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J. J. Voskuil

Das Büro 4

Das A. P. Beerta-Institut

Aus dem Niederländischen von Gerd Busse

Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich an Barts Schreibtisch. Da er dieses Gespräch bereits seit Tagen mit sich herumschleppte und davor zurückscheute, war er angespannt, und er war sich bewusst, dass man es seinem Gesicht ansehen konnte. Jedenfalls sah er an Barts Gesicht, dass dieser auf der Hut war. »Ich habe noch einmal über deinen Anteil an der Arbeit für das Bulletin nachgedacht«, sagte er, und in seinen Ohren hatte seine Stimme einen fremden Klang, »und ich wollte doch noch mal darüber reden.« Er sah von Bart weg, weil er sich seines eigenen Gesichtsausdrucks nicht ganz sicher war.

»Ich hoffe nicht, dass du jetzt doch wieder versuchen willst, meinen Standpunkt zu ändern«, sagte Bart.

»Nein.« Er schwieg, während er nach der richtigen Formulierung suchte. »Aber so, wie es jetzt ist, ist deine Mitarbeit im Vergleich zu der der anderen ziemlich minimal.«

»Ich habe doch gesagt, dass ich der Zeitschrift auf eine andere Weise dienen will«, sagte Bart gereizt.

»Das weiß ich, und der Grund ist der, dass du ein Problem damit hast, deine Besprechungen zu unterzeichnen.«

»Das ist einer der Gründe!«

»Aber doch schon ein wichtiger Grund?« Er sah Bart an.

»Ja«, sagte Bart unwillig.

»Wenn du jetzt mal die Übersicht der Zeitschriften übernehmen würdest. Momentan kontrollierst du nur die Ankündigungen von Tjitske. Du müsstest dann die Ankündigungen der drei anderen dazunehmen, aber umgekehrt wärst du von der Kontrolle der Buchbesprechungen entlastet«, das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, er stand auf, »aber es gibt natürlich auch noch andere Möglichkeiten«, er nahm den Hörer ab. »Koning!«

»Jaap hier.«

»Jaap!«

»Wenn du gleich Kaffee trinken gehst, könntest du dann kurz vorbeikommen?«

»In Ordnung.«

Der Hörer auf der anderen Seite wurde aufgelegt.

In Gedanken kehrte er an Barts Schreibtisch zurück. Er fragte sich, was Balk mit ihm zu besprechen haben könnte. Sein erster Gedanke war, dass er etwas Falsches gesagt oder getan hatte. Er kramte in seinem Gedächtnis, doch er konnte so rasch nichts finden, auch wenn das an sich natürlich nichts bedeutete.

»Herr Balk hat Freitag schon nach dir gesucht«, sagte Bart, »als du in Arnheim warst.«

»Hat er auch gesagt, worum es ging?«

»Nein, und ich habe auch nicht danach fragen wollen.«

»Ich werde es ja sehen«, beendete Maarten die Diskussion, doch die Bitte Balks blieb wie ein Schatten im Hintergrund präsent. »Du könntest die Rubrik beispielsweise zusammen mit Tjitske machen, oder ganz allein«, fuhr er, noch etwas geistesabwesend, fort, »aber du brauchst sie auf jeden Fall nicht zu unterzeichnen und kannst sie auch vollständig nach eigenem Gutdünken gestalten.«

»Und was wäre dann deine Zuständigkeit dabei?«

»Keine einzige.«

»Weil du schließlich der Chefredakteur bist!«

»Wenn du die Verantwortung für die Rubrik übernimmst, mische ich mich in nichts mehr ein.«

»Auch nicht in die Auswahl der Aufsätze?«

»Nein.«

»Und wenn sie dann nicht im Einklang mit der Redaktionslinie bezüglich der Buchbesprechungen steht?«

Maarten zögerte. »Ich nehme doch an, dass du dein Konzept zur Diskussion stellen wirst?«

»Darüber müsste ich dann doch erst noch einmal nachdenken.«

»Jedenfalls hast du dann die Hauptverantwortung.«

Bart dachte nach.

Maarten dachte an das Telefonat mit Balk. Es beunruhigte ihn, da Balks Verhalten unvorhersehbar war, zumindest für ihn.

»Ich muss darüber erst noch einmal nachdenken«, sagte Bart. »Ich kann wirklich nicht sofort darauf antworten.«

»Natürlich nicht. Denk in Ruhe darüber nach, und sag dann Bescheid.« Er stand auf und schob den Stuhl zurück. »Ich bin dann jetzt mal bei Balk.«

Mit bangem Herzen ging er die Treppe hinunter und öffnete die Tür des Durchgangsraums. Das Zimmer war leer, Bavelaars Schränke und ihr Schreibtisch waren verschwunden. Es lag nur ein wenig Gerümpel herum. Überrascht betrat er Balks Zimmer. Sobald er eingetreten war, stand Balk hinter seinem Schreibtisch auf und zeigte auf die Sitzecke. »Setz dich kurz.« Es klang ungewohnt freundlich.

»Ist Bavelaar weg?«, fragte Maarten, während er Platz nahm.

»Sie hat den Raum von Dé Haan bekommen.« Er setzte sich zu Maarten, ordnete einen kleinen Stapel Briefe und Papiere, der vor ihm auf dem kleinen Tisch lag, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß. »Das Hauptbüro möchte, dass ich, für den Fall, dass ich einmal nicht da bin, einen Stellvertreter benenne. Willst du das machen?«

Die Bitte überraschte Maarten. »Was beinhaltet das?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen.

»Nichts! Du erhältst die Zeichnungsvollmacht, aber ich bin immer da, und wenn ich mal weg bin, dann nie für lange Zeit, also praktisch wirst du nichts davon merken.«

Maarten dachte nach, auch wenn er selbst nicht wusste, was es nachzudenken gab. »Ich mache es«, sagte er schließlich.

»Gut! Dann werde ich erst noch de Roode fragen, ob er etwas da­gegen hat. Wenn er keinen Einwand hat, ist das geregelt.« Er stand auf.

»Sag mir dann Bescheid«, sagte Maarten und stand ebenfalls auf. Erst auf der Treppe nach unten ging ihm auf, dass de Roode seine Zustimmung geben musste, weil er promoviert war und daher formal über ihm stand. »Tag, Herr de Vries«, sagte er im Vorbeigehen zu de Vries, der in der Loge saß und vor sich hinsah. – »Tag, Mijnheer«, sagte de Vries. – Er wollte durch die Schwingtür gehen, besann sich, drehte sich um und ging in das frühere Zimmer von Dé Haan. Auf dem Platz, an dem diese gesessen hatte, saß nun Bavelaar mit ihren Schränken um sich herum sowie einem zweiten Schreibtisch neben dem ihren, der leer war. »Tag, Jantje«, sagte er.

»Tag, Maarten.« Es klang nicht sehr heiter.

»Du hast dich verbessert.« Er sah sich um.

»Findest du? Ich wäre lieber an meinem alten Platz geblieben.«

Er sah sie prüfend an, die Hände in den Taschen. »Warum bist du da denn weggegangen?«

»Das hat Balk entschieden. Er findet, dass ich jemanden zusätzlich brauche, und dafür ist das Zimmer zu klein.«

Er verstand.

»Er hat sogar schon jemanden für mich ausgesucht.«

Er nickte.

»Einen Surinamer.«

»Einen Surinamer?«

»Ja, nicht, dass ich etwas gegen Surinamer habe«, sagte sie hastig. »Da sind sicher ganz nette Leute darunter, aber ich hätte doch lieber ein junges Mädchen gehabt, dem man noch alles beibringen kann.«

Er nickte verständnisvoll. »Was hat er für eine Ausbildung?«

»Er sagt, dass er kurz vor dem Abschluss in Buchhaltung steht«, sagte sie skeptisch.

»Und das ist jetzt das Zimmer von Fräulein Bavelaar«, sagte Rentjes hinter ihm. »Sie ist für das Geld zuständig, mit der müssen wir uns also gut stellen.« Maarten drehte sich um. Rentjes hatte den Raum in Gesellschaft einer großen, schlaksigen Frau mit einem roten, etwas schläfrigen Gesicht betreten.

Bavelaar stand auf. »Wir kennen uns schon, oder?«, sagte sie und drückte ihr die Hand. »Jantje Bavelaar.«

»Ach ja«, sagte die junge Frau.

»Und das ist Herr Koning«, sagte Rentjes und zeigte auf Maarten. »Er ist Leiter der Abteilung Volkskultur, aber mit der haben wir weiter nichts zu tun.«

»Zum Glück«, ergänzte Maarten.

»Lies Meis«, sagte die Frau und gab ihm die Hand. Sie trug eine Brille mit dicken Gläsern und bewegte sich, als ob sie schlafwandelte.

»Maarten Koning.«

»Na, dann sind wir durch«, sagte Rentjes. »Jetzt nur noch den Kaffeeraum.« Sie verließen den Raum wieder.

»Für wen ist die denn gekommen?«, fragte Maarten und wandte sich wieder Bavelaar zu.

»Für Lex. Wusstest du das nicht?«

»Ich weiß nichts.«

»Lex ist doch arbeitsunfähig geschrieben worden?«

»Was hat er denn?«

»Nichts! Aber wenn man nur lange genug quengelt, wird man für arbeitsunfähig erklärt.« Sie sah ihn unsicher an. »Ja, so ist es doch?«

Maarten erinnerte sich an das Gespräch im Kaffeeraum zwischen Lex und Rentjes vor etwa einem Jahr. »Und wird er sich jetzt einen kleinen Bauernhof in Friesland kaufen?«, fragte er ironisch.

»Ich weiß nicht, was er machen wird«, sagte sie gleichgültig.

*

Er ging ins Krankenzimmer, wich jedoch sofort wieder zurück. In Beertas Bett lag eine Frau. Verwirrt schloss er die Tür, beschlichen von bangen Vorgefühlen. Auf der Suche nach einer Pflegerin, die ihn aufklären könnte, ging er den Flur entlang und fand schließlich drei von ihnen Tee trinkend in einem kleinen Raum, der sich auf der Hälfte des Ganges befand. »Mein Name ist Koning«, sagte er zögernd auf der Schwelle. »Ich komme wegen Herrn Beerta.« In der Ältesten erkannte er die leitende Pflegerin, die ihn einmal aus Beertas Zimmer geworfen hatte, weil die Besuchszeit vorbei war.

»Herr Beerta ist nicht mehr hier«, sagte sie.

»Wo ist er denn?«, fragte er erschrocken.

»Herr Beerta ist vorige Woche ins Zonnehuis in Amstelveen aufgenommen worden.«

»Wo ist das?«

»In Amstelveen«, wiederholte sie ungeduldig.

Er nickte verwirrt: »Vielen Dank«, und wandte sich ab. Erst als er die Treppe hinunterging, fiel ihm ein, dass er hätte fragen können, um was für ein Haus es sich handelte und wie die Besuchszeiten dort waren, doch er sah davon ab zurückzugehen. Ein wenig verdattert über die unerwartet gewonnene Freiheit zögerte er vor dem Haupteingang in der Hitze des Sommernachmittags. Einen Moment lang überlegte er, ob er nicht ein Stück spazieren gehen sollte, aber dann bog er doch links ab, auf die Straße, die ihn zurück zum Büro führte.

*

»Ich habe noch mal darüber nachgedacht«, sagte Bart, »aber ich habe beschlossen, dass ich doch lieber nicht auf dein Angebot eingehe.«

»Das ist schade«, sagte Maarten. Er konnte Bart nicht sehen, da er verborgen hinter seinem Bücherregal saß, doch er meinte zu hören, dass seine Stimme heiser klang.

»Ich hoffe, dass du es mir nicht übel nimmst?«

»Warum sollte ich dir das übel nehmen?«

»Ich habe das alles noch einmal gegeneinander abgewogen, aber ich bin doch zu dem Ergebnis gekommen, dass es neben meinen anderen Arbeiten eine zu schwere Belastung wäre.«

»Der Einzige, der das beurteilen kann, bist natürlich du selbst.« Er bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen, war sich jedoch nicht sicher, ob es ihm ganz gelang.

Es gab eine kurze Stille.

»Dann lassen wir also alles so, wie es war«, schlussfolgerte Maarten.

»Das wäre mir lieb.«

»Gut.«

Es wurde erneut still.

»Es ist nicht, weil ich nicht bereit bin mitzuarbeiten.«

»Ja, das weiß ich.«

»Es ist nur so, dass ich im Augenblick keine Möglichkeit sehe, Zeit dafür zu finden.«

Maarten überlegte, ob er sagen könnte, wie er darüber dachte, doch diese Abwägung war zu kompliziert. »Du läufst natürlich schon ­Gefahr, dass du demnächst den ganzen Tag über nur noch damit ­beschäftigt bist, die Informationen für die Anschaffung eines ein­zigen Buchs zusammenzusuchen«, sagte er, um den Knoten zu durchschlagen.

»Ich hoffe nicht, dass du das wirklich denkst«, seine Stimme klang bedrückt, »denn das würde ich äußerst unangenehm finden.«

»Das denke ich jetzt noch nicht«, er bereute seine Bemerkung bereits, »aber es besteht natürlich das Risiko.«

»Wenn du das denkst, kannst du diese Arbeiten besser einem anderen übertragen, denn ich bin dann dafür offensichtlich nicht geeignet.«

»Wenn es einen gibt, der dafür geeignet ist, dann bist du es«, versicherte Maarten, während er sich selbst vorwarf, dass er damit angefangen hatte.

»Da bin ich mir nicht so sicher, denn dann würdest du das so nicht sagen.«

»Ich habe nur gesagt, dass dann das Risiko besteht!«, wiederholte Maarten mit Nachdruck, als könne er damit seine Bemerkung auslöschen.

»Aber wenn du so etwas sagst, findest du das natürlich auch jetzt schon, sonst würdest du nicht auf die Idee kommen.«

Maarten schwieg. Er dachte über eine Antwort nach, doch ihm fiel nichts ein. Er begriff, dass er sich mit seiner unbesonnenen Bemerkung in eine Zwickmühle gebracht hatte.

»Gib die Kataloge in Zukunft dann ruhig jemand anderem«, sagte Bart deprimiert.

Maarten stand auf. Er ging um das Bücherregal herum, damit er Bart sehen konnte. Bart machte einen niedergeschlagenen Eindruck, als stünde er kurz davor, in Tränen auszubrechen. Er tat ihm leid. »Du hast die Neigung zum Perfektionismus«, sagte er freundlich. »Das wirst du doch selbst wohl auch wissen.«

»Ich versuche, alles so gut wie möglich zu machen«, sagte Bart deprimiert und sah vor sich hin.

»Das ist deine Stärke«, versicherte Maarten. »Es gibt niemanden hier, auf dessen Urteil ich so blind vertrauen kann wie auf deins. Wenn du sagst, dass wir ein Buch anschaffen sollten, weiß ich, dass es gerechtfertigt ist. Und wenn du etwas kritisierst, was ich geschrieben habe, nehme ich es ernst, ernster als bei jedem anderen.«

»Das ist aber nicht immer zu merken.« Er sah Maarten nicht an.

»Ich bin nicht immer einer Meinung mit dir, aber das ist etwas anderes!«

»Ich habe eher das Gefühl, dass du nie einer Meinung mit mir bist.«

»Darin täuschst du dich dann. Wir haben natürlich ganz unterschiedliche Charaktere, aber das ist für eine Abteilung wie die unsrige nur von Vorteil.«

»Ich sehe das nicht so, aber es wird dann wohl so sein.« Er sprach so leise, dass er fast nicht zu verstehen war.

»Aber in dieser Stärke liegt auch deine Schwäche. Jemand, der zum Perfektionismus neigt, kann sich in etwas so festbeißen, dass er da nicht mehr herauskommt. Das habe ich gemeint.«

»Oh, das hast du gemeint«, sagte Bart matt.

Sie schwiegen.

Maarten suchte nach einer Bemerkung, die die vorherige wieder aufheben würde.

»Du darfst es mir nicht übel nehmen«, sagte Bart, »aber ich verstehe das nicht ganz. Stärke, die zugleich Schwäche ist, darunter kann ich mir nichts vorstellen. Das ist Psychologie, und darin bin ich nicht so gut.« Es klang bitter.

»Vergiss es einfach.« Er zögerte, wollte noch etwas sagen, doch ihm fiel nichts mehr ein, und er ging unzufrieden mit sich selbst zurück zu seinem Schreibtisch. »Bleib einfach bei deiner Entscheidung, und ich finde es in Ordnung.« Er wartete, ob Bart noch etwas sagen würde, doch Bart sagte nichts mehr.

»Haben Sie eine Tasse Kaffee für mich, Herr Wigbold?«, fragte er und schob einen Bon durch die Luke.

»Sie hängen am Schwarzen Brett, nicht?«, sagte Wigbold, während er eine Tasse unter den Hahn des Kaffeebehälters hielt.

»Ich?«, fragte Maarten erstaunt.

»Schauen Sie nur.«

Maarten ging zum Schwarzen Brett, das in einer Ecke auf dem Tresen stand, an der Glaswand, die den Kaffeeraum von der Küche trennte. Am Brett hing zwischen anderen Mitteilungen ein getippter Zettel: »›Während meiner Abwesenheit wird in Zukunft Herr M. Koning als mein Stellvertreter fungieren. J. C. Balk.‹«

»Dann muss ich also in Zukunft zu Ihnen kommen, wenn ich etwas früher nach Hause will«, sagte Wigbold mit jener Mischung aus Unverschämtheit und Unterwürfigkeit, die sein Auftreten kennzeichnete. Durch die Luke schob er Maarten die Tasse zu.

»Nein, zu Herrn Balk«, sagte Maarten unwillig.

»Aber Herr Balk geht immer um vier Uhr nach Hause.«

»Sie werden das doch wohl vor vier Uhr wissen?«

»Nicht immer.«

»Dafür muss es dann aber schon einen guten Grund geben.«

»Frau Haan fand es immer in Ordnung.«

»Ja, aber ich bin nicht Frau Haan.« Er wandte sich ab. Der Mann irritierte ihn. Er setzte sich außerhalb seines Blickfelds hin und rührte verärgert in seinem Kaffee.

Freek und Elsje kamen aus dem Hinterhaus in den Kaffeeraum. »Ich habe jetzt auch deinen Aufsatz über den Trauring gelesen«, sagte Freek und ging weiter zum Schalter. Er ließ sich eine Tasse Kaffee einschenken und setzte sich damit neben Maarten, Elsje setzte sich an seine andere Seite. »Du brauchst nicht gerade besonders viele Fakten, um dir eine Theorie auszudenken.« Er unterdrückte ein Lachen. »Sorry.«

»Das ist auch Barts Kritik«, sagte Maarten reserviert.

»Aber du denkst dir jedenfalls immer wieder eine andere aus.«

»Da wäre ich mir mal nicht so sicher. Im Grunde genommen ist es immer dasselbe.«

»Und welche ist das dann?«, fragte Freek neugierig.

»Dass Wissenschaft nicht existiert.«

Die Bemerkung amüsierte Freek. »Ich verstehe nicht, wie du das durchhältst. Ich glaube, wenn ich meine Arbeit so hassen würde wie du, würde ich nichts mehr tun.«

»Es ist einfach Pflichtgefühl.«

»Pflichtgefühl nennst du das?« Er unterdrückte erneut ein Lachen. »Ein anderer hätte davon längst einen Herzschlag bekommen.«

Hans Wiegersma kam aus dem Hinterhaus, einen Bon in der Hand. Er lachte verlegen. »Hallo«, sagte er.

»Hast du die Zeichnungen der Wiege schon fertig, Hans?«, fragte Maarten. »Für das erste Heft?«

»Fast«, sagte Hans, während er Wigbold seinen Bon gab. Sein Kopf zuckte ein wenig.

»Dann komme ich gleich mal vorbei.«

»Wie geht es Beerta jetzt eigentlich?«, fragte Freek. »Hast du noch mal was darüber gehört?«

»Ja«, sagte Hans. Er setzte sich mit der Tasse in der Hand ihnen gegenüber hin. »Ha«, sagte er lächelnd zu Elsje.

»Ich wollte ihn gestern besuchen, aber da stellte sich heraus, dass er ins Zonnehuis verlegt worden war. Das ist eine Art Pflegeheim.«

»Glaubst du, dass das ein positives Zeichen ist?«

»Wenn man nach dem Namen geht …⁠« Er beendete den Satz nicht.

»Ja, oder auch nicht«, sagte Freek skeptisch. »Wenn man sieht, welche Namen man derzeit den scheußlichsten Neubauvierteln gibt …⁠«

»Dann kriegt man einen Schreck«, gab Maarten zu. »Aber ich werde es ja sehen. Ich gehe Dienstag hin.«

»Grüß ihn von mir.«

»Ja«, sagte Hans.

»Ja, von mir auch«, sagte Elsje schnell. »Auch wenn er wahrscheinlich nicht mehr weiß, wer ich bin.«

*

An der Gracht war es still. Ein früher Sonntagmorgen. Langsam schlenderten sie unter den Bäumen in Richtung der Brouwersgracht. Der Wind raschelte kurz in den Blättern über ihren Köpfen und legte sich dann wieder. Sie gingen die gepflasterte Straße entlang. Zwischen den Steinen am Ufer wuchs hier und da ein wenig Gras. An den Stellen, an denen Autos gestanden hatten, befanden sich dunkle Ölflecken. Er sah zu den weißen Dachgesimsen hoch, die in der Sonne glänzten. Auf einem davon saßen ein paar Tauben. Sie bogen um die Ecke und folgten der Brouwersgracht. Ein Mann mit einem kleinen Hund kam ihnen entgegen. Er blieb bei einem Baum stehen und wartete, während der Hund sein Geschäft erledigte. Der Hund scharrte mit den Hinterpfoten, während der Mann bereits wieder weiterging, und lief dann eilig hinter ihm her. Auf der Brücke über die Prinsengracht hielten Hund und Herrchen kurz inne und betrachteten die Wohnboote. Sie spiegelten sich im still daliegenden Wasser wider, es war so glatt, dass es kaum einen Unterschied zwischen dem Boot und seinem Spiegelbild gab. Sie überquerten die Brücke in Richtung der Noorderkerk und setzten sich auf eine der Bänke. Er faltete die Zeitung, die er in der Hand mit sich herumgetragen hatte, halb auseinander, gab Nicolien die Beilage und legte sich seine Hälfte auf den Schoß, doch er las nicht. Schläfrig sah er vor sich hin, die Augen wegen des Sonnenlichts halb geschlossen. Es kamen ein paar Kirchgänger vorbei. Er folgte ihnen mit dem Blick, während sie den Platz überquerten und um die Ecke verschwanden. Von der anderen Seite kamen ein Mann mit einem Bart, ein Kind, ein Hund und eine schwangere Frau. Sie setzten sich auf eine andere Bank. Der Mann stand wieder auf, nahm das Kind mit zur Rutsche, hob es hinauf und ließ es hinunterrutschen. Nachdem sie dies ein paar Mal wiederholt hatten, brachte er das Kind zurück und ging mit einer Plastiktüte zum Sandkasten. Während er allen Unrat aus dem Sandkasten zusammensammelte und in die Plastiktüte packte, sprang der Hund hinzu und fing an, begeistert eine Kuhle zu graben. Das Kind wurde in die Kuhle gesetzt, und der Mann und die Frau sahen von der Bank aus zu, wie es mit einer kleinen Schaufel winkte. In der Kirche hatte die Orgel zu spielen begonnen. Die Klänge drangen gedämpft bis zum Platz und verflüchtigten sich in der Stille. Die Gemeinde setzte ein: »Bleib bei mir, Herr, wenn bald der Abend naht. Wenn Freunde von uns gehn im Sturmgetös, bleib du mir nah, o bleib bei mir.« Er lauschte gerührt. Als das Lied zu Ende war, brauchte er eine Weile, um seiner Rührung Herr zu werden. »Sollen wir mal wieder gehen?«, fragte er dann, mit einer noch leicht erstickten Stimme.

*

Den Ersten, den er sah, als er die Halle betrat, war der Mann mit dem großen Kopf. Er saß nahe der Tür, sein Kopf war nach vorne gesunken und lag auf der Ablage seines Rollstuhls, die Zunge hing ihm aus dem Mund, er schlief tief und fest. Eine Frau kam vorbeigerollt, sich selbst mit den Händen an den Felgen fortbewegend. Sie grüßte ihn und fuhr an ihm vorbei. Zwischen den Leuten, die im Raum verstreut in Rollstühlen oder Sesseln saßen und auf Besuch warteten, suchte er Beerta, bis er ihn in der Nähe des riesigen beleuchteten Aquariums entdeckte, nicht mehr im Rollstuhl, wie beim letzten Mal, sondern in einem normalen Sessel, mit einer Krücke bei sich. Er verzog ironisch den Mund, als Maarten die Hand hob und zwischen zwei Rollstühlen hindurch auf ihn zuging. »T-taaa, Maaschjen«, sagte er, noch bevor Maarten ihn hatte begrüßen können.

»Du sprichst!«, sagte Maarten überrascht.

Beerta zuckte lächelnd mit den Achseln.

»Wie hast du das so schnell hingekriegt?«, fragte Maarten begeistert.

»Vosse …⁠«, probierte Beerta – er strengte sich sichtlich an, um die richtigen Laute zu formen –, »vosse Ohohäsjin.«

»Von der Logopädin!«, begriff Maarten.

Beerta nickte.

»Aber das ist doch hervorragend!«

Beerta lächelte zurückhaltend.

»Und du sitzt nicht mehr im Rollstuhl«, stellte Maarten fest, während er einen Stuhl heranzog und sich setzte. »Kannst du auch gehen?«

»Ja?« Es klang wie eine Frage.

»Super!«

»Wissusehn?« Er griff zur Krücke, einer Aluminiumkrücke mit einer Achselstütze.

»Ja, natürlich.«

Beerta stellte die Krücke vor sich auf den Boden und bewegte sich vor und zurück, um aus dem Sessel hochzukommen.

»Soll ich dir helfen?« Er streckte die Hand aus.

»Neinj!« Er bewegte sich immer schneller vor und zurück und stieß sich dann mit einer letzten Kraftanstrengung hoch. »Scho!« Er nahm die Krücke unter seine Achsel und sah Maarten triumphierend an. »Jess er ie-ir as Hau-zeien.« Er drehte sich um, stellte die Krücke vor sich hin und schritt vor Maarten her. Sein rechtes Bein zog er ein wenig nach, und sein rechter Arm hing schlaff an seinem Körper herab, doch er ging.

Maarten, der sich noch immer nicht ganz von seiner Überraschung erholt hatte, folgte ihm. Eine Frau in einem Rollstuhl fuhr zur Seite, um sie vorbeizulassen, rundherum saßen Bewohner mit Besuchern, vor einem kleinen Laden neben der Treppe standen ein paar Leute. Beerta stellte seine Krücke auf die unterste Stufe, trat ein wenig zur Seite, um nach einer guten Ausgangsposition zu suchen, setzte den linken Fuß neben die Krücke und zog den rechten Fuß hinterher. Maarten hatte seinen Arm angehoben, um zu helfen, bereit, ihn aufzufangen, während Beerta sich, ohne auf ihn zu achten, nach oben arbeitete. »Kannst du auf dem rechten Bein stehen?«, fragte er.

»Ein bieschen«, antwortete Beerta angestrengt.

Eine Schwester kam ihnen entgegen und machte ihnen Platz. »Geht es, Herr Beerta?«

»Ja, esch sjeht.«

Sie nickte Maarten zu und ging an ihnen vorbei die Treppe hinunter.

»Es ist phantastisch!«, sagte Maarten begeistert.

Beerta lächelte. Er blieb oben an der Treppe kurz stehen. »As is nichs«, sagte er bescheiden. Er wandte sich ab und ging in den Flur, einen langen Flur mit offen stehenden Türen.

»Wo gehen wir hin?«, fragte Maarten, während er langsam neben ihm herging, sich jedes Mal zurückhaltend, wenn er ihn zu überholen drohte.

»Umeischimme«, antwortete Beerta.

»Umeischimme …⁠«, wiederholte Maarten halblaut, während er nach der Bedeutung der Laute suchte. »Sag es noch mal. Ich verstehe es nicht.«

»Umeischimmes!«, wiederholte Beerta ungeduldig.

Maarten schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es noch immer nicht. Aber ich werde es ja sehen.« Er sah durch eine offen stehende Tür in ein helles Zimmer mit Stühlen und Tischen und Kinderzeichnungen an der Wand. Im nächsten Raum standen Betten, jedes mit einem Schränkchen, unter weißen Tagesdecken. »Wie viele Leute leben hier eigentlich?«, fragte er, während sie den Flur entlanggingen.

»Ie weis es nie.« Er blieb vor der letzten Tür stehen, wandte sich zu Maarten um und bedeutete ihm einzutreten. Im Zimmer standen zwei Betten. »As is mei Schimmes.«

Maarten sah sich um. An der Wand hing ein abstraktes Gemälde aus Kunst-am-Bau-Mitteln. Auf einem der Schränkchen, dem Schränkchen von Beerta, lag ein Stapel Bücher. Das Zimmer bot Aussicht auf eine Grünanlage, einen Rasen, ein paar Sträucher. Der Gedanke, dass Beerta hier den Rest seines Lebens würde verbringen müssen, war bedrückend. »Wer schläft dort?«, fragte er und zeigte auf das zweite Bett mit den Fotos einer Frau und Kindern auf dem Nachtschränkchen.

»Ei Mas«, sagte Beerta nicht ohne Sinn für Humor.

Maarten schmunzelte. »Aber was war er von Beruf?«

Beerta öffnete den Mund und suchte nach den richtigen Konsonanten.

»Sjaffisäs.« Er schüttelte den Kopf. »Sjaffisän!«

»Kapitän!«

Beerta nickte.

»Gerade, wo du doch Pazifist bist!«

Beerta lächelte, ein resigniertes Lächeln, und zuckte mit den Achseln. »Wasj anan … a-man maahn«, sagte er.

*

Das Telefon klingelte. Maarten nahm den Hörer ab. »Koning!«

»Wigbold hier. Können Sie Goud eben Bescheid sagen, dass er mich vertritt? Ich möchte etwas früher nach Hause.«

»Warum wollen Sie denn früher nach Hause?« Es irritierte ihn.

»Meine Frau ist krank, und da muss ich den Einkauf machen.«

Er verspürte den Impuls zu sagen, dass es in Ordnung sei, doch sein Widerwille gegen das Verhalten dieses Mannes gewann die Oberhand. »Wir hatten doch vereinbart, dass Sie in solchen Dingen Herrn Balk fragen?«, sagte er nicht besonders freundlich.

»Meine Frau hat erst angerufen, als Balk schon weg war.«

Maarten sah auf die Uhr über der Tür. Es war zehn nach vier. Balk war seit höchstens zehn Minuten weg. »Sie können die Einkäufe doch auch noch erledigen, wenn Sie um Viertel nach fünf nach Hause gehen?«

»Wie soll das denn gehen?«

»Es gibt hier doch noch andere Leute, die um Viertel nach fünf ihren Einkauf erledigen!«

»Die wohnen dann sicher nicht in Slotermeer. Bevor ich am Museum­plein bin, bei meinem Auto, ist es schon zwanzig vor sechs.«

»Ja, Sie sollten auch besser das Fahrrad nehmen.«

»Sonst frage ich Klaas Sparreboom.«

»Ich werde mal mit Goud sprechen«, entschied Maarten. Er legte den Hörer auf und stand auf. Er ärgerte sich, hatte das Gefühl, hereingelegt zu werden, doch er fand es auch unangenehm, eine solche Bitte abzuschlagen. Übellaunig ging er die Treppe hinunter in den ersten Stock. Goud saß im Bibliotheksraum der Abteilung Volksnamen, eine kleine, krumme Pfeife im Mundwinkel, vor sich Zähllisten.

»Herr Goud!«, sagte Maarten.

»Ja-a«, sagte Goud und sah langsam auf.

»Würden Sie Wigbold vertreten, bis Viertel nach fünf?«

Goud nahm seine Pfeifchen aus dem Mund. »Das will ich gern tun, aber das hat mir Herr Balk verboten«, sagte er ernst.

»Warum?«

»Ja, das weiß ich nicht.«

»Dann werde ich erst mit Wigbold sprechen.« Er verließ den Raum wieder und stieg hinunter zur Halle. Die Pförtnerloge war leer, de Vries war im Urlaub. Er ging hintenherum zur Küche. Wigbold war schon im Begriff zu gehen, die Tasche in der Hand.

»Ich habe von Goud gehört, dass Herr Balk ihm verboten hat, Sie zu vertreten.« Der Mann war ihm derart zuwider, dass er ihn fast nicht ansehen konnte.

»Ja, aber jetzt sind Sie hier der Chef.« Er sah ihn frech an. »Ich konnte doch nicht wissen, dass meine Frau plötzlich krank werden würde?«

»Und wenn Sie nun hier in der Gegend einkaufen?«

Wigbold sah ihn an, als würde er seinen Ohren nicht trauen. »Ich weiß nicht mal, wo hier die Geschäfte sind.«

»Um die Ecke ist ein Supermarkt, und ein Stück weiter gibt es einen Gemüsehändler.«

»Zahlen Sie die Mehrkosten?«

Maarten ignorierte die Bemerkung. »Sie dürfen Ihren Einkauf jetzt machen«, entschied er, »aber danach kommen Sie wieder zurück. Ich werde Goud sagen, dass er Sie so lange vertritt. Wenn er nach unten kommt, können Sie gehen.« Er wandte sich ab und stieg die Treppe wieder hinauf, wütend auf sich selbst, weil er die letzte Bemerkung auf sich hatte beruhen lassen.

Goud saß wieder über seine Listen gebeugt. Er sah auf, als Maarten eintrat. »Ich habe Wigbold gesagt, dass er kurz weg darf, um einzukaufen«, sagte Maarten. »Würden Sie ihn so lange vertreten? Er ist bis Viertel nach fünf wieder da.«

»Jetzt gleich?« Er stand auf.

»Gern, wenn Sie möchten.«

Erst als er die Treppe wieder hinaufstieg, bedachte er, dass Wigbold seinen Einkauf dann auch um Viertel nach fünf hätte erledigen können, wenn er es in Büronähe getan hätte.

Goud stand im Flur und wartete auf ihn, die Tasche in der Hand, als Maarten um Viertel nach fünf die Treppe herunterkam, um nach Hause zu gehen.

»Ist Wigbold nicht zurückgekommen?«, fragte Maarten.

»Nein.« Es klang, als wundere es ihn, doch alles, was Goud sagte, klang so. »Wigbold ist nicht zurückgekommen.«

Klaas Sparreboom kam durch die Schwingtür aus dem Kaffeeraum. »Tag, Herr Koning«, sagte er schmunzelnd. Er blieb bei ihm stehen und sah ihn fürsorglich an. »Ich habe gehört, dass es Probleme mit Wigbold gibt?«

»Tag, Herr Sparreboom«, sagte Maarten. Er wandte sich Goud zu. »Gehen Sie jetzt ruhig nach Hause. Vielen Dank auch noch.«

»Gern«, sagte Goud. »Tschüss, Herr Koning. Tschüss, Klaas.« Er ging zur Drehtür.

»Wenn Sie möchten, dass ich Wigbold vertrete, mache ich das gern«, sagte Sparreboom. »Ich bin abends doch immer hier.«

»Das ist sehr nett von Ihnen.«

»Das heißt, bis neun Uhr. Konnten Sie etwas mit der Zeitung anfangen, die ich neulich gebracht habe?«

»Was für eine Zeitung war das?« Er konnte sich nicht daran erinnern.

Sparreboom schmunzelte. »Eine Ausgabe des Aalsmeerder Courant mit einem Artikel über die Geschichte der Kirmes in Aalsmeer. Das schien mir was für Ihre Abteilung zu sein, weil Sie diese alten Sachen mögen.«

Maarten schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihn Herrn Asjes gegeben.«

»Ach ja, dann habe ich den noch nicht bekommen.«

»Dann kriegen Sie ihn sicher noch. Ich fand nämlich, dass es ein ziemlich netter Artikel war.«

Unterwegs nach Hause überlegte er, dass er das Verhalten von Wigbold nicht akzeptieren konnte, doch er hatte keine Ahnung, wie er dagegen einschreiten sollte. Ich kann so etwas nicht, dachte er unglücklich. Das Einzige, was ich könnte, wäre, so einen Mann totzuschlagen. Und selbst das kann ich nicht. – Er empfand sich als misslungen.

*

Das Licht in der Küche war an. Er schob sein Namensschild ein, fasste sich ein Herz und ging hintenherum in die Küche. Wigbold stand mit dem Rücken zu ihm vor der Kaffeemaschine. »Tag, Herr Wigbold.« Seine Stimme war tonlos vor Anspannung.

»Guten Morgen«, sagte Wigbold, ohne sich umzudrehen.

»Sie sind gestern nicht mehr zurückgekommen!«

Wigbold drehte sich langsam um. »Bis ich mit meinem Einkauf fertig war, war es Viertel nach fünf.«

Maarten sah an seinem Gesicht, dass er log. »Das hat aber lange gedauert.« Er konnte die Worte fast nicht herausbekommen, so sehr war ihm dieser Mann zuwider.

»Sicher, das hat lange gedauert«, sagte Wigbold gleichgültig. »Aber das hatte ich doch schon gesagt? Einkaufen kostet Zeit.«

Maarten nickte. »Wie sich zeigt.« Er wandte sich ab, ohnmächtig, er musste sich zurückhalten. Oben an der Treppe besann er sich und ging durch den Durchgangsraum in Balks Zimmer. Balk saß in seiner Sitzecke und las die Zeitung. Er ließ sie sinken, als Maarten eintrat. »Morgen«, sagte er, nicht unfreundlich.

»Hast du kurz Zeit?«, fragte Maarten angespannt.

Balk legte, ohne etwas zu sagen, die Zeitung hin.

Maarten setzte sich ihm gegenüber, etwas zusammengesunken, seine Tasche in der Hand. »Gestern, als du schon weg warst, rief Wigbold an und fragte, ob er nach Hause gehen dürfte, weil seine Frau krank wäre.« Er sprach etwas lauter und musste sich beherrschen, um nicht mit allen Informationen gleichzeitig herauszuplatzen. »Ich habe ihm dann die Erlaubnis erteilt, während der Bürozeit den Einkauf zu erledigen, und Goud gebeten, ihn so lange zu vertreten, hörte aber von Goud, dass du ihm das verboten hättest. Wie soll ich mich deiner Meinung nach in solchen Fällen verhalten?«

Man konnte sehen, dass die Mitteilung Balk irritierte. Er hatte begonnen, mit dem Fuß zu wippen, und sah wütend drein. »Wie spät war das?«

»Zehn nach vier.«

»Was für ein widerlicher Mann!«, sagte Balk verärgert, mehr zu sich selbst. Er sah von Maarten weg. »Ich werde mit ihm reden!«, entschied er dann.

»Gut«, sagte Maarten mechanisch. Er stand auf. Erst auf der Treppe wurde ihm bewusst, dass er nun noch immer nicht wusste, was Balk von ihm erwartete, doch er hatte keine Lust zurückzugehen. Er betrat sein Zimmer, stellte die Tasche ab, öffnete das Fenster, hängte sein Jackett auf, zog die Hülle von der Schreibmaschine und setzte sich. Sien und Joop kamen nacheinander herein. Er grüßte sie, fasste sich ein Herz und zog eine Mappe zu sich heran, an der er tags zuvor auch schon gearbeitet hatte. Kurze Zeit später kam Bart, eine Viertelstunde danach Ad.

»Hast du Zeit, über den Murmel-Fragebogen zu reden?«, fragte Bart.

»Ja, natürlich«, sagte Maarten und unterbrach seine Lektüre. Er stand auf und begab sich ans Kopfende des Sitzungstisches. Während Bart stehend an seinem Schreibtisch die Papiere zusammensuchte, sah er gedankenverloren vor sich hin. Bart legte den letzten Entwurf vor ihn hin und setzte sich ums Eck an den Tisch, bereit, seine Bemerkungen zu notieren. Maarten zog den Entwurf zu sich heran und sah ihn sich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

»Ich habe nicht den Eindruck, dass du besonders viel Lust darauf hast«, bemerkte Bart.

»Es gibt wenige Dinge, auf die ich mehr Lust habe als ausgerechnet das Murmelspiel«, versicherte Maarten.

»Ich will es auch gern ein andermal besprechen.«

»So lese ich hier«, sagte Maarten und zeigte mit einem Finger auf die Stelle: »›Es gibt fast niemanden, der in seiner Kindheit nicht mit Murmeln gespielt hat‹. Das scheint mir völlig richtig!« Es lag ein kaum verhohlenes Vergnügen in seiner Stimme, ein kurzes, verhaltenes Lachen. »Wenn man so etwas liest, kann so ein Fragebogen nicht mehr in die Hose gehen!«

*

Nur das Licht in der Pförtnerloge brannte, in der Küche war es dunkel. Für einen Moment dachte er, dass Meierink wieder zurück war, doch als er sein Namensschild einschieben wollte, sah er im Kaffeeraum Balk von einem Stuhl aufstehen, die Zeitung in der Hand, und sich gleich wieder hinsetzen. Balk konnte ihn nicht bitten, auf die Klingel zu achten. Während er sein Schild einschob, fragte er sich, ob er es anbieten sollte. Dass dies wieder als Unterwürfigkeit ausgelegt werden könnte, machte ihn unsicher, doch sein Hierarchiegefühl gab, wie so oft, den Ausschlag. Er zog die Schwingtür auf. »Ist Wigbold krank?«

»Ja«, sagte Balk unwirsch hinter seiner Zeitung.

Maarten zögerte. »Geh du dann ruhig nach oben. Ich habe ohnehin ein Buch dabei.«

Balk stand sofort auf und ging an ihm vorbei in die Halle zur Treppe.

»Wann kommt Meierink eigentlich aus dem Urlaub zurück?«, rief Maarten ihm hinterher. Wenn Wigbold krank war, achtete Meierink für gewöhnlich auf die Klingel, bis de Vries kam. Ebenso wie Balk kam er immer eine halbe Stunde früher, um sich einen Parkplatz für sein Auto zu sichern.

»Nächste Woche«, antwortete Balk, ohne sich umzudrehen.

Maarten ging wieder in die Pförtnerloge. Er machte die Tasche auf, als ihm einfiel, dass er das Buch zu Hause hatte liegen lassen, lauschte, bis er die Tür von Balks Zimmer hörte, und rannte dann so geräuschlos wie möglich die Treppe hinauf in sein Zimmer. Kurz darauf war er wieder zurück in der Loge, außer Atem. Er ließ sich vor der Schreibmaschine von de Vries nieder, spannte eine Karteikarte ein, schlug das Buch, das er geholt hatte, auf und begann, ohne sich die Zeit zu gönnen, wieder zu Atem zu kommen, eine Passage abzutippen. Es schellte. Er drückte auf den Türöffner und beugte sich vor, an der Spiegelung der kleinen Fenster in der Loge vorbei, um zu sehen, wer durch die Drehtür in die Halle kam. Hans Wiegersma. Er trat in die Loge. »Ha«, sagte er mit einer verlegenen Bewegung. Er schob sein Namensschild ein und drehte sich zu Maarten um. »Soll ich dich ablösen?« Er lächelte entschuldigend. Sein Kopf wackelte ein wenig.

Maarten schüttelte den Kopf, ebenfalls lächelnd. »Nein, Hans, geh du nur fröhlich ans Werk.« Der Mann, der eigentlich findet, dass die Ablösung angebracht wäre, der jedoch so demokratisch ist, es nicht zuzulassen.

Während Hans weiter zur Treppe ging, schellte es erneut. Tjitske kam durch die Drehtür. Sie schob ihr Namensschild ein und blieb zögernd stehen.

»Ich bleibe hier sitzen«, sagte Maarten, bevor sie etwas sagen konnte, als verstünde es sich von selbst, dass sie ihm anbieten würde, ihn ab­zulösen.

»Ich würde es schon tun.«

»Nein, wirklich nicht.«

Sie zögerte noch einen Moment und ging dann ihrerseits die Treppe hinauf.

Er begann wieder zu tippen, drehte die Karteikarte um, tippte die Passage zu Ende, zog die Karteikarte aus der Schreibmaschine, legte sie neben sich und griff zu einer neuen, während er mit der anderen Hand zum Türöffner langte, weil es wieder schellte. Aad Ritsen. Er blieb in der Tür stehen. »Soll ich mich hier vielleicht hinsetzen?«

»Nein, ich bleibe schon«, wehrte Maarten ab.

Aad blieb stehen.

»Nein, wirklich nicht«, sagte Maarten noch einmal. »Du sitzt doch oben? Wenn du jetzt unten sitzen würdest …⁠« Ein idiotisches Argument, das außerdem sehr unfreundlich klang, als verübele er es Aad, dass er sich selbst zu schade war, sein Angebot mit großer Geste zu akzeptieren. Unzufrieden mit sich tippte er die neue Passage zu Ende und drückte erneut auf den Türöffner, gerade als er mit der dritten Karteikarte anfangen wollte. Diesmal war es de Vries. Er stand auf, schlug sein Buch zu, mit einer Karteikarte zwischen den Seiten, und packte seine Karteikarten zusammen. »Ich habe mich mal kurz auf Ihren Platz gesetzt«, entschuldigte er sich. »Wigbold ist krank.«

»Vielen Dank, Mijnheer«, sagte de Vries.

»Fragen Sie Goud, wenn er kommt, ob er sich um den Kaffee kümmern kann?«

»Jawohl, Mijnheer.« Als hätte der nicht selbst auf die Idee kommen können. »Vielen Dank.«

Unglücklich über sein Verhalten stieg er die Treppe hinauf. Als er an seinem Platz saß, kam Tjitske aus dem Besucherraum. Sie blieb zögernd an seinem Schreibtisch stehen. »Ich wollte noch sagen, dass ich am Freitag nicht da bin.«

»Fährst du zu deiner Mutter?«

»Nein, ich muss ins Krankenhaus.«

Er sah sie an.

»Da muss ein Knötchen aus meiner Brust entfernt werden.« Sie wurde rot.

»Das ist nicht so gut.«

»Ach, es ist nur ein kleiner Eingriff«, sagte sie hastig. »Ich denke, dass ich Montag normal wieder im Büro bin.«

»Aber es ist natürlich trotzdem nicht gut.«

»Ja, schon.«

Joop betrat den Raum. »Ebenfalls guten Morgen«, sagte sie laut. Sie ging weiter zum Karteisystemraum.

»Aber dann weißt du es schon mal«, sagte Tjitske verlegen und wandte sich ab.

»Ja.« Die Nachricht schockierte ihn. Abwesend sah er vor sich hin, während sie die Tür hinter sich schloss, nicht in der Lage, seine Arbeit sofort wieder aufzunehmen. Erst als Bart eintrat, nahm er sich das Buch erneut vor. Es war ein Nachdruck von Verordnungen aus dem sechzehnten Jahrhundert, aus dem er für seine Roggenbrotstudie die Bestimmungen über »Brot« auf Karteikarten übertrug. Ad kam herein. Er erinnerte sich, dass Nicolien ihn gebeten hatte, Ad zu fragen, ob er sich in ihrem Urlaub wieder um die Katzen kümmern könnte. Es war ihm unangenehm, und er schob es auf, mit dem Argument, dass er es besser tun könne, wenn Bart nicht im Raum wäre.

Das Telefon klingelte. Bavelaar. »Das Bulletin ist gekommen. Willst du, dass es nach oben gebracht wird?«

»Ich komme.« Er legte den Hörer auf. »Das Bulletin ist gekommen«, sagte er und stand auf.

Bart sah auf.

»Soll ich es mal holen?«, fragte Ad.

»Nein, ich hole es schon.« Er war bereits zur Tür hinaus und rannte die Treppe hinunter.

»Tag, Herr Panday«, sagte er, als er Bavelaars Zimmer betrat.

»Tag, Herr Koning«, sagte Panday freundlich. Er strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus.

Bavelaar stand an ihrem Schreibtisch, ein aufgerissenes Paket mit Zeitschriftenexemplaren auf der Ecke, und blätterte in einem Heft, eine Zigarette zwischen den Fingern.

Er nahm das nächste Exemplar und betrachtete es.

»Sieht es nicht schön aus?« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette und inhalierte tief.

»Es sieht schön aus«, bestätigte er, während er das Heft durchblätterte.

»Und diese Zeichnungen von Hans Wiegersma!«, sagte sie bewundernd. »Der kann noch zeichnen!«

»Die sind hübsch.« Er betrachtete sie etwas aufmerksamer. »Sie sind nur nicht ganz durchgekommen. Die Linien sind hier und da etwas schwach.«

»Das passiert jetzt dauernd!«, sagte sie unzufrieden. »Und ich habe noch extra gesagt, dass sie darauf achten sollten!«

»Aber die Karten sind sehr gut.« Er betrachtete den Umschlag noch einmal. »Und den Umschlag finde ich auch sehr schön.«

»Sehr schön!«

»Darf ich zwanzig davon haben? Dann verteile ich sie oben.«

»Notierst du das mal?«, sagte sie zu Panday. »Herr Koning nimmt zwanzig mit.«

»Ich werde es notieren«, sagte Panday ruhig, ohne entsprechende Anstalten zu machen.

Mark Grosz saß unter seiner Lampe, die Augen dicht über dem Buch, und übertrug Wörter auf kleine Karteikarten. Als Maarten eintrat, sah er auf.

»Das Bulletin ist da«, sagte Maarten und überreichte ihm das oberste Exemplar des Stapels. Er blieb stehen.

Mark nahm das Heft vorsichtig entgegen, stieß die Lampe etwas weiter nach oben, damit das Licht darauf fiel, und bewegte es langsam vor seinen Augen hin und her. Er schlug es auf, blätterte ein wenig darin, suchte die Inhaltsangabe auf der Innenseite des Umschlags und sah dann mit einem, in seinem Bart verborgenen Lächeln auf. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Du darfst es behalten«, sagte Maarten und wandte sich ab.

»Vielen Dank.« Als hätte er nicht damit gerechnet.

Maarten stieg, zwei Stufen gleichzeitig nehmend, die Treppe in sein eigenes Stockwerk hinauf und ging über den Flur zum Zimmer von Jaring. »Das Bulletin ist da«, sagte er, als er Jarings Raum betrat. Jaring stand hinter Joost Kraai, der auf einem Stuhl vor dem Registraturschrank saß und zwischen den Mappen etwas suchte. »Sieh dann mal unter ›Suawoude‹ nach«, sagte Jaring zu ihm. Er wandte sich Maarten zu. »Das ist schön.«

»Könntest du die in deiner Abteilung verteilen?« Er überreichte ihm sechs Exemplare.

»Das mache ich.« Er legte den Stapel auf die Ecke des Tisches und wandte sich wieder Joost zu.

Auf dem Flur fiel ihm ein, dass Balk natürlich auch eines haben müsste. Er eilte die Treppe wieder hinunter und ging in dessen Zimmer. Balk telefonierte. Maarten hielt ein Exemplar hoch. Balk streckte die Hand aus und nahm es entgegen. »Ja«, sagte er kurz. Während er zuhörte, blätterte er mit der freien Hand das Heft durch. »Das würde ich nicht machen!«, sagte er entschieden, er nickte Maarten zu und legte das Heft zur Seite. »Nein! Ganz bestimmt nicht!«

Maarten verließ das Zimmer wieder. Er rannte mit dem übrig gebliebenen Stapel erneut die Treppe hinauf, in den dritten Stock, und trat bei Hans Wiegersma ein. Hans stand hinter seinem Zeichentisch, über eine Karte gebeugt. Er sah auf, als Maarten hereinkam. »Das Bulletin ist da«, sagte Maarten.

»Hey«, sagte Hans. Er legte sorgsam den Stift hin und wandte sich Maarten zu. »Ja.«

»Ach«, sagte Maarten lachend, ihn imitierend.

Hans lachte verlegen. »Ja, entschuldige.« Er nahm das Heft in Empfang und ging damit zu seinem Tisch. »Es sieht schön aus.« Sein Kopf wackelte ein wenig. Er schlug es bei seinen Zeichnungen auf, nahm eine Lupe und betrachtete sie aus der Nähe. »Die dünnen Linien sind nicht ganz durchgekommen, die hätte ich doch etwas dicker machen sollen.«

»Aber die Karten sind gut.«

Hans blätterte, bis er die Karten hatte, und betrachtete sie ebenfalls mit der Lupe. »Ja, zum Glück schon.«

»Du darfst es behalten.« Er wandte sich zur Tür ab.

»Danke«, sagte Hans überrascht.

Maarten rannte die Treppe wieder hinunter und ging in den Besucherraum. Tjitske war allein. »Hier ist das Bulletin, aber ich kann mir vorstellen, dass du jetzt anderes im Kopf hast.«

»Ach, nein. So wichtig ist das nicht.« Sie nahm das Heft von ihm entgegen.

Während sie zu blättern begann, blieb er kurz bei ihr stehen, um etwas Nettes zu sagen, doch ihm fiel nichts ein. Unten aus dem Garten hörte man Stimmen und das Klirren von Kaffeetassen. Er beugte sich aus dem Fenster. Huub Pastoors, Aad Ritsen, Gaby Wildeboer, Sjef Lagerweij und Koos Rentjes hatten ihre Stühle mit in den Garten genommen und saßen dort, um Kaffee zu trinken. »Ich lege auch ein Exemplar auf Mandas Schreibtisch«, sagte er, während er sich wieder aufrichtete. Eine überflüssige Mitteilung.

»Ja.«

Er legte das Heft auf die Ecke von Mandas Schreibtisch und ging durch die Tür in sein eigenes Zimmer. »Das ist für dich«, sagte er zu Ad und legte ein Exemplar auf den Rand seines Schreibtisches, »und das ist für dich.« Er überreichte es Bart und ging weiter in den Karteisystemraum. »Der ›Bullenschwengel‹«, sagte er laut, als er den Raum betrat. Joop zog eine Grimasse, ein breites Lachen mit aufeinandergepressten Lippen. »Hmmm«, schwelgte sie. Er gab ihr ein Heft, legte ein Exemplar auf Siens Schreibtisch und kehrte in sein Zimmer zurück. Ad und Bart saßen beide zurückgelehnt da und lasen in ihren Exemplaren. Er legte, was noch vom Stapel übrig geblieben war, auf die Ecke seines Schreibtisches, setzte sich, nahm das oberste Exemplar, schlug es auf und vertiefte sich in die Einleitung, die Worte, nun, da sie gedruckt waren, auf ihre Überzeugungskraft hin abwägend: »Wir halten es nicht für notwendig, die Einwände gegen den Begriff ›Volk‹ in der ›Volkskultur‹ noch einmal breit zu diskutieren. Nach allen Diskussionen, die darüber geführt worden sind, ist nun wohl zu jedem durchgedrungen, dass er durch seine Vagheit unbrauchbar und durch die Konnotation mit›Einheit‹irreführend ist. Was wir davon bewahren wollen, ist die Begrenzung unserer Forschung auf unser eigenes Land, und zwar aus rein praktischen Gründen. Wir halten es ebenso wenig für notwendig, den ursprünglichen Ausgangspunkt unseres Fachs, die Illusion, dass im Sammeln traditioneller Auffassungen und Gebräuche der Schlüssel zum Wissen über die Vergangenheit liegt, einer nochmaligen Betrachtung zu unterziehen. Wenn wir, gemäß der Tradition unseres Fachs, unsere Aufmerksamkeit weiterhin auf die traditionellen Elemente in der Kultur richten, konzentriert sich diese auf ihre Bedeutung in der Gesellschaft, wobei Veränderungen und Unterschiede im zeitlichen Verlauf und in der Verbreitung – sowohl räumlich als auch sozial – als Ausgangspunkt für unsere Forschung mindestens ebenso wichtig sind wie Kontinuität. Damit unterscheiden wir uns nicht …⁠«

Er blätterte weiter, las hier und da ein paar Sätze in seinem Aufsatz über die Wiege, und wurde von einem enormen Widerwillen ergriffen, der ihn daran hinderte, die Bedeutung dessen, was er las, in sich aufzunehmen. Es war alles viel zu vorsichtig. Die Aggression, die darin steckte, blieb verborgen, weil er einen völligen Mangel an Wissen hatte kaschieren müssen. Er hätte sagen müssen: »Meine Herren, was tun wir als erwachsene Menschen eigentlich hier? Glauben Sie denn wirklich, dass das der Weg ist, Ihr Leben zu verbringen? Unsinn!« Doch so etwas konnte man nur sagen, wenn man allen anderen in puncto Faktenwissen überlegen war, und dann sagte man es nicht mehr. Er sah auf. Freek hatte, mit dem Milchträger in der Hand, den Raum betreten und war an seinem Schreibtisch stehen geblieben. »Macht es eigentlich was mit dir, dich selbst gedruckt zu sehen?«, fragte er neugierig.

»Nichts!« Er legte das Bulletin weg.

Freek lachte ungläubig. »Das glaube ich nicht.«

»Wenn ich etwas empfinde, dann ist es Scham, aber ich möchte gerne Buttermilch«, er stand auf, »und ich gehe Kaffee trinken.«