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»Wie weiter mit …?«

Unter dieser Fragestellung werden die Werke von acht der wichtigsten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts einer »Aktualitätsprüfung« unterzogen. Können, sollen, müssen wir deren Blick auf soziale Phänomene heute noch teilen?

Das Hamburger Institut für Sozialforschung lud 2007 im Rahmen einer Vortragsreihe namhafte deutsche Wissenschafter ein, Werke von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Émile Durkheim, Michel Foucault, Sigmund Freud, Niklas Luhmann, Karl Marx und Max Weber neu und wieder zu lesen. Die so entstandenen Texte nehmen vernachlässigte Denkansätze in den Fokus, bieten unverhoffte Neuinterpretationen und ermöglichen eine anregende Wiederbelebung mit dem sozialwissenschaftlichen Kanon.

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.)

Wie weiter mit …?

Theodor W. Adorno | Wolfgang Bonß

Hannah Arendt | Rahel Jaeggi

Émile Durkheim | Matthias Koenig

Michel Foucault | Philipp Sarasin

Sigmund Freud | Jan Philipp Reemtsma

Niklas Luhmann | Armin Nasehi

Karl Marx | Heinz Bude

Max Weber | Ulrich Bielefeld

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-698-9
Fotos:
Adorno: Jjshapiro at en.wikipedia via Wikimedia
Commons; Arendt: akg-images / picture-alliance /
Fred Stein; Durkheim: Bridgeman Images; Freud,
Marx, Weber: Wikimedia Commons; Foucault:
ullstein bild – Roger-Viollet / Bruno de Monès;
Luhmann: Universität Bielefeld

© 2008 by Hamburger Edition,
Gestaltung: Jan Enns/Wilfried Gandras

Wolfgang Bonß

Wie weiter mit
Theodor W. Adorno?

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Die Frage »Wie weiter mit Adorno?« ist weder einheitlich noch eindeutig zu beantworten – dagegen spricht schon die Breite des Adornoschen Werkes, aber auch die Vielfalt der Rezeptionsgeschichte. Denn Theodor Wiesengrund Adorno, geboren 1903 in Frankfurt und 1969 während eines Urlaubs in der Schweiz verstorben, war nicht nur Philosoph und Soziologe. Er arbeitete ebenso als Musiktheoretiker und Komponist und war auf allen Gebieten höchst produktiv. Sein publiziertes Werk umfasst bislang 20 Bände mit mehr als 10000 Druckseiten. Hinzu kommt ein Nachlass, der noch einmal auf 16 Bände veranschlagt wird und sich ebenfalls auf die gesamte Bandbreite der Kultur- und Sozialwissenschaften bezieht. Dass man diesem beeindruckenden Werk im Rahmen eines Essays nicht gerecht werden kann, versteht sich von selbst. Aber mit dieser eingrenzenden Fragestellung tritt uns Adorno glücklicherweise nicht in seiner vollen Breite entgegen. Er interessiert vielmehr in einer eingeschränkten Perspektive, nämlich allein und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner gesellschaftstheoretischen Aktualität.

Was also bleibt von Adorno als Soziologe und Gesellschaftstheoretiker? Aus der Fokussierung auf die Aspekte Soziologie und Gesellschaftstheorie ergeben sich zwangsläufig Selektivitäten. So werde ich Adorno weniger als Philosoph und Musiktheoretiker behandeln. Zwar sind diese Aspekte für seine soziologisch-gesellschaftstheoretischen Überlegungen durchaus von Bedeutung, aber sie stehen dort nicht im Zentrum und sind nur insofern zu berücksichtigen, als sie zur Beantwortung der folgenden Fragen beitragen: Inwiefern sind Adornos Thesen zu den Formen und Möglichkeiten sozialwissenschaftlicher Erkenntnisbildung, zur Charakterisierung der modernen Gesellschaft sowie zur »Dialektik der Aufklärung« noch aktuell? Wo und wie werden diese Thesen in den heutigen Diskussionen aufgegriffen? Wo bieten sich darüber hinaus in theoretischer Hinsicht Anknüpfungspunkte, und welche Rolle können seine Argumentationen unter den Bedingungen einer globalisierten Moderne überhaupt spielen?

Fragen dieser Art sind nicht neu, sondern werden seit längerem gestellt, so in dem von Georg Kohler und Stefan Müller-Dohm herausgegebenen Sammelband »Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts«. Vor fünf Jahren gab es sogar eine wahre Publikationsflut zum Thema. Anlass war der 100. Geburtstag des »Meisters«. Laut Gustav Auernheimer hat dieser Gedenktag mehr publizistische Wellen geschlagen als der 250. Geburtstag Goethes 1999 oder der 100. Todestag Nietzsches im Jahre 2000.1 Die Feuilletons der großen Tageszeitungen veröffentlichten etliche Artikel zu Adornos Leben und Werk und zugleich erschienen drei mehr oder weniger abschließende Biographien von Detlev Claussen, Stefan Müller-Dohm und Lorenz Jäger.2 Und schließlich fanden allein im deutschsprachigen Raum mindestens fünf Tagungen von überregionaler Bedeutung – zwei in Frankfurt am Main, eine in Freiburg, eine in Bremen und eine (nach wie vor unpublizierte) in Salzburg statt. Allerdings waren diese Tagungen keineswegs ergänzend – im Gegenteil. Sie nahmen sich wechselseitig zum Teil gar nicht wahr und zielten auch nicht unbedingt auf die Rekonstruktion eines übergreifenden Adorno-Bildes, sondern feierten jeweils »ihren« Adorno (oder auch nur sich selbst). Dass dies nicht unbedingt die beste Voraussetzung für eine Reaktualisierung Adornos war, ist naheliegend. Im Nachhinein werden die Folgen der Jubiläumsfeiern auch eher skeptisch beurteilt. So schreibt Georg Auernheimer: »Fast entsteht der Eindruck, dass mit der Feier von Adornos Geburtstag die Aktualität seiner Theorie symbolisch erledigt werden soll.«3 Ähnlich argumentiert Axel Honneth, wenn er feststellt: »Theodor W. Adorno [...] wurde anlässlich seines 100. Geburtstags zum kollektiven Über-Ich der Nation erhoben« – allerdings »um den Preis der beinahe vollständigen Ignorierung seines theoretischen Ichs«.4 Oder anders ausgedrückt: Adornos Gedanken werden qua Musealisierung zum Verschwinden gebracht, wobei er weder der Erste noch der Einzige ist, dem so etwas widerfährt; Karl Marx beispielsweise wird in ähnlicher Weise zitiert und zugleich vergessen, und vielleicht ist es ja auch eine durchaus typische Strategie, die nach wie vor aktuell, aber »irgendwie« auch veraltet zu sein scheint.

Gleichwohl ist die Geschwindigkeit des Bedeutungsverlusts im Falle Adornos bemerkenswert. Obwohl er zum Zeitpunkt seines Todes der wohl wichtigste und einflussreichste Vertreter der Kritischen Theorie seiner Generation war, spielte er wenige Jahre später jenseits des Feuilletons kaum noch eine Rolle. Dies war in mancher Hinsicht den Spezifika des Wissenschaftssystems geschuldet und hatte in diesem Sinn auch wissenschaftsorganisatorische Gründe. So arbeiteten die Schüler Adornos oft außerhalb des etablierten Wissenschaftsbetriebs. Ihre akademischen Netzwerke waren vergleichsweise schwach entwickelt, und vor diesem Hintergrund wurde Adornos theoretisches Erbe in mancher Hinsicht regelrecht verschleudert. Schon die Wiederbesetzung seines Lehrstuhls erfolgte beispielsweise in einer ganz anderen Tradition (und letztlich unter Wert). Darüber hinaus verloren seine Argumentationen ungeachtet seiner Stilisierung zu einem »Klassiker« auch deshalb an Bedeutung, weil weder Adorno noch die meisten seiner Schüler gesteigerten Wert darauf legten, ihre eigenen Gedanken in andere sozialwissenschaftliche Sprachspiele zu übersetzen; als Ausnahme ist hier allein Jürgen Habermas zu nennen, der aber genau deshalb von manchen Erben in Hannover, Lüneburg und anderswo zur Persona non grata erklärt wurde.

Aber es sind nicht nur wissenschaftsorganisatorische Gründe, die Adorno eher an den Rand, wenn nicht darüber hinaus gedrängt haben. Es liegt auch an der Spezifik eines Denkens, das quer zu den sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen stand und sich selbst als unabschließbar begriff. So schrieb Adorno in der »Negativen Dialektik«: Philosophie, so wie er sie betreibe, sei »wesentlich nicht referierbar«.5 Sie lässt sich nicht in klaren Merksätzen, möglichst noch in nomologisch-deduktiver Form, zusammenfassen. Dies aus gutem Grund: Denn wäre sie »referierbar«, dann würde sie nur Bekanntes wiederholen und nichts Neues mehr aufdecken. Es geht Adorno jedoch genau darum, scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage, in andere Kontexte zu stellen und irritierende Lesarten zu formulieren. Genau diese Orientierung macht Adorno schwierig und spannend zugleich. Seine Texte sind nur selten unmittelbar einleuchtend und wirken auch keineswegs zu allen Zeiten. So erklärt Michael Rutschky in einer Rezension zur Neuausgabe der »Minima Moralia« die ungeheure Wirkung dieser Texte insbesondere auf die Generation der Studentenbewegung aus der »unendlichen Traurigkeit« dieser »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« – so der Untertitel der »Minima Moralia«. Das Lebensgefühl, das Adorno als 40-Jähriger in den USA zum Ausdruck brachte, war damals das eines Außenseiters; 20 Jahre später passte es überraschend genau zur Lebenswelt der 20- bis 30-Jährigen in einer Gesellschaft des »Wirtschaftswunders«, die anscheinend unendliche Möglichkeiten bereithielt, aber mit ihren schnellen Wechseln auch Unbehagen, Unsicherheit und weitergehende Kritik hervorrief.

Vor diesem Hintergrund hat Heinz Bude vorgeschlagen, nicht nur Adorno, sondern die gesamte Kritische Theorie als »Bewusstseinsstoff für soziale Aufsteiger« zu lesen, die durch ihren eigenen Aufstieg überrascht und verunsichert waren. Diese These mag zum Teil erklären, warum Adorno in den 1970er Jahren für bestimmte Rezipientengruppen immer weniger als Leitfigur dienen konnte. Denn mit der Ölkrise 1973 kam die Wachstumskrise, das Ende des Traums von den unendlichen Möglichkeiten, und mit der Rückkehr der Arbeitslosigkeit als »Normalerfahrung« wurde der Typus des sozialen Aufsteigers zu einer Minderheit. Aber mit ihrer rezeptionsästhetischen Akzentuierung der Generationenspezifik greifen die Beschreibungen von Bude wie Rutschky gleichwohl zu kurz. Denn hieraus lässt sich der Hype um Adorno zum 100. Geburtstag im Jahre 2003 kaum erklären, und erst recht liefert diese Deutung keine Antwort auf die uns interessierende Frage: Wie weiter mit Adorno? – und zwar, wie gesagt, unter soziologischen und gesellschaftstheoretischen Perspektiven.

Um hierauf eine zumindest vorläufige Antwort geben zu können, möchte ich im Folgenden auf zwei Aspekte des Adornoschen Werks eingehen, die für eine gesellschaftstheoretische Aktualisierung von Bedeutung sind: Zum einen auf seinen spezifisch »modernen« methodologischen Ansatz, wie er ihn erstmals in der Vorlesung »Zur Aktualität der Philosophie« im Jahre 1931 entwickelte. Zum zweiten auf Adornos Konzept der Gesellschaft und auf die damit verknüpfte Frage nach den Grenzen sowohl der vollständigen Integration als auch der »Individualisierung« – ein Stichwort, das von Adorno zwar kaum verwandt wurde, das aber heute zu einem Schlüsselbegriff gesellschaftstheoretischer Reflexion avanciert ist.

Spuren, Splitter, Trümmer – Konstellation und Fragment als Grundlage gesellschaftstheoretischer Reflexion

Im Jahr 1931 wurden in Frankfurt gleich zwei akademische Vorträge zur Frage der Weiterentwicklung »kritischer« Gesellschaftsanalyse gehalten, die beide auch mehr als ein Dreivierteljahrhundert später nicht in Vergessenheit geraten sind. Den Anfang machte Max Horkheimer, der im Frühjahr 1931 seine Antrittsrede über »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung« zur Übernahme des Direktorats am Frankfurter Institut für Sozialforschung hielt. Wenige Monate später lud Theodor W. Adorno zu seiner Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Universität Frankfurt ein. Adorno sprach über »Die Aktualität der Philosophie«; unter dieser Überschrift entfaltete er im Prinzip eine Art Gegenentwurf zum Horkheimerschen Programm. Dieser fand jenseits der Öffentlichkeit der philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt zwar zunächst keine große Beachtung, dies änderte sich jedoch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, in der er das Selbstverständnis der Kritischen Theorie gleichsam schleichend unterwanderte und zunehmend bestimmte.

Zwar kreisten beide Vorträge um die Frage der Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaftstheorie, gleichwohl wurde die gesellschaftliche Situation selbst in ihnen nur indirekt thematisch. Denn sowohl Horkheimer als auch Adorno sprachen zunächst und vor allem über die Situation der Erkenntnisbildung; sie argumentierten in erster Linie erkenntnistheoretisch. Allerdings wurde Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie verstanden und die Lage der Wissenschaft in unmittelbarer Parallelität zur Lage der Gesellschaft gesehen. Erkenntnisfortschritt und gesellschaftliche Entwicklung erschienen dementsprechend einander wechselseitig bedingend, und hier wie dort konstatierten Horkheimer und Adorno eine prinzipiell krisenhafte Situation. Denn sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft zeigte sich eine widersprüchliche Mixtur von »vorwärts strebenden« und retardierenden Momenten, deren weitere Entwicklung offen erschien und positiv wie negativ gedacht werden konnte.

Bei Horkheimer liest sich das so: »Die wissenschaftlichen Erkenntnisse teilen das Schicksal der Produktivkräfte und Produktionsmittel anderer Art: Das Maß ihrer Anwendung steht in fürchterlichem Mißverhältnis zu ihrer hohen Entwicklungsstufe und zu den wirklichen Bedürfnissen des Menschen; dadurch wird auch ihre weitere quantitative und qualitative Entwicklung gehemmt.«6 Der von Marx beschriebene Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen schlägt sich in den Sozialwissenschaften für Horkheimer in der Trennung von totalitätsbezogener Philosophie und einzelwissenschaftlicher Forschung nieder, und genau hier sah Horkheimer auch das entscheidende Problem. Zwar werden die einzelwissenschaftlichen Analysen in den Sozial- wie in den Naturwissenschaften immer präziser, aber die positivistische Detailforschung, so seine These, verliert das übergreifende Ganze aus dem Blick. Umgekehrt verkommt die Philosophie, sofern sie sich von der einzelwissenschaftlichen Forschung abkoppelt, nicht selten zu einer haltlosen Metaphysik. Aus dieser Krisendiagnose ergab sich fast zwangsläufig eine spezifische Lösung. Die anvisierte kritische Theorie der Gesamtgesellschaft war für Horkheimer weniger ein methodologisches als ein wissenschaftsorganisatorisches Problem; sie schien für ihn in genau dem Maße realisierbar, wie es gelang, die prekäre Trennung von Philosophie und Wissenschaft zu überwinden, bzw. genauer: allgemeine Sozialphilosophie und einzelwissenschaftliche Sozialforschung arbeitsteilig zu vereinen und prozessual zu verknüpfen.

Von dieser Variante Kritischer Theorie, die für das Frankfurter Institut in der ersten Hälfte der 1930er Jahre leitend war, hielt Adorno zeitlebens nicht sehr viel. Für ihn stand auch als Soziologe stets die Philosophie im Vordergrund, und statt einer wissenschaftsorganisatorischen Lösung plädierte er von Anfang an für eine andere Methodologie. Diese Akzentsetzung prägt schon die einleitenden Worte seiner Antrittsvorlesung, die eine scharfe Kritik am gesellschaftlichen Irrationalismus mit der Absage an die konventionellen Formen philosophisch-systematischen Denkens verbindet: »Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anfang an auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: Daß es möglich sei, in der Kraft des Denkens die Totalität der Wirklichkeit zu ergreifen. Keine rechtfertigende Vernunft könnte sich selbst in einer Wirklichkeit wiederfinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt; allein polemisch bietet sie dem Erkennenden als ganze Wirklichkeit sich dar, während sie nur in Spuren und Trümmern die Hoffnung gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten.«7

Mit dieser Absage an die großen philosophischen Systeme in der Tradition von Kant und Hegel stand Adorno keineswegs allein. Sein späterer Gegner im Positivismusstreit, Karl Raimund Popper, sprach 1934 in der Erstausgabe seiner »Logik der Forschung« ebenfalls von einem unwiderruflichen Ende der philosophischen Systementwürfe des 19. Jahrhunderts. Allerdings begründete Popper dies wissenschafts- und nicht gesellschaftstheoretisch. Für Adorno hingegen – und hier traf er sich mit Horkheimer – stand die gesellschaftstheoretische Begründung im Vordergrund. Das Etikett der Gesellschaftstheorie (und dies war für die kritischen Intellektuellen der Weimarer Republik schon fast eine Selbstverständlichkeit) wurde weiterführend mit materialistischer bzw. marxistischer Theorie gleichgesetzt. Ähnlich wie Alfred Sohn-Rethel ging Adorno von einer Parallelität von »Warenform und Denkform« aus. Die Krise des (sozial-)philosophischen Denkens zu Beginn des 20. Jahrhunderts war für ihn dementsprechend eine notwendige Konsequenz aus der Universalisierung von Warenform und Kapitalismus. In dem Maße, wie alles zur Ware wird, deutet sich nicht nur eine neue Epoche der Entfremdung an, sondern es verändern sich auch die Denkformen, die nicht mehr an der systematischen Rekonstruktion »absoluter« Wahrheiten orientiert sein können, sondern die Wahrheitssuche anders konzeptualisieren und betreiben müssen.

Indirekt und eher unfreiwillig war dieser Strukturwandel bereits von Marx selbst angedeutet worden. Zwar glaubte Marx die »endgültigen« Bewegungsgesetze gesellschaftlicher Entwicklung entdeckt zu haben, und er ging davon aus, dass Letztere durch den weiteren wissenschaftlichen Fortschritt eher präzisiert als widerlegt werden würden. Auf der anderen Seite schrieb er schon im »Kommunistischen Manifest«, dass die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft »die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung [bedeutet]. [...] Alle festen eingerosteten Verhältnisse [...] werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.«8

Geht man mit Adorno (und letztlich gegen Marx) davon aus, dass diese Feststellung auch für die Erkenntnisbildung gilt und folgenreich ist, so heißt dies, dass es gerade unter den Bedingungen einer durchgesetzten bürgerlichen Gesellschaft keine überdauernd-endgültigen Erkenntnisse mehr gibt und geben kann. Vielmehr sind »die Bilder unseres Lebens nur noch durch Geschichte verbürgt«.9 Dies bedeutet für Adorno keineswegs eine Absage an die Möglichkeit »wahrer« Erkenntnisse. Aber wenn »die Bilder unseres Lebens nur noch durch Geschichte verbürgt sind«, dann verändern sich die Bedingungen der Möglichkeit der Produktion »wahrer« Erkenntnisse entscheidend.

Sofern durch die Universalisierung von Warenform und Kapitalismus die Möglichkeiten zur positiven Gestaltung von Gesellschaft und Geschichte schwinden, ist zunächst festzuhalten, dass der emphatische Anspruch der Aufklärung, wie er von Kant formuliert wurde, für Adorno verfällt und sich zunehmend in sein Gegenteil verkehrt; es kommt zu dem, was später als »Dialektik der Aufklärung«10 beschrieben werden sollte. Unter den Bedingungen der »Dialektik der Aufklärung« lassen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr als Resultat subjektiv-vernünftigen Handelns begreifen; stattdessen treten sie als ein dem Subjekt äußerlicher, quasi naturhafter Zwang in den Blick, der herrscht, ohne gewollt werden zu können. Genau deshalb ist es auch nicht mehr möglich, »in der Kraft des Denkens die Wirklichkeit zu ergreifen«.11 Denn der Idee der Vernünftigkeit entspricht kein sichtbares Substrat mehr und Wahrheit und Wirklichkeit treten auseinander. Abgelöst von ihren sozialen Trägern und eingebunden in die Entwicklung der Aufklärung zur Unvernunft lässt sich die Totalität des gesellschaftlichen Prozesses nicht mehr als ein »positives« System im Sinne Hegels entfalten. Unter den Bedingungen der »Dialektik der Aufklärung« (die Adorno 1931 eher erahnt als präzise zu benennen vermag) wird diese Form der Rekonstruktion vielmehr selbst ideologieverdächtig – verdeckt sie doch die Spaltung zwischen der positiv beschreibbaren Totalität, die unvernünftig geworden ist, und den Möglichkeiten eines vernünftigen Lebens, auf das es nur »flüchtige, verschwindende Hinweise in den Rätselfiguren des Seienden«12 gibt. Was die Welt ist und was sie sein könnte, scheint allenfalls in Spuren, Splittern und Trümmern auf, und dies bedeutet nichts anderes, als dass auch ihre Analyse nur noch als Spurensicherung verlaufen kann.

Vor diesem Hintergrund (und vorab mancher desillusionierter Verengungen der Nachkriegsjahre) bedeutet »Dialektik der Aufklärung«, dass die Erfahrung des Seienden sich spaltet und die Welt zum »Rätsel« wird. Die Rede von den »Rätselfiguren« bzw. vom »Rätsel«, die bei Adorno in der Antrittsvorlesung von 1931 eine entscheidende Rolle spielt, ist dabei in methodischer wie inhaltlicher Hinsicht aufschlussreich. Denn die Figur des Rätsels steht sowohl für eine spezifische Problemkonstellation als auch für eine spezifische Erkenntnisstrategie. Rätsel im Adornoschen Sinne sind nicht einfach Aufgaben, die allein durch Denken bewältigt werden können. Als verschlüsselte Umschreibungen eines Gegenstandes, einer Person oder eines Vorgangs verweisen sie auf Denkaufgaben, die zur Lösung reizen, aber für deren Lösung es kein Patentrezept gibt. Eine verrätselte Welt ist eine spezifisch strukturierte Welt; sie zeichnet sich nicht durch eindeutige Widersprüche und Gegensätze aus, sondern verweist auf einen undurchsichtig gewordenen, sinnentstellten Zusammenhang, der aber nicht undurchsichtig und unerklärlich bleiben muss.

Zwar kann man darüber streiten, ob die Welt nicht immer ein Rätsel gewesen ist. Gleichwohl nimmt sie für Adorno erst im entwickelten Kapitalismus die Gestalt eines Rätsels an, dessen Erscheinung immer weniger mit seinem Wesen zu tun hat. Erst unter dieser Voraussetzung macht es auch Sinn, Rätsel und »Rätsellösung« als erkenntnistheoretische Strategie einzusetzen. Denn trotz der wachsenden Widersprüche von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen geraten die an der Aufhebung dieses Gegensatzes interessierten Kräfte zunehmend in die Defensive. In ebendiesem Sinne wird die einstige Eindeutigkeit der Klassen- und Interessengegensätze unscharf und scheint abzuflachen. Dies bedeutet keineswegs, dass die seit Marx diagnostizierten Gegensätze und Grenzziehungen tatsächlich verschwinden. Aber in einer verrätselten Welt werden sie verdeckt, überlagert, in den Hintergrund gedrängt und in mancher Hinsicht auch unsichtbar.

Was aber heißt es, Gesellschaftstheorie als »Rätsellösung« zu betreiben? Um hierauf eine Antwort zu erhalten, muss man noch etwas genauer auf das Konzept des Rätsels eingehen, das auch in neueren Diskussionen um Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte eine Rolle spielt. Thomas F. Kuhn beispielsweise charakterisiert die wissenschaftliche Arbeit über weite Strecken ebenfalls als das Lösen von Rätseln.13 Allerdings macht der vergleichende Blick sehr schnell deutlich, dass hier das Bild in einem ganz anderen Sinne verwandt wird. Für Kuhn gehört die Phase des Rätsellösens zur »normalen« Wissenschaft, die über ein unbestrittenes Paradigma und einen hierauf bezogen eindeutigen Problembestand verfügt. Wissenschaftliche Rätsel haben die Gestalt technisch lösbarer Geduldsspiele; sie sind Fleißarbeiten, die für die wissenschaftliche Solidität unverzichtbar sind, aber zu keiner »unerwarteten Neuheit« führen, sondern etwas bestätigen (oder widerlegen), was vorher als theoretische Vermutung bereits bekannt war.

Adorno hingegen operiert mit einem völlig anderen Konzept. Für ihn sind Rätsel keine Geduldsspiele wie Puzzles oder Kreuzworträtsel; sie werden eher wie Sinnsprüche oder Orakel verstanden, deren Auflösung zu »unerwarteten Neuheiten führt« und damit zu dem, was Kuhn als »Paradigmenwechsel« charakterisiert. Ähnlich wie die Deutung von Orakeln ist die rätsellösende Spurensicherung daher nicht im Rahmen der »normalen« Wissenschaft mit ihren erwartbaren Ergebnissen zu verorten. Ihr Ziel ist stattdessen (in der Terminologie Kuhns) die Überwindung von Anomalien und die Neuordnung von einander scheinbar ausschließenden Elementen, die so anzuordnen und miteinander in Beziehung zu setzen sind, dass ein neues, übergreifendes Bild entsteht.

Solche innovativen Rätsellösungen liegen nicht einfach in der Geschichte bereit, sondern sind für Adorno Deutungen, die erst durch die aktive Deutungsarbeit »wahr« werden. Bei derartigen »wahren« Deutungen geht es darum, »Chiffren in einen Text zu verwandeln«,14 »dialektische Bilder als Schrift zu offenbaren«15 und »an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr zu werden«.16 »Wahre« Deutungen (die wir heute eher als »passend« und »überzeugend« kennzeichnen würden) verweisen in diesem Zusammenhang auf Verstehensprozesse, die »vom Menschen hergestellt werden« und sich »bilden, indem die singulären und versprengten Elemente der Frage solange in verschiedene Anordnung gebracht werden, bis sie zu der Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt«.17

In der »Negativen Dialektik« hat Adorno diese Herstellung von Versuchsanordnungen weiterführend mit einem anderen Konzept erläutert, nämlich mit dem (von Walter Benjamin übernommenen) Konzept der »Konstellation«, das er in Anlehnung an den astronomischen Konstellationsbegriff verstand. In der Astronomie bezeichnet Konstellation die gegenseitige Stellung der Gestirne, die sich aufgrund der unterschiedlichen Umlaufbahnen um die Sonne fortwährend verändert. Genau dieses Bild permanenter Bewegung und doppelter Relationierung schwebt Adorno vor, wenn er die deutende Herstellung von Versuchsanordnungen beschreibt als einen Aufbau von Konstellationen, die den Gegenstand in den sich historisch verändernden Konstellationen sichtbar werden lassen: »Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt. [...] Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer sondern eine Nummernkombination.«18

Der Gesellschaftstheoretiker als Panzerknacker, der sein Ohr an den Kassenschrank der Erkenntnis hält und viele Nummernkombinationen ausprobiert – das ist ein gerade für Adorno durchaus bemerkenswertes Bild, das allerdings in mindestens einer Hinsicht schief ist. Denn für den Panzerknacker sind alle nicht passenden Nummernkombinationen umsonst und Zeitverschwendung; für Adorno hingegen sind sie ein notwendiger Schritt, der immer auch etwas über Strukturaspekte des Schlosses bzw. des Gegenstands »Gesellschaft« aussagt. Ob und wann der Kassenschrank der Erkenntnis aufspringt, lässt sich dabei ebenso schwer vorhersagen wie ein Paradigmenwechsel im Sinne Kuhns. Seine Öffnung kann jedoch nur gelingen, wenn der Gegenstand als ein sich verändernd-widersprüchlicher begriffen und in verschiedenen Konstellationen reflektiert wird. Denn die richtige Nummernkombination setzt die Betrachtung verschiedener Konstellationen voraus, die wie ein »Ensemble von Modellanalysen« zusammenzusetzen und in ihrem Verhältnis zueinander »in gewissem Sinne erst zu komponieren«19 sind.

Die Rede vom Komponieren, die für Adorno als Musikwissenschaftler durchaus nahelag, findet sich übrigens auch bei Max Weber, der davon spricht, dass soziologische Begriffe nicht dem Material deduktiv oktroyiert werden dürfen, sondern aus ihren »einzelnen, der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden müssen«.20 In der »Negativen Dialektik« bezieht sich Adorno ausdrücklich auf diese Stelle, und jenseits seiner Kritik am positivistischen Selbstmissverständnis Webers hebt er dessen materiale Analysen auch als ein Beispiel dafür hervor, wie Gegenstände durch Konstellation zu erschließen sind. So seien die zahlreichen Definitionen in »Wirtschaft und Gesellschaft« keine operativ-identifizierenden Kategorien; sie markieren vielmehr »Versuche, durch die Versammlung von Begriffen um den gesuchten zentralen auszudrücken, worauf er geht«.21 Was hierdurch bei Weber entsteht, ist ein Netz von aufeinander verweisenden Begriffen mit idealtypisierendem Charakter, die gemeinsam um einen einzelnen, nämlich den des Kapitalismus kreisen und somit das Zentrum des bürgerlichen Universums gleichermaßen prozessual wie indirekt erschließen.

Dass Adorno zwischen seinem Vorgehen und dem Max Webers trotz aller Kritik Parallelen zieht, hat Axel Honneth kürzlich dazu veranlasst, beide Ansätze in methodologischer Hinsicht geradezu kurzzuschließen. So behauptet Honneth, »dass sich in der Antrittsvorlesung Adornos kaum ein methodologischer Gedanke findet, der nicht schon beim Autor von Wirtschaft und Gesellschaft formuliert worden wäre«.22 Dem möchte ich mich zwar nicht umstandslos anschließen, zumal der Philosoph Adorno seine Argumentation aus anderen gedanklichen Hintergründen heraus formuliert als der Staatswissenschaftler Weber und die Kategorie des Idealtypus nicht unter Produktions-, wohl aber unter Anwendungsperspektiven anders gedacht wird, gleichwohl ist die Parallelisierung nicht zuletzt unter Aktualisierungsperspektiven interessant, wobei es allerdings nicht nur spannend ist, Adorno durch eine »Weber-Brille« zu lesen. Mindestens ebenso interessant und weiterführend wäre umgekehrt eine Reformulierung (und vielleicht auch Präzisierung) der Weberschen Idealtypenkonstruktionen aus der Perspektive der Adornoschen Konzeption von Konstellationen und Konfigurationen.

Aber noch einmal zurück zur Rätselmetaphorik – hier sind noch mindestens zwei Punkte offen. Die Lösung von Rätseln, so hatten wir festgestellt, erfolgt über die Herstellung von begrifflichen Versuchsanordnungen im Sinne der Herstellung von Konstellationen. Dieser Prozess gelingt am besten über die Analyse von Fallbeispielen, nämlich über die exemplarische »Auskonstruktion kleiner und intentionsloser Elemente«.23 In mancher Hinsicht ähnlich wie in Husserls Phänomenologie werden diese kleinen und intentionslosen Elemente in ihren Beziehungen, Differenzen und Widersprüchlichkeiten so lange experimentell ausgedeutet, bis sich auf einmal eine Lesart einstellt, die den Fall und seine verschiedenen Aspekte stimmig aufschließt. Die Plötzlichkeit der Lösung und der hiermit einhergehende visuelle Gestaltwandel sind für Adorno ein wichtiger Ansatzpunkt, um den Prozess der Rätsellösung weiterführend zu charakterisieren. So spricht er, ähnlich wie Walter Benjamin, davon, dass bei gelungener Dechiffrierung das richtige Bild »aufspringt«,24 die Rätselgestalt »blitzhaft erhellt wird«25 und das Objekt »sich öffnet«.26 Auf einmal passen alle Aspekte zusammen und die Lesart überzeugt, wobei dies nicht planbar ist, sondern soziologische Phantasie, begriffliche Strenge und exemplarisches Lernen auf der Grundlage eigener Leidenserfahrungen erfordert.

Neben ihrer Plötzlichkeit kennzeichnet die Rätsellösung aber noch ein weiterer Punkt. Rätsellösungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Moment ihres Auftauchens das Rätsel selbst zum Verschwinden bringen. Oder in Adornos eigenen Worten: Es ist »die Funktion der Rätsellösung [...], die Rätselgestalt blitzhaft zu erhellen und aufzuheben. [...] Und wie Rätsellösungen sich bilden, indem die singulären und versprengten Elemente der Frage so lange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie zur Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt, [...] so hat Philosophie ihre Elemente, die sie von den Wissenschaften empfängt, so lange in wechselnde Konstellationen [...] oder [...] Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage verschwindet«.27

Im Besonderen das Allgemeine experimentell entdecken, in den Brechungen des Einzelfalls das Ganze aufzuspüren und in der faktischen Unvernunft die Möglichkeit von Vernunft wahrzunehmen – mit diesen Formeln lässt sich die Adornosche Grundidee einer den Bedingungen der Dialektik der Aufklärung angemessenen, kritisch spurensichernden Erkenntnis wohl am knappsten umreißen. Als zentrales Beispiel für die Umsetzung dieser Prinzipien einer gesellschaftstheoretisch orientierten »Rätsellösung« können vor allem die »Minima Moralia«28 gelten.

Die »Minima Moralia« bestehen aus insgesamt 163 Miniaturen, die wie Stichworte arrangiert sind und damit auf jene seit den Anfängen der Aufklärung vertraute »enzyklopädische Form« verweisen, »die systemlos, diskontinuierlich darstellt, was durch Einheit der Erfahrung zur Konstellation zusammenschießt«.29 Ihr Blick richtet sich mit Vorliebe auf kleinste alltägliche Situationen und Begebenheiten – zum Beispiel auf die Prozedur des Schenkens, auf das Schließen einer Tür oder auf alltägliche Kommunikationssituationen aller Art. An diesen scheinbar willkürlich herausgegriffenen Fallbeispielen wird mit soziologischer Phantasie zum einen das darin liegende Scheinhafte und die darunterliegende Gewalt entlarvt: wie »die Fähigkeit miteinander zu sprechen erstickt« wird, wie die »Möglichkeit unreglementierten Glücks« verschwindet und die Individualität »liquidiert« wird. In immer wieder neuen Variationen wird der fortschreitende Verfall der bürgerlichen Welt im Sinne der Verfehlung einer Lebensform nachvollzogen, zugleich aber auch in Spuren und Splittern die Ethik eines möglichen Andersseins angedeutet. Ein solches mögliches Anderssein wäre dann gegeben, wenn die Gesellschaft von ihrer inneren Gewalt sowie von der Beschränkung auf das So-Sein erlöst und der Kapitalismus durch einen »gerechten Tausch« ersetzt werden würde. Dies war für Adorno allerdings keine realistische, sondern allenfalls eine reflexive Möglichkeit, die überdies nach 1945 mit der Entwicklung der Thesen zur »verwalteten Welt« immer blasser wurde.

Liest man die »Minima Moralia« mit einem Abstand von über 50 Jahren, so erscheinen manche Beobachtungen veraltet und durch die veränderte Realität in den Schatten gestellt worden zu sein. Aber dies ändert nichts an der Aktualität ihrer methodologischen Konzeption, die präziser und tiefschürfender ist als manches, was heute unter Etiketten wie »cultural studies«, »qualitative Soziologie« oder auch »Zeitdiagnose« angeboten wird. Denn gerade unter den Bedingungen der modernisierten Moderne muss gesellschaftskritisches Denken mehr denn je die Gestalt von Spurensicherung und Stichworten annehmen. Es muss die selbstsichere Fassade der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung durchbrechen, sich auf die Brüche, Unschärfen und Uneindeutigkeiten konzentrieren, auf das nicht Passende und Fremde, und vor diesem Hintergrund alternative Lesarten andeuten, ohne sie auszupinseln.

Gesellschaft – Soziale Strukturierung und Grenzen vollständiger Integration

Dieser Suchstrategie korrespondiert ein Begriff der Gesellschaft, der in den Augen vieler überholt erscheint, aber nicht vorschnell ad acta gelegt werden sollte. Die Probleme des Adornoschen Gesellschaftskonzepts hat Thomas Assheuer einmal wie folgt umrissen: »Wer sich eine Theorie des Kapitalismus basteln möchte, der findet in Adornos Baukasten außer groben Keilen kaum ein Werkzeug, das ein Soziologenherz heute noch zu erfreuen vermöchte. Bereichert man aber den Baukasten mit neuen Instrumenten [...] kann es passieren, dass er zwar glänzt und glitzert, vom alten Adorno aber nichts mehr übrig bleibt.«30 Zwar hat sich Adorno entgegen der Feststellung Assheuers mit soziologischen Klassikern wie Durkheim, Weber oder Simmel ebenso auseinandergesetzt wie mit der Systemtheorie Parsons und mit anderen amerikanischen Ansätzen. Aber dies geschah vor allem unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten, und sofern Adorno die kategorialen Differenzierungen der einzelwissenschaftlichen Soziologie eher kritisch kommentierte als weiterentwickelte, werden seine Überlegungen jenseits von gelegentlichen Anmerkungen in Einleitungen und Zwischenbetrachtungen von der soziologischen Theorie im engeren, sprich: einzelwissenschaftlichen Sinne kaum noch wahrgenommen.

Dies ist umso bedauerlicher, als sein Denken über Gesellschaft Züge aufweist, die in der soziologischen Fachdiskussion selbst verloren gegangen sind. Denn vor dem Hintergrund seiner Spurensuche nach einem möglichen Anderssein bedeutete das Reden über Gesellschaft für Adorno immer auch Kritik, und dies heißt genauer: Herrschaftskritik. So sprach er in der »Dialektik der Aufklärung« von »der undurchdringlichen Einheit von Gesellschaft und Herrschaft«,31 die es zum Thema zu machen gilt, und zwar vor allem unter der Perspektive ungerechtfertigter Herrschaft. Mit dieser Akzentuierung stand er in der Tradition der Aufklärung von deren Anfängen bis hin zu Marx. Gesellschaftliche Funktionszusammenhänge, so Adornos Grundüberzeugung, sind keineswegs durch ihr bloßes Funktionieren gerechtfertigt. Sie können insofern Fassade und Verblendungszusammenhang sein, als sie das Leiden an der Gesellschaft und die Entfremdung zwischen Individuum und Gesellschaft nur überdecken. Zwar mögen Entfremdung und Leiden durch die Oberfläche der gesellschaftlichen Tatsachen hindurch nur noch vage spürbar und unbewusst geworden sein, gleichwohl dürfen sie im Kontext eines kritischen Denkens nicht unbenannt bleiben oder gar abgeleugnet werden. Auch wenn Entfremdungserfahrungen weder manifest noch eindeutig sein mögen, so sind sie doch aufzuspüren und anzudeuten. Wie dies funktionieren kann, lässt sich wiederum an den »Minima Moralia« studieren: Vor dem Hintergrund der Gewissheit oder der unbewussten Ahnung des eigenen Leidens zielen sie auf eine solche kritische Rekonstruktion und Andeutung am Einzelfall, über die Analyse von Details bzw. anhand von Modellen, und zwar in möglichst pointierter und irritierender Form.

Derartige »kritische« Rekonstruktionen und Andeutungen kreisten bei Adorno stets um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das in seinen Augen keineswegs eindeutig war. Gleichwohl war eine Soziologie ohne einen Begriff der Gesellschaft für Adorno ein Unding. In dieser Hinsicht traf er sich mit Georg Simmel, der im Unterschied zu Max Weber in seiner Begründung der Soziologie ebenfalls den Begriff der Gesellschaft ins Zentrum rückte. Während Weber Soziologie in erster Linie als eine Wissenschaft vom sozialen Handeln begriff (und sich energisch vom »spukenden Betrieb« der »Kollektivbegriffe« abgrenzte32), ging Simmel davon aus, dass »der Begriff der Gesellschaft als solcher [...] die gesellschaftlich-geschichtlichen Gegebenheiten einer neuen Abstraktion und Zusammenordnung unterwerfen« müsse.33 Allerdings gestand auch Simmel der Gesellschaft keine eigenständige Existenz zu; für ihn war Gesellschaft ein nur im Denken existierender Allgemeinbegriff und in letzter Instanz nichts anderes als eine Sammelbezeichnung für die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Individuen, die den zentralen Gegenstand der Soziologie bildeten.

Adorno hingegen setzt von Anfang an anders an. In seinen Augen war Gesellschaft keine gedankliche Abstraktion, sondern ein Synonym für die hinter dem Rücken der Handelnden prozessierenden Strukturen. So schrieb er in einem Vortrag über »Gesellschaft«: »Mit Gesellschaft meint man eine Art von Gefüge zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen abhängen.«34 Dieses »Gefüge« verwies für ihn weniger auf Wechselbeziehungen zwischen den Individuen wie bei Simmel, sondern auf eine eigenständige Realität, die den Menschen äußerlich und durch »das Moment des Undurchsichtigen und Opaken«35 gekennzeichnet ist. Genauer noch besteht »das spezifisch Gesellschaftliche im Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen, deren entmächtigte Produkte diese nachgerade sind«.36 Dementsprechend gilt, dass sich die Gesellschaft, über die Köpfe der Menschen hinweg durchsetzt. Von den soziologischen Klassikern hatte dies am klarsten Émile Durkheim gesehen, den Adorno zwar als Positivisten kritisierte, der ihn aber zugleich faszinierte, weil er soziale Tatsache über den Zwang definierte, denen die Subjekte unentrinnbar ausgesetzt sind. Aber nicht nur Durkheim hebt »die Unabhängigkeit und Abgesetztheit des gesellschaftlichen Systems hervor, das auf seiner eigenen Ebene, nicht als bloße Resultante der Handlungen von Individuen begriffen werden müsse«.37 Ähnliches gilt für Talcott Parsons, an dem Adorno ebenfalls hervorhebt, dass er Gesellschaft zunächst und vor allem als einen den Individuen äußerlichen Zwangszusammenhang beschreibt.

Allerdings bleibt Adorno bei der Charakterisierung von Gesellschaft als ein den Individuen äußerlicher Zwangszusammenhang nicht stehen. Daneben gibt es auch noch einen zweiten, erheblich weiteren und in mancher Hinsicht emphatischen Begriff von Gesellschaft, den man zur besseren Unterscheidbarkeit als »Gesellschaft 2« kennzeichnen sollte. Im Unterschied zu »Gesellschaft 1» bezeichnet »Gesellschaft 2« mehr als den stummen Zwang der Verhältnisse und wird positiv wie negativ, prozessual und in letzter Instanz unabschließbar gedacht. Oder anders ausgedrückt: »Gesellschaft 2« ist nicht nur ein Zwangs-, sondern auch ein Gestaltungszusammenhang, bei dem das Verhältnis zwischen Zwangs- und Gestaltungsmomenten immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Bei Adorno selbst klingt dies freilich besser und in mancher Hinsicht auch geheimnisvoller. So schreibt er in der Abhandlung über den Begriff der Gesellschaft: »Weil Gesellschaft weder als Begriff nach der gängigen Logik sich definieren noch ›deiktisch‹ sich demonstrieren läßt, während doch die sozialen Phänomene unabweislich ihren Begriff fordern, ist dessen Organ die Theorie. Bloß eine ausgeführte der Gesellschaft könnte sagen, was Gesellschaft ist«38 bzw. sein könnte.

Freilich lässt sich darüber streiten, ob eine solche ausgeführte Theorie der Gesellschaft überhaupt formulierbar ist. Für Adorno war sie es offensichtlich nicht. Denn eine ausgeführte Theorie setzt in letzter Instanz eine andere Praxis ebenso voraus wie eine andere Gesellschaft (im Sinne von »Gesellschaft 2«). Erst in Letzterer werden die Individuen nicht mehr durch eine fremde, eigenständige Realität im Sinne des stummen Zwangs der Verhältnisse beherrscht, sondern die Entfremdung von Individuum und Gesellschaft ist überwunden bzw. aufgehoben. Eine solche »rational durchsichtige, wahrhaft freie Gesellschaft« war für Adorno zwar durchaus vorstellbar, wobei er davon ausging, dass auch diese »so wenig der Verwaltung entraten [könnte] wie der Arbeitsteilung überhaupt«.39 Verwaltung und Arbeitsteilung sind also keineswegs per se die Quelle allen Übels. Aber sofern vor dem Hintergrund der Dynamik der kapitalistischen Entwicklung und der durch sie gesetzten ökonomischen Zwänge »auf der gesamten Erde die Verwaltungen […] dazu [tendieren], sich gegen die Verwalteten zu verselbständigen und sie zu Objekten abstrakt normierter Verfahren herabzusetzen [...] wird sie [die Gesellschaft, W.B.] irrational für die Subjekte«.40

Angesichts dieses Befundes konzentriert sich Adorno im Fortgang seiner Argumentation vorrangig auf die Analyse von »Gesellschaft 1«, also auf die Gesellschaft als Zwangszusammenhang. Wozu dient sie, und warum bedarf es überhaupt der Gesellschaft als eines eigenständigen Realitätsbereichs? Bei der Antwort auf diese Frage lautet das entscheidende Stichwort: »Integration«. Integration bedeutet die An- und Einpassung der Individuen in einen übergreifenden Kontext – ein Zusammenhang, der in den 1930er Jahren bereits von Karl Mannheim zum Thema gemacht worden war. Später beschrieb vor allem Talcott Parsons soziale Integration als primäre Funktion von Gesellschaft und wies darauf hin, dass Integration im Wesentlichen über Werte, Normen und Kultur erfolge. Adorno bezog sich auf beide Autoren, wobei er Parsons mehr abgewinnen konnte als Mannheim. Wenn Parsons Integration als einen Prozess der Anpassung der Individuen an soziale Ordnungsschemata und gesellschaftliche Erwartungen beschrieb, so stimmte Adorno dieser Darstellung in deskriptiv analytischer Hinsicht durchaus zu. Aber im Unterschied zu Parsons sah er Integration von Anfang an herrschaftskritisch. Denn die von Parsons positivierte Anpassung der Individuen war für Adorno immer auch Entfremdung, Kontrolle und Freiheitseinschränkung. An Parsons kritisierte er dementsprechend, dass sein »Begriff der Integration [ein] positivistisches Nachbild der Identität von Subjekt und Objekt [sei und] einem unvernünftigen Zustand der Gesellschaft Raum« ließe,41 wobei dieser »unvernünftige Zustand« um so eher zu erwarten sei, als die potentielle Diskrepanz und das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft eingeebnet werde.