cover

Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Ausgewählt von Jörg Baberowski, Stefanie Schüler-Springorum und Michael Wildt

Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Genozids, der Lager, des totalen Krieges, des Totalitarismus und Terrorismus, als Jahrhundert von Flucht, Vertreibung, Zwangsmigration. Die Vorstellung, Gewalt einhegen, begrenzen und letztlich überwinden zu können, ist der Einsicht gewichen, dass alles möglich ist, jederzeit und an jedem Ort der Welt. Auch Demokratien sind vor entgrenzter Gewalt nicht gefeit.

Darum sind sorgfältige Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts nötig, die Formen, Akteure, Situationen, Rechtfertigungen und Repräsentationen der Gewalt untersuchen. Der Blick darf dabei nicht auf Europa beschränkt bleiben, sondern muss auch jene Räume der Welt einbeziehen, die eng verflochten mit der von Europa aus verübten Gewalt sind.

Ausgewählt von Jörg Baberowski, Stefanie Schüler-Springorum und Michael Wildt, präsentieren die Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts die Forschungsergebnisse junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Monografien analysieren unterschiedliche Felder des Gewaltgeschehens, sie beschreiben aber auch die Folgen und skizzieren mögliche Wege aus der Gewalt.

Stefan Wiese

Pogrome im Zarenreich

Dynamiken kollektiver Gewalt

Hamburger Edition

Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-679-8

© 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-304-9

Redaktion: Sigrid Weber
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Karten: Peter Palm, Berlin
Satz aus der Minion Pro von Dörlemann Satz, Lemförde

Coverabbildung
Bildausschnitt aus: »Chisinau [Kišinev]. Olidort’s house, Reninskayastr.
After the Pogrom. 1903.«
Virtual Museum of Judaica in Moldova; Jewish library »Itzik Mangher«
from Chisinau, Republic of Moldova

Für Carl-Otto, Carl-Frederik und Theodor

Inhalt

Einleitung

Was ist ein Pogrom?

Zur Pogromforschung

Leitgedanken

Historische Kontexte

Schreibweisen

1   Pogrom als Improvisation

Auftakt in Elisavetgrad

Die Akteure

Dynamik der Gewalt

2   Gewalt als Epidemie

Russland und die Cholera

Pogrome an der Wolga

Ausbreitung von Gewalt

3   Gerüstet ins Pogrom

Schauplatz Žitomir

Die jüdische Selbstwehr

Die Schwarzhunderter

4   Einberufungspogrome

Pogrom in Astrachan’

Gewalt gegen wen?

Rekruten als Täter

5   Vom Pogrom zum Massaker

Schluss

Anhang

Dank

Schlüssel zu in den Fußnoten verwendeten Abkürzungen und Termini

Archive

Als Quellen verwendete Zeitschriften und Zeitungen

Publizierte Quellen und Sekundärliteratur

Zum Autor

Einleitung

»Ein Pogrom kann man nach Belieben machen –mit zehn Opfern oder mit zehntausend, ganz nach Wunsch.«1

»Ein Knopfdruck hier, und schon gibt es ein Pogrom in Kiew, ein Knopfdruck dort – ein Pogrom in Odessa.«2

In den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs gab es Hunderte Pogrome, bei denen mehr als 1000 Menschen starben und viele Tausend verletzt wurden. Doch mehr noch als die Zahl der Opfer bedrückte es viele Zeitgenossen, wie leicht es offenbar war, die Gewalt gezielt hervorzurufen. Kaum jemand zweifelte daran, dass das so war. Das erste oben angeführte Zitat stammt aus einer Rede des liberalen Fürsten Sergej D. Urusov vor der Staatsduma, dem Parlament des Russischen Reiches. Ein hoher Mitarbeiter der Geheimpolizei habe ihm diese Information gegeben und Urusov konnte darauf vertrauen, dass die linken Abgeordneten, an die er sich vor allem richtete, keinen Zweifel an dieser Selbstentlarvung des Regimes hegen würden; tatsächlich erntete er tosenden Applaus.3 Das zweite Zitat stammt von der anderen Seite des ideologischen Spektrums, es wurde Alexander I. Dubrovin, dem Vorsitzenden des berüchtigten ultranationalistischen »Bundes des Russischen Volkes« (SRN) zugeschrieben. Ob es authentisch ist, lässt sich nicht belegen. Wichtiger ist, dass Anatolij A. Rejnbot, der frühere Stadthauptmann von Moskau, es im Salon der Bogdanovičs, einer Hochburg der Petersburger Konservativen, vortragen konnte, ebenfalls ohne fürchten zu müssen, dass das dortige Publikum den zugrunde liegenden Gedanken, nämlich die Machbarkeit von Massengewalt, infrage stellen würde.

Sehr viele Zeitgenossen, ob Gegner oder Befürworter der Autokratie, dachten in dieser Weise über Pogrome. Die Gewalt galt als das Werk skrupelloser Hintermänner, und deshalb musste man sich, wo Juden, Armenier oder andere Bevölkerungsgruppen massenhaft verprügelt und ausgeraubt wurden, weder für die Details der Taten interessieren noch für die Täter. Denn diese führten nur aus, was ihnen die eigentlich Verantwortlichen eingeflüstert hatten. Weil dieses Denken zu den Gemeinplätzen der Zeit gehörte, findet es sich fast durchgängig in den heute zur Verfügung stehenden Quellen und hat folglich in einen erheblichen Teil der Forschungsliteratur Eingang gefunden.

In diesem Buch geht es um eine andere Interpretation der Pogrome. Im Zentrum steht die Beobachtung, dass Täter, Opfer, Zuschauer und Staatsvertreter permanent auf das Handeln der jeweils anderen reagieren mussten. Daraus entstand eine Eigendynamik, die vorherige Absichten relativierte. Die Pläne der einen wurden von den anderen vereitelt oder wirkten sich in einer Weise aus, die man nicht vorhergesehen hatte. Deshalb war Pogromgewalt kaum zu kontrollieren. Nur wer die spezifischen Ressourcen und Ziele der anderen Parteien kannte, konnte versuchen, eine Situation herzustellen, in der sich die Schwächen der anderen zum eigenen Vorteil auswirkten. Es war also durchaus möglich, Pogrome willentlich zu beeinflussen, aber stets mit begrenzter Reichweite und ohne Erfolgsgarantie. Man kann verstehen, warum wohl alle Beteiligten wünschten, dass Pogromgewalt leicht zu steuern wäre: Die einen wollten sie auf »Knopfdruck« in Gang setzen, die anderen beenden. Doch tatsächlich waren Pogrome kontingent, komplex und dynamisch.

Was ist ein Pogrom?

Was ist unter einem Pogrom zu verstehen? Schon das Wort ist problematisch. Im Russischen galt es bis ins späte 19. Jahrhundert als veraltet und bezeichnete nichts anderes als umfassende Zerstörung, unabhängig davon, gegen was oder wen sie sich richtete und ob ihre Ursachen in Naturgewalten oder menschlichem Handeln lagen. Dann kam die Welle antijüdischer Gewalt der 1880er Jahre – eine in diesen Ausmaßen neue Erscheinung, die nach einer Bezeichnung verlangte. Während die staatlichen Behörden meist an dem juristischen Terminus der besporjadki (»Unruhen«) festhielten, setzte sich in der Publizistik allmählich das Wort »Pogrom« durch, und zwar nicht zuletzt aufgrund seines archaisehen Klangs.4 Denn eigentlich, so wurde argumentiert, sei die Zeit einer so »mittelalterlichen« Form von Gewalt längst vorbei.5 Dass sie dennoch existierte, musste, davon wurde von Anfang an ausgegangen, auf Inspiration, Anordnung oder Organisation »von oben« zurückzuführen sein.

Über Russland hinaus verbreitete sich der Begriff erst nach dem Pogrom gegen die Juden von Kišinev im Jahr 1903. »Pogrom« wurde (neben »Steppe«) zu einem der ganz wenigen Worte, die aus dem Russischen in praktisch alle europäischen Sprachen übernommen wurden und mit der Zeit ihre enge semantische Bindung an »Russland« verloren. Dabei verfügten alle Sprachen Mittel- und Westeuropas über Wörter, mit denen Massenausschreitungen gegen Juden hätten bezeichnet werden können (weil es diese Form der Gewalt ja nicht nur in Osteuropa gab). Im Deutschen hätte man etwa von »Exzessen« sprechen können und im Englischen von riots. Nun aber schien es, dass diese Begriffe nicht die (vermeintlichen) Besonderheiten der Ereignisse von Kišinev erfassten. Einerseits, weil die Gewalt ja von hohen Staatsbeamten, wenn nicht vom Zaren selbst ausgegangen sein sollte. Andererseits, weil der Schauplatz das Russische Reich war, das ohnehin viele im »Westen« für essenziell andersartig hielten. Die Pogrome waren also letztlich eine Folge der Petersburger Despotie: der skrupellosen Herrscher und ihrer zu allen Grausamkeiten fähigen Untertanen. Pogrome waren fremd und exotisch.

Damit sind drei Momente benannt, die den Pogrombegriff bis heute (in der anglofonen, deutschen und russischen Tradition jeweils in unterschiedlicher Weise) prägen: seine Fokussierung auf Gewalt gegen Juden, die Steuerung oder zumindest Duldung von »oben« und eine Tendenz zur Exotisierung.6 Für eine Untersuchung, die nach der Funktionsweise von Gewalthandeln fragt, sind diese Konnotationen aber hinderlich. Dass Gewalt gegen Juden im Russischen Reich eine besondere Qualität (und nicht nur Quantität) hatte, müsste erst gezeigt werden, und dasselbe gilt für die Rolle des Staates und seiner Führungsspitze. Was die Exotisierung betrifft, so wird nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts niemand mehr behaupten, dass Pogrome dem russischen Nationalcharakter geschuldet sind. Sie scheint jedoch – nun ohne Betonung des Russischen – nach wie vor durch, wenn Pogrome explizit oder implizit auf besondere Eigenschaften der Täter zurückgeführt werden.7

Für einen analytischen Begriff des »Pogroms« sind solche impliziten Annahmen hinderlich. Er sollte möglichst präzise das erfassen, was gemeinhin unter einem Pogrom verstanden wird, ohne die Antworten auf so interessante Fragen wie die nach den Motiven und Ursachen definitorisch vorwegzunehmen.8 In dieser Arbeit wird unter einem Pogrom eine Form von Gewalt verstanden, bei der ein Täterkollektiv ein Opferkollektiv angreift. Was die Täter zu einem Kollektiv macht, ist vor allem das gemeinsame Gewalthandeln. Anders ist es bei den Opfern: Sie werden wegen einer von den Tätern zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit (»die Juden«, »die Aufrührer« usw.) und nicht aufgrund individueller Vorwürfe attackiert.9 Ob sich die Opfer selbst als einander zugehörig begreifen, spielt dabei keine Rolle. Die Definitionsmacht liegt primär bei den Tätern.

Wie schon die Rede von Opfern und Tätern impliziert, ist Pogromgewalt im Wesentlichen einseitig. Zwar lässt sich nicht selten beobachten, dass die Opfer ebenfalls zu den Waffen greifen. Doch auch dann bleibt die Gewalt der Täter (zumindest in allen hier untersuchten Fällen) weitaus gravierender als diejenige der Opfer, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen beiden Gruppen steht nicht infrage.

Dazu kommt noch eine dritte Gruppe von Akteuren, nämlich Vertreter der Staatsmacht mit ihrem Anspruch auf das Gewaltmonopol. Pogromtäter stellen diesen Anspruch infrage, weswegen sich in der Regel die staatliche Strafgewalt auf sie richtet. Doch geschähe das immer rasch und umfassend, würde kein Pogrom über seinen Beginn hinauskommen. Pogromgewalt kann sich nur entfalten, wenn die Vertreter des Staates langsam oder uneindeutig auf sie reagieren. Manchmal werden diese sogar selbst zu Tätern. Auch darum wird es in dieser Arbeit immer wieder gehen. Entscheidend ist vorläufig die »dreistellige« Konstellation, die das Pogromgeschehen strukturiert.10

Ein letztes wichtiges Merkmal wird in der Abgrenzung von einer benachbarten Form kollektiver Gewalt deutlich, dem Massaker. Zwar kann die Grenze nicht sehr scharf gezogen werden, und manche Autoren behandeln vieles, was hier als Pogrom beschrieben wird, als Massaker.11 Doch spätestens dann, wenn ein militärischer Verband einem Befehl folgend versucht, an einem bestimmten Ort alle Angehörigen einer bestimmten Gruppe zu ermorden, befindet man sich sicherlich jenseits dessen, was gemeinhin als Pogrom bezeichnet werden kann.12 Die Differenz zwischen beiden Typen lässt sich am besten mit dem Gegensatz von Spontaneität und Planmäßigkeit beschreiben. Pogrome sind stark durch spontane Elemente geprägt, auch wenn man immer wieder auf planmäßiges Handeln stoßen wird. Was sich an einem Pogrom ändert, wenn bestimmte Akteure stärker organisiert sind, gehört zu den Fragen, die anhand der Fallstudien beantwortet werden sollen.

Diese Arbeitsdefinition verzichtet auf viele Merkmale, die häufig mit Pogromen in Verbindung gebracht werden.13 Pogrome richten sich nicht in jedem Fall gegen Juden und auch nicht immer gegen eine ethnische Gruppe. Letzteres scheint zwar für Pogromgewalt in besonderem Maße charakteristisch zu sein, aber dass sie sich auch gegen soziale Gruppen wie Vertreter der »Intelligenzija« richten können, ist für niemanden ein Geheimnis, der beispielsweise die Geschichte der Ersten Russischen Revolution kennt.14 Deshalb werden in dieser Arbeit Beobachtungen, die sich aus naheliegenden Gründen auf antijüdische Gewalt konzentrieren, durch Verweise auf anders gelagerte Vergleichsfälle ergänzt. Für diese haben sich mitunter andere Termini etabliert, beispielsweise für die Choleraunruhen. Gleichwohl fügen sich diese Fälle von Gewalt in die Arbeitsdefinition ein. Der konventionelle Sprachgebrauch ist zu uneinheitlich, als dass sich eine systematische Bestimmung an ihm orientieren könnte.

Pogrome sind auch nicht automatisch Taten der Mehrheit gegen eine Minderheit. Täter mögen zwar oft vorgeben, im Namen einer Mehrheit zu handeln; auf der Ebene der Akteure sind Pogrome aber meist die Taten weniger gegen viele. Die Dominanz der Täter liegt (wenn sie überhaupt zustande kommt) in ihrer Fähigkeit, eine Übermacht situativ herzustellen. Oft sind Pogrome Angriffe auf »starke Ziele in schwachen Momenten«.15 Die vorgestellte Arbeitsdefinition verzichtet auch auf eine Aussage zur Motivation der Täter. Ob sie von Frustration, Judenhass, dem Wunsch nach Sozialkontrolle oder der Beseitigung ökonomischer Konkurrenten getrieben waren, wird hier zunächst offengelassen.

Es bleibt die »Gewalt«, die letzte Komponente der Arbeitsdefinition. Es gibt eine Reihe einschlägiger Versuche, Gewalt zu definieren, und es ist nicht allzu schwierig, sie zu kritisieren. Eine zugleich umfassende und trennscharfe Begriffsbestimmung von »Gewalt« lässt sich nicht ohne Weiteres finden.16 Für diese Arbeit ist das insofern kein großes Problem, als sich die meisten Phänomene, um die es geht, in beinahe jeden Gewaltbegriff einfügen. Niemand bestreitet, dass es Gewalt ist, wenn Menschen absichtsvoll geschlagen oder ermordet werden, und deshalb könnte die Frage nach dem grundsätzlichen Charakter von Gewalt beinahe vernachlässigt werden. »Beinahe« deshalb, weil es falsch wäre, das Handeln der Täter ganz auf das Zufügen physischer Verletzungen zu reduzieren. Noch stärker als physische Verletzungen prägten Übergriffe auf Gegenstände die meisten Pogrome. Wenn auch dies in dieser Arbeit als »Gewalt« bezeichnet wird, geschieht das vor allem im Interesse der Lesbarkeit.17

Zur Pogromforschung

Diese Arbeit setzt sich vor allem mit Thesen zu den Judenpogromen im Russischen Reich auseinander, auch wenn sie nicht nur antijüdische Gewalt untersucht, denn Judenpogrome dominieren die Forschungslandschaft in quantitativer wie in konzeptioneller Hinsicht. Den Grundstein für die geschichtswissenschaftliche Reflexion der Judenpogrome im Russischen Reich legten engagierte Zeitgenossen. Meist handelte es sich dabei um Juden, die Wissenschaft mit politischem Engagement für die (oft illegale) Opposition verbanden. Man denke an Simon Dubnow, Leo Motzkin (alias A. Linden), Il’ja Ja. Čerikover oder Grigorij A. Krasnyj-Admoni, deren Arbeiten bis heute unverzichtbar sind.18 In ihrer Sicht waren die Pogrome ein Werk »von oben«: Der Zarismus, ob in Gestalt der »Heiligen Bruderschaft« oder des Innenministers Vjačeslav K. Plehwe, stiftete Pogrome an, um von den wahren Problemen des Landes abzulenken, die in der Regierungsform selbst begründet lagen. Ein im Todeskampf begriffenes Regime lenkte die destruktive Energie der Volksmassen auf einen Sündenbock, um den eigenen Untergang ein wenig hinauszuzögern. Die unmittelbaren Pogromtäter wurden in dieser Betrachtungsweise jedoch kaum berücksichtigt: Sie waren vielmehr Marionetten oder primitive, leicht manipulierbare Wesen ohne Fähigkeit zur selbstständigen Reflexion.

Anstöße für einen Paradigmenwechsel kamen ab den 1960er Jahren aus theoretischen Reflexionen über kollektive Gewalt. Gewalttätiges Handeln wurde nicht länger als Ausbruch destruktiver Energien gesehen, sondern als Protest gegen tatsächliche oder empfundene Missstände. Menschen begehrten gewaltvoll auf, wenn sich ihre sozioökonomische Lage verschlechterte, weil sie den gesellschaftlichen Abstieg fürchteten oder wenn sie nicht im gleichen Maße aufstiegen wie ihre Nachbarn. Gewalt hatte deshalb einen rationalen Kern, sie war Ausdruck sozialer Spannungen, die sich an Makro-Indikatoren ablesen ließen.19 Dieser neue Blick spiegelte sich auch in Arbeiten zur Geschichte der Pogrome Russlands. Es schlug die Stunde der Sozialhistoriker, die nun Trägerschichten der Gewalt und ihre sozioökonomischen Hintergründe identifizierten. Michael Aronson brachte die regionale Verteilung der Pogrome von 1881 mit den Routen der entwurzelten Wanderarbeiter in Verbindung.20 Stephen Berk betonte den Zusammenhang zwischen Pogrom und Wirtschaftskrise.21 Shlomo Lambroza suchte nach Korrelationen zwischen sozioökonomischen Strukturen und der Häufigkeit von Pogromgewalt.22 Zum allgemeinen Muster für die Erklärung kollektiver Gewalt trat noch ein für antijüdische Gewalt spezifisches, nämlich Eleonore Sterlings Figur des displaced social protest.23 Demnach waren zwar sozioökonomische Spannungen die Ursache der Unruhen, ihre Opfer aber nicht die eigentlich Verantwortlichen, sondern Ersatzziele, Sündenböcke. Dass sich die Gewalt so häufig gegen Juden richtete, lag einerseits an der Wirkmächtigkeit und Hartnäckigkeit antisemitischer Feindbilder, andererseits an der spezifischen sozioökonomischen Position der Juden als eine Art Mittelsleute, die sie besonders verwundbar machte. Auf das Russische Reich und seinen Ansiedlungsrayon bezogen bedeutete das, dass Juden nie Gutsherren waren und selten Großhändler, oft aber (als Gutsverwalter oder Ladeninhaber) deren Stellvertreter vor Ort und damit gewissermaßen die sicht- und angreifbaren Repräsentanten von Institutionen, die die meisten Angehörigen der Unterschichten als für sich nachteilig erlebten.24 Die Pogromtäter schlugen also insbesondere Juden, weil diese vor Ort unvorteilhafte ökonomische Strukturen verkörperten und weil die traditionelle Judenfeindlichkeit es nahelegte, sie zum Feind zu erklären; angetrieben wurde die Gewalt von sozioökonomischen Spannungen.

Darüber hinaus haben detaillierte Forschungen ergeben, dass sich die These von den Pogromen als staatlich orchestrierter Kampagne für die 1880er Jahre nicht und für die Jahre von 1903 bis 1906 nur sehr eingeschränkt halten lässt.25 Wenn Verwaltung, Polizei und Militär nicht genügend taten, um Pogrome zu verhindern oder rasch zu beenden, lag das zum Teil an ihren beschränkten Möglichkeiten und an unklaren Anweisungen; manche Staatsvertreter ermutigten aber auch die Täter oder ließen sie absichtsvoll gewähren. Pogrome gab es vor allem dann, wenn Akteure hinzukamen, die bestehende sozioökonomische Konflikte und interreligiöse Spannungen schürten und zuspitzten. Das waren in erster Linie Journalisten und Vertreter der Staatsmacht. Erst unter ihrer ideellen Anleitung gerannen abstrakte Gegensätze zu konkreten Gewalttaten.

Von einigen jüngeren Entwicklungen abgesehen, auf die ich gleich eingehen werde, ist das der Stand der Forschung zu den Pogromen im Russischen Reich. Die meisten dieser Arbeiten verstehen sich als Beitrag zu den Jewish Studies. Deshalb gilt ihr Interesse vor allem der Situation der jüdischen Opfer und weniger den darüber hinausgehenden Gegebenheiten des Landes oder den Tätern. Außerdem liegt es aus dieser Perspektive nahe, Quellen jüdischer Provenienz zu privilegieren, auch wenn viele von ihnen aus einem besonderen politischen Blickwinkel geschrieben sind. Schließlich legt die Perspektive der Jewish Studies auch nahe, die ideengeschichtliche Formation des Antisemitismus als Erklärung für die Gewalt heranzuziehen. Wie stark und welcher Art die Judenfeindlichkeit in Russland zu dieser Zeit war, ist aber eine Frage, über die man streiten kann.26 Wer im Antisemitismus die Ursache für die Pogrome sieht, interessiert sich nur selten für jenen »weiten Weg«, der nach Jacques Sémelin »zwischen der Idee und der Tat« liegt. Und auch das Pogromgeschehen selbst ist dann von nachrangigem Interesse.27

Diese Arbeit versucht hingegen zu zeigen, dass ein Verständnis der Pogromgewalt und auch ihrer Ursachen nur möglich ist, wenn die Gewalttaten beschrieben und gedeutet werden. Dabei helfen Methoden und Ansätze aus Soziologie, Politik- und Kulturwissenschaft. Die Vorstellung von Gewalt als ergebnisoffenem Prozess verdankt diese Arbeit der »neuen« Gewaltforschung mit Trutz von Trotha als zentraler Figur.28 Wie fruchtbar es sein kann, die Praktiken der Gewalt und ihren symbolischen Gehalt zu beschreiben, bevor man sozioökonomische Ursachen unterstellt, hat allerdings schon Natalie Zemon Davis gezeigt.29 Methodisch bedeutet dieses Vorhaben, mit Fallstudien zu arbeiten, um Ereignisse in einem begrenzten Rahmen so »dicht« zu beschreiben, wie das einem Historiker möglich ist.30 Freilich haftet Fallstudien stets das Problem der Generalisierbarkeit an. Ist der ausgewählte Einzelfall »Regel« oder »Ausnahme«? Warum sollte man aus dem Einzelfall etwas erfahren können, das sich auf übergreifende Zusammenhänge bezieht?31 Die Antworten fallen in verschiedenen Kapiteln dieser Arbeit unterschiedlich aus. Recht unproblematisch ist die falsifizierende Fallstudie. Beispielsweise wird mit dem Pogrom von Žitomir im Jahr 1905 ein Ereignis behandelt, das in der Literatur, wie ich zeigen will, zu Unrecht, als Musterbeispiel für eine bestimmte Erzählung von der Pogromgewalt jener Zeit gilt. Indem das vermeintliche Paradebeispiel neu gedeutet wird, fällt Zweifel auf die These, die es in der Regel belegen soll. An anderen Stellen geht es darum, unterschiedliche Aspekte der Funktionsweise von Pogromgewalt zu verstehen. Der Blick für die Details hilft hier, neue Zusammenhänge zu erkennen. Wie »allgemein« und wie »speziell« die Erkenntnisse aus den Fallstudien sind, kann durch Vergleiche geprüft werden, aber ein Beweis ist aus methodischen Gründen nicht zu erbringen. Tatsächlich mag vieles anderswo ganz anders gewesen sein; warum das so war, wäre dann wiederum eine interessante Frage, die zu stellen überhaupt erst durch die am Einzelfall entwickelten Thesen möglich wird.

Wie kann man erfahren, was die Pogromtäter und andere Akteure antrieb? Vorsicht ist angebracht, wenn historische Quellen die Motivlagen explizit benennen. Denn nach Pogromen brechen immer Deutungskämpfe aus, die man nicht mit dem Gewaltgeschehen selbst verwechseln sollte.32 Im Nachhinein befragt, was sie angetrieben habe, werden Täter meist Antworten geben, die im jeweiligen Rahmen Vorteile versprechen: Im Gerichtssaal werden sie behaupten, nichts Böses getan oder wenigstens nur Gutes im Sinn gehabt zu haben. In einem anderen Bezugsrahmen, etwa am Abend nach dem Pogrom in der Schankwirtschaft, werden sie vielleicht mit ihren Taten prahlen.33 Weder das eine noch das andere gibt notwendigerweise Auskunft über die Gewaltsituation: An beiden Orten sind die Wahrhaftigkeitsanreize ähnlich schwach. Dennoch wird hier danach gefragt, was die Täter antrieb, und das bedeutet abzuwägen, welche Dokumente aussagekräftig sind und welche beispielsweise nachträgliche Rechtfertigungen wiedergeben. Dabei helfen, neben dem üblichen methodischen Repertoire der Quellenkritik, zwei Überlegungen: Häufig herrscht weniger Uneinigkeit darüber, was während eines Pogroms geschehen ist, als über seine Bedeutung. Wenn das so ist, können die Taten Auskunft über die Täter geben. Dann ist »der Schlüssel zur Gewalt in der Gewalt selbst zu finden«.34 Ein zweiter Ansatz ist, das Sprechen, Rufen und Flüstern während des Pogroms zu berücksichtigen, sofern es sich feststellen lässt – jedoch ohne jede Äußerung gleich als Ausdruck wahrer Motive zu verstehen.35

Der Gewaltsoziologie verdankt diese Arbeit auch einige letztlich anthropologische Annahmen. Ältere Forschungsarbeiten waren oft von der impliziten Annahme geleitet, Gewalthandeln sei dem Menschen grundsätzlich zuwider. Folglich mussten Pogromtäter erst durch Angehörige der Eliten überzeugt werden, die Hand gegen ihre Nachbarn zu erheben. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass Menschen in jedem Fall empfänglicher für den Schrecken der Gewalttat sind als für ihre Attraktivität.36 Physische Gewalt ist eine Machtaktion.37 Sie kann dabei helfen, alles Mögliche an sich zu reißen, und entfaltet oft auch jenseits des Instrumentellen gewisse Reize. Gewalt kann Vergnügen bereiten. Vermutlich enthebt das Vergnügen den Täter nicht von der Notwendigkeit, vor der Gewalttat eine Schwelle zu überwinden. Aber an das Überschreiten dieser Schwelle kann man sich gewöhnen, es kann gelernt werden.38 Mit Randall Collins könnte man argumentieren, dass dies nur wenigen Menschen gelingt und dass deshalb auch nur wenige in der Lage sind, zielgenau und in der beabsichtigten Dosierung Gewalt auszuüben.39 Ob das immer und überall gilt, ist eine offene Frage. Doch selbst wenn es so wäre, genügten doch möglicherweise wenige Gewaltwillige, um eine Situation zu schaffen, in der sich eben doch viele weitere anschließen.

Damit ist ein weiterer Begriff genannt, der für diese Arbeit von großer Bedeutung ist: die Situation. Ihm liegt die Überlegung zugrunde, dass das Handeln unterschiedlicher an einem Pogrom beteiligter Gruppen als rational verstanden werden sollte, sofern es auf einer Einschätzung beruht, welches Agieren unter den gegebenen Umständen welche Folgen haben wird. Welches Handeln verspricht Profit, wann ist mit Gegenwehr, wann mit Strafen zu rechnen? Wie steht es um die »Gelegenheitsstruktur« für Angriffe, aber auch für Selbstverteidigung und staatliches Eingreifen?40 Entsteht ein »Gewaltraum«, also eine Situation, die gewaltsames Handeln privilegiert, weil üblicherweise geltende Sanktionsmechanismen außer Kraft gesetzt sind?41 Für die große Bedeutung der Situation bei Gewaltprozessen im Allgemeinen und bei Pogromgewalt im Besonderen sprechen auch die Arbeiten von Randall Collins und von Donald Horowitz, die wichtige Anstöße für diese Arbeit gegeben haben.42 Die Bedeutung situativer Faktoren zu betonen, muss nicht heißen, andere Faktoren, etwa sozioökonomische Gegensätze und ideologische Formationen, zu negieren. Beide beeinflussen die situativen Bedingungen unmittelbar. So bestimmen sozioökonomische Faktoren die Verteilung unterschiedlicher Ressourcen und ideologische Horizonte wirken auf die Wahrnehmung einer Situation ein. Solche strukturellen Faktoren mögen notwendig dafür sein, dass es zu Pogromgewalt kommt. Sie können aber nicht erklären, warum das an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten der Fall ist, an anderen, strukturell ähnlichen, aber nicht.

Situationen sind nicht einfach gegeben, sondern entstehen erst in der Interaktion unterschiedlicher Akteure. Wie diese aufeinander reagieren, hängt nicht nur von Ressourcen und Gelegenheiten ab, sondern auch von Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozessen, die die Möglichkeit von Missverständnissen beinhalten.43 Deshalb ist für Pogromgewalt eine »interaktive Dynamik […] von Kommunikation und Aktion« konstitutiv.44 Das bedeutet unter anderem, dass Pogrome in ihrem Ergebnis offen, kaum prognostizierbar und nicht primär durch vorgängige Intentionen gesteuert sind.45 In der älteren Pogromforschung blieb dies weitgehend unberücksichtigt. Dort wurde vielmehr freimütig aus dem, was geschehen war, auf die »offenbar« zugrunde liegenden Absichten geschlossen. In diesem Modell wurde Gewalt als planbar und die Reaktionen der übrigen Beteiligten als leicht einschätzbar betrachtet. Das Modell war statisch. Dass viele Akteure improvisieren mussten oder von der Situation überfordert waren, konnte nur am Rand, im Sinn einer kuriosen Abweichung vom Eigentlichen, Erwähnung finden.

Dazu kam, dass sich vor diesem Hintergrund auch gar nicht die Notwendigkeit ergab, die unterschiedlichen Akteursgruppen genauer zu untersuchen. Von den Kuriosa abgesehen, wurden der »Mob« und »die Juden« als jeweils einheitlich behandelt (immerhin bei der Betrachtung der Staatsmacht wurde stärker differenziert). Großzügig ging man über die Facetten des Pogromgeschehens hinweg oder über die Trennlinien zwischen konservativen und die Revolution anstrebenden Juden, zwischen einfachen Soldaten und ihren Vorgesetzten, zwischen den Initiatoren der Pogromgewalt und bloßen Zuschauern. Dass die vielen zur Veröffentlichung gedachten Quellen ein in der Tat wenig komplexes Bild von den Pogromen zeichneten, ist dabei nicht unbedingt erstaunlich, denn meist diente der Bericht über ein Pogrom als Argument in einer politischen Auseinandersetzung, in der allzu große Differenzierung nur hinderlich gewesen wäre. Aber auch die Forschungsliteratur unserer Zeit hat sich von diesen Ansichten zum großen Teil nicht emanzipiert.

Als Kostprobe dafür, wie die Geschichte der Pogrome lange Zeit geschrieben wurde, mag ein Ausschnitt aus Edward H. Judges Standardwerk über das Pogrom von Kišinev dienen, in dem erläutert wird, woran zu erkennen sei, dass es einem vorgefassten Plan folgte:

»Tatsächlich lassen die Beweise darauf schließen, dass der Ausbruch nicht vollkommen spontan erfolgte. Allein die Tatsache, dass die Randalierer sich selbst in kleine Gruppen geteilt hatten und in verschiedene Richtungen ausgeschwärmt waren, scheint zumindest darauf hinzuweisen, dass es eine gewisse Planung gegeben hatte. Dafür spricht der Umstand, dass sich alle an ähnlichen Aktionen beteiligten: Sie warfen Steine, zerschlugen Fenster und plünderten. Wären die Zerstörungen lediglich die Antwort auf bestimmte Provokationen gewesen, wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass die Randalierer zusammengeblieben, in der Horde vorgegangen und viel vielfältiger in ihrem Vandalismus gewesen wären. [...] Die Massen mögen betrunken oder verwirrt gewesen sein, doch sie kannten ihre Ziele genau. Die Gewalttaten wurden zum größten Teil nicht wahllos verübt, was typisch für einen spontanen, ungeplanten Ausbruch gewesen wäre.«46

Kein einziges dieser Argumente hält einer näheren Betrachtung stand. Dass Täter in Massenunruhen in kleinen Gruppen organisiert sind, ist ebenso wenig überraschend, wie dass sie (auch ohne sich untereinander abzustimmen) in ähnlichen Situationen auf dasselbe Repertoire von Handlungsweisen zurückgreifen.47 Dass die Täter nicht wahllos zuschlagen, sondern ihre Opfer mit Bedacht auswählen, lässt sich ohne Weiteres auf die Handlungslogik in einer riot-Situation zurückführen.48 Alles in allem stehen Judge, wenn er meint, Pogromtäter seien zu alldem nur unter Anleitung fähig gewesen, offenkundig seine eigenen Konzepte (»Horde«, »Massen«, »Vandalismus«) im Weg.

Gleichwohl soll nicht der Eindruck erweckt werden, es sei völlig neu, die genannten Überlegungen auf die Pogrome im Russischen Reich zu übertragen. Für die 1880er Jahre hat John Klier mit seinen späten Arbeiten Vorbildliches geleistet. Das vorliegende Buch verdankt ihm sehr viel.49 Die Arbeiten der »Revisionisten« zur ersten Welle der Judenpogrome unterzog Klier einer umfassenden Kritik. Für die Pogrome zwischen 1903 und 1906 ist das bisher jedoch unterblieben. Die umfassendste publizierte Studie zum Thema ist nach wie vor ein Aufsatz Shlomo Lambrozas von 1991.50 Seither ist eine große Zahl von Fallstudien zum Thema erschienen, eine neuere Synthese, die über wenige Seiten in einem Überblickswerk hinausgeht, fehlt jedoch.51 Gravierender ist, dass auch diese neuen Arbeiten mit Blick auf Fragestellung und zentrale Konzepte kaum über jene von Judge und Lambroza hinausgehen. Immer wieder wird die Frage nach Art und Grad der Beteiligung von Staatsvertretern aufgeworfen;52 und beständig wird das Muster von judenfeindlichen Zeitungsartikeln und Flugblättern, staatlich geförderten antisemitischen »Schwarzhunderter«-Organisationen als Anstiftern, ambivalenten Beamten und einer Selbstwehr, die wegen äußerer Widerstände nur geringe Wirkung entfalten konnte, wiederholt.

Die dritte große Welle der Judenpogrome im Russischen Reich, diejenige während des Ersten Weltkriegs, hat zwar in quantitativer Hinsicht weitaus weniger Aufmerksamkeit erfahren. Doch haben sich die vergleichsweise wenigen Autoren besonders offen für neue Konzepte und Fragestellungen gezeigt. In ihren Studien findet eine lebhafte Debatte darüber statt, ob die Pogrome Symptom einer neuen Form des Nationalismus waren, einer neuartigen »Bevölkerungspolitik« des Staates oder einer auch andere Täter und Opfer umfassenden Gewaltdynamik.53 Ein ähnlich breites Spektrum von Interpretationsansätzen gibt es für die antijüdische Gewalt im Russischen Bürgerkrieg. Je nach Perspektive erscheinen hier antisemitische Ideologie, der militärische Kontext, »archaische« Ausbrüche einer nicht mehr gezügelten Unterschichtengewalt oder die Eigengesetzlichkeit gewaltoffener Situationen als vorrangig.54

Leitgedanken

In diesem Buch geht es um Pogrome als Ergebnis eines Zusammenspiels unterschiedlicher Akteursgruppen, deren Agieren nur aus ihrer jeweiligen Perspektive verstanden werden kann.55 Verstehen heißt dabei nachvollziehen, nicht gutheißen; auch abstoßende Taten können einer Logik folgen. Oft liegt ihnen Rationalität zugrunde, wenn man darunter ein Handlungskalkül fasst, das auch begrenzte Wissenshorizonte und emotionale Bewertungen einschließt.56 Dazu gehört nicht zuletzt der Gefallen, den manche Täter an der Gewalttat selbst finden mögen.57 Es ist wichtig zu verstehen, mit welchen Ressourcen und mit welchen Absichten die Beteiligten in das Pogrom »hineingehen«, aber es ist nicht hinreichend. Denn nicht minder wichtig ist der situative Rahmen, in dem sie sich wiederfinden, und dieser ändert sich permanent. Das kann durch äußere Einflüsse geschehen – und sei es ein plötzlicher Regenguss. Noch wichtiger ist aber oft, dass alle Pogromakteure das Agieren ihrer Mit- und Gegenspieler beobachten und ihr eigenes Handeln entsprechend anpassen.58 Dabei geht es auch um Wahrnehmung und Kommunikation, denn was die anderen tun, ist wichtig. Noch entscheidender ist aber, welchen Reim man sich darauf macht.

Das führt zur vielleicht wichtigsten Frage, der Frage von Organisation und Spontaneität. Wenn Pogromgewalt ein interaktiver Prozess ist, dann dürfte es auch sehr schwierig sein, ihn zu steuern. Gewalttaten anzustreben ist das eine, Gewalt tatsächlich auszuüben, ist bereits etwas ganz anderes; und planmäßig und zielgenau zu prügeln, zu schießen und zu morden, gelingt nur den allerwenigsten. Viele Menschen werden von sich behaupten, zur Gewalttat fest entschlossen zu sein: Täter, Vertreter der Staatsmacht und auch zur Selbstverteidigung bereite Opfer. Die Beziehung zwischen dieser Absicht und den Ereignissen, die sich aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure ergeben, ist aber viel schwächer als häufig angenommen. Oft konnten die Akteure gar nicht absehen, welche Konsequenzen ihr Handeln haben würde. Das lag unter anderem daran, dass die allermeisten von ihnen in ihrem Leben nur sehr wenige Pogrome erlebt hatten.59 Umso wichtiger konnten Erfahrungen mit anderen Formen von Gewalt werden, da sie Orientierung auf unbekanntem Terrain boten. Dennoch gab es keine Gewissheit, keine Gruppe konnte wissen, »was ihr Tun tut«.60 Pogromakteure mussten improvisieren. Selbst wenn sie sich vorbereitet hatten und über Pläne verfügten, verlor dies in der dynamischen Situation vor Ort oft an Bedeutung.61

Es mag irritieren, wenn hier einerseits eine deutliche Trennlinie zwischen Opfern und Tätern gezogen wird, andererseits aber beide Gruppen (gemeinsam mit anderen) als »Akteure« des Pogroms behandelt werden. Liegt nicht das Wesen des Gewaltakts darin, so könnte man fragen, das Opfer in ein tendenziell passives Objekt von Aktionsmacht zu verwandeln?62 Und ist es nicht zynisch, von Opfern als Akteuren zu sprechen, obwohl ihre Handlungsspielräume doch alles andere als groß waren? Mit der ersten Frage begibt man sich implizit in die Perspektive der Täter und verabsolutiert sie. Für bestimmte Formen von Gewalt, etwa für den Akt des Tötens, mag das adäquat sein: Diesen kann man möglicherweise nicht als Interaktion auffassen. Bei vielen anderen Formen der Gewalt, um die es hier geht, ist das aber anders, und selbst dem Töten werden in der Regel Stadien vorausgehen, in denen das Opfer nicht völlig machtlos ist. Die zweite Frage setzt voraus, dass es nur in symmetrischen Konstellationen Akteure geben kann. Dass aber beispielsweise Juden nicht automatisch zu Passivität verdammt waren, auch wenn sie angegriffen wurden, ist das Argument zahlreicher Autoren, die sich vom »tränenreichen« Narrativ der jüdischen Geschichte distanzieren wollen.63 Die Handlungsspielräume der Opfer waren gewiss geringer als die anderer Beteiligter, aber es gab sie, und deshalb waren sie auch Teil der interaktiven Dynamik. Zu sagen, dass das Agieren der Opfer Einfluss auf den Verlauf und Ausgang eines Pogroms hat, ist aber auch etwas anderes, als die Opfer zu Mitschuldigen zu erklären. Moralische Verurteilungen sind nicht Zweck dieser Arbeit oder der Geschichtswissenschaft überhaupt: »›Wer ist schuld‹, ›wem gebührt das Verdienst‹? – so spricht der Richter. Der Wissenschaftler stellt nur die Frage ›Warum‹? und er rechnet damit, dass die Antwort nicht einfach ist.«64

Dieses Buch untersucht die Funktionsweise von Pogromgewalt anhand von Fallstudien. Sein Anspruch ist nicht, eine Geschichte der Pogrome im Zarenreich zu schreiben, sondern herauszufinden, wie sich Unterschiede in der Konstellation von Tätern, Opfern und Vertretern des Staates auf die Dynamik der Gewalt auswirkten.

Im ersten Kapitel geht es um das Pogrom von Elisavetgrad im Jahr 1881 als Beispiel für ein Pogrom, das sich relativ unerwartet ereignete. Relativ deshalb, weil es Grund zu der Annahme gibt, dass Pogrome ohne die oft in Form von Gerüchten kommunizierte diffuse Erwartung schwerwiegender Ereignisse kaum in Gang gesetzt werden können. Aber vor den Ereignissen in Elisavetgrad hatte es im Russischen Reich nur in Odessa Pogrome gegeben, und das letzte lag bereits zehn Jahre zurück. Niemand in Elisavetgrad konnte wissen, was kommen würde, und deshalb konnte auch niemand adäquate Vorbereitungen treffen. Das Pogrom war Improvisation. Wie konnte es unter solchen Bedingungen überhaupt zu Gewalt kommen? Welche Logiken bestimmten das Agieren von Tätern, Zuschauern, Opfern, Administration, Polizei und Militär, und wie traten diese Gruppen miteinander in Interaktion? Dabei zeigen sich fundamentale Mechanismen von Pogromgewalt, die den Hintergrund für alle folgenden Kapitel bilden.

Das zweite Kapitel untersucht die Gründe dafür, dass Pogrome oft in »Wellen«, also zeitlich und räumlich gehäuft, auftreten. Als Fallbeispiel dienen die sogenannten Choleraunruhen, die 1892 vor allem am Unterlauf der Wolga zu beobachten waren. Betrachtet man die Muster der Ausbreitung, gab es erhebliche Ähnlichkeiten zwischen der Cholera und der Gewalt. Und tatsächlich war es unter den Zeitgenossen üblich, Ballungen von Gewalttaten als Epidemie zu beschreiben. Das war keine bloße Metapher. Die junge Disziplin der Massenpsychologie rezipierte medizinisches Wissen und beobachtete Vorkommnisse wie die Choleraunruhen genau. Beides verband sie zu einer sehr expliziten Theorie von Gewalt als ansteckender Krankheit, die in die allgemeine Diskussion über die Pogrome Eingang fand. Auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung unserer Zeit ist »Ansteckung« (neben »Diffusion«) der populärste Begriff für Gewalt, die sich im Raum ausbreitet. Allerdings lenkt diese Perspektive die Aufmerksamkeit allein auf die Täter. Bezieht man potenzielle Opfer und Vertreter des Staates mit ein, so werden die Grenzen der epidemiologischen Metapher deutlich. Zugleich gibt die Fallstudie Auskunft darüber, was ein Gewaltereignis zum Modell für Nachahmungstäter macht.

Das dritte Kapitel fragt, was Pogrome auszeichnet, die nicht überraschend beginnen, sondern seit längerer Zeit erwartet werden.65 Alle Akteure haben unter diesen Umständen Gelegenheit, sich auf die Gewalt vorzubereiten. Anders als man erwarten könnte, trafen nicht die Täter, sondern die Opfer die umfangreichsten Vorkehrungen. Um der drohenden Gewalt nicht vollkommen ausgeliefert zu sein, suchten sie nach Schutz und nach möglichen Bündnispartnern. Letzteres bedeutete aber auch, das Schicksal der Gemeinschaft zu einem erheblichen Teil der Eigenlogik dieses Bündnispartners anzuvertrauen. Dies, aber auch die Entscheidung für eine rein defensive oder eine präventiv-abschreckende Strategie hatte Einfluss auf die Dynamik vor und während eines Pogroms. Das zeigt der Blick auf das Pogrom von Žitomir im Jahr 1905. In diesem Kapitel geht es aber auch um die Täter. Die Pogrome jener Zeit wurden oft wie selbstverständlich den »Schwarzhundertschaften« zugeschrieben, deren Existenz jedoch kaum nachgewiesen werden kann. Warum das so war und warum trotzdem so viel über diese ominösen Gruppen geschrieben wurde, wird ebenso untersucht wie jene sehr wenigen Fälle, in denen sich die Täter tatsächlich vor der Tat in einem nachweisbaren Verband zusammengeschlossen hatten.

Das vierte Kapitel untersucht einen Sonderfall, nämlich Pogrome, die von Rekruten zum Zeitpunkt der Einberufung verübt werden. Am Beispiel eines Pogroms, das sich im Jahr 1915 in Astrachan’ ereignete, lassen sich Besonderheiten im Ablauf erkennen. Es fehlten die prognostischen Gerüchte, und es kam schnell und ohne Anlass zum Gewalthandeln. Eine weitere Besonderheit zeigte sich in Bezug auf die Opfer. Zwar wählten die Täter eine bestimmte erkennbare Gruppe als Opfer aus, doch sie waren in der Lage, von einem Tag auf den anderen von der einen (in diesem Fall Perser) zur anderen (in diesem Fall Deutsche) zu wechseln. Feindbilder, etwa die damals viel diskutierte Kampagne gegen die Deutschen, spielten eine sehr geringe Rolle. Diese Pogrome waren eine Weiterentwicklung des rituellen Aufruhrs, mit dem sich Rekruten üblicherweise aus dem zivilen Leben verabschiedeten. Der Antrieb zur Gewalt kam aus der spezifischen Situation der Täter; gegen wen sie sich richtete, war in erster Linie eine Frage der Gelegenheit.

Im Russischen Bürgerkrieg erreichte die antijüdische Gewalt einen Höhepunkt. Aber handelte es sich im Sinn dieser Arbeit um Pogrome? Dieser Frage widmet sich das fünfte Kapitel. Die Täter waren maßgeblich Angehörige (para-)militärischer Verbände, die Opfer wurden massenhaft und oft auf besonders grausame Weise getötet. Die Gewalt geschah rasch und routiniert. Das Moment der Interaktion war auf ein Minimum reduziert, weil Staatsmacht und Zuschauer fast ohne Bedeutung waren und weil den Opfern kaum Handlungsspielräume blieben. Das alles unterschied die Ereignisse des Bürgerkriegs von klassischen Pogromen, und deshalb ist es sinnvoller, sie mit einem anderen Begriff zu bezeichnen. Es handelte sich um Massaker oder allenfalls um Taten in dem zwischen beiden Formen der Gewalt bestehenden Übergangsbereich. Um diesen auszuloten, wird die allmähliche Brutalisierung der vom Militär verübten antijüdischen Gewalt seit Beginn des Ersten Weltkriegs nachverfolgt. Als Beispiel für den Endpunkt dieser Entwicklung steht die letzte Fallstudie über das Massaker an den Juden von Fastov im Jahr 1919.

Historische Kontexte

Die Pogrome im späten Zarenreich waren hauptsächlich ein Phänomen der Städte an der imperialen Peripherie. Diese Städte lagen in verschiedenen Regionen und Naturräumen, sie hatten unterschiedliche Bewohner und Geschichten, und doch gab es auch Gemeinsames. In den Zentren glichen sich die Prachtbauten, Parks und Denkmäler, weil dort der Staat die Einheit des Reiches zu inszenieren bemüht war und weil die städtischen Eliten überall ähnliche Ideen von Fortschrittlichkeit und Modernität verfolgten. Neue Technologien, neue Wirtschaftsweisen und neue Formen des Zusammenlebens zeigten sich hier von ihrer lichten Seite. Die dunkle Seite, auch darin glichen sich die Städte, war vor allem in den Randbezirken zu besichtigen. Hier befanden sich die Industriebetriebe und zwischen ihnen die Elendsviertel der Handwerker, Arbeiter und Deklassierten. Einst hatten sie ein von Traditionen und moralischen Ökonomien bestimmtes Leben geführt, doch die alten Gewissheiten verloren zunehmend an Bindekraft und neue Normen des Zusammenlebens waren noch nicht gefunden. Vielen Arbeitern, besonders den gering qualifizierten, war es aber auch gar nicht wichtig, sich in der Stadt einzurichten. Sie wollten ohnehin ins Dorf zurückkehren und blieben zur Hälfte Bauern. So kam es, dass die Kultur der Dörfer auch an den Rändern des urbanen Raums präsent war und dass sich die gesellschaftliche und kulturelle Kluft, die das Russische Reich so entscheidend prägte, quer durch die Städte zog.66

Weil »Russland« ein Vielvölkerreich war, hatten viele Konfliktlinien eine ethnische Dimension. Die hohen Vertreter der Staatsmacht, das heißt vor allem Beamte in Administration, Justiz und Militär, rekrutierten sich aus dem Adel, der sich zwar nicht in erster Linie national definierte, aber ein spezifisches ethnisches Profil aufwies (viele Russen, Polen und Deutsche). Unter den Kaufleuten, Unternehmern und in den freien Berufen waren überdurchschnittlich häufig mobile Diasporagruppen wie Juden, Deutsche, Armenier und Griechen anzutreffen. Und auch die Heere der unqualifizierten Arbeiter hatten ein besonderes ethnisches Gesicht: Im Kaukasus waren es oft Türken, im Südwesten oft Juden und Russen. Bezog man die Umgebung der Städte mit ein, wurde das Bild noch komplizierter, weil sich die Bewohner der Städte in ethnischer Hinsicht häufig von denen der Dörfer unterschieden. Es gab eine »ethnische Arbeitsteilung« (Kappeler), die neben Möglichkeiten zur Kooperation auch reichlich Stoff für Konflikte hervorbrachte.

Daneben existierten auch innerhalb der ethnischen Gruppen erhebliche Spannungen. Nicht nur bei den Russen, auch bei den drei untersuchten ethnischen Opfergruppen (Juden, Armenier, Deutsche) stand eine breite Unterschicht, deren Leben von Tradition, Religion und oft auch von Armut bestimmt wurde, einer europäisierten Elite gegenüber. Viele Angehörige dieser Eliten hatten erkannt, wie viel sie von ihren ethnischen »Brüdern und Schwestern« kulturell und ökonomisch trennte; einige wollten diese Spaltung mit den neuen Ideologien des Nationalismus oder Sozialismus überwinden. Für das Reagieren der Opfer auf die Pogromgefahr und besonders für die Deutungskämpfe nach den Gewalttaten spielte dieser Umstand eine nicht zu unterschätzende Rolle.67

Für die Staatsmacht waren solche Entwicklungen von größter Bedeutung. Etwa bis zum polnischen Aufstand von 1863 hatte in der Nationalitätenpolitik der Geist der Aufklärung überwogen, so dass Individuen, die ihre »Nützlichkeit« für den Staat unter Beweis stellten, der gesellschaftliche Aufstieg ermöglicht wurde. Alle Übrigen mussten mit erheblichen Einschränkungen rechnen. Die meisten Juden etwa durften sich nicht außerhalb des sogenannten »Ansiedlungsrayons« niederlassen. Nach dem Aufstand und zunehmend seit dem Amtsantritt Alexanders III. im Jahr 1881 aber wurden immer häufiger ethnische Gruppen insgesamt für illoyal oder feindselig erklärt. Polen und Juden galten pauschal als antirussisch, und auch Armenier wurden seit den 1880er Jahren dieser Kategorie zugeschlagen. Dahinter stand auch ein allgemeiner Trend zu Essenzialisierung nationaler Wesenszüge, der sich beispielsweise im Falle der Juden darin ausdrückte, dass eine Konversion zum orthodoxen Christentum nicht mehr ausreichte, um als gleichwertiger Untertan anerkannt zu werden. Dennoch blieb die Politik des Zarenreichs gegenüber den Nationalitäten widersprüchlich. Die Folge war ein Mosaik aus teils diskriminierenden, teils aber auch privilegierenden Vorschriften, das sowohl Angehörige der Minderheiten als auch ethnische Russen in der Vorstellung bestärkte, sie gehörten zu den eigentlich Benachteiligten. Letztlich ging es aber gar nicht so sehr um Konflikte zwischen Völkern oder Religionen. Das Ressentiment konnte sich ebenso gegen Angehörige der »besseren Gesellschaft« richten.68 Der Nährboden für Massengewalt war bereitet.

Schreibweisen