AERA Die Rückkehr der Götter

Markus Heitz

AERA
Die Rückkehr der Götter

Episode 10
GNOSIS

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Markus Heitz

Markus Heitz, geboren 1971, studierte Germanistik und Geschichte. Kein anderer Autor wurde so oft wie er mit dem Deutschen Phantastik Preis ausgezeichnet, weshalb er zu Recht als Großmeister der deutschen Fantasy gilt. Mit der Bestsellerserie um »Die Zwerge« drückte er der klassischen Fantasy seinen Stempel auf und eroberte mit seinen Werwolf- und Vampirthrillern auch die Urban Fantasy. Markus Heitz lebt in Homburg.

Impressum

© 2015 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Innenabbildungen: Heiko Jung

Redaktion: Hanka Jobke

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Coverabbildung: Anke Koopmann, Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von © Elm Haßfurth/www.elmstreet.org

ISBN 978-3-426-43707-0

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Gnosis,

griech. γνῶσις, gnōsis: [Er-]Kenntnis

 

 

Agnostizismus,

altgriechisch ἀγνοεῖν a-gnoein: Unwissen

 

 

Atheismus,

altgriechisch ἄθεος átheos: ohne Gott

 

 

»Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott.

In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden – es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern …

Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott.«

Friedrich Nietzsche

 

Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum, 1888

»Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonn’ als euch Götter!

Ihr nähret kümmerlich von Opfersteuern und Gebetshauch!

Und darbtet, wären nicht Kinder und Einfältige hoffnungsvolle Toren.

[…]

Wer half mir wider der Titanen Übermuth?

Wer rettete vom Tode mich, von Sklaverei?

Hast du’s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?

[…]

Ich euch ehren?

Wofür?

Habt ihr die Schmerzen des Beladenen je gelindert?

Habt ihr die Tränen des Geängsteten je gestillet?

Haben nicht mich zum Manne geschmiedet

die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal?

Denn dies sind meine Herren – und eure!

[…]

Hier schreib’ ich, forme Menschen nach meinem Bilde,

ein Geschlecht, das mir gleich sei,

zu denken, zu leiden, weinen, genießen und zu freuen sich,

und euch nicht zu achten,

– wie ich!«

 

Auszug aus einem frühen Prometheus-Gedichtfragment

Johann Wolfgang v. Goethe zugeschrieben, ca. 1771

(nicht bestätigt)

Europäischer Luftraum, November 2019

 

Sehr geehrter,

von mir und meinen Gebrüdern hochverehrter Herr Malleus Bourreau,

 

wir erlauben uns, Ihnen durch unsere Niederlassung in London Ihre neuste Waffe überreichen zu dürfen: eine bad-Tentakelpeitsche.

Herzlichen Glückwunsch hierzu!

Meines Wissens ist es das einzige Exemplar dieser Art.

 

Sie werden nicht umhinkommen, einige Stunden des Übens damit zu verbringen, verehrter Herr Bourreau, damit Sie darin zur gleichen Meisterschaft wie als Schütze gelangen.

Daher empfehlen wir Ihnen, bei dem Training von Schwung und Schlag die Widerhaken NICHT auszufahren, um schwerste Verletzungen bei einem eventuellen Fehlversuch zu vermeiden.

Sie finden am Griff der Peitsche einen gesicherten Schieber, mit dem Sie die Häkchen ausfahren oder zurückziehen; sie sitzen im vorderen Drittel und werden durch eine Eigensehne im behandelten Tentakel gesteuert.

 

Der Präparator, den wir dabei zurate zogen, fügte sich bei der Bearbeitung viele Schnittwunden zu, versicherte aber, es sei die herausforderndste Aufgabe gewesen, die er jemals gemeistert habe.

 

Ein paar Hinweise von ihm:

a) Die Belastungsgrenze sollte eine halbe Tonne nicht übersteigen, die Behandlungsmethode machte das bad-Gliedmaß noch beständiger.

b) Sie sollten darauf achten, die Peitsche von Klingen fernzuhalten.

So, wie Sie es abzutrennen vermochten, hochverehrter Herr Bourreau, kann es auch wieder geschehen.

c) Die Widerstandsfähigkeit gegen Schneiden dürfte ungefähr bei dem eines guten Nylon-Bergsteigerseils liegen. Der Präparator wies darauf hin, dass eine Beschädigung vor allem der inneren Sehne irreparabel sei.

 

Behalten Sie das bitte im Hinterkopf!

 

Meine Brüder und ich wünschen Ihnen viel Vergnügen mit Ihrem neuen Accessoire, das Ihnen als leibliche Besonderheit auf dieser Erde sehr gerecht wird.

 

 

Hochachtungsvoll und stets zu Diensten

Miles Karak et Frères

Herrenausstatter

Leipzig/Paris/London/Mailand

oder auf Abruf an jeden Ort der Welt

 

Malleus Bourreau saß rauchend im hinteren Teil eines gecharterten Jets, obwohl ihm der letzte Flug in einer solchen Maschine in nicht allzu guter Erinnerung geblieben war.

Er hatte das kleine Köfferchen mit der aufgerollten, schwarzen Peitsche vor sich auf das Tischchen gestellt und den Begleitbrief seines Schneiders gelesen. Die Lieferung war just in dem Moment angekommen, als Keish und er das Hotel verließen. Erst im Flugzeug hatte Malleus Zeit, die ungewöhnliche Waffe in Augenschein zu nehmen.

Der Tlingit und er reisten alleine.

Marianne Lagrande verweilte erzwungenermaßen in Dover. Die britischen Kollegen wollten wegen des Vorfalls vor dem Hotel mit ihr sprechen und sich nicht davon abbringen lassen. Und so flogen Malleus und der Tlingit alleine dem verbliebenen Tracker-Signal eines Artefakts hinterher. Es war die Statuette des Oddua, die ihnen die Spur legte.

Ist es noch da? Mindestens einmal in der Minute prüfte Malleus das Signal, doch es kam beständig. Da ihr Jet sich schneller bewegte als der vermutete Hubschrauber, mit dem die Beute transportiert wurde, holten sie zu den Räubern auf, die im Auftrag des unbekannten Sammlers zugeschlagen hatten.

Aktuell befanden sie sich über den Niederlanden. Es ging mit ungefähr 280 Stundenkilometer weiter in nordöstliche Richtung, ohne dass es nach einer bevorstehenden Landung aussah.

Malleus schaute zu seinem Begleiter.

Keish saß im vorderen Teil und hatte ebenfalls ein Köfferchen aufgeklappt, in dem er schamanistische Ritualgegenstände transportierte. Er ordnete Säckchen und Beutel, murmelte dabei leise vor sich hin. Die geschnitzte Gebeinspange auf seinem Haupt sah bedeutungsvoll aus, das Haar und der Rabengefiederschmuck ergänzten sich perfekt.

Jeder bereitet sich vor. Malleus nahm die Peitsche am Griff heraus; sie erinnerte an eine Schlange, die jederzeit zum Leben erwachen konnte.

Mit leichtem Schwung aus dem Handgelenk ließ er sie ausrollen und schätzte die Länge auf mehr als zwei Meter, das Gewicht fühlte sich gut an, nicht zu schwer und nicht zu leicht. Den Schaden richteten ohnehin die Häkchen an, die sich durch dünne Bleche und in Wände gruben. Und gegen bad.

Keish wurde auf sein Tun aufmerksam, löste sich aus dem Sitz und schlenderte neugierig heran. Er roch nach Herbst und aromatischem Rauch, dazu gesellte sich der schwache Duft der Lederarmbänder. »Das ist Leder, wie ich es noch nie gesehen habe«, merkte er an.

Malleus hatte von dem Tlingit mit den Bergkristallaugen nichts anderes erwartet, würde ihm aber nicht verraten, worum es sich genau handelte. »Eine Sonderanfertigung.«

»Sie wollen eine Peitsche zum Einsatz bringen? Eine Waffe, die … aus der Mode gekommen ist. Das wird die Gegner sehr überraschen, wenn sie mit Schnellfeuergewehren angreifen.« Er legte den Kopf schief, wobei die tätowierten Krähen am Hals in Bewegung gerieten.

»Ich habe davon geträumt, Entitäten zu züchtigen. Mir hat die passende Waffe gefehlt«, erwiderte Malleus trocken und paffte.

Keish lachte dunkel. »Eine interessante Vorstellung.«

Malleus wickelte sie wieder auf und verwahrte sie in dem Holster, das Karak dafür angefertigt hatte. Es ließ sich mit einem stabilen Clip am Gürtel oder am Mantel befestigen. »Ich freue mich ziemlich darauf, eine Gottheit auf Schmerzempfinden zu testen.«

Keish sah auf den PDA, seine klaren Augen würden einfache Menschen ängstigen. »Sie fliegen über das offene Meer.«

Malleus folgte seinem Blick. »Ich habe keine Ahnung, wohin uns das Artefakt führen wird.« Er hoffte inständig, dass sich auch die anderen beiden Gegenstände an Bord befanden und nur deren Sender den Ausflug unter Wasser nicht überstanden hatten. »Aber das Kerosin wird uns nicht ausgehen.«

»Gut zu wissen.« Keish setzte sich ihm gegenüber, das Sakko knirschte leise, und das animistische Muster veränderte sich. »Darf ich Sie etwas fragen, Mister Bourreau?«

Malleus vollführte mit der Culebra eine einladende Geste, die Glut malte in die Luft.

»Sie bezeichnen sich als Atheist, der jegliches Göttliche ablehnt.« Keish zeigte auf das Kästchen mit seinen Utensilien, die fächerförmig angeordneten Federn an seinem Hinterkopf raschelten leise. »Das betrifft jede Form davon, jede Art des Übersinnlichen. Und doch stellen Sie sich …«

Malleus fiel ihm mit einem freundlichen Lachen ins Wort. »Ich bin ein Verleugner, der eigene Erklärungsmodelle für die Welt hat, in der er leben muss. Ich stelle mich den Entitäten, weil es sonst keiner wagt.«

»Nach deren Regeln.«

Malleus seufzte und atmete Rauch gegen den Tlingit, der dabei auseinanderfächerte und eine Wand zu bilden schien. »Diese Gespräche führte ich schon sehr oft, Keish. Sie bringen weder mir noch Ihnen etwas. Es sind keine Entitäten, und damit sind auch die Kräfte nicht divin.« Er hatte seine Erklärungen von Robotern, Aliens, Regierungsprojekten und eigenem Koma auf der Zunge, aber nicht die nötige Geduld, sie zu erläutern. »Jemand muss es tun«, brachte er es auf den Punkt und sah nach der Anzeige. Noch unterwegs, gleiche Geschwindigkeit.

»Und: Sie leben noch.« Keish sagte es mit einem allzu bekannten Tonfall.

»Sehen Sie es als Beweis, dass Entitäten nicht allmächtig sind. Wäre es so, würde mich ein Zehn-Tonnen-Gewicht begraben. Oder ein Klavier. Oder ich würde funkensprühend explodieren.« Malleus rauchte die Culebra weiter. Seine Unruhe stieg, und das machte ihn einen Hauch zu ironisch, was schnell ins Sarkastische kippen konnte.

Das Rätsel um die neun Artefakte wäre hoffentlich bald gelöst und der Verantwortliche für so viel Gewalt und Tod festgesetzt.

Lautrec wusste Bescheid, er würde die entsprechenden Behörden in dem Land, in dem der Hubschrauber landete, in Alarmbereitschaft versetzen. Danach machte sich zur Unterstützung gegen irdischen Widerstand hoffentlich ein Einsatzkommando auf den Weg zu ihnen.

Am besten wäre es, der Sammler würde weder Maske noch Trommel anfassen. Malleus sah dem leuchtenden Punkt zu, wie er sich weiter über die Karte bewegte.

Der Tlingit lachte wieder. »Sarkasmus und Ironie. Ihre Waffen.«

»Auch damit kann man die Entitäten verletzen.« Malleus lächelte schwach. »Ich bin sozusagen die wandelnde Ironie für die Gottheiten.«

Er nahm seine Apache und Cobray Deringer heraus und legte sie nebeneinander auf das Tischchen, prüfte die Kammern, den Mechanismus, die Funktionstüchtigkeit. Dabei paffte er gelegentlich, damit die Glut nicht erlosch, die Asche drehte er sorgfältig am dafür vorgesehenen Behältnis ab.

Keish sah ihm eine Weile schweigend zu. »Haben Sie niemals daran gedacht, selbst ein Gott zu sein?« Er richtete seine steinbesetzten Ringe.

»Ich würde mich sofort auflösen.«

»Nicht wäre, Mister Bourreau.« Der Tlingit legte die Hände zusammen. »Ich meinte damit, dass Sie wirklich einer von ihnen sind.«

Malleus legte den zuletzt gecheckten Cobray zurück. »Ich überlege gerade, ob das eine Beleidigung ist.« Er nahm einen Zug. »Für einen Atheisten: ja.« Keish’s Schluss irritierte ihn, und so klammerte er es umgehend aus. »Es gibt nichts Übernatürliches an mir.«

»Dass Sie noch am Leben sind, kann man fast als Beweis werten, oder, Mister Bourreau?« Er erhob sich und kehrte zu seinem Kästchen zurück. »Ich bin geehrt, mit Ihnen in die Schlacht zu ziehen. Hoffen wir, dass der Große Geist mit uns ist.«

Malleus fand die Mutmaßung ins Blaue impertinent, anmaßend, abstrus und bar jeder Vernunft.

Aber seine Gedanken verhakten sich darin und suchten nach einem Ausweg. Niemand wusste besser als er, wie sterblich er war und welches Leben er vorher geführt hatte und wie oft er dem Tod im Krieg entrinnen konnte.

Und dass Namtarú mich verschonen musste.

Das Warum war in Gomorraha nicht geklärt worden … Lag in Keish’s dahingeplapperter These eine Erklärung?

Schwachsinn. Er sah schnell auf den PDA. Nichts hatte ihm jemals auch nur im Ansatz den Eindruck vermittelt, etwas Göttliches in sich zu tragen. Völliger Schwachsinn.

Das Oddua-Signal senkte sich dem Boden entgegen und befand sich inzwischen in dänischem Luftraum, ohne die Geschwindigkeit zu verringern, was ein Hubschrauber zum Landen erst in letzter Sekunde machen musste. Es wäre eine Herausforderung für den Piloten des Jets und die Fluglotsen des Airports, auf dem sie runtergingen, auf eine ungeplante Landung einzugehen, ohne den gesamten Betrieb durcheinanderzubringen.

Stetig senkte sich der Tracker abwärts und abwärts, zog über die Inseln hinweg – und stand dann still; die angezeigte Höhe stimmte mit der geografischen Meter-über-Null-Angabe des Ortes überein. Der Helikopter war gelandet.

Es ist etwas faul im Staate Dänemark. Malleus las, wo sich nun mindestens eins der gesuchten Artefakte befand, und informierte hastig den Piloten:

»Wir fliegen nach Kopenhagen.«

***

Britannien, Dover, November 2019

 

Marianne Lagrande hatte sich von den Notärzten Mittel spritzen lassen, welche die Watte aus ihrem Verstand nahmen und gleichzeitig die Überempfindlichkeit gegen Sinneseindrücke reduzierten.

Nun saß sie entspannt den beiden zivilgekleideten Ermittlern der britischen Kriminalpolizei gegenüber, die das Verhör, wie sie bei der Begrüßung in der Lobby beteuert hatten, pro forma abhielten. Kleinigkeiten, mehr nicht. Als Kollegin und Assistenzermittlerin von Malleus Bourreau sei der Fall klar. Sie trugen die Garderobe, wie man sie im Lehrerzimmer eines Colleges vermutete: gediegen, unauffällig und doch gesetzt stilvoll.

Lagrande roch an dem Kaffee und ächzte. Es war kein Laut der Freude. So viel Zucker und Milch konnte sie nicht hineingeben, damit er trinkbar wurde.

»Gehen wir den Ablauf noch ein letztes Mal durch, Madam?«, bat Inspector Green, der ebenso ein netter Cop war wie seine Kollegin Miller. Sollte es mit dem Ermittlerdasein nicht mehr klappen, konnten sie als Geschichtslehrer anfangen. »Danach steht es Ihnen frei, aus Britannien abzureisen.«

Geschichte und Literatur. Lagrande nickte. »Ich saß im Freien und prüfte die Daten zum Fall, trank dabei ein Bier.« Dank der verabreichten Mittel blieb sie gelassen, obwohl sie wusste, dass Bourreau sich eben auf der Jagd nach den Artefakten befand, während sie in Dover festsaß. Lautrec hatte ihr gesagt, dass er sie hinterherschicken würde, sollte Bourreau ihre Anwesenheit als erforderlich betrachten. Auf der Zielgeraden. »Dann kam die Frau über die Straße, die sich zu einem früheren Zeitpunkt als Marina beziehungsweise Marinuschka vorstellte. Sie zückte den Dolch und stach sofort zu.«

Green und Miller verglichen die insgesamt dritte Erzählung mit den anderen Versionen ab.

»Sie sagte dabei, sie würde meinen Vorgesetzten umbringen und alle, die ihm nahestünden«, fügte Lagrande hinzu. »Ich ließ mich fallen, zog meine Beretta und erledigte sie.«

Den genauen Dialog verschwieg sie. Der ging niemanden etwas an. Was ihr Chef wissen musste, hatte sie ihm ausgerichtet, den Rest konnte er sich denken.

Lagrande verschwieg ebenso, dass sie sich kaum an das Ereignis erinnerte.

Sie war vom Stuhl gerutscht, lag plötzlich am Boden, machte Bewegungen und hörte das Krachen ihrer U22 Neos.

Diese verdammte Culebra! So benebelt fühlte sie sich nicht mal beim Kiffen oder nach zu viel Schnaps. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Erinnerung an entscheidenden Stellen hakte und sich Lücken auftaten. Es fehlten Kleinigkeiten.

Sie vermochte nicht zu sagen, wann sie die Beretta gezogen hatte. Irgendwann zwischen Sturz und Schussserie. Oder warum sie glaubte, der Boden sei weich gewesen. Lagrande wunderte sich, dass sie in ihrem Zustand überhaupt sauber getroffen hatte. Nicht auszudenken, wenn ich einen Unschuldigen …

Das würde sie vor Green und Miller garantiert nicht zur Sprache bringen.

Ganz, ganz sicher nicht!

»Gut, Miss Lagrande«, unterbrach Green ihre unschönen Überlegungen. »Von unserer Seite sind wir durch.« Er stoppte das Aufnahmegerät und suchte seine Sachen zusammen.

Aber Miller schaltete den Apparat nonchalant erneut ein. »Fast. Sagen wir, es ist meine persönliche Neugier.«

Lagrande fand, dass es keinen Grund gab, doch die Nummer mit dem bösen und dem guten Bullen zu spielen. Sie ist wie die verhasste Sportlehrerin. Ihr Herz wummerte schneller. »Ja?«

»Wir baten Sie, Ihre Waffe abzugeben, damit die Ballistiker ihre Arbeit machen können.«