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Kapitel 8

In den nächsten Tagen wechselten Grace und Roman kaum ein Wort miteinander. Roman arbeitete wie besessen, als wäre er an seinem Skizzentisch angekettet. Noch nie hatte Grace einen Menschen kennengelernt, der so getrieben war wie er. Liebte er seine Arbeit wirklich so sehr oder wollte er dieses Projekt einfach nur hinter sich bringen, damit er an den Gemälden weiterarbeiten konnte, die noch immer unvollendet auf den Staffeleien standen, und die Talia so dringend für die Ausstellung brauchte?

Grace fragte sich, ob er in den vergangenen Tagen überhaupt etwas gegessen hatte, doch dann entdeckte sie mehrere Aluminiumschalen und Verpackungen von Tiefkühlmahlzeiten im Mülleimer. Immer wieder ermahnte sie sich, dass Romans Privatleben sie nichts angehe, aber trotzdem quälte sie ihr Gewissen. Sollte einer Assistentin nicht das Wohl ihres Chefs am Herzen liegen? Grace lief den Flur entlang und stieg die Treppe hinauf ins Atelier. In der Tür blieb sie stehen. Roman war vollkommen auf seine Arbeit konzentriert und er schien starke Kopfschmerzen zu haben. „Kann ich Ihnen etwas bringen?“

Er rieb sich die Stirn. „Noch mehr Kaffee wäre gut.“

„Vielleicht haben Sie Kopfschmerzen, weil Sie den ganzen Tag noch nichts gegessen haben. Sie können nicht nur von Koffein leben, Roman. Soll ich Ihnen ein Sandwich machen?“

„Ja … danke.“

Na, das war ja leicht gewesen. „Soll ich es hochbringen oder essen Sie es in der Küche?“ In Romans Haus gab es nicht einmal einen Esstisch, nur einen Gartentisch auf der Terrasse. Aber es war zu kalt. Der Wind hatte aufgefrischt, weshalb er nicht draußen würde essen können.

Roman ließ seinen Stift auf den Tisch fallen. „Ich brauche ohnehin eine Pause.“ Er erhob und streckte sich und sein T-Shirt spannte sich über seiner muskulösen Brust. „Ich sehe überall nur noch Zebrastreifen.“

Grace ging in die Küche und schaute nach, was noch im Kühlschrank zu finden war. „Worauf haben Sie Lust?“

„Auf was immer Sie finden können. Es müsste noch Roastbeef da sein.“ Roman trat ans Fenster.

Grace legte Brot und eine ungeöffnete Packung Roastbeef auf die Arbeitsfläche. „Heute erlebe ich zum ersten Mal, dass Sie den Ausblick genießen.“ Sie suchte nach weiteren Zutaten für das Sandwich. „Diesen Ausblick sollten Sie unbedingt einmal malen.“

Roman hakte seine Daumen in die Hosentaschen ein und blickte sie an. „Landschaftsmalerei ist nicht mein Ding.“

„Das ist schade. Wie mögen Sie Ihr Sandwich? Mit Mayonnaise oder Senf? Oder lieber ohne alles?“

„Mit allem, was da ist.“

Grace fand noch etwas Kopfsalat, Käsescheiben, eine Tomate, eine rote Zwiebel und Gewürzgurken. „Hector hat angerufen, er ist fast fertig mit seiner Arbeit. Und er hat sehr vom Zoo geschwärmt.“ Sie bestrich eine Brotscheibe mit Mayonnaise. „Talia wird Sie vorerst in Ruhe lassen, aber sie möchte natürlich gerne ein Datum für die Ausstellung festlegen. Und Sie haben einen Anruf vom Bürgermeister von Golden bekommen. Er würde gerne ein Wandgemälde für die Stadt bei Ihnen in Auftrag geben.“

„Ich habe noch nie von dieser Stadt gehört.“

„Ich habe sie schon gegoogelt. Es ist ein neuer Ort, der aus einer Geisterstadt entstanden ist. Während des Goldrauschs soll es eine blühende Stadt gewesen sein.“

„Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie im Internet lesen.“

„Ich weiß.“ Grace schnitt das dicke Sandwich in zwei Dreiecke und legte es auf einen Teller. „Und ein gewisser Jasper Hawley hat eine Nachricht für Sie hinterlassen.“ Sie schob den Teller zu ihm hinüber. „Ich nehme an, es handelt sich um einen Freund von Ihnen, denn er sagte, dieses Mal brauche er ein Bett, um mal ordentlich schlafen zu können, und er würde ein selbst gekochtes Essen von Ihnen erwarten.“

Roman lachte. „Jasper war mein Lehrer auf der Masterson Mountain Ranch. Das ist eine Wohngruppe im Gold Country, vermutlich nicht weit entfernt von dieser ehemaligen Geisterstadt.“

Wohnprojekt? Dieses Wort ließ ein Dutzend Fragen in Graces Kopf laut werden.

Roman ließ sich an die Küchentheke nieder. „Sind Sie nicht neugierig? Keine Fragen?“

An dieser Stelle musste sie unbedingt Grenzen setzen. „Ihre schillernde Vergangenheit geht mich nichts an.“

Roman biss kräftig in sein Sandwich, zog die Augenbrauen hoch und seufzte vor Behagen, was ihre Haut für einen kurzen Moment zum Prickeln brachte, wie es schon lange nichts mehr getan hatte.

Grace empfand tatsächlich Neugier in Bezug auf Roman Velasco, aber sein Verhalten sprach eine deutliche Sprache. Er schien großen Wert auf seine Privatsphäre zu legen. Sie goss ihm ein Glas Orangensaft ein.

Er grinste amüsiert. „Warum so fürsorglich?“

„Ich weiß schon, wie ich mir einen Vorteil verschaffen kann.“ Die erste Hälfte seines Sandwiches hatte er bereits verputzt. Schmeckte es ihm so gut oder war er einfach nur ausgehungert? Er war größer als Patrick, und ihr Ex-Mann hatte problemlos zwei Sandwiches verdrücken können, dazu noch einen Apfel und eine Tüte Chips. Aber natürlich hatte er auch viel Sport getrieben. „Soll ich Ihnen noch ein Sandwich machen?“ Er nickte und sie legte zwei weitere Brotscheiben zurecht. „Also gut, ich habe tatsächlich eine Frage an Sie. Warum haben Sie in einer Wohngruppe gelebt?“

„Es war das Einzige, was mir übrig blieb, wenn ich nicht im Gefängnis landen wollte.“ Er nahm das Glas mit Orangensaft und spülte den letzten Bissen seines Sandwichs herunter.

Gefängnis? „Was haben Sie denn angestellt?“

„Ich konnte meinen Zorn nicht kontrollieren und habe ein paar Gebäude besprüht.“

Grace verstand nicht, wovon er sprach, und er ging auch nicht näher darauf ein.

Roman sah zu, wie sie das zweite Sandwich zubereitete. „Hawley ist mit mir in Kontakt geblieben. Ich bin einer seiner verlorenen Jungen, wie er es nennt, und er möchte aufpassen, dass ich auf dem richtigen Weg bleibe, schätze ich.“ Roman trank sein Glas leer. „Ende der Geschichte.“

Sie wertete diese Bemerkung derart, dass das Thema damit abgeschlossen war, und fragte nicht weiter nach. „Wie lange wohnen Sie schon hier?“

„Sie meinen in Topanga Canyon? Etwas über ein Jahr. Vorher habe ich am Strand gelebt.“

Bei seinem Aussehen konnte sie sich ihn sehr gut auf einem Surfbrett auf Hawaii vorstellen – umgeben von hohen Wellen und einer Schar von Strandhäschen, die ihn umschwärmten. „Ich kann sie mir gut in einer Strandhütte vorstellen.“

„Mit der Zeit hat mich das Leben am Strand gelangweilt. Ich war der vielen Menschen überdrüssig und sehnte mich nach Weite und Stille.“

„Nun, das haben Sie ja auf jeden Fall bekommen.“ Grace legte das zweite Sandwich auf seinen Teller. „Es ist wirklich sehr still hier.“ Sie verschloss die Packungen mit dem Roastbeef und dem Käse, packte den Salat ein und legte alles in den Kühlschrank zurück. Anschließend nahm sie das Spültuch und wischte über die Arbeitsplatte. „Leben eigentlich noch mehr Menschen in dieser Gegend?“

„Außer Ihnen? Nein.“

Ihr war noch gar nicht bewusst geworden, dass das Haus so abgelegen und Roman damit das einzige menschliche Wesen weit und breit war.

„Sie brauchen keine Angst zu haben, Miss Moore. Ich hatte wirklich keine Hintergedanken, als ich Ihnen das Gästehaus angeboten habe. Es ist einfach die beste Lösung für uns beide.“

Das beruhigte sie. „Nun, für mich war es wirklich eine Gebetserhörung.“

„Gebet.“ Er lachte spöttisch. „Ich will Ihnen ja nicht Ihre Illusionen rauben, Grace, aber Sie haben das Haus nicht aufgrund Ihrer Gebete bekommen. Sie leisten gute Arbeit und ich wollte Sie behalten. Das ist alles. Dort draußen ist niemand, der Ihnen zuhört oder sich für Sie einsetzt.“

Grace hatte solche Äußerungen schon oft gehört. Viele Menschen sahen Gott lediglich als ein Hirngespinst an, das in schweren Zeiten ein wenig Trost spendete. Das wäre vielleicht auch ihre Überzeugung gewesen, wenn sie nicht im Alter von sieben Jahren eine Vision gehabt hätte, während sie sich in einem dunklen Schrank versteckte und schreckliche Angst vor der Nacht und dem Ungeheuer hatte, das diese mit sich brachte. Doch sie wollte nicht über das sprechen, was sie als kleines Kind erlebt hatte.

Und Patrick hatte an nichts anderes geglaubt als an sich selbst, denn sonst hätte er wegen seines Verhaltens Schuldgefühle empfinden müssen.

Schon vor langer Zeit hatte Grace gelernt, die Theologie nicht zu hinterfragen. Sie war nicht zum Glauben gekommen, weil sie Antworten auf alle ihre Fragen bekommen hatte, sondern weil sie Gottes Liebe erfahren hatte. Trotzdem wollte sie diesem reichen Mann, der doch so arm war, eine Antwort geben. „Ich glaube an Gott und ohne einen solchen Glauben kann das Leben schier unerträglich werden.“ Sie hielt Romans Blick stand. Auch sie hatte mit Zweifeln zu kämpfen gehabt, und wann immer sie ihnen nachgegeben hatte, war das Unglück unmittelbar gefolgt.

„Ist noch Orangensaft im Kühlschrank?“

Sie hatte die Botschaft verstanden, er wollte also kein Gespräch über Gott führen. Es war auch nicht ihre Absicht gewesen, ihn zu bekehren. „Nicht mehr viel. Möchten Sie aus dem Glas oder lieber aus der Flasche trinken?“

„Lieber aus der Flasche.“ Er grinste sie an, als sie ihm die Flasche reichte.

„Ihr Kühlschrank ist so gut wie leer.“

„Dann müssen Sie wohl noch mal nach Malibu fahren.“

„Sie sind der Chef.“

Roman nahm einige Hunderter aus seiner Brieftasche. „Wie wäre es zur Abwechslung mal mit richtigem Essen?“

„Was genau schwebt Ihnen denn vor? Können Sie kochen oder soll ich einfach neue Fertiggerichte besorgen, die Sie in der Mikrowelle aufwärmen können?“

„Ich kann kochen. Ich kann auch waschen und mein Bett machen, aber es gibt Dinge, die ich lieber tue.“ Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. „Das war übrigens ein ganz leckeres Sandwich. Können Sie auch noch andere Dinge zubereiten?“

Grace wusste, worauf er abzielte. Ihre Aufgabenliste wurde immer länger. „Dies und das.“

„Alles, was Sie kochen, wird besser sein als das, wovon ich mich momentan ernähre. Und in ein Restaurant zu fahren kostet einfach zu viel Zeit.“

Ein Restaurant? „Ich bin aber keine Profiköchin, Roman.“

„Fleisch und Kartoffeln, Fleisch und Gemüse, Fleisch und Salat – einfache Gerichte sind völlig ausreichend. Nur Kohl mag ich nicht besonders. Ich möchte mich zwar gesund ernähren, aber so gesund nun auch wieder nicht. “

Er setzte sehr viel voraus. „Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einen Mixer besorge? Dann könnten Sie etwas Hackfleisch und Gemüse hineintun, den Knopf drücken und schon wäre Ihr Mittagessen fertig.“

Er schaute sie ungläubig an. Grace lachte. „Ich könnte Ihnen natürlich auch ein paar von diesen Proteingetränken mitbringen.“ Sie nahm die leere Orangensaftflasche in die Hand. „Recyceln Sie?“

„Ich weiß es nicht. Tue ich das?“ Roman stand auf und sank sofort wieder auf seinen Hocker zurück. Er war kreidebleich.

„Das war ein Scherz.“ Als er nicht antwortete, sah sie genauer hin. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ich bin nur müde.“

„Vielleicht sollten Sie sich ein wenig hinlegen.“

„Einen Mittagsschlaf halten, meinen Sie?“ Er warf ihr einen süffisanten Blick zu.

„Ich bin nicht Ihre Mutter, aber es ist drei Uhr nachmittags und Sie haben gerade mal eine halbe Stunde Mittagspause gemacht.“

„Hector wartet.“

Hector war eine lahme Ausrede, aber es stand ihr nicht zu, ihm zu sagen, was er tun sollte. Was war es wohl, das Roman innerlich so auffraß? Geldsorgen waren es bestimmt nicht. Er besaß genug Geld und gab kaum etwas aus. „Hector arbeitet für Sie und Sie selbst sind derjenige, der den Zeitplan festlegt.“

„Ich will diese Wand aber fertig bekommen.“ Roman war noch immer sehr blass. Er legte den Kopf zur Seite und betrachtete sie. „Lassen Sie Ihre Haare wachsen?“

Instinktiv führte sie eine Hand an ihre Haare, die ihr inzwischen bis auf die Schultern reichten. Damals hatte sie sie abgeschnitten, um sich selbst zu bestrafen. Doch ihre Freundinnen waren inzwischen der Meinung, dass es endlich an der Zeit für sie wäre, mit der Selbstbestrafung aufzuhören. „Ich denke schon.“

„Die längeren Haare stehen Ihnen gut.“

Patrick hatte dasselbe gesagt. „Kurz ist praktischer.“

Er runzelte die Stirn und öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, änderte seine Meinung dann aber wieder. „Danke für die Sandwiches.“ Als er aufstand, schwankte er erneut. „Ich denke, ich lege mich doch ein wenig hin.“

„Dann fahre ich jetzt einkaufen, wenn das in Ordnung ist.“

„Sicher. Schalten Sie aber bitte vorher noch das Telefon auf lautlos.“ Er hielt inne. „Wann ziehen Sie ein?“

„Am Wochenende.“

Es war schon fast sechs Uhr, als Grace zum Haus zurückkehrte. Sie ging zum Atelier, um Roman zu fragen, ob sie sich für ihre Überstunden freinehmen dürfe. Auf dem Weg zum Atelier sah sie Roman auf seinem Bett liegen. Es hatte den Anschein, als habe er sich wie ein Baum auf das Bett fallen lassen und sich seither nicht mehr bewegt. Sorge erfasste sie.

„Roman?“ Er antwortete nicht und er rührte sich auch nicht. Ging es ihm gut? Sie trat über die Schwelle, und der Drang, ihm die Schuhe auszuziehen und ihn mit einer Decke zuzudecken, war beinahe überwältigend.

Aber diese Fürsorglichkeit hatte ihr schon einmal großen Schmerz und schlimme Probleme bereitet. Sie würde das nicht wieder zulassen. „Roman?“, fragte sie, dieses Mal etwas lauter. Er gab ein Geräusch von sich und regte sich, was Grace ein wenig beruhigte.

Sie verließ das Zimmer und ging ins Büro, schrieb eine Nachricht, die sie zusammen mit der Quittung und dem Wechselgeld auf die Küchentheke legte, und zog ganz leise die Haustür hinter sich ins Schloss.

***

Roman erwachte schweißgebadet und mit klopfendem Herzen. Reglos blieb er liegen, und in der Dunkelheit, die sich über ihn gelegt hatte, überfiel ihn erneut dieses Unheil verkündende Gefühl. Er fühlte sich wieder wie der siebenjährige Junge, dessen Mutter abends weggegangen war und ihn alleine zurückgelassen hatte. Dunkle Schatten zogen über die Wand und er schaltete schnell das Licht an. Da war nichts, es gab keinen Grund zur Panik. Langsam beruhigte sich sein Puls und die Angst ließ nach. Reiß dich zusammen. Du bist doch kein Kind mehr.

Wie lange hatte er wohl geschlafen? Als Grace ihm vorgeschlagen hatte, sich ein wenig hinzulegen, war es draußen noch hell gewesen. Er erinnerte sich nicht mehr, was passiert war, nachdem er sein Schlafzimmer betreten hatte. Der Wecker zeigte 1:36 Uhr an. Es waren seitdem also etliche Stunden vergangen. Verlorene und vergeudete Zeit. Auf der Bettkante sitzend, wartete er ab, bis dieses seltsame Gefühl abflaute, bevor er das Licht einschaltete und in die Küche ging, wo er eine Notiz, die Einkaufsquittung und das genau abgezählte Wechselgeld vorfand.

Gebratenes Hähnchen und Salat im Kühlschrank.
Wir sehen uns morgen um neun Uhr. Grace

Er war zwar der Künstler, aber sie konnte eindeutig besser mit Worten umgehen. Sie war attraktiv, einfühlsam, besaß Klasse und noch etwas, das er nicht benennen konnte. Es stimmte einfach alles an ihr. Sie fühlte sich anscheinend wohl in ihrer Haut. Ganz anders als einige von uns, die sich niemals wohlfühlen werden, egal, welche Rolle sie auch spielen.

Roman verputzte das halbe Hähnchen und den Salat. Die Arbeit rief, aber er war nicht in Stimmung, um an der durch die afrikanische Steppe ziehenden Zebraherde weiterzuarbeiten. Kurz entschlossen streckte er sich auf der schwarzen Ledercouch im Wohnzimmer aus und schaute nach draußen. Grace hatte recht. Bisher hatte er den Ausblick kaum beachtet. Das Tal lag in tiefer Schwärze, der Himmel schien verhangen zu sein. Die Nacht fühlte sich schwer wie Teer an, feucht, kalt und bedrohlich. Er kämpfte gegen seine düstere Stimmung an, während er gleichzeitig versuchte, eine Erklärung für seinen Zustand zu finden. War es vielleicht eine zunehmende Leere? Ein Hunger? Aber wonach?

Grace Moore würde an diesem Wochenende in sein Gästehaus einziehen. Inzwischen hatte er Bedenken. Es wäre gefährlich, ihr zu nah zu kommen, und zu wissen, dass sie gleich nebenan wohnte, könnte ihn in Versuchung führen. Aber jetzt war es eindeutig zu spät für solche Gedanken. Es war beschlossene Sache – falls sie nicht noch in letzter Minute einen Rückzieher machte. Anfangs hatte sie keine große Begeisterung gezeigt, aber ihre Freundinnen hatten ihr gut zugeredet, und mittlerweile empfand sie es sogar als Gebetserhörung.

Sie sollte aber lieber nicht versuchen, mit ihm über Religion zu reden. Obwohl er zugeben musste, dass sie anders war als die anderen frommen Quacksalber, denen er bisher über den Weg gelaufen war. Sie hatte ganz natürlich von ihrem Glauben gesprochen.

Warum glaubten Menschen nur an einen Gott, den sie nicht sehen konnten? Den Namen Jesus kannte er nur aus Schimpfwörtern. In dem Umfeld, in dem er sich bis zum Alter von 14 Jahren bewegt hatte, war ihr Gebrauch an der Tagesordnung gewesen, und auch auf der Masterson Ranch hatte Religion nie im Mittelpunkt gestanden. Chet und Susan hatten zwar Regeln, aber die Zehn Gebote waren nirgendwo in ihrem Haus zu finden gewesen. Jasper hatte Bobby Ray einmal erklärt, dass die Sprache eines Menschen darüber entscheide, wo er einmal enden würde – und Gossensprache würde einen nur in der Gosse halten. Aus diesem Grund hatte Roman gelernt sich anzupassen, obwohl er natürlich wusste, dass er niemals irgendwo hingehören würde. Er konnte jede Rolle spielen, die nötig war, um weiterzukommen. Doch vor Kurzem war die Frage in ihm laut geworden, ob sich dieser Aufwand wirklich lohnte. Seine Maske rutschte immer weiter hinunter.

Was würde Grace Moore wohl von ihm denken, wenn sie wüsste, wo er herkam und wie es ihm gelungen war zu überleben? Ein Gettokind ohne Vater und eine Prostituierte als Mutter. Ein Kind, das Drogen verkauft hatte, bis es den Boss seiner Gang dazu überreden konnte, ihn zum Sprayer der Bande zu machen. Was würde sie über The Bird denken, der die Welt zum Narren hielt? Eine Welt, die einen Roman Velasco feierte, mit einem Bobby Ray Dean jedoch nichts zu tun haben wollte?

Wie verbrachte Grace wohl ihre Wochenenden? Hatte sie vielleicht einen festen Freund, einen gut aussehenden jungen Mann mit einem festen Bürojob? Jemanden, mit dem sie am Sonntagmorgen in die Kirche ging?

Und warum dachte er überhaupt so viel an sie?

Roman stieß einen leisen Fluch aus und richtete sich auf. Er hatte sie eingestellt, weil sie nicht sein Typ war. Jetzt hatte er eine verlässliche, vertrauenswürdige, hübsche junge Frau, die für ihn arbeitete. Ein braves Mädchen. Erfahrung hatte er jedoch nur mit einer anderen Sorte von Mädchen.

Er konnte sich Grace nicht an einem Freitag oder Samstag in einem Nachtklub vorstellen – und schon gar nicht auf der Suche nach einer schnellen Affäre. Sie war ganz sicher keine Frau, die Sex mit einem Fremden hatte, sich dann ein Taxi nahm und um zwei Uhr morgens nach Hause fuhr, um am nächsten Tag pünktlich an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen.

Durch seinen ausgiebigen Mittagsschlaf hatte Roman bereits viel Zeit vergeudet, weshalb er nun nicht noch mehr Zeit mit Gedanken an seine Assistentin verschwenden durfte, die bereits mehr als deutlich gemacht hatte, dass sie keine private Beziehung zu ihm wünschte. Sollte ihn das nicht eigentlich freuen?

Wenn er sich wieder an die Arbeit machte, würde sie schon aus seinen Gedanken verschwinden. Er verzog sich in sein Atelier, zeichnete vier weitere Zebras und warf den Stift kurz darauf wieder auf die Ablagefläche.

Was tat er mit seinem Leben? Wohin war er unterwegs? Was wollte er? Heimweh machte sich in ihm bemerkbar und es schmerzte sehr. Aber woher kam dieses Gefühl? Er hatte doch nie ein richtiges Zuhause gehabt …

Nach dem plötzlichen Verschwinden seiner Mutter hatte das Jugendamt ihn in einer Pflegefamilie untergebracht. Doch er war von jeder Familie weggelaufen und am Ende immer wieder im Tenderloin gelandet, um nach seiner Mutter zu suchen. Erst mit zehn Jahren hatte er von ihrem Schicksal erfahren. Danach war er in seinen Pflegefamilien geblieben, solange seine „Eltern“ ihm den Freiraum gaben, das zu tun, was er wollte. Am besten war er immer mit jenen ausgekommen, denen es nur um das Geld ging, das sie für ihn bekamen. Doch innerlich war Bobby Ray weiterhin auf der Flucht gewesen.

Wovor nur? Und wohin? Roman wusste es nicht und das frustrierte ihn. Doch genau das war der Grund für den Druck, der sich jedes Mal in ihm aufbaute, bis The Bird schließlich wieder auf Wanderschaft ging.

Das Haus in Topanga Canyon war abgelegen und still. Verlassen. Er fühlte sich wie ein im Haus umherirrendes Gespenst. Mit der Zwangsversteigerung des Anwesens hatte sich ihm eine unglaubliche Gelegenheit geboten. Er wusste gar nicht mehr so genau, wie es gekommen war, aber der Makler hatte ihm gesagt, dass das Haus eine hervorragende Geldanlage sei. Dass dieses Haus viel zu groß für eine Person war und über ein Gästehaus verfügte, das er nie nutzen würde, hatte ihn damals nicht interessiert. Er würde ohnehin nicht lange hier wohnen bleiben. Die Marktpreise schossen in die Höhe, sodass er es jederzeit gewinnbringend verkaufen und weiterziehen konnte. Doch wohin? Vielleicht nach Europa? Auf einer Harley durch das Land fahren? Ein Boot kaufen und über die sieben Weltmeere segeln?

Seit jener Nacht war inzwischen mehr als ein Jahr vergangen und die Zeit hatte seine Erinnerung getrübt. Manchmal fragte er sich, ob er die Begegnung vielleicht nur geträumt hatte. An jenem Abend war er auf Drogen gewesen, innerlich aufgewühlt, bis er das blonde Mädchen entdeckt hatte. Die Erinnerung an eine lange, schweigsame Fahrt zu seinem Haus war verschwommen. Dann diese herzerweichende Dringlichkeit, die Sternenexplosionen und jede Menge Tränen. Anschließend war sie wieder verschwunden, gleich einem Traum, an den er sich nicht mehr richtig erinnern konnte. Er war ihr hinaus in die Nacht gefolgt und hatte gesehen, wie sie in einen Wagen stieg und mit hoher Geschwindigkeit davonfuhr, während die roten Rücklichter ihn anstarrten und verspotteten.

Diese Nacht war sein Weckruf gewesen.

Roman saß wieder an seinem Zeichentisch und starrte auf die wilden Tiere, die durch die Savanne zogen. Einige hatten es eilig, andere ließen sich Zeit, doch alle folgten ihrem Instinkt. Roman fühlte sich wie ein Ausgestoßener seiner eigenen Spezies. Er war es leid, am Wasserloch mit ihnen zusammenzukommen oder mit einer aus der Herde ausgewählten Blondine zu brunften. Er hatte nicht vor sich fortzupflanzen. Von Ruhelosigkeit getrieben, wollte er lieber auf eigene Faust durch seine Serengeti ziehen, wo immer diese auch war, aber er befürchtete, dass der nächste falsche Schritt ihn endgültig in den Abgrund stürzen würde.

Irgendetwas stimmte nicht, aber er wusste nicht, was es war.

Was sich die meisten Menschen wünschten, hatte er bereits erreicht: Er besaß ein großes Haus, ein schnelles Auto, jede Menge Geld, war erfolgreich und die Frauen lagen ihm zu Füßen. Eigentlich müsste er glücklich und zufrieden sein. Aber er verspürte einen bohrenden Hunger nach mehr. Was war es, das ihm noch fehlte, um die Leere in sich zu füllen?

Frustriert fegte Roman die Zeichnung vom Tisch. Während sie zu Boden schwebte, schnappte er sich eine Dose mit Sprühfarbe und stellte sich vor die hintere Wand in seinem Atelier.