nicht denken.

Ich saß in dem Schaukelstuhl und sehnte mich nach dem Lächeln zurück, mit dem Larry mich an unserem zweiten Hochzeitsfest betrachtet hatte. Einen Monat, nachdem er seine Diagnose bekommen hatte, reisten wir nach Alaska. „Wir müssen fahren, solange ich noch kann“, hatte Larry gesagt. Ich stimmte ihm zu.

An einem Tag fanden wir einen einsamen See, zur Hälfte war er mit Eis überzogen, alles war in frostig blaues Licht gehüllt. Unser zweites Hochzeitsfest fand ohne Gäste statt, es gab keinen Sektempfang und keine besondere Kleidung. Nur eine weiß blühende Schafgarbe hatte er mir ins Haar gesteckt.

Er hatte sich auf die Erde gesetzt und mit dem Rücken gegen einen Felsen gelehnt. Mit einer Handbewegung lud er mich ein, mich neben ihm niederzulassen. Lange Zeit saßen wir schweigend nebeneinander und ließen die weite, blaue Landschaft auf uns wirken. Schließlich berührte er sanft meine Hand und fragte: „Was sollen wir mit meinem restlichen Leben machen?“

Obwohl Jahre einer nur oberflächlich geführten Ehe hinter uns lagen, überfiel es mich in diesem Moment mit Macht. Ich weinte laut und stammelte: „Ich will dich wiederhaben!“

An der Art, wie er seine Augenbraue hob, erkannte ich, dass er mich genau verstand. Wir hatten uns nie verlassen, doch wir hatten die Zweisamkeit aufgegeben. „Ich will mich selbst wiederhaben!“, schluchzte ich weiter. „Früher haben wir über alles geredet, darüber, was wir dachten, was wir gelesen hatten, aber seit Jahren haben wir fast keine Zeit mehr …“

Während die Worte aus mir herausbrachen, kam ich mir vor wie ein rasender Zug, der sich nicht mehr bremsen ließ. Aber es war die Wahrheit. Während unserer Verlobungszeit und in den ersten Monaten unserer Ehe hatten wir unendlich viel Zeit füreinander gehabt. Dann kam Garrett und alles veränderte sich. Larry musste sich um unseren Lebensunterhalt kümmern. Er nahm die Aufgabe ernst und wurde beruflich sehr erfolgreich. Unter seiner Leitung wuchs ConjuTech zu einer großen Firma, Garrett machte seinen Abschluss an der Stanford University und wir bauten unser Haus. Aber es lag Jahrzehnte zurück, dass wir so miteinander geredet hatten wie am Anfang. Nun wurde die Zeit knapp. Andererseits hatte Larry auch nur noch geschäftliche Bücher gelesen und ich verstand nichts von den Dingen, mit denen er sich gedanklich beschäftigte.

Er sah mich mit seinen blauen Augen lange schweigend an. Ich atmete tief durch und fasste meine Gefühle noch einmal zusammen: „Ich will uns wiederhaben.“ Damit hatte ich alles gesagt.

Wie würde er darauf reagieren? Würde er mich mit diesem Geschäftsführerblick mustern, den er sich über die Jahre angewöhnt hatte? Würde er meiner Personalakte eine negative Notiz für ungebührliches Verhalten beifügen? Was kam jetzt?

Dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: Er legte eine Hand vor die Augen und begann zu weinen. „Ich auch!“, schluchzte er. Ich nahm seine andere Hand. „Ich auch“, wiederholte er.

Ich rückte näher, wir legten die Arme umeinander und redeten, bis wir uns wieder in der Tiefe verstanden und keine Worte mehr hatten. Schließlich griff er nach seinem Gehstock und richtete sich langsam auf. Ich sprang auf und half ihm. Wir standen einander gegenüber und wie damals, als er noch ein mit Ketten behängter Hippie gewesen war, pflückte er diese Schafgarbe und steckte sie mir in die Haare. Dann räusperte er sich. Er nahm meine Hand und zog mir den zweikarätigen Diamantring ab, den er mir 17 Jahre zuvor als Zeichen seines beruflichen Erfolges geschenkt hatte. Damals hatte er den silbernen 25-Dollar-Ring abgelöst, den er mir zur Hochzeit geschenkt hatte.

Was wollte er damit zum Ausdruck bringen? Hatte ich etwas falsch verstanden? Er griff in seine Tasche und zog etwas heraus … den alten silbernen Ring!

„Das ist kein Zufall, oder?“, flüsterte ich.

„Bist du einverstanden?“

Ja, das war ich. Ich durfte etwas erleben, was ich nie zu träumen gewagt hatte. Wie oft hatte ich mich nach diesem einfachen Silberring und allem zurückgesehnt, was damit verbunden war. Der Diamantring war immer wie ein Fremdkörper an meiner Hand gewesen. „Ja“, sagte ich und weinte nun wieder. „Ja!“

Dort an jenem eisigen See wiederholten wir unser Versprechen. Unser einziger Zeuge war ein Fisch, der die Wasseroberfläche durchbrach. Wir küssten uns, bis Larry plötzlich losstürmte. Er hastete durch den Wald, so schnell er nur konnte mit seinem Stock, viel schneller, als ich für möglich gehalten hätte. Lachend folgte ich ihm. Was war denn nun schon wieder los? Schließlich erreichten wir die Straße und er hielt das nächste vorbeifahrende Auto an.

Wie konnte es anders sein, der Fahrer war ein Geistlicher! Larry gab ihm unsere Kamera, erklärte dem verdatterten Mann, dass wir gerade geheiratet hätten und fragte ihn, ob er so nett sein könnte, ein Foto von uns zu machen. Überrascht und offensichtlich in Eile machte der Mann nur ein Bild von uns, aber es wurde eine schöne Aufnahme. Ich lachte so natürlich, dass ich hübscher aussah, als ich eigentlich bin, und Larry mit seinem langen, silbergrauen Haar und seinen himmelblauen Augen strahlte in die Kamera.

Ein tolles Foto.

Sanft wiegte ich mich in Susannes Schaukelstuhl hin und her, schwelgte in meiner Erinnerung und lächelte vor mich hin. Ich hätte das Foto vergrößern lassen sollen, dachte ich, ich hätte

Meine Fotos! Entsetzt presste ich die Hand vor den Mund und stöhnte auf. Und dann konnte ich weinen. Dieser Gedanke hatte es geschafft, den tiefen Schmerz an die Oberfläche zu holen.

Kapitel 3

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Es war aber doch nicht unmöglich, dass das eine oder andere Bild noch da war? Vielleicht gab es noch ein paar Ecken, die das Feuer verschont hatte …

Die meisten Fotos bewahrten wir im Wohnzimmer auf, wo wir sie in Kartons archiviert und auf Regalen stehen hatten. Nur einige wenige besonders schöne Fotos hatten wir in die Gästewohnung mitgenommen. An dem Tag, als wir von unserer Reise nach Alaska zurückgekehrt waren, hatten wir dieses Häuschen bezogen. Durch den Umzug wollten wir unser Leben vereinfachen und zu unseren Anfängen zurückkehren. Das Foto aus Alaska hatten wir über unser Bett gehängt.

Ich streckte meine Beine aus und stellte die Füße ins Gras. Dann ging ich auf mein Haus zu. Im matten Licht der Straßenlaterne sah es fast so aus wie immer. Konnte ich nicht einfach hineingehen, mir eine Tasse Tee kochen und meinen Kummer hinunterschlucken? Mein Tee, in meiner Tasse, in meinem Gästehaus? Auf dem Weg zum Haus duckte ich mich unwillkürlich hinter einer Reihe von Susannes Jasminsträuchern, die an Spalieren in die Höhe wuchsen, um mich vor den Blicken aus vorbeifahrenden Autos zu verbergen.

Dann verließ ich den Schatten der Jasminsträucher und ging auf die Straße zu. Der Asphalt war wärmer als der Rasen, auf dem ich bisher gegangen war. Ich trat ein paarmal auf der Stelle, um meine Füße zu trocknen. Dann überquerte ich die Straße.

Kaum hatte ich meine eigene Wiese betreten, als der Hund auf dem Nachbargrundstück zu bellen begann. Erschrocken wich ich zurück, aber der Basset war lauter als ein Nebelhorn.

Mir war klar, was er wollte. Larry hatte ihn durch das Loch im Zaun immer mit Hundesnacks gefüttert. Später, als Larry nicht mehr konnte, musste ich dann die Leckereien durch den Zaun schieben, um Larry eine Freude zu machen. Aber die Hundekekse waren verbrannt, genau wie alles andere auch. Mit seinem Gebell würde der Hund noch die ganze Nachbarschaft aufwecken!

Ich ging durch unser Gartentor, überquerte das Grundstück bis zum Nachbarzaun und hockte mich vor das Loch. „Wagner!“

Er verstummte. Ich hörte das Klimpern seines Halsbandes, während er angerannt kam. „Schau, Wagner, ich bin es nur.“

Ich steckte meine Hand durch das Loch. Er leckte daran und ich streichelte seine Nase. Als ich mich wieder erhob, kratzte er am Zaun, aber er bellte nicht mehr. Ich wandte mich dem Haus zu.

Das rot-weiß-gestreifte Band, das die Polizei um das Gebäude gezogen hatte, verbot mir den Eintritt. Ich versuchte, durch unser Schlafzimmerfenster zu spähen, aber es war viel zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Natürlich, die Scheibe war rußverschmiert, das hätte ich mir denken können.

Als ich wieder zurückgehen wollte, sah ich auf der anderen Seite des Gartens bei der Hortensie etwas Helles im dunklen Gras schimmern. Ich ging an der rot-weißen Absperrung entlang bis zu dem Strauch, bückte mich und hob es auf.

Es war eine Sammelkarte, die in der Mitte geknickt war. Im Dunkeln konnte ich das Bild nicht erkennen, aber es war eine „Magic: The Gathering“-Sammelkarte. Die seltsamsten Erinnerungen sind oft am schnellsten abrufbereit. Kaum hielt ich die Karte in der Hand, fühlte ich mich um 20 Jahre zurückversetzt, als Garrett diese Dinger gesammelt hatte. Ich schnupperte an der Karte, schloss die Augen und hatte den Eindruck, sie rieche immer noch nach den Händen eines kleinen Jungen.

Als ich die Augen wieder öffnete, fiel mein Blick auf weitere Karten, die unter der Hortensie verstreut waren. Wie ich es damals so oft getan hatte, bückte ich mich auch jetzt wieder nach diesen Karten, um sie aufzuheben. Während ich meine Hand nach der letzten Karte ausstreckte, berührte ich etwas Hartes. Es war Garretts Zauberwürfel. Ich schob meinen Arm noch weiter unter den Busch und fand noch mehr von Garretts Spielsachen, die wir in einer Dose auf seiner Kommode aufbewahrt hatten.

Was hat das zu bedeuten? Nun, vermutlich hatten die Feuerwehrleute ein paar Sachen aus dem Haus gebracht. Ich ging zu unserer Bank unter der Gartenlaube, um mich ein wenig auszuruhen.

Brandstiftung.

Jemand hatte unser Haus angezündet. Es war fast zum Lachen. Wie konnte jemand so wütend auf mich sein, ohne dass ich davon wusste? Beim besten Willen, ich konnte mir nicht vorstellen, wer das sein sollte. Ich hatte keine Ahnung. Außerdem war es mir egal. Es machte mir nichts aus, alles zurückzulassen.

Alles, bis auf die Fotos. Sobald es Morgen würde, wollte ich den Feuerwehrmann anrufen und fragen, wann –

Das Gartentor öffnete sich quietschend. Erschrocken duckte ich mich in den Schatten der Laube und hielt den Atem an.

„Charlotte?“

„Susanne!“ Fast schrie ich ihren Namen und versuchte verzweifelt, meine Verlegenheit zu verbergen. „Musst du mich so erschrecken?“

„Was machst du denn hier?“

„Das ist mein Zuhause.“ Die Antwort war nicht besonders tiefsinnig, aber etwas Geistreicheres fiel mir nicht ein.

„Weißt du, wie spät es ist?“

„Woher wusstest du, dass ich hier bin?“

„Carol hat mich angerufen.“

„Ich war’s, Charlotte“, kam eine Stimme von der anderen Seite des Zaunes. „Wagner hat mich geweckt. Ich dachte, vielleicht ist es ein Einbrecher oder … sonst jemand. Ich habe gesehen, wie ein Mann von deinem Haus weggerannt ist, haben sie dir das erzählt?“

„Ja, das weiß ich schon.“

„Denken sie, dass es Brandstiftung war?“

„Könnte sein.“

„Ich wünschte, ich hätte genauer hingesehen. Ich kam gerade mit dem Auto zurück, als ich jemanden um die Ecke rennen sah, ganz kurz, nur eine Sekunde lang. Zuerst dachte ich mir nichts dabei. Aber dann sah ich den Rauch. Der hat bestimmt das Feuer gelegt.“

„Danke, dass du es der Feuerwehr erzählt hast.“

„Geht es dir gut?“

„Es geht, danke, Carol. Tut mir leid, dass du meinetwegen geweckt wurdest.“ Carol ging zurück in ihr Haus und ich redete im Flüsterton weiter. „Was hattest du denn vor, Susanne? Wolltest du den Brandstifter allein stellen?“

„Du warst nicht in deinem Zimmer, Charlotte. Da war mir klar, dass der Hund wegen dir angeschlagen hat. Was machst du hier? Das ist ein Tatort.“

„Ich … ich wollte …“ Hilflos schüttelte ich den Kopf.

„Lass uns gehen. Du hast ja nicht einmal Schuhe an. Außerdem solltest du hier keine Fingerabdrücke hinterlassen!“

„Sehr witzig.“

Ich ließ die Karten und Spielsachen in der Tasche des Bademantels verschwinden und folgte ihr zum Haus.

Dort angekommen, kochte sie Tee. „Du hättest ruhig auch durch die Tür gehen können.“

„Dann hättest du bestimmt versucht, mich aufzuhalten.“

„Komm rein.“ Sie ging mir voraus ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen.

Ich setzte mich neben sie. „Hast du renoviert?“ Das bisher weiße Zimmer war nun Blau gehalten mit einer passenden hellen Ledergarnitur.

Sie beugte sich zu dem Glastisch, griff nach ihrem Laptop und rückte ihn auf ihrem Schoß zurecht. Ich war eigentlich ziemlich müde und falls ich mir jetzt ihren Internetauftritt anschauen sollte … Aber das war nicht ihre Absicht. Sie öffnete eine Datei und da erschien, gleich als Erstes, ein Foto von Larry. Es war eines der schönsten Bilder, die es von ihm gab, ein Porträt, etliche Jahre alt, aus der Zeit, als ConjuTech bekannt wurde. Er hatte überlegt, ob er dieses Bild an die Zeitung schicken sollte, hatte sich dann aber für ein anderes, neutraleres Foto entschieden. Hier auf diesem Bild wirkte er heiter und gelöst, etwas zerzaust, aber sehr attraktiv. Ich hätte damals dieses Bild für die Zeitung genommen.

„Susanne …“ Ich wollte zum Ausdruck bringen, was dieses Bild für mich bedeutete, aber ich brachte kein weiteres Wort heraus. Mühsam kämpfte ich die aufsteigenden Tränen nieder.

Als Nächstes kam ein Bild von Garrett, wie er neben Susannes Tochter Amber stand. Es war ihr erster Kindergartentag.

„Wir haben immer gehofft, sie würden eines Tages heiraten“, sagte Susanne und ließ die folgenden Fotos der Datei über den Bildschirm laufen.

Sie hatte über hundert Bilder; manche kannte ich gar nicht. Bilder von unserer Hochzeit und von Garrett kurz nach der Geburt. Für mich waren diese Bilder wie ein Wunder. Doch das Beste kam zuletzt: Da waren wir, Larry und ich, strahlend und glücklich. Er trug das blaue Flanellhemd, ich hatte die Schafgarbe im Haar, hinter uns funkelte der See in Alaska.

Ich strich mir die Tränen aus dem Gesicht: „Genau das habe ich vorhin gesucht!“

„Ich hatte eigentlich vor, die ganze Sammlung noch grafisch aufzuarbeiten, aber …“

„Das ist nicht nötig.“

Sie drückte eine Taste, um die CD aus dem Computer zu entnehmen und reichte sie mir.

„Susanne?“

„Was ist?“

Ich öffnete den Bademantel und zeigte ihr den Riss in ihrem Nachthemd. „Mir ist aus Versehen …“

„Charlotte“, unterbrach sie mich, „das macht doch nichts. Geh jetzt schlafen.“

Ich umarmte sie und dankte ihr noch einmal. Dann ging ich in Ambers Zimmer und schloss die Tür. Die CD mit den Fotos legte ich mitten auf die Anrichte, dann arrangierte ich Garretts Sammelkarten und Spielsachen sorgfältig darum herum. Doch kurz darauf überlegte ich es mir anders, nahm Garretts Schätze und vergrub sie tief in meiner Handtasche.

Als ich im Bett lag, flüsterte ich wieder die gleichen Worte: „Alles wird gut sein und alles wird gut sein und aller Art Dinge wird gut sein.“

Kapitel 4

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Mich weckte eine Musik, die mir wie ein akustisches Abführmittel erschien, ein wirres Durcheinander von technischen Klängen, Windspielen und dem Geblubber von in Wallung versetzten Verdauungssäften – eine absolut grausame Geräuschkulisse, wie ich sie lange nicht mehr gehört hatte.

Jetzt dröhnte diese Musik über mir so laut, dass das Regal klappernd gegen die Wand stieß. Eine gespenstische Stimme begann nun, zwischen den Klängen zu wispern. Ich drehte mich auf den Rücken und suchte mit den Augen nach den Lautsprechern. Endlich entdeckte ich sie, ganz oben an der Decke, blau gestrichen, im gleichen Ton wie die Wände. Sie waren fast genau über meinem Kopf.

„Susanne!“ Ich konnte meine eigene Stimme kaum hören.

Schnell warf ich mir den geliehenen Bademantel über, presste die Hände über die Ohren und floh aus dem Zimmer. Im Flur war es nicht ganz so laut. Erleichtert schloss ich die Tür zu Ambers Raum. Dennoch vibrierte das ganze Haus von der Musik. Gleichzeitig verkündete der Fernseher dem leeren Wohnzimmer lautstark die Morgennachrichten. Ich schaltete ihn ab. „Susanne!“

Sie kam aus ihrem Schlafzimmer und wickelte sich ein Handtuch um die Haare. „Was ist denn?“

„Wo ist der Schalter in Ambers Zimmer?“

„Was für ein Schalter?“

„Für die Musik!“ Ich ging voraus, sie folgte mir. Die Türklinke vibrierte von dem Lärm, als ich das Zimmer öffnete.

„Oh!“ Sie ging durch den Raum, griff hinter den Schreibtisch und die Musik war aus, zumindest in diesem Zimmer. „Keine Ahnung, wie das passiert ist.“ Sie rückte ihren Handtuchturban zurecht. „Aber jetzt ist alles wieder gut. Hör auf, die Hände zu ringen!“

Ich versteckte meine Hände in den Taschen.

„Aber es ist doch sehr schöne Musik, findest du nicht auch?“

„Na ja, sie ist … interessant.“

„In der Musik sind unterschwellige Botschaften enthalten, die nach neuesten wissenschaftlichen Standards zusammengestellt wurden, um sich selbstbewusster und kompetenter zu fühlen. Merkst du schon etwas?“

„Nicht wirklich.“

„Stell dir vor, seit ich diese Musik höre, habe ich schon zwei Häuser verkauft. Komm, beeil dich, dann können wir zusammen frühstücken.“

Ich folgte ihr zur Küche, die ganz verändert aussah: hellbraun gestrichene Wände und Fliesen aus Granit. „Hast du das Haus komplett renovieren lassen?“

„Nur die Räume, die Jack benutzt hat.“

„Wie spät ist es?“

„Sechs Uhr. Ich muss früh zur Arbeit. Das Telefon hat heute Morgen schon pausenlos geklingelt. Hoffentlich hat es dich nicht gestört. Magst du Haferflocken?“

Ich wusste schon, was ich darauf antworten musste – sie erwartete ein Ja. „Was ist heute Morgen los bei dir im Büro?“

„Es gibt ein Problem mit dem Feng-Shui“, erklärte sie, während sie die Haferflocken mit Milch übergoss.

„Feng-Shui?“

Ihr Handy ertönte – als Klingelton hatte sie die Ouvertüre 1812 von Tschaikowski, die mit Glocken und Kanonen den Sieg Russlands in den Napoleonischen Kriegen von 1812 feierte. Sie zog das Handy aus ihrer Tasche und klappte es auf.

„Hallo?“ Gleichzeitig griff sie nach einem Löffel und begann, meine Haferflocken umzurühren. „Das ist nicht Ihr Ernst! Er will wirklich nicht unterschreiben?“ Susanne begann, unruhig auf und ab zu gehen. „Nun ja, wir haben noch den ganzen Nachmittag, um ihn umzustimmen. Halten Sie ihn ein paar Stunden hin. Rufen Sie auch Moretti an und sagen Sie ihm, dass ich ihn heute Nachmittag sehen will. Nein, Augenblick. Um fünfzehn Uhr habe ich einen Besichtigungstermin. Versuchen Sie, ihn für elf Uhr zu bestellen. Bis dann.“ Sie klappte das Handy zusammen und ließ es in ihre Tasche gleiten. Dann wandte sie sich wieder den Haferflocken zu.

„Du musst los“, sagte ich.

„Nein, ich habe noch …“, sie schaute auf ihre Uhr, „zehn Minuten. Mein Assistent hat einen Käufer für das Haus, aber der kommt aus Taiwan und unterschreibt nicht, solange dieser Blumenkübel aus Beton gegenüber dem hinteren Ausgang steht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er meint, das würde Unglück bringen. Aber der Verkäufer hält das Ganze für Aberglauben und würde lieber den ganzen Handel platzen lassen, als nachzugeben.“

Ich nickte.

„Aber ich werde schon mit diesen Typen fertig werden.“ Susanne setzte sich kerzengerade hin und atmete tief durch. „Selbstbewusst und kompetent.“ Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. „Du hältst dich an dieser Schale fest, als wäre sie dein Rettungsring oder sowas. Entspann’ dich doch mal!“

„Susanne, heute ist mein erster Tag als Witwe. Gib mir wenigstens noch einen Tag, um mich daran zu gewöhnen.“

„Meinetwegen, ich will großzügig sein, du bekommst zwei Tage. Aber dann machen wir uns an die Arbeit, suchen dir eine neue Wohnung und einen Job.“

„Einen Job?“

„Ich weiß, dass du nicht auf das Geld angewiesen bist. Aber du brauchst etwas zu tun. Du hast die letzten sechs Jahre mit Larry wie eine Gefangene verbracht, ihr wart da drüben doch wie eingesperrt. Es wird Zeit, dass du dich wieder unter die Lebenden begibst.“

Mein Löffel sank in die Schale. „Larry war lebendig, Susanne. Die ganze Zeit, solange ich bei ihm war.“

Ihr Telefon klingelte erneut und sie angelte es wieder aus ihrer Tasche. „Was?“ Sie schüttete den Rest ihres Frühstücks weg. „Gut. Wann will er, dass wir uns treffen? Nein, das ist zu früh. Ich brauche noch Zeit …“ Sie kaute auf ihrem künstlichen Daumennagel, steckte den Kopf ins Wohnzimmer, stellte fest, dass der Fernseher nicht lief und sprach weiter: „Nun, was sagen denn die Verkehrsnachrichten?“ Für einen Moment lehnte sie den Kopf gegen den Türrahmen. „Wenn das so ist, dann nehme ich den Bus. Bis dann.“

Wieder klappte sie das Telefon zu und nahm den Faden genau an der Stelle auf, an der wir unterbrochen worden waren. „Ich weiß, dass Larry lebendig war, Charlotte. Aber willst du nicht trotzdem in Zukunft etwas Sinnvolles tun?“

„Nein. Doch. Das heißt, ich will keinen Job. Ich habe etwas anderes vor.“

„In der Kirche haben sie eine ganze Liste von Bereichen ausgehängt, in denen ehrenamtliche Mitarbeiter gesucht werden.“

„Nein, das meine ich nicht.“

„Was dann?“

„Du hast jetzt nicht genug Zeit für die Geschichte.“

„Wie lange dauert sie denn?“

„Ich habe einen Plan, Susanne. Später, wenn du Zeit hast, setzen wir uns zusammen und dann …“

„Es ist besser, du sagst es mir jetzt gleich.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde in mein Häuschen in den Bergen ziehen.“

„Aha.“ Sie zuckte mit den Schultern und nahm zwei Tassen aus dem Schrank. „Das geht natürlich auch. Aber dann brauchst du trotzdem eine Bleibe, bis das Haus dort oben gebaut ist. Das wird ein paar Monate dauern.“ Sie reichte mir Kaffee. „Also wirst du zwei Häuser gleichzeitig bauen, denn du hast ja hier unten auch noch das abgebrannte. Mutest du dir damit nicht zu viel auf einmal zu? Willst du das wirklich?“

„Nein, ich werde gar nichts bauen.“

„Wie meinst du das? Du musst doch zumindest das hier wieder aufbauen.“

„Kannst du dich an den Mann erinnern, der vor zwei Jahren hier war, weil er mein Haus kaufen wollte? Damals wollte ich nicht verkaufen.“

„Ich erinnere mich, aber den Namen habe ich vergessen.“

„Er hieß Steve Travalla. Ich habe seine Visitenkarte immer noch in meiner Handtasche. Du kannst sie haben. Ich möchte, dass du ihn anrufst und ihm mein Grundstück anbietest.“

„Du meinst dein Grundstück in den Bergen?“

„Nein, in den Bergen werde ich wohnen. Das sagte ich doch gerade. Das hier unten werde ich verkaufen. Er wollte hier bauen, dafür hätte er mein Haus sowieso abgerissen.“

„Charlotte, nein, du kannst jetzt nicht verkaufen. Ohne Haus bekommst du doch viel zu wenig Geld für dein Grundstück …“

„Das ist mir egal.“ Meine Finger schlossen sich fester um die Tasse. „Der Preis ist mir nicht wichtig.“

„Gut, Geld ist dir also nicht wichtig.“ Sie sah auf die Uhr. „Wir reden in meinem Zimmer weiter, dann kann ich mich nebenbei anziehen.“ Noch ehe sie den Satz beendet hatte, war sie schon fast dort. Ich folgte ihr.

Das Bett war mit Akten und Dokumenten übersät. „Hast du denn gar nicht geschlafen?“, fragte ich.

„Schlaf wird überbewertet.“ Sie ging zu ihrem begehbaren Kleiderschrank und schaltete das Licht ein. Ich setzte mich auf einen Sessel am Fenster. „Gut, du brauchst aber ein Haus in den Bergen“, erklang es aus dem Schrank, „es sei denn, du willst dort zelten.“

„Ich brauche kein Zelt, ich besitze ein kleines Häuschen.“

Sie stand in der Schranktür und knöpfte sich die Bluse zu. „Was denn für ein Häuschen?“

„Es liegt auf halber Strecke zum Gipfel. Kannst du dich nicht daran erinnern? Hohlblocksteine aus Schlackenbeton.“

„Diese Hütte? Das kann nicht dein Ernst sein.“

Ich lächelte.

„Dort kannst du nicht wohnen! Das hat ja nicht mal einen Fußboden.“

Ich presste meine Hände gegeneinander. „Doch, hat es.“

„Du bist verrückt.“ Sie sah mir in die Augen und knabberte heftig an ihrem Daumennagel. „Wollte Larry, dass du in einem Schuppen wohnst?“

„Larry verstand meine geistliche Sehnsucht.“

„Geistliche Sehnsucht?“ Sie verdrehte ihre Augen. „Meinetwegen auch das. Aber deshalb musst du doch nicht …“

„Du hast einfach nicht genug Zeit, um dir das jetzt erklären zu lassen.“

Sie sah auf ihre Uhr. „Kannst du mir nicht die Kurzfassung geben?“ Nun nahm sie das Handtuch vom Kopf und zupfte ihre Haare in Form.

Ich spürte, wie ein Schweißtropfen aus meiner Achselhöhle abwärts rann. Mit abgewandtem Gesicht versuchte ich, gleichmäßig zu atmen.

„Leg los.“ Sie sah wieder auf die Uhr.

„Ich hatte eine Vision.“

„Wie bitte? Was hattest du?“

„Eine Vision. Genaugenommen waren es drei.“

Ich hörte etwas splittern. Susanne fluchte. Ihr künstlicher Daumennagel war komplett abgebrochen, das Bruchstück lag vor ihren Füßen. Sie griff nach dem Handy, das erneut klingelte. „Cammie, was ist los?“ Während sie telefonierte, bückte sie sich nach dem Nagel. „Selbst schuld, wenn er eine halbe Stunde zu früh kommt. Wie kommt er dazu – sag ihm, ich bin unterwegs, aber es ist viel Verkehr und ich komme etwas später.“ Sie klappte das Telefon zu.

„Es gibt keine Zusammenfassung der Geschichte, Susi. Außerdem musst du jetzt los.“

„Warte mal.“ Sie massierte sich die Schläfen. „Du hast … Visionen? Während du da drüben gewohnt hast, hattest du Visionen und die Stimmen sagten dir, du sollst in einer Hütte leben?!“

„Nein, ich war achtzehn, als ich die letzte Vision hatte und keiner hat mir gesagt …“

„Charlotte, hör auf!“ Sie holte Luft und formulierte die nächste Frage langsam, als hätte sie es mit einem Kind mit Lernschwäche zu tun: „Wie passt das alles mit Garrett zusammen?“

„Garrett? Ich weiß nicht, wo Garrett ist.“

„Genau.“

„Er ist erwachsen …“

„… und hat möglicherweise gestern dein Haus angezündet.“

Eine Ohrfeige hätte mich weniger schmerzlich getroffen. „Wie bitte?“ Ich bekam keine Luft mehr.