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Impressum und Copyright

Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2013


www.verbrecherverlag.de


© Verbrecher Verlag 2010

Satz und Ebook-Erstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-940426-58-1
ISBN Epub: 9783943167740
ISBN Mobipocket: 9783943167757

FRÉDÉRIC VALIN

RANDGRUPPENMITGLIED

Erzählungen


Randgruppenmitglied

Unverständliches schreiend, hatte Jana die Wohnung verlassen. Zum Ausdruck ihrer Wut hatte sie – natürlich – die Tür ins Schloss geworfen. Vielleicht war er beim Klang der zufallenden Tür zusammengeschreckt, denn er mochte keine lauten Geräusche. Ich mag keine lauten Geräusche, sagte er für sich, und gab seinen Worten, ohne es zu beabsichtigen, einen vorwurfsvollen Ton.

Sie hatten eine ihrer seltenen Streitereien gehabt. Es hatte bestimmt einen Anlass gegeben. Es gab immer einen Anlass. Es gab für alles einen Anstoß. Es gab für alles ein Thema. Nur wusste er nicht mehr, welcher Anlass, welcher Anstoß. Welches Thema. Er ahnte dunkel, dass es darum schon längst nicht mehr ging: Sie stritten nicht mehr über Themen. Worum mochte es gegangen sein? Dass die Blumen nicht gegossen worden waren, dass die Waschmaschine nicht ausgeräumt war, dass der Abwasch dastand wie all die Tage zuvor, dass die Regalbretter seit drei Wochen im Flur lehnten und niemand Anstalten machte, sie an den Wänden festzuschrauben. Es war banal und völlig gleichgültig, welches Thema sich Jana zum Anlass nahm, um ihre Aggressionen auszuleben; natürlich hatte sie den Streit begonnen. Sie begann immer, und immer mit einem Gambit. »Es tut mir leid, dass ich, aber Du hättest doch auch«, das war ihre Eröffnung, das hatte sie schon häufig erprobt. Erst bot sie ihm ein Opfer an, und dann nahm sie Tempo auf. Fünf Jahre, und er hatte noch immer keine Antwort gefunden auf diese ihre Eröffnung.

Wozu auch. Er hatte sich damit abgefunden. Sie war eben manchmal ein unzufriedener Mensch, sie brauchte dieses Ritual, sie brauchte diese Streitereien. Es ging nicht um ihn, es ging nicht einmal um ihr Verhältnis zu ihm. Er hörte schon an ihren Schritten im Treppenhaus, ob sie ihm wieder seine Lethargie, wieder seine Teilnahmslosigkeit, wieder seine Gleichgültigkeit vorwerfen würde, dafür fand sie nie genug Synonyme. Ihm hingegen fiel immer nur ein Wort ein, mehr gab sein Hirn nicht her: Er fand sie flatterhaft. Das sagte er auch gern: »Du bist flatterhaft.« Wenn er guter Dinge war, deutete er mit seinen Händen ein wenig Gewedel an.

(In zärtlichen Momenten nannte er sie seinen Schmetterling.)

Innerhalb weniger Minuten jedenfalls hatte sich der Anlass des Streits zu einer allgemeinen Tirade ihrerseits ausgewachsen, ohne dass er die einzelnen Züge hätte nachverfolgen können. Er hatte, wie er es gelernt hatte, still dagesessen, die Hände auf den Tisch gelegt und zugehört. Er hatte registriert, wie ihr nach und nach das Blut in die Schläfen stieg und ihre Oberlippe zu zittern begann. Wie sie ihn zornfunkelnd angesehen hatte, mit kurzen, scharfen Blicken. Ohne auf ihre Worte zu hören, hatte er so nachverfolgen können, wie sie sich nach und nach in einen Zustand der Erregung katapultiert hatte, aus dem er sie nicht mehr hätte herauslösen können. Dann hatte er, wie gewöhnlich, mit gedämpfter Stimme zur Tischplatte gesagt, dass er sie jetzt sowieso nicht mehr erreichen könne, dass ein Gespräch auf dieser Basis nicht möglich sei und sie sich erst einmal beruhigen solle, bevor sie sich noch weiter in ihre Wut hineinsteigere.

Und immer, wenn er geendet und mit Hoffnung in der Stimme gesagt hatte, sie möchte wieder zur Vernunft kommen, blieb sie einen kurzen Moment still. Von draußen hörte man den Straßenlärm herauftönen, und jedes Mal aufs Neue dachte er für einen Augenblick, sie hätte Vernunft angenommen und würde ihn jetzt in Frieden lassen mit den ganzen Kleinigkeiten, die sie zu beanstanden hatte, mit dem Abwasch, den Brettern im Flur, der Waschmaschine, all den Dingen. Ein jedes Mal hoffte er, sie reagierte nicht, wie sie für gewöhnlich reagierte, wie sie immer reagierte, sondern nur dieses eine Mal Luft holen und ihn in die Arme schließen und Entschuldigung sagen. Wenn er dann aufsah zu ihr, wusste er, dass er sich getäuscht hatte, schon wieder. Er hatte es schon vorher gewusst.

Es war der Moment, in dem sie ihn fassungslos mit großen, wässrigen Augen ansah und flüsterte: »Du spinnst doch, du Arschloch!« Und dann begann sie wieder zu schreien, noch absoluter dieses Mal, noch prinzipieller, noch grundlegender, bis sie, in einem Anfall von theatralischer Verzweiflung, jene sechs Worte ausstieß, auf die er schon den ganzen Abend gewartet hatte: Du. Liebst. Mich. Doch. Gar. Nicht. Du liebst mich doch gar nicht!

Und kaum hatte sie’s gesagt, nahm sie ihre Jacke und verließ, Unverständliches schreiend, die Wohnung, wobei sie zum Ausdruck ihrer Wut die Tür derart ins Schloss fallen ließ, dass im Küchenschrank die Gläser klirrten.

Und jetzt saß er, wie gewöhnlich, am Küchentisch und versuchte, etwas Unordnung in seine Gedanken zu bringen, um sich sagen zu können, er sei aufgewühlt, und sie habe Unrecht.

Er sah auf die Uhr. »Du liebst mich doch gar nicht!«, hatte sie geschrieen, es hatte genau siebzehn Minuten gebraucht, normalerweise brauchte es etwas länger. Er versuchte sich zu erinnern: Hatte sie sich nicht beinahe die Haare gerauft und sich beinahe die Augen ausgekratzt und beinahe geheult? Aber für wahre Tränen war in diesen Minutenstreits kein Platz. Es war im Grunde auch gar kein Streit. Es war mehr – und als er dieses Wort dachte, musste er lächeln – es war mehr ein »Ausbruch«, eine »Eruption«, hätte Jana gesagt, eine »Explosion«, etwas, was herauswill, hätte sie gesagt und das strähnige Haar geschüttelt. Um Wahrheit ging es nicht, es war nicht wichtig, ob der Satz stimmte, das erklärte sie im Nachhinein immer und würde es auch dieses Mal wieder erklären, es ging um den Ausdruck, um den Effekt, um, wie sie sagte, die »Performativität«. Sie hatte studiert.

Er wusste, dass sie den Satz nicht ernst meinte.

Doch noch war nicht der Zeitpunkt für Relativierung und Kontextualisierung. Jetzt war die Zeit, da er versuchte, betroffen dreinzusehen, als säße sie ihm noch gegenüber. Denn das war natürlich ein untragbarer Vorwurf. »Du liebst mich doch gar nicht«, das konnte er nicht auf sich beruhen lassen. Er hatte sich ein ganzes Arsenal an Gegenmaßnahmen zurechtgelegt, einem solchen Vorwurf zu entgegnen; aber im ersten Moment war er meist zu überrascht, um angemessen unangemessen reagieren zu können. Er hatte sich einst ganze Zettel vollgeschrieben mit Gesten, die er sich überstreifen wollte in solchen Momenten: tief ausatmen beispielsweise, sich mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand über die Augenbrauen fahren, dabei die Stirn kraus ziehen, oder sich mit der linken Hand in den Nacken fassen und zu Boden sehen. Betroffenheit spielen, Trauer, Angst, Verletztheit. All das. Gesten, die ihr zeigten, wie Unrecht sie ihm tat. Wie sehr sie ihn traf in ihrer Performativität. Gesten, die zeigten, dass auch er ein Mensch war, den sie nicht ohne Konsequenzen für ihre Ausbrüche benutzen konnte, hernehmen und verbrauchen.

Kurzum, »Du liebst mich doch gar nicht!« war ein furchtbarer Satz.

Dabei empfand er ihn nicht als unzutreffend.

Zwei Monate zuvor war er zu einem ähnlichen Schluss gekommen. Er stand damals im Wohnzimmer, es war irgendein Nachmittag, die Sonne kam vom Himmel und aus dem Hinterhof hörte man die Geräusche der Nachbarn. Er wollte sich gerade auf den Balkon setzen, als er kurz am Wohnzimmertisch stehen blieb. Da standen zwei Kerzenständer auf einem Untersetzer, blankpolierte, silberne Kerzenständer, mit halb abgebrannten Kerzen darin. Sie hatten die Kerzenständer ein halbes Jahr zuvor zusammen in irgendeinem Einrichtungshaus gekauft, sie hatte mit dem Finger darauf gewiesen, gefragt, ob sie ihm gefielen, und er hatte genickt. Jetzt sah er sie an und resignierte.

Sie waren schlicht, trotzdem ein wenig kitschig, ­klobig und silbern. Am Fuß liefen sie zu Kanten aus, die Oberfläche glänzte. So war sie, das mochte sie. Das waren ihre Kerzenständer, nicht seine. Das war ihr Stil, nicht seiner.

Er sah sich in der Wohnung um: Überall war Metall. Der Bilderrahmen glänzte matt, der CD-Ständer hatte eine gerundete, gebogene Form, in der Mitte des Raumes stand vor der Ledercouch ein Glastisch mit geschwungenen Metallbeinen. Über dem Sofa hing ein Architekturbild, das er zum ersten Mal seit ihrem Einzug näher betrachtete: Es musste irgendein Hochhaus in New York sein, das darauf abgebildet war; auf einem schwarzen, klobigen Metallschrank stand der große Fernseher.

All das interessierte ihn nicht. New York interessierte ihn nicht, Glas interessierte ihn nicht, das Fernsehen interessierte ihn nicht, Metall interessierte ihn nicht. Es schien ihm, als sei er durch Zufall in diese Umgebung hineingeraten, als habe all das, all die Kerzenständer und Tische und Bilder nichts mit ihm zu tun; ihm kam das alles wie ein Unfall vor. Er hatte sich dahinein verlaufen. Selbstverständlich hatte er zu jedem der Gegenstände in der Wohnung genickt, als Jana ihn fragte, ob er sich damit würde anfreunden können; doch sein Nicken war ein abwesendes gewesen.

Er war mit seiner Umgebung nur flüchtig bekannt. Selbst die Blumen auf dem Balkon, deren Pflanzung er durchgesetzt hatte und die er ausgewählt hatte, schien ihm unangebracht und falsch. All das passte ihm nicht, es passte nicht zu ihm. Er hatte den unangenehmen Eindruck, für anderes bestimmt zu sein.

Hätte er sich gefragt, welchen Stil er bevorzugte, er hätte keine Antwort gewusst. Oder vielmehr: Er hätte ein Dutzend Antworten gewusst. Je nach Tageszeit hätte er sich für Second Empire begeistert, für eine Bauernstube, für mediterrane Kacheln, für Dielen, Teppich oder Parkett, für einen Kamin oder eine Playstation. Seit seiner Erkenntnis kam es vor, dass er abends im Bett lag und sich in ein Krankenhauszimmer träumte, aus dessen Fenster man einen leicht verwilderten Park sehen konnte. Schien draußen die Sonne, dachte er an Gartenmöbel, wie er sie aus seiner Kindheit kannte, an eine Terrasse mit einem kleinen Tisch aus Holz; wenn es schneite, wünschte er sich einen langen Tresen in der Küche, an dem man hätte sitzen können und Wein trinken.

Er stand auf und ging durch die Wohnung. Graue Gardinen, eine Fotowand, eine formschöne Kaffeemaschine, der man ansah, dass sie Geld gekostet hatte. Ein Gabbeh-Teppich mit grafischem Muster, Familiengeschenk. Auf dem Balkon eine Lichterkette, für die Stimmung, und ein gelbes Sturmlicht. Irgendwo hing ein Windspiel. Alles war aufgeräumt, es passte zueinander, ohne uniform zu wirken, die Wohnung hatte Charakter; das sah man. Und sie war sauber. Es passte alles gut zusammen.

Nur er passte nicht. Als ihm neulich eine Socke hinter die Waschmaschine gefallen war, hatte er eine feine, kaum sichtbare Ecke Schimmel entdeckt. Darüber hatte er sich wenn auch nicht gefreut, so doch ein wenig erleichtert gezeigt: So sehr befriedigte ihn das bisschen Verfall, dass er die Waschmaschine, nachdem er seine Socke hervorgefischt hatte, lächelnd ein Stück weiter an die Wand schob, ohne den Mangel zu beheben. Sie hätte an seiner Stelle ohne Frage die Putzsachen aus dem Verschlag in der Küche geholt, keine Ruhe gegeben, bis wieder alles glänzte, und dann ausführlich über die von ihr ergriffenen Maßnahmen referiert. Und er hätte versucht, ihr nicht zuzuhören.

Er schloss aus seiner mangelnden Liebe nicht, dass sie nicht zusammenpassten. Das Gegenteil war der Fall: Sie passten vorzüglich zusammen. Abgesehen von den seltenen Streitereien, denen er keine große Bedeutung beimaß, harmonierten sie. In ihrer Eigenart lag für ihn ein Zauber, der ihn jedes Mal aufs Neue staunen ließ. Er war noch immer überrascht, wie sie auf manche Situationen reagierte, er hatte noch immer Respekt vor ihrer Stimme, wenn sie sich am Telefon mit der Mutter stritt, und freute sich auch jedes Mal aufs Neue, wenn er sie beim Einschlafen Fieplaute machen hörte. Es gab viele dieser kleinen Momente, die ihn – ihm fiel kein besseres Wort ein – bezauberten.