cover

Pierre Rosanvallon

    Die gute Regierung

    Aus dem Französischen von
    Michael Halfbrodt

Hamburger Edition

image

Die Übersetzung wurde durch das Centre national
du livre gefördert.

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-673-6

© der deutschen Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-301-8

© der Originalausgabe 2015 by Éditions du Seuil
Titel der Originalausgabe: »Le bon gouvernement«

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Satz aus der Minion Pro bei Dörlemann Satz, Lemförde

Inhaltsverzeichnis

Von einer Demokratie zur nächsten (Einleitung)

Die Präsidialisierung der Demokratien

Das ursächliche Faktum: Die Vorherrschaft der Exekutive

Das parlamentarisch-repräsentative Modell

Das Verhältnis von Regierenden zu Regierten

Niedergang und Neudefinition der Parteien

Unterwegs zu neuen demokratischen Organisationen

Ein anderer demokratischer Universalismus

Die vier Demokratien

I   Die exekutive Gewalt: Eine problematische Geschichte

Die Inthronisierung des Gesetzes und die Degradierung der Exekutive

Die Idee einer Herrschaft des Gesetzes

Eine politische Utopie

Die Degradierung der Judikative während der Revolution

Die Abqualifizierung der Exekutive

Der Kult der Unpersönlichkeit und seine Metamorphosen

Die Vorstellung einer »kopflosen« Macht

Eine nicht gewählte, kollegiale Macht

Bonaparte: Rückkehr eines Eigennamens und neues Regime des Willens

Das neue Zeitalter der Unpersönlichkeit

Französische Ausnahme oder demokratische Moderne?

Das Zeitalter der Rehabilitierung

Aufstieg der Massen und Stärkung der Exekutive

Der Schock des Ersten Weltkriegs und der Führerkult

Die Erweiterung staatlichen Handelns und der Niedergang des Gesetzes

Die beiden Versuchungen

Das technokratische Ideal

Der Ausnahmezustand

Kontinuitäten und Brüche

II   Die Präsidialisierung der Demokratien

Wegweisende Experimente: 1848 und Weimar

1848 in Frankreich oder der Triumph der Unbesonnenheit

Die Weimarer Verfassung

Max Weber und die plebiszitäre Demokratie

Das Laboratorium der Katastrophe

Von der gaullistischen Ausnahme zur allgemeinen Präsidialisierung

Die Vorbehalte der Nachkriegszeit

Eine amerikanische Ausnahme

Das gaullistische Moment

Die Verbreitung der Präsidentschaftswahlen

Die Personalisierung jenseits der Präsidialisierung

Unumgänglich und problematisch

Die demokratischen Gründe der Präsidialisierung

Die spezifischen Grenzen der Legitimation durch Wahlen

Präsidialismus und Neigung zum Illiberalismus

Über die »Unmöglichkeit, die Zeit zurückzudrehen«

Die Regulierung des Illiberalismus

Die Einhegung der Wahlen

Reparlamentarisierung der Demokratie?

Die neuen Wege der Unpersönlichkeit

III   Die Aneignungsdemokratie

Das Verhältnis von Regierenden und Regierten

Die Ratio der Herrn

Das Zeitalter der Verführung und der Manipulation

Das Verhältnis von Regierten und Regierenden denken

Selbstverwaltung, Selbstregierung, Selbstinstitution

Die unmögliche Aufhebung der Äußerlichkeit

Herrschaft und Asymmetrie

Demokratie als Eigenschaft

Lesbarkeit

Das Auge des Parlaments auf die Regierung

Das Auge des Volkes auf seine Repräsentanten

Bentham und die Augen der Demokratie

Reich der Sichtbarkeit und Elend der Lesbarkeit

Die Dämonen der Intransparenz

Das Recht auf Wissen und die Institutionen der Lesbarkeit

Eine gewisse gesellschaftliche Vorliebe für Intransparenz?

Verantwortung

Eine englische Erfindung

Von der Banalisierung zum Versagen

Die politische Verantwortung neu begründen

Verantwortung als Rechenschaftspflicht

Verantwortung als Verpflichtung gegenüber der Zukunft

Reaktivität

Zuhören und regieren: Lektion in regressiver Geschichte

Polarisierung und Regression des staatsbürgerlichen Ausdrucks

Die verkümmerte Demokratie

Die Konfigurationen einer interaktiven Demokratie

IV   Die Vertrauensdemokratie

Die Figuren des guten Regierenden

Der tugendhafte Fürst

Der reine Mandatsträger

Der homme-peuple

Der Politiker aus Berufung

Die Vertrauensperson

Wahrsprechen

Einige geschichtliche Elemente

Utopien und Verrat

Die Motive des Wahrsprechens

Die Schlachten des Wahrsprechens

Integrität

Die drei Transparenzen

Klärungsversuche

Die Institutionen der Integrität

Die Sanktionssysteme

Die zweite demokratische Revolution (Schluss)

Institutionen und Akteure der Betätigungsdemokratie

Funktionale Demokratie und Konkurrenzdemokratie

Einen positiven Bezug zur Zukunft wiederfinden

Bibliografie

Namensregister

Zum Autor

Von einer Demokratie zur nächsten (Einleitung)

Unsere politischen Systeme können als demokratisch bezeichnet werden, doch demokratisch regiert werden wir nicht. Das ist der große Widerspruch, aus dem die heutige Ernüchterung und Ratlosigkeit resultieren. Deutlicher formuliert: Unsere Systeme werden in dem Sinne als demokratisch betrachtet, als die Macht aus einem Urnengang am Ende eines offenen Wettbewerbs hervorgeht und wir in einem Rechtsstaat leben, der sich zu den individuellen Freiheitsrechten bekennt und diese schützt. Demokratien, die zugegebenermaßen reichlich unvollkommen sind. Die Repräsentierten fühlen sich häufig von ihren nominellen Repräsentanten im Stich gelassen, und das Volk empfindet sich, sind die Wahlen erst einmal vorüber, als wenig souverän. Doch sollte diese Realität nicht über eine andere Tatsache hinwegtäuschen, die in ihrer Besonderheit noch unzureichend erkannt ist: die eines Schlechtregiertwerdens (mal-gouvernement), das unsere Gesellschaften bis in ihre Grundfesten zerrüttet. Die Politik mag durch Institutionen geregelt werden, die für ein bestimmtes System charakteristisch sind, sie ist zugleich aber auch Regierungshandeln, Alltagsmanagement des Gemeinwesens, Entscheidungsinstanz und Kommandostelle. Sie ist der Ort einer Machtausübung, die in der Sprache der Verfassungen »exekutive Gewalt« heißt. Mit ihr sind die Bürger unmittelbar in ihrem Alltag konfrontiert. Gleichzeitig hat sich das Gravitationszentrum des demokratischen Anspruchs unmerklich verschoben. War Letzterer über lange Zeit hinweg vor allem mit der Herstellung eines positiven Bezugs zwischen Repräsentanten und Repräsentierten verbunden, so ist mittlerweile das Verhältnis der Regierenden zu den Regierten in den Vordergrund gerückt. Diese Verschiebung markiert noch keinen Bruch, solange sich weiter mit Nachdruck die Frage der Repräsentation stellt – im Übrigen ist ständig von einer »Krise der Repräsentation« die Rede (dazu später mehr). Doch das Gefühl mangelnder Demokratie speist sich inzwischen offenkundig auch aus einer anderen Quelle. Demokratiedefizit bedeutet für die Bürger, nicht gehört zu werden, zusehen zu müssen, wie Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg gefällt werden, wie Minister sich ihrer Verantwortung entziehen, führende Politiker ungestraft lügen, die politische Elite in ihrer eigenen Welt lebt und nicht hinreichend Rechenschaft über ihr Tun ablegt, bedeutet, mit einem nach wie vor undurchschaubaren Verwaltungsbetrieb konfrontiert zu sein.

Das Problem ist, dass diese Dimension der Politik nie als solche theoretisch erfasst wurde. Demokratie wurde stets als System verstanden, kaum jemals als spezifische Regierungsweise. Das äußert sich übrigens auch in der Tatsache, dass die Worte »System« und »Regierung« historisch gleichbedeutend waren.1 Die Frage konnte in der Tat zweitrangig erscheinen in der ersten historischen Form des demokratischen Systems, dem parlamentarisch-repräsentativen Modell, in dem die gesetzgebende Gewalt alle anderen überwog. Doch inzwischen ist die vollziehende Gewalt zum Dreh- und Angelpunkt geworden und hat den Umschlag in ein präsidiales Regierungsmodell der Demokratien nach sich gezogen. War es in der Vergangenheit das Gefühl des Schlechtrepräsentiertwerdens (mal-représentation), das alle Kritiken bündelte, so ist mittlerweile auch das Gefühl des Schlechtregiertwerdens in Betracht zu ziehen. Das vorliegende Buch präsentiert eine Geschichte dieses Umschlags und der vorherigen Tendenz zur Ausblendung der vollziehenden Gewalt. Im Anschluss werden die Grundlagen einer demokratischen Theorie von Regierung formuliert.

Die Präsidialisierung der Demokratien

Um das Problem zu erforschen, ist folgende Tatsache der Ausgangspunkt: Die Tendenz zur Präsidialisierung markiert seit etwa drei Jahrzehnten einen grundlegenden Einschnitt in Wesen und Form der Demokratien. Diese Tendenz ist unmittelbar ersichtlich, denn die Wahl des Staatsoberhauptes durch das Volk beschreibt sie auf die einfachste und sinnfälligste Weise. Das politische Geschehen rund um die Welt erinnert ständig daran, welch eine zentrale Bedeutung ihr bei der Gestaltung des politischen Lebens der Völker zukommt. Aber gleichzeitig ist der damit vollzogene Bruch bisher nicht in seiner ganzen Tragweite erfasst worden. Dafür gibt es verschiedene Gründe. In den Demokratien neueren Datums, und sie stellen die Mehrheit – in Asien, Afrika, Lateinamerika, in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und der arabischen Welt –, hat sich das Verfahren unreflektiert durchgesetzt, als vermeintlich logische Folge des Austritts aus despotischen Regimen und der Anerkennung der Volkssouveränität; ein Verfahren, dessen Fundiertheit offenbar keiner argumentativen Begründung bedurfte. Selbst dort, wo sich die stärksten antiliberalen Tendenzen bemerkbar machen – erwähnt seien, der Anschaulichkeit halber, Russland oder die Türkei –, denkt niemand daran, es infrage zu stellen. Die Präsidentschaftswahl wird in diesen neuen Demokratien gleichsam zum Ausdruck des allgemeinen Wahlrechts schlechthin.

Auf älterem demokratischen Boden wird dieser Bruch, aus anderen Gründen, ebenfalls nicht wahrgenommen. In den Vereinigten Staaten, weil das Amt des Präsidenten bereits mit der Verfassung von 1787 eingeführt wurde und die Wahl zum Chef der Exekutive, obwohl sie formal immer noch zweistufig verläuft, seit nahezu einem Jahrhundert, seit der Einführung des Systems der Vorwahlen in den einzelnen Bundesstaaten, einer Direktwahl durch das Volk gleichkommt. Stets unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Prinzip der Gewaltenteilung, die das amerikanische System charakterisiert und ihm seine Besonderheit verleiht, die Vormachtstellung des Amtes begrenzt. Deshalb stellt sich bei den Amerikanern weniger das Gefühl eines tiefgreifenden Wandels2 als eines schleichenden Prozesses ein, innerhalb dessen Ereignissen wie der Krise der 1930er Jahre oder dem 11. September 2001 eine maßgebliche Rolle bei der Erweiterung des präsidialen Handlungsspielraums zukommt. Die Erfordernisse der Terrorismusbekämpfung, die das Land jüngst dazu veranlassten, sogar ein Abgleiten in Formen des Ausnahmezustands zu billigen, lassen eine Bereitschaft erkennen, die Exekutive in manchen Bereichen mit unbegrenzten Vollmachten auszustatten.

In Europa wurde das allgemeine Wahlrecht überall vor mehr als einem Jahrhundert erkämpft. Es ging seinerzeit mit der Bildung repräsentativer Versammlungen einher und wurde, mit Ausnahme der Französischen Republik von 1848 und der Weimarer Republik von 1919, in seiner Frühphase nicht zur Wahl des Staatsoberhauptes verwendet. Das Besondere an der großen Mehrheit der europäischen Staaten ist, dass sie anschließend diesem ersten Stadium des demokratischen Prozesses verfassungsrechtlich treu blieben. Aus verschiedenen Gründen. Zunächst weil konstitutionelle Monarchien in vielen Ländern die demokratische Entwicklung dauerhaft begleiteten. So im Vereinigten Königreich, in Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Dänemark, Schweden und Norwegen. Europa fungiert in dieser Hinsicht als regelrechtes Museum der im 19. Jahrhundert entstandenen liberaldemokratischen Institutionen. In diesen Monarchien war es nie eine Option, und wird es nie sein, den Chef der Exekutive, den Premierminister, per Direktwahl zu bestimmen. Denn das hieße, den der Krone zuerkannten Vorrang grundsätzlich infrage zu stellen. Er wird also stets als Führer der Partei oder der Koalition, die die Wahlen gewonnen und folglich die parlamentarische Mehrheit errungen hat, zum Träger dieses Amtes ernannt. Daneben ist der Fall der dem Nationalsozialismus oder Faschismus entronnenen Länder, Deutschland und Italien, zu beachten. Sie sind mit einem Staatspräsidenten versehen, doch wird dieser vom Parlament gewählt und hat eine rein repräsentative Funktion, während der Bundeskanzler bzw. Ministerpräsident von diesem Präsidenten gemäß der aus der Abgeordnetenwahl hervorgegangenen Mehrheit ernannt wird. Deutschland hatte es nach 1919 mit der Direktwahl des Reichspräsidenten versucht, was letztendlich in der Machtübernahme Hitlers endete, und Mussolini hatte 1925 eine Diktatur errichtet. Die Erinnerung an diese tragischen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit veranlasste beide Länder nach 1945 zur Einführung der noch heute bestehenden Institutionen. Was die Länder Südeuropas betrifft, Spanien, Griechenland und Portugal – denen erst spät, nämlich in den 1970er Jahren, die Abkehr von der Diktatur gelang –, so machten sie sich ebenfalls eine Sicht zu eigen, die man als »kontrollierte« Rückkehr zur Demokratie bezeichnen könnte. Spanien durch die Wiederherstellung der Monarchie, Griechenland durch die Einführung eines traditionellen parlamentarischen Systems, bei dem der Präsident vom Parlament gewählt wird, ohne aktives Oberhaupt der Exekutive zu sein. Portugal bildete die Ausnahme mit der Einsetzung eines direkt gewählten Präsidenten, der jedoch insofern eine besondere Position einnimmt, als sein Amt durch die Bedeutung der traditionellen liberalen Vorstellung einer vermittelnden Instanz definiert wird (in keinem anderen Land im 20. Jahrhundert wurde Benjamin Constant so intensiv als Quelle für die Gegenwart kommentiert!). Ist die Theorie von dieser Sicht beeinflusst, so war es gleichwohl die Praxis, die diesem Präsidenten ab 1976 eine besondere Stellung zuwies: Relativ zurückhaltend in normalen Perioden und engagierter in Krisenzeiten, ist seine Beziehung zur Regierung durch ausgiebigen Gebrauch seiner moralischen Autorität sowie seiner Legitimation durch den Wähler bestimmt. Die Staaten Osteuropas haben späterhin für das gleiche Modell optiert wie die Länder des Südens, indem sie sich nach dem Auseinanderbrechen des Ostblocks 1989 im Allgemeinen für premierministerielle Systeme3 entschieden (im Unterschied zu den eigentlichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion).

Auf je verschiedene Weise scheint Europa vom globalen Trend zur Präsidialisierung verschont geblieben zu sein. Mit der großen Ausnahme Frankreichs4 allerdings, von dem man umgekehrt behaupten kann, dass es 1962, mit der per Volksabstimmung eingeführten Direktwahl des Staatspräsidenten, die Geschichte des modernen Präsidialismus begründet hat. Tatsächlich stellte Frankreich ein verallgemeinerbares Modell der Präsidialisierung bereit, während Amerika eine aus der Vergangenheit stammende, nicht auf das 20. Jahrhundert übertragbare verfassungsrechtliche Variante verkörperte.5 Diese seinerzeit von den Wählern weithin angenommene, aber von der politischen Klasse lange argwöhnisch beäugte Präsidialisierung der Demokratie trägt in Frankreich nach wie vor Züge einer verfassungsrechtlichen Lösung mit als hoch empfundenem Gefahrenpotenzial. Dieser Verdacht nährt sich aus der Erinnerung an einen Cäsarismus, der seines Antiliberalismus wegen abgelehnt wurde, ohne dass die Gründe reflektiert worden wären, die ihn in den Augen eines Großteils der Bevölkerung als eine Erfüllung des demokratischen Ideals erscheinen ließen. Deshalb ist diese Präsidialisierung im französischen Verständnis häufig eine »unumgängliche, aber problematische« Figur geblieben, sie wird als Nationalkrankheit begriffen, von der man kuriert werden müsse, nicht als erster Entwurf einer neuen demokratischen Form.

Das ursächliche Faktum: Die Vorherrschaft der Exekutive

Jenseits dieser zumeist historisch bedingten Unterschiede gilt es, das Ausmaß der Tatsache zu erkennen, dass die Präsidialisierung der Demokratien nur die Folge eines tiefer reichenden politischen Wandels ist: des Erstarkens der vollziehenden Gewalt. Denn darin liegt die Ursache der Präsidialisierung: die Gewalt schlechthin, wenn man von ihr im Singular sprechen will, ist fortan die vollziehende Gewalt. Unmittelbar und ununterbrochen tätig, ganz und gar eins mit den Entscheidungen, die sie täglich trifft, permanent in Erscheinung tretend, ist sie diejenige Gewalt, von der die Bürger erwarten, dass sie die Bedingungen ihres beruflichen und privaten Lebens positiv gestaltet. Sie verlangen also von ihr, dass sie sowohl tatkräftigen Einsatz zeigt als auch für ihre Handlungen einsteht.6 Daher die Tendenz zur Polarisierung und Personalisierung der vollziehenden Gewalt. Wenn auch die Präsidialisierung im formalen Sinne – als Direktwahl des Staatsoberhauptes – nicht überall vollzogen wurde, ist das mit der Herrschaft der Exekutive verbundene Phänomen der Polarisierung/Personalisierung gleichwohl universell. Politologen konnten folglich von »versteckten Wahlen« sprechen, um das Ernennungsverfahren der Premierminister im alten Europa zu charakterisieren.7 Es hat also sehr wohl ein globaler Wandel der Demokratien stattgefunden, unabhängig davon, wie dieser sich in den Verfassungen niederschlägt.

Um dieses Phänomen adäquat zu erfassen, ist es notwendig, die regierenden Organe in den Blick zu nehmen, jenseits der alleinigen Betrachtung des Präsidentenamtes, auch wenn dieses in den meisten Ländern den Dreh- und Angelpunkt bildet. Diese Organe sind das aktive Zentrum der neuen präsidialen Regierungsform der Demokratie. Der Begriff »vollziehende Gewalt«, obwohl nach wie vor verwendet, entspricht nicht mehr wirklich dem neuen Status dieser Organe, mit der Konnotation mechanischer Passivität, die ihm historisch lange anhaftete. Selbst die gesetzgebende Gewalt ist, wie wir im Folgenden hervorheben werden, de facto zu einer untergeordneten Größe der regierenden Funktion geworden. Man muss diese Regierungsorgane also als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen. Die Vorherrschaft dieser regierenden Funktion erscheint heute derart evident, dass die Feststellung eines solchen Umschlags kaum noch Aufmerksamkeit erregt. Doch wenn man sie mit dem Blick des Historikers betrachtet, wird man unweigerlich konstatieren müssen, dass es sich um eine komplette Umkehrung der Perspektive im Vergleich zur Ursprungsvision der modernen Demokratien handelt, wie sie sich insbesondere in der Amerikanischen und der Französischen Revolution artikulierte. Die These, die diesem Buch zugrunde liegt, lautet, dass wir uns mangels einer klaren Analyse dieses Paradigmenwechsels schwertun, die wahren Ursachen der gegenwärtigen Desillusionierung zu verstehen und folglich die Bedingungen eines neuen demokratischen Fortschritts zu bestimmen.

Das parlamentarisch-repräsentative Modell

Kehren wir zum parlamentarisch-repräsentativen Modell, dem historischen Modell der Demokratien, zurück. Die Begründer der ersten Verfassungen in Amerika und Frankreich zielten darauf ab, dieses Modell zu definieren. Es baute auf zwei Prinzipien auf: Herrschaft des Rechts und Entstehung eines gesetzgebenden Volkes.8 Herrschaft des Rechts, weil Letzteres als Medium einer wesentlich nicht dominanten Macht verstanden wurde: der unpersönlichen Regel. Denn Unpersönlichkeit galt als höchste aller politischen Eigenschaften, liberal und demokratisch in einem. Eine Macht konnte nur unter der Bedingung gut sein, dass sie Ausdruck dieser Unpersönlichkeit war. Auf diese Weise äußerte sich im Denken des späten 18. Jahrhunderts zuerst der Bruch mit dem Absolutismus, der seinerseits mit der strukturell willkürlichen Macht eines Einzelnen gleichgesetzt wurde. Dieses grundlegende Merkmal unterstreicht an sich schon den Unterschied zu dem auf Personalisierung beruhenden präsidialen Regierungsmodell. Entstehung eines gesetzgebenden Volkes, weil das Volk fortan als Ausgangspunkt aller Gewalten anerkannt wurde. Man bezeichnete es in Amerika als »Quelle der Macht« (fountain of power) und in Frankreich als »Souverän«. Das Gesetz konnte in diesem Sinne als »Ausdruck des allgemeinen Willens« gelten, wie es in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 heißt, die diesbezüglich ausführt, dass »alle Bürger das Recht haben, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken« (Artikel 6). Die Zentralgewalt war also die Legislative, während die Exekutive als sekundär angesehen wurde, sowohl hinsichtlich dieses Primats als auch der Begrenztheit der staatlichen Handlungssphäre zu jener Zeit. Die Schaffung der organisatorischen Voraussetzungen für die gesetzgebende Gewalt bildete folglich den Kernpunkt der Debatte über die Einführung der Demokratie im 18. und 19. Jahrhundert und die Art der repräsentativen Beziehung die zentrale Frage.

In diesem Zusammenhang konzentrierte sich das damalige Bemühen um einen Ausbau der Demokratie auf drei große Themenbereiche. Zunächst den der Demokratisierung der Wahlen. Beispielsweise durch Verringerung des Einflusses der Apparate und Seilschaften auf die Wahlmöglichkeiten der Bürger. Im Frankreich von 1848 und unter dem Zweiten Kaiserreich etwa wehrten sich Arbeitergruppen vehement gegen die Dominanz von Rechtsanwälten und Journalisten in den Wahlkomitees. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm dieses Ziel in Amerika die Form einer letztlich siegreichen Kampagne der Progressiven zur Einführung des Vorwahlsystems und zur Zurückdrängung des Einflusses der strippenziehenden Bosse an. Sehr viel weniger erfolgreiche Schlachten wurden um die Begrenzung der Ämterhäufung und der Mandatsdauer geschlagen, und auch die Einführung des imperativen Mandats war im 19. Jahrhundert ein häufig wiederkehrendes Thema.9 Obwohl in striktem Widerspruch zur klassischen Doktrin des Parlamentarismus, die auf dem Prinzip der Unabhängigkeit von Repräsentanten und Repräsentierten beruhte,10 gewann die Idee indirekt an Boden über die Formulierung von Programmen oder Plattformen, die, ohne juristisch bindend zu sein, gleichwohl die Anerkennung einer gewissen Abhängigkeit der Gewählten von den Wählern implizierten.

In eine zweite Richtung ging die Suche nach Wegen einer verbesserten Repräsentativität der Gewählten, und zwar im Sinne der Repräsentation gesellschaftlicher Gruppen: Das war der Ausgangspunkt für die Bildung von Klassenparteien (das Thema einer »gesonderten Vertretung der Proletarier« war bereits in den 1830er Jahren in Europa aufgetaucht). Die Idee einer proportionalen Vertretung sorgte ihrerseits um die Mitte des 19. Jahrhunderts für eine Mobilisierung der Kräfte, um die »Ausdrucksfunktion« des Parlaments zu erhöhen, wie man in Großbritannien sagte, wo die Bewegung zuerst theoretisch formuliert wurde und den Schauplatz der intensivsten politischen Kampagnen bildete.

Ein dritter Themenschwerpunkt bezog sich auf die Einführung von Volksabstimmungen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entzündete sich in Europa eine große Debatte an der Direktgesetzgebung durch das Volk. Amerikanische Progressive, deutsche und französische Sozialisten, Erben des Bonapartismus, sie alle machten sich für das Thema stark. Selbst konservative Stimmen, vor allem in Großbritannien, mischten sich in den Chor, in der Annahme, dass es unter gewissen Umständen ein nützliches Sicherheitsventil darstellen könne, dem Volk ein Vetorecht einzuräumen.

Diese verschiedenen, der parlamentarisch-repräsentativen Perspektive zugehörigen Sichtweisen des demokratischen Fortschritts zeichneten sich bereits zuzeiten der Französischen Revolution ab, während bereits ab Herbst 1789 bissige Kritiken an der »Vertreteraristokratie« laut wurden. Es mag verblüffend sein festzustellen, dass es zwei Jahrhunderte später immer noch dieselben drei großen Problembereiche sind, die vielfach die Unduldsamkeiten und die Erwartungen an einen demokratischen Fortschritt heraufbeschwören. Mit gewissen Anpassungen natürlich. Die Vertretung von Minderheiten oder das Thema der Geschlechterparität haben beispielsweise das Projekt einer Klassenrepräsentation in den Hintergrund gedrängt. Doch ansonsten ist die Kontinuität erstaunlich. Allein die Idee des Losentscheids stellt eine Innovation dar. Doch läuft sie im Kern auf nichts anderes hinaus, als die Wahlen durch ein Selektionsverfahren zu ersetzen, das geeigneter erscheint, die Repräsentativität der Institutionen zu erhöhen, und somit dem parlamentarisch-repräsentativen Paradigma verpflichtet bleibt.11 Und auch das Konzept der partizipativen Demokratie gehört im Wesentlichen dem gleichen Raum der Vervollkommnung/Überwindung der repräsentativen Demokratie an. In all diesen Fällen werden Art und Eigenschaft der Repräsentationsbeziehung sowie die Möglichkeit direkter Bürgerbeteiligung als die zentralen Elemente des demokratischen Ideals begriffen.

Das Verhältnis von Regierenden zu Regierten

Im Zeitalter der dominierenden Exekutive liegt der Schlüssel zur Demokratie in den Voraussetzungen ihrer Kontrolle durch die Gesellschaft. Folglich wird das Verhältnis der Regierenden zu den Regierten zum entscheidenden Faktor. Das Ziel kann nicht das einer unmöglichen Selbstregierung sein (auch wenn das Ideal des gesetzgebenden Volkes Sinn macht), solange der Begriff »Regierung« eine funktionale Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten voraussetzt.12 Vielmehr geht es darum, dieses Verhältnis auf das strikt Funktionale zu begrenzen, indem man die Bedingungen eines Regierungshandelns festlegt, unter denen es für die Bürger nutzbar ist und zu keiner Herrschaftsinstanz, keiner von der Gesellschaft entkoppelten oligarchischen Macht wird. Das Problem ist, dass die einzige Lösung, die bisher für diese Anforderung gefunden wurde, sich auf die Wahl des Oberhaupts dieser Exekutive beschränkt. Allerdings wird auf diese Weise lediglich eine Genehmigungsdemokratie installiert, eine Lizenz zum Regieren erteilt. Nicht mehr und nicht weniger. Was nicht genügen kann, solange wir auf der Welt gewählte Präsidenten erleben, die weit davon entfernt sind, sich als Demokraten zu verhalten.

Wenn man auch davon ausgehen kann, dass die Wahl sich unter gewissen Umständen eignet, das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten angemessen wiederzugeben,13 so gilt für das Verhältnis von Regierenden und Regierten nicht das Gleiche. Dieser Punkt ist wesentlich. Historisch gesehen ging es bei der Ernennung eines Repräsentanten grundsätzlich darum, eine Identität zum Ausdruck zu bringen oder ein Mandat zu übertragen, alles Dinge, die im Idealfall durch den Wahlakt gewährleistet werden konnten. Letzterem wurde in der Tat zugetraut, den Repräsentanten in seiner immanenten Qualität und Funktionalität zu begründen, einschließlich der Vorstellung von Permanenz, die dieser Begriff impliziert. Während die Wahl eines Regierenden nur seine institutionelle Position legitimiert und ihm keinerlei Qualität verleiht. Die »demokratische Leistungsfähigkeit« einer solchen Wahl ist insofern geringer als die der Wahl eines Repräsentanten.14

Daher in diesem Fall die zwingende Notwendigkeit, die Genehmigungsdemokratie um eine Betätigungsdemokratie zu erweitern. Letztere hat die Aufgabe, die von den Regierenden erwarteten Eigenschaften zu ermitteln sowie die organisatorischen Regeln ihres Umgangs mit den Regierten festzulegen. Die Errichtung einer solchen Demokratie ist das, worum es fortan im Wesentlichen geht. Und ihr Versagen stellt die Weichen dafür, dass die Wahl eines Exekutivoberhaupts in ein illiberales, wenn nicht in manchen Fällen diktatorisches Regime mündet. Unsere Gegenwart ist voller Beispiele dieser Art, die erstmals durch den französischen Cäsarismus des 19. Jahrhunderts veranschaulicht wurde. Die mörderischen und destruktiven Pathologien des 20. Jahrhunderts waren, neben den Totalitarismen, solche der Repräsentation. Es handelte sich um Mächte, die für sich in Anspruch nahmen, die strukturellen Aporien und Unzulänglichkeiten des Repräsentativsystems durch eine vollkommene Verkörperung der Gesellschaft überwunden zu haben, und ihren Absolutismus aufgrund dieser Deckungsgleichheit für legitim erachteten. Diese alten Pathologien existieren natürlich nach wie vor. Doch sind die neuen Pathologien des 21. Jahrhunderts von anderer Art. Sie resultieren nunmehr aus der Verkürzung der regierenden Demokratie auf ein bloßes Genehmigungsverfahren. Wenn es eine Krankheit des Präsidialismus gibt, dann ist es diese Atrophie.15

Es ist das Hauptanliegen dieses Buches, die Merkmale dieser Betätigungsdemokratie zu definieren. Sie umschreibt, wonach heute in vielen Bereichen der Zivilgesellschaft und in Aktivistenkreisen auf sehr allgemeine und unbestimmte Weise gesucht wird, mit dem Propagieren von Forderungen wie der nach Transparenz, dem Appell zum Aufbau einer Internetdemokratie bzw. der Bezugnahme auf das Konzept der offenen Regierung, um nur einige Schlagworte aufzugreifen, die derzeit allenthalben zu hören und zu lesen sind. Die vorliegende Studie beabsichtigt, diese Bestrebungen und Reflexionen zu ordnen, indem zwischen den von den Regierenden verlangten Eigenschaften und den organisatorischen Regeln im Umgang zwischen Regierenden und Regierten unterschieden wird. Sie bilden zusammengenommen die Prinzipien einer Betätigungsdemokratie als guter Regierung.

Dieses Werk unterteilt die Erforschung ihrer Grundelemente in zwei Rubriken. Zunächst das Verständnis der Prinzipien, die den Beziehungen von Regierenden und Regierten in einer Demokratie zugrunde liegen sollten. Derer werden drei angeführt: Lesbarkeit, Verantwortlichkeit und Reaktivität (ein Begriff, der noch am ehesten dem englischen responsiveness entspricht). Diese Prinzipien zeichnen die Umrisse einer Aneignungsdemokratie. Ihre Implementierung würde es dem Bürger ermöglichen, auf direktere Weise die demokratischen Funktionen auszuüben, die die parlamentarische Macht lange für sich vereinnahmte. Sie tragen auch voll und ganz der Tatsache Rechnung, dass die Macht kein Ding, sondern eine Beziehung ist, und dass es folglich die Merkmale dieser Beziehung sind, die die Differenz zwischen einer Herrschaftssituation und einer rein funktionalen Unterscheidung ausmachen, innerhalb derer sich eine staatsbürgerliche Form von Machtaneignung vollziehen kann. Es folgt die Benennung der persönlichen Eigenschaften, die erforderlich sind, um ein »guter Regierender« zu sein – Eigenschaften, die nicht deshalb erfasst werden, um ein idealisiertes Phantombild zu zeichnen, als Summe aller Talente und aller Tugenden, sondern um eine präzisere Vorstellung von jenen Eigenschaften zu gewinnen, die notwendig sind, um ein Vertrauensverhältnis zwischen Regierenden und Regierten zu etablieren und so eine Vertrauensdemokratie zu begründen. Vertrauen gilt in diesem Sinne als eine jener »unsichtbaren Institutionen«, deren Vitalität im Zeitalter der personalisierten Demokratien von entscheidender Bedeutung ist. Wir werden unsere Untersuchung hauptsächlich auf zwei Eigenschaften konzentrieren: Integrität und Wahrsprechen.

Der Aufbau einer Vertrauensdemokratie und der einer Aneignungsdemokratie sind die beiden Schlüssel des demokratischen Fortschritts im Zeitalter der präsidialen Regierungsform. Diese Prinzipien der guten Regierung dürfen allerdings nicht allein auf die verschiedenen Instanzen der Exekutive beschränkt bleiben. Sie müssen sich auf den ganzen Komplex der nicht gewählten Institutionen mit regulativer Funktion (die unabhängigen Behörden), die verschiedenen Ebenen der Justiz und den gesamten öffentlichen Dienst erstrecken. Denn es handelt sich um Personen und Institutionen, die irgendeine Form von Befehlsgewalt über andere ausüben und damit zu den regierenden Organen gehören.

Niedergang und Neudefinition der Parteien

Die politischen Parteien waren jene Organisationen, die im Rahmen des parlamentarisch-repräsentativen Demokratiemodells die Hauptrolle spielten. Mit dem Aufkommen des allgemeinen (zunächst auf Männer beschränkten) Wahlrechts trugen sie zur Meinungsbildung durch Kanalisierung der Meinungsvielfalt bei. Sie waren eine Organisationsinstanz der »Vielen«, wie man im 19. Jahrhundert sagte. Insbesondere lenkten sie durch den Mechanismus der Kandidatenkür die Wahlkämpfe in geordnete Bahnen. Parallel dazu strukturierten sie den Parlamentsbetrieb durch die Bildung disziplinierter Gruppen, die direkt oder über ein System von Bündnissen das Zustandekommen von Mehrheiten ermöglichten. Mittels dieser beiden Funktionen vollzogen sie den Bruch mit der alten Welt der Honoratiorennetzwerke, die in der Ära des Zensus- oder zweistufigen Wahlrechts die Politik und das Parlament beherrscht hatten.

Zugleich waren die Parteien in zunehmenden Maße Massenorganisationen. Jenseits ihres funktionalen Bezugs auf Wahlen und Parlamente spielten sie auch eine Rolle im Bereich der sozialen Repräsentation. Sie sprachen für Klassen und formulierten Ideologien, das heißt, sie brachten Interessen und Visionen der Gesellschaft und ihrer Zukunft zum Ausdruck. Mit ihnen wurde das parlamentarisch-repräsentative System seiner Definition voll und ganz gerecht. Gleichwohl sorgte ihre bürokratisch-hierarchische Dimension schon früh für heftige Kritik. In Frankreich wurden bereits 1848, anlässlich der ersten allgemeinen und direkten Wahlen, Stimmen laut, die sich gegen ihre ersten noch embryonalen Erscheinungsformen wandten (es handelte sich um Wahlkomitees, die Kandidatenlisten erstellten). »Das erste Mal, dass ihr euer politisches Recht ausübt«, wetterte beispielsweise eine der großen Stimmen der Epoche, »versammelt man euch ungefragt, man drückt euch eine Liste in die Hand, die ihr weder diskutieren noch überhaupt habt lesen können, und sagt euch im Befehlston: Werft das in die Urne. Man macht euch zu einer Wahlmaschine.«16 Mit größerer Strenge und auch Härte wurde den Parteien zu Beginn des 20. Jahrhunderts von zahlreichen Autoren der Prozess gemacht, insbesondere in zwei Grundlagenwerken der Politikwissenschaft, La Démocratie et les partis politiques von Moïseï Ostrogorski (1902), bezogen auf die Vereinigten Staaten und Großbritannien, und Zur Soziologie des Parteiwesens von Robert Michels (1911), das sich der deutschen Sozialdemokratie widmete. Diese Studien zeigten, wie über das Parteienwesen aristokratische Formen in der Demokratie automatisch wiederaufleben. Die erste legte den Schwerpunkt auf die Verwandlung von Parteien in »Maschinen«, die in den Händen von Berufspolitikern zur Verselbstständigung tendieren, während die zweite die Art und Weise analysierte, wie aus diesen Politikern eine Oligarchie neuen Typs entsteht. Daher die stark zwiespältigen Gefühle ihnen gegenüber. Doch ungeachtet solcher Trägheitsmomente und der daraus potenziell resultierenden Formen der Apparateherrschaft über die Bürger, die sicherlich je nach Gruppierung unterschiedlich ausfielen, mit einer extremen Zuspitzung des Phänomens durch die kommunistische Disziplin, ist zugleich unbestreitbar, dass die Parteien bis dahin politikfernen Bevölkerungsgruppen eine Stimme, ein Gesicht und einen Zugang zum Forum der Öffentlichkeit verschafft haben.

Die Parteien mussten mitansehen, wie diese letztere Repräsentativfunktion ab den 1990er Jahren allmählich erodierte, um schließlich ganz zu verschwinden. Aus zwei Gründen. Der erste und offensichtlichste ergibt sich aus der Tatsache, dass die Gesellschaft selber undurchsichtiger, in mancherlei Hinsicht sogar unlesbar und folglich schwerer repräsentierbar geworden ist als die einstige Klassengesellschaft mit ihren klaren Konturen und Merkmalen. Denn wir sind in ein neues Zeitalter eingetreten, das des Individualismus der Singularität,17 das durch eine komplexer und heterogener werdende soziale Welt charakterisiert ist sowie durch die Tatsache, dass der Einzelne mittlerweile ebenso von seiner persönlichen Lebensgeschichte wie seiner sozialen Stellung geprägt wird. Die Gesellschaft zu repräsentieren, setzt in diesem Sinne voraus, die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse im Zeitalter eines Innovationskapitalismus, der die Nachfolge des Organisationskapitalismus angetreten hat, zu beschreiben und gleichzeitig den das individuelle Leben bestimmenden Situationen, Belastungen, Ängsten und Erwartungen gesellschaftlich Rechnung zu tragen. Die Unsichtbarkeit des Sozialen rührt heute von diesen beiden Realitätsebenen her. Die alten Parteien besaßen, gerade aufgrund ihres Massencharakters, ein identitär zu nennendes Repräsentationsvermögen. Das haben sie heute eingebüßt. Und zwar auch deshalb, weil die Repräsentation der Gesellschaft sich in der neuen sozialen Welt grundlegend verändert hat. Um die Wahrheit dieser Welt in ihrer ganzen Komplexität wiederzugeben, muss sie künftig über eine »narrative« Dimension verfügen, die die Parteien nicht auszubilden vermögen. Gleichzeitig haben sich Letztere von der Lebenswelt entfernt, und ihre mit abstrakten Kategorien und Begriffen durchsetzte Sprache, die nicht mehr mit dem konkreten Erleben der Menschen verbunden ist, stößt inzwischen oft auf taube Ohren. Die soziologisch zu nennenden Wurzeln dieses neuen Zeitalters defizitärer Repräsentation sind inzwischen besser erforscht, und ich selbst habe mehrere Werke publiziert, die sich mit der Klärung dieser Frage beschäftigen.18

Ein weiterer, unauffälligerer, aber für das Anliegen dieses Buches wichtiger Faktor hat ebenfalls massiv zum Niedergang der Parteien beigetragen: ihr Wechsel auf die Seite der regierenden Funktion. Sie begreifen sich nicht mehr als Schnittstellen, als Vermittler zwischen der Gesellschaft und den politischen Institutionen. Zunächst, weil die Parlamente selbst keine repräsentativen Instanzen oder treibenden Kräfte bei der Erarbeitung und Vorlage von Gesetzesentwürfen mehr sind; letztere Aufgabe ist heute weitestgehend der Exekutive vorbehalten. Vor allem jedoch, weil die Hauptfunktion der Parlamente heute mehrheitlich darin besteht, die Regierungen zu unterstützen oder, was oppositionelle Fraktionen angeht, sie zu kritisieren, bis sie ihrerseits deren Platz einnehmen. Die Parteien sind folglich zu Hilfstruppen des Exekutivbetriebs geworden,19 sie führen den Kampf darum, der Macht eine fortdauernde Legitimation zu sichern oder im Gegenteil durch den Nachweis der verhängnisvollen Auswirkungen ihrer Politik auf ihre Niederlage bei den nächsten Wahlen hinzuarbeiten. Sie vertreten faktisch mehr die Logik der Regierungen gegenüber den Bürgern als die der Bürger gegenüber den Regierungen. Auch wenn die Abgeordneten nach wie vor in ihren Wahlkreisen gewählt werden, sind sie doch nur noch am Rande deren Vertreter, in der Hauptsache sind sie mit rein politischen Aufgaben betraut.20 Sie bilden fortan die beherrschte – da relativ passive – Fraktion der regierenden Oligarchie. Abgesehen von den sozialen Entdifferenzierungs- und Bürokratisierungsprozessen der Parteistrukturen ist dieses Abgleiten in die Exekutive der Grund für die zunehmende Entkoppelung der politischen Führungskräfte von der Gesellschaft und ihre Professionalisierung, die sie zu reinen (männlichen und weiblichen) Vertretern des Apparates macht.21 Ihre »Realität« wird identisch mit der Binnenperspektive der Politik, dem Leben der Strömungen, der Kongresse, der parteiinternen Schlachten, die das Kräfteverhältnis bestimmen, aus dem die Regierenden hervorgehen.

Gleichzeitig reduziert sich der Aktivismus der Parteien auf das Führen von Wahlkämpfen, mit der Präsidentschaftswahl als Dreh- und Angelpunkt, die das ganze übrige politische Leben beherrschen. Wegen des Rückzugs der Parteien auf eine untergeordnete Regierungsfunktion befindet sich die Zahl »gewöhnlicher«22 Mitglieder fast überall im freien Fall. Dennoch kommen sie lediglich unter dem utilitaristischen Gesichtspunkten den Vorwahlen (wo solche existieren) auf den Gedanken, sich auf diese Basis zurückzubesinnen, weil ihre Kontrolle in diesem Kontext ein entscheidendes Kapital darstellt. Aus welchem Blickwinkel man die demokratische Funktion der Parteien auch betrachtet, man gelangt zu dem Schluss, dass sie fortan auf das alleinige Funktionieren der Genehmigungsdemokratie beschränkt sind.

Da die Parteien die Repräsentationsfunktion de facto aufgegeben haben, muss sie nun über andere Kanäle mit Leben erfüllt werden. Diese werden notgedrungen vielfältig sein, ob es nun darum geht, narrative Repräsentationsformen zu entwickeln oder über Verbände und Vereine, die in verschiedenen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens tätig sind, »gesellschaftliche Probleme zu repräsentieren«. Hier ist eine bedeutsame Aufgabe zu erfüllen, um das Gefühl des Schlechtrepräsentiertwerdens zu überwinden, das ständig an unseren Demokratien nagt und sie für die Sirenen des Populismus empfänglich macht. In Le Parlement des invisibles23, dem Gründungsmanifest des 2014 gestarteten Projekts »Raconter la vie«24, habe ich Analyse- und Aktionswerkzeuge vorgeschlagen, um zur Wiederbelebung einer »postparteilichen« Repräsentation zu gelangen.

Unterwegs zu neuen demokratischen Organisationen

Die zu Hilfsstrukturen der Regierungsorgane gewordenen Parteien sind folglich nicht in der Position, eine positive Rolle bei der demokratischen Gestaltung des Verhältnisses der Regierenden zu den Regierten zu spielen. Das ist offenkundig, wenn sie an einer Machtkoalition teilhaben, aber ebenso deutlich, wenn sie sich in der Oppositionsrolle befinden und die amtierende Regierung kritisieren. Denn ihre Interventionen verfolgen weit mehr den Zweck, die Macht zurückzuerobern, als die Fähigkeiten der Bürger zu erweitern, selbst wenn sie oft gebetsmühlenhaft einen vermehrten Rückgriff auf Volksabstimmungen anmahnen.25 Zudem richtet sich ihre Aufmerksamkeit vorrangig auf das Verhältnis der Regierung zum Parlament, dessen aktiver Bestandteil sie sind.26

In diesem Kontext sind jenseits dieser längst von der wirklichen Welt entkoppelten Organisationen neue politische Formen entstanden. Parteien, die ungeachtet ihrer Beteiligung an Wahlen einen stark partizipativen Charakter zu bewahren versuchen, wie Podemos in Spanien, um nur ein Beispiel zu nennen (mit einem sehr charismatischen Führer an der Spitze, wie allerdings gleichzeitig anzumerken ist); Protestbewegungen neuen Stils, wie die Indignados, die zu Beginn der 2010er Jahre in verschiedenen Ländern auftauchten, oder auch Occupy Wall Street, die sich 2011 als »führerlose Widerstandsbewegung« definierte und beabsichtigte, für die 99 Prozent einer Bevölkerung zu sprechen, die nicht mehr bereit waren, die Gier und Korruption des 1 Prozent zu tolerieren, sowie spektakuläre Massenmobilisierungen auf verschiedenen Plätzen der Hauptstädte dieser Welt, die zum Sturz verhasster Regime führten. Auf diese unterschiedlichen Arten vollzogen sich eine Wiederbelebung des Protest- und Repräsentationsmilieus und eine Reaktivierung des Konzepts eines demokratischen Forums, die von den Medien und den politischen Analysten ausgiebig kommentiert wurden. Parallel dazu bildete sich ein anderer Komplex neuartiger ziviler Initiativen heraus, die in den englischsprachigen Ländern good government organizations getauft wurden. Das Ziel dieser Initiativen ist es nicht, »die Macht zu ergreifen«, sondern sie zu überwachen und zu kontrollieren. Weniger im Fokus der Medien stehend als die oben genannten Bewegungen, setzen sie sich mittlerweile auf allen fünf Kontinenten dafür ein, die Regierenden zu zwingen, Rechenschaft abzulegen, die Wahrheit zu sagen, den Bürgern zuzuhören, sich auf verantwortungsvolle Weise zu verhalten, den undurchsichtigen Schleier zu lüften, hinter dem sie sich häufig verbergen, und erschließen so dem Bürgerengagement ein neues Feld. Das vorliegende Buch entwirft einen konzeptuellen Gesamtrahmen, der es ermöglicht, über die Rolle derartiger Organisationen und die Experimente auf diesem neuen Feld sowie die ihnen entsprechenden Erwartungen Aufschluss zu geben. Es zielt ferner darauf ab, sie in den Kontext einer erweiterten, auf Regierungspraktiken anwendbaren Demokratietheorie zu stellen. Es wird somit beabsichtigt, die Voraussetzungen für eine Demokratisierung der neuen präsidialen Regierungsform der Demokratie zu definieren und infolgedessen auch ihren Auswüchsen vorzubeugen.

Ein anderer demokratischer Universalismus

Die Umsetzung von Formen der Betätigungsdemokratie erschließt selbst dort eine Perspektive für Forderungen und Aktionen, wo die Bürger noch davon abgehalten werden, zu den Urnen zu gehen. Das wird an den Vorgängen in China deutlich, um nur ein plakatives Beispiel zu nennen. Dort engagieren sich die Bürger gegen Korruption, das Desinteresse der Macht, die Intransparenz mancher politischer Maßnahmen, die Verantwortungslosigkeit der Herrschenden und verlangen, dass die Behörden Rechenschaft ablegen.27 Dort, wo die Regime noch nicht demokratisch sind, kämpfen die Bürger darum, dass ihre Regierungen gewisse demokratische Mindeststandards erfüllen. Man erkennt an diesem Beispiel, dass die Erkämpfung von Grundelementen einer solchen Betätigungsdemokratie der Einführung einer Wahldemokratie vorausgehen kann. Historisch gesehen ist es übrigens in den Altdemokratien, besonders in Europa, genauso verlaufen. Im Gegensatz zu den neuen Demokratien, die leider in vielen Fällen bei einer bloßen Genehmigungsdemokratie28