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Impressum und Copyright

Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2013


www.verbrecherverlag.de


© Verbrecher Verlag 2013

Lektorat: Kristina Wengorz
Satz und Ebook-Erstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-943167-42-9
ISBN Epub: 9783943167726
ISBN Mobipocket: 9783943167733

Der Verlag dankt Adrian Breda und Julia Mielewski. Der Autor dankt Nele Solf, Inez Mischitz, Juliane Streich und Guido Weinzierl.

FAST KEINE WÄNDE

Das Haus liegt am Ende des Dorfes, dahinter Wiesen, ­irgendwo Wald. Die Gerüste stehen, die Garage muss gestrichen und der Putz aufgetragen werden. Die Eingangstreppe ist aus Beton, das Treppengeländer aus Holzlatten. Da könnte mal eine kleine Terrasse stehen, vielleicht verglast, je nachdem. Sie haben sich noch nicht entschieden.

»Siehst du, es ist gar nicht so weit«, sagt Katja. Er sieht auf die Uhr, fast halb zwölf, eine dreiviertel Stunde sind sie gefahren. Doch, das ist weit. Aber das macht wahrscheinlich nichts. Das will er ja auch. Lorenz hüstelt, er ist sich nicht ganz so sicher, aber das geht ihm häufig so. Katja hat die Praxis, aber er? Ob er noch genug Aufträge bekommt, wenn er sich jetzt nicht für zwei Jahre irgendwo eine Festanstellung sucht? Ob er da draußen irgendwas zu tun findet, ob er in diesem Dorf nicht eingeht vor lauter Einsamkeit?

Die Stadt ist ihnen mit den Jahren zu anstrengend geworden, es ist auch an der Zeit. In vier Wochen wollen sie umziehen. Er wird sich wohl einen Hund kaufen.

Sie hatten ja oft darüber gesprochen. Sie hatten es sich oft ausgemalt: ein eigenes Haus, mit lauter Fenstern und fast keinen Wänden! Gelb gestrichen, mit einem Kräuterbeet, und Brombeeren! Als Katja dann sagte, es sei so weit, in irgendeinem Dorf in irgendeiner Straße werde ein Haus zwangsversteigert, halbfertig und spottbillig, da fiel ihm zum ersten Mal auf, dass es dieses Land außerhalb der Stadt tatsächlich gab; dass sie sich das gar nicht ausgedacht hatten. Er war noch völlig in dieser Verwunderung gefangen gewesen, als Katja mit ihm hierhergekommen war, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen: Sie waren aus der Stadt hinausgefahren, immer breiter wurden die Straßen, immer seltener die Menschen, die Häuser wurden größer und größer, dann gar keine Häuser mehr, nur noch flaches Land. Sie verirrten sich in Nebenstraßen, am Ende stand ein Ortsschild, dahinter Rasenmäherlärm.

Das Dorf ist ganz klein, lauter zweistöckige Häuser mit Gärten ringsherum, alte, neue, zerfallene und renovierte, schwarze Dächer, rote, braune, Fassaden in jeder Farbe: ein architektonischer Gemischtwarenladen. Mittendrin steht unmotiviert eine Villa und auf dem Kreisverkehr ein Stein, für 1871. Hier passt überhaupt nichts zueinander, ihm gefällt das. Wo nichts zusammenpasst, denkt er, passt jeder rein. Auch ich.

Auf dem Bau wird die Dämmung unter dem Dach eingesetzt, im Bad unten werden die Wandfliesen verlegt. Vielleicht bauen wir bald noch den Dachstuhl aus, denkt er; sie denkt an den Garten. Einen Garten hatte sie noch nie, sie ist ein Stadtkind, sie stellt sich das schön vor: am Wochenende mit den Händen in der Erde wühlen, und am Ende gibt’s Tomaten. Einfach so. Sie lächelt, er fragt warum. Sie sagt nichts weiter, das ist eine gute Entscheidung, denn sonst hätte er ihr gesagt, dass der Boden zu lehmig sei für Tomaten, und sie wäre enttäuscht gewesen. Später hätte er im Internet nachgesehen und gemerkt, dass Lehmböden Tomaten gut bekommen, er hätte drei Tage gebraucht, um es ihr zu sagen, und sich ein bisschen geschämt.

Herr Spangler kommt aus dem Haus. Das ist der Vorarbeiter, die anderen Handwerker nennen ihn »Capo«. »Frau Doktor!«, ruft er grinsend und gibt ihr die Hand. Lorenz steht daneben, er hat die Hand schon aus der Tasche und dem Spangler halb hingestreckt, aber die beiden reden bereits über die Fortschritte. Gut, dann steckt er die Hand eben wieder ein. »Darf ich vorstellen«, sagt Katja, »mein Freund.« Der Spangler mustert ihn, sie geben sich die Hand, jetzt also doch, der Spangler drückt zu, als müsste er ihm das Wasser abdrehen. Lorenz lächelt, unsicher, es ist dieses freundliche, aber zurückhaltende, wohlerzogene Lächeln, das ältere Frauen manchmal denken lässt, wie das wohl wäre, wenn sie jetzt noch jung wären; bei Männern aber verfängt dieses Lächeln nie. Spangler nickt bloß langsam, jetzt lässt er ab, während er ihm immer noch in die Augen sieht. Lorenz geht erst sehr viel später auf, dass in diesem Moment eine Schlacht stattgefunden hat.

Katja geht derweil schon mal vor ins Haus, die roten Haare hinter sich werfend; der Spangler dreht sich um, um sie nickend zu begutachten, ja, ja, doch, doch, kommt hin. Lorenz steht daneben und reibt sich ein wenig die Finger.

Er sieht sich die Baustelle an, überall liegt die Fiberglasdämmung. Oben im Gestühl turnen die Bauarbeiter herum und setzen die gelben Stücke ein, Rigipsplatte drüber, ein paar Schrauben, fertig. Er grüßt, Gemurmel antwortet ihm. »Das ist von der Frau Doktor der …«, sagt Spangler, »Freund.« Da heben sie dann doch die Hand und nicken. Wie lang sie wohl noch brauchen werden, fragt er den Spangler, der sagt: »Ja, gut, noch die Fugen verspachteln, morgen sind wir durch, dann kommt da die Verkleidung drauf, da brauchen wir noch …« Der Spangler schaut aus dem Fenster und verstummt. Lorenz schaut ihm erst ins Gesicht, der Mund ist leicht geöffnet, und die Augen sind zusammengekniffen, als wäre der Spangler kurzsichtig und wolle das da draußen aber ganz genau sehen. Dann schaut auch er zum Fenster hinaus, da kniet Katja und beugt sich nach vorne, um ein bisschen Unkraut aus den neu angelegten Beeten zu rupfen, ihren Arsch nach oben gestreckt wie ein Pavian, das macht sie immer so, selbst wenn sie nur die Spülmaschine ausräumt, sie legt auf Eleganz keinen Wert. Er wartet kurz, um noch mal höflich nachzufragen. Spangler räuspert sich. »Drei Tage, sag’ ich mal.«

Auf der Heimfahrt pfeift Katja hinter dem Lenkrad, sie freut sich auf die Tomaten. Und den Wein, roten natürlich. Schade, dass das Haus keinen Kamin hat, denkt sie, vielleicht bauen wir uns den noch ein. Er sitzt daneben und sieht aus dem Fenster, er braucht Zeit, um sich klar zu werden, was er da draußen mit sich anstellen könnte, und ihm geht plötzlich auf: Das könnten auch Jahre werden. Katja fragt, ob alles okée sei. Okée. »Ja, ja«, sagt er, »ich bin nur müde.« Draußen fährt das Land vorbei, Dämmerung zieht auf. Die Straße windet sich, ihr stehen Häuser im Weg, zehn Minuten lang kommt ihnen kein Auto entgegen.

Sie halten an einer Tankstelle, Katja steigt aus, er bleibt auf dem Beifahrersitz sitzen. Durch die Fenster leuchten ihm die Kühlkästen entgegen, da bekommt er Lust auf eine Cola. Er sieht in seinem Geldbeutel nach, keine Münzen, keine Scheine. Katja verschwindet im Shop. Soll er ihr hinterhergehen und sie fragen, ob er eine Cola bekommt? Wenn er daran gedacht hätte, während sie tankte, hätte er es ihr hinterherrufen können. Bring mir mal eine Cola mit, hätte er gerufen, bitte. Aber so, er weiß schon, wie sie ihn ansehen wird. Sie, Katja. Sie kann sich das nämlich nicht vorstellen, dass jemand kein Geld hat, allein in ihrer Parkmünzenablage liegen gut dreißig Euro. Vier Jahre sind sie schon zusammen, und sie ist immer noch jedes Mal überrascht, wenn er pleite ist. Sie weiß zwar, dass es das gibt, Leute ohne Geld, aber sie hatte immer welches, und deswegen fragt sie in solchen Momenten: »Bist du pleite?« Und obwohl sie nie »etwa« oder »schon wieder« sagt, hört er es jedes Mal dazu. Und dann wird er nicken müssen und lächeln, und am Ende wird ihm die Cola nicht schmecken.

Er weiß auch, dass sie sich Mühe gibt, dass sie es nicht böse meint. Ihre Frage kommt aus einem tatsächlichen Erstaunen heraus, sie hat diese Selbstgewissheit verwöhnter Einzelkinder: kaum vorstellbar, dass die Welt anders ist, als es ihr gerade geht. Mag sie einen Film, fällt es ihr schwer anzuerkennen, dass er schlecht sein könnte. Wenn er an einem Filmabend sagen wird: »›Breaking Bad‹ ist scheiße erzählt«, wird sie ihn von der Seite ansehen und antworten: »Jetzt tu mal nicht so apodiktisch, bloß weil dir das nicht gefällt.« Und dann reden sie nicht weiter darüber. Dabei würde er gern darüber reden. Aber unbestritten: Es führt halt auch zu nichts.

Der Himmel ist schwarz geworden, als sie zu Hause ankommen. Katja ist zum Summen übergegangen, sie kann das nicht. Sie trifft keinen Ton, sie ist völlig unmusikalisch. Wenn man Pfandflaschen in einen Container schmeißt, klingt das melodischer, denkt er und merkt, wie er sich ärgert; früher hat er oft gepfiffen, wenn er fröhlich war, aber das hasst sie ja, denkt er bitter, wie oft hat sie ihn gebeten, nicht mehr zu pfeifen, und jetzt pfeift er nicht mehr, er, der jeden Ton getroffen hat, immer.

»Wollen wir uns noch ein neues Bett aussuchen?«, fragt sie, das alte findet sie zu schmal. Sie schläft nicht mehr gut, seit sie zu zweit sind, sie wird oft wach, weil er sich so oft bewegt, wenn er träumt. Zwei Meter breit soll das neue sein, zwei Matratzen, damit sie die Erschütterungen nicht mehr spürt, wenn er sich nachts wälzt. Das will sie dann zum Einzug bestellen. Als sie sich kennenlernten, denkt er, hat er auf einer Matratze am Boden geschlafen. Und jetzt kommt ein neues Bett ins Haus, in ein neues Haus, in ihr Haus, wo er auch mit einziehen wird. »Mehr als anderthalbtausend Euro darf es nicht kosten«, hat sie gesagt, davon lebe ich zwei Monate, denkt er, wenn’s sein muss sogar drei.

Katja ist in der Küche, sie ist dran mit Kochen. Sie wirft ein Baguette in den Ofen, es gibt noch zwei Scheiben Schinken. Er hätte gern was Vernünftiges gegessen, Nudeln, Gemüse, Fleisch, sagt aber nichts. Er will kein Bett aussuchen, sagt aber nichts. Er weiß noch nicht einmal genau, ob er in dieses Haus ans Ende der Welt ziehen will, sagt aber nichts. Stattdessen holt er sich ein Bier vom Balkon, das ist das beste Mittel gegen die Scham, die in ihm aufsteigt. Wenn er zwei davon trinkt, fühlt er sich zwar immer noch bedrückt, weiß aber immerhin nicht mehr, ob er sich selbst oder ihr dafür die Schuld geben will.

Am liebsten würde er sich jetzt runtersetzen in die Bar und noch mehr Bier trinken. Aber er ist pleite. Der Urlaub neulich hat ihn tief ins Minus gerissen. Dabei hat Katja alles bezahlt, Flug, Ferienhaus, den Mietwagen. Doch dann hat er sie die Woche über abends dreimal zum Essen eingeladen, um auch irgendwas beizusteuern; er hat gar nicht darüber nachgedacht, dass ihm das Geld ausgehen könnte; Sonne, Strand, das Geld liegt in der Brieftasche, und die Bankautomaten zeigen nicht an, ob man im Plus ist. Und als sie wieder zu Hause waren, gab der Automat nichts mehr her. Seit vier Tagen hat er nicht mehr geraucht, Katja hat er nichts gesagt. Sie hätte ihm bestimmt Geld gegeben, sie ist da nicht so, sie hat ein großes Herz. Sie sagt auch immer wieder, dass es nicht ihr Geld sei, sondern ihrer beider Geld, dass es also auch ihm gehöre, genauso wie ihm das Haus auch gehöre. Es sei schließlich ihr Leben, ihrer beider Leben. Er würde sehr gern noch mal darüber reden, aber sie hat schon recht: Das führt zu nichts.

Er sieht auf die Straße. Wie lange wohnen sie schon gemeinsam in dieser Wohnung? Sie sind schnell zusammengezogen, nach kaum einem Jahr, zu ihr. All diese Möbel hier, davon hat er gekauft: einen Schrank, einen Stuhl. Alles, was er besessen hat, bevor sie zusammenzogen, haben sie rausgeschmissen: den Schreibtisch, das zusammengezimmerte Bücherregal, die durchgelegene Couch und die Matratze. Er wollte das ein oder andere verschenken, sie meinte allerdings, das könne man niemandem mehr andienen. Manchmal sagt sie solche Worte, die überhaupt nicht in die Sätze hineinpassen, vor allem nicht in ihre. »Das kann man niemandem mehr andienen.« Also alles auf den Sperrmüll.

»Kommst du?«, ruft Katja, natürlich kommt er. Er beißt sich zwar kurz auf die Unterlippe, kommen wird er trotzdem. Er wird sich das Bett ansehen, sie wird irgendwas aus Holz haben wollen, in diesem neuerdings modernen Postbauernhaus-Stil. Und er wird sich überlegen, wie er das Bußgeld für seine letzte Schwarzfahrt zusammenbekommen soll; und am Ende wird sie ihn fragen, warum er so unbeteiligt ist, und er wird den Kopf schütteln, sie wird sehr tief einatmen, und dann werden sie einschlafen.

Am nächsten Tag ist Katja in der Praxis, am Abend bei Freunden. Er hat viel Zeit, er könnte ein paar Bewerbungen schreiben, sonst wird das ewig so weitergehen. Das hat er die letzten Tage auch schon gemacht. Jetzt sieht er den Laptop an und will ihn in die Mikrowelle stecken, aufdrehen, Türe zu, Kaffee trinken und warten, bis das ganze Plastik zu einem riesigen Klumpen zusammengeschmolzen ist. Dann mit beiden Händen reinfassen.

Auf der Mikrowelle liegt ein Umschlag, das Geld für die Putz­frau, die einmal die Woche kommt. Für einen ganzen Monat, 96 Euro. Auf dem Umschlag liegt ein Zettel, und auf diesem Zettel steht: »Das ist das Geld für die Putzfrau, genau 96 Euro, kannst du ihr das bitte geben?« Wie jedes Mal. Jedes Mal schreibt Katja diesen Zettel, jedes Mal schreibt sie den genauen Betrag mit drauf, jedes Mal fragt sie, ob er das Geld der Putzfrau geben könne, jeden Monat seit drei Jahren, und nie lagen hundert Euro in dem Umschlag, immer vier Zwanziger, ein Zehner, ein Fünfer, ein Euro­stück. Immer. Zum Mäuse­tot­schlagen. Er sieht zum Fenster hinaus, um sich hinterher einreden zu können, er habe gezögert. Der Himmel ist strahlend blau, er nimmt das Geld und geht zur Tür hinaus. Draußen kauft er sich Zigaretten.

Über der Stadt liegt eine schwüle Hitze, die Menschen laufen seltsam breitbeinig durch die Gegend. Sie mustern einander, wie immer im Frühsommer, es ist die Jahreszeit der aggressiven Freundlichkeit, diese Mischung aus Aufmerksamkeit der Umwelt gegenüber und dem Bedürfnis, selbst wahrgenommen zu werden. Sie stellen einem Fragen und werden ungeduldig, wenn man länger als drei Sätze braucht, um zu antworten, denkt er, als ihn der Blick einer jungen Frau trifft. Er mustert sie kurz (Anfang 20, Top, Rock, Clogs, Sonnenbrille), sie sieht immer noch zu ihm hin. Er lächelt. Sie zögert, zieht dann genervt die Augenbrauen nach oben und sieht in eine andere Richtung. Er lächelt weiter, als hätte es nicht ihr gegolten: Als ihm aufgeht, dass sie sein Lächeln nicht mehr bemerken wird, dreht er nach links ab.

Das hier ist sein Viertel. Hier wohnt er schon, seit er in die Stadt gekommen ist, vor sieben Jahren. Er hat die meisten Bars schon vor ihrer Eröffnung gesehen. Als er hier ankam, gab es nichts als Dönerbuden, Apotheken und Bestattungsinstitute. Nach dem ersten Schawarma begann er, Zusammenhänge zu sehen. Er zog in eine WG, in der jeder Raum in einer anderen Farbe gestrichen war, sechs Zimmer, selbst das Klo war angemalt; in grün. Heute kommt ihm das wie vor Jahrzehnten vor. Was wohl die alten Mitbewohner machen? Der Peter? Die Lisa?

Am S-Bahnhof angekommen, stellt er fest, dass in zwanzig Minuten eine Bahn in jenes Dorf fährt, das demnächst seines sein soll. Warum eigentlich nicht, sagt er halblaut, löst einen Fahrschein und kauft sich zwei Bier.

Draußen zieht die Stadt vorbei, die hässlich ist. Das tröstet ihn. Trotzdem wird er unruhig, als er bemerkt, dass die Gärten immer größer werden, die Straßen immer breiter, immer mehr Platz zwischen den Häusern.

Er hat, als sie sich kennen lernten, nicht damit gerechnet, dass Katja jene Frau sein würde, mit der er einmal diese Stadt verlassen könne. Er dachte anfangs, Katja sei eine Episode, und war sich sicher, dass da noch andere kommen würden, bald schon. Das war vor vier Jahren.

Es war nichts Besonderes. Sie haben sich auf einer Party gemeinsamer Freunde getroffen, haben getrunken, gelacht, und irgendwann hat sie seine Hand auf ihre Brust gelegt. Er hat sie wieder weggezogen, aber es hat ihm doch gefallen: diese Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn sich einfach genommen hat. So ist Katja, denkt er. Sie hat eine Praxis mit drei männlichen Kollegen, aber ihr Name steht draußen auf dem Schild. Er dachte damals, das sei mal was anderes, mit einer Frau zu schlafen, die ihn wollte, und nicht andersrum. Sie gingen zu ihr, wie immer, denkt er.

Er war sich nach der ersten Nacht sicher gewesen, dass man es bei dem einen Mal belassen werde, doch dann hatte sie ihn drei Tage später angerufen, um mit ihm essen zu gehen. Er hatte bis dahin vor allem mit Studenten zu tun gehabt – oder solchen, die verzweifelt versuchten, keine mehr zu sein. Sie erzählte Geschichten aus einem anderen Leben, in dem Steuern eine Rolle spielten und der morgendliche Weg zur Arbeit. Aber auch: der Golfurlaub in der Türkei, die Altersvorsorge, die Besetzung eines Stationsarztpostens in der Neurologie. Und ihre Freunde, das kannte er bisher nur aus dem Fernsehen: Einer, Anwalt, fuhr gern Autorennen. Ein anderer, Börsenmakler, hatte ein Boot. Sie überlegte, sich einen Flatscreen in ihr Badezimmer einbauen zu lassen, um aus der Wanne heraus abends ihre Serien gucken zu können.

Es dauerte vier Wochen, bis er feststellte, wie alt sie war. Achtunddreißig. Zehn Jahre älter als er. Er ist manchmal gefragt worden, selbst von Katja, ob ihm das nichts ausmache, und er hat darauf immer geantwortet, dass es ihm egal sei, dass das nicht von Bedeutung sei. Manchmal aber, wenn er sich genau zu erinnern versucht, weiß er es wieder. Es war ihm nicht egal. Nein: Er war geschmeichelt.

Je weiter die S-Bahn fährt, desto deutscher wird sie. Seit Langem schon keine anderen Sprachen mehr, Araber und Türken sind weit vor der Stadtgrenze ausgestiegen; könnte sein, dass der Handwerker hinten rechts Pole ist, und wenn schon, das ist am Ende ja auch bloß Großdeutschland. Er sieht sich erschrocken um, wie um festzustellen, ob ihm jemand den Gedanken angesehen hat; dabei spürt er einen stechenden Schmerz im Nacken, das verdammte gekippte Fenster zwei Reihen weiter, er saß die ganze Zeit im Zug.

Vielleicht ist er alt geworden. Er hat freiberuflich als Grafiker gearbeitet, es gab okayes Geld. Außerdem: erste Zahnbehandlungen, erste Rückenschmerzen, erster Drei-Tage-Kater, erste Sonntage auf der Couch. Wochenenden an der Ostsee, im Hotel statt am Strand, erste Bekannte, die Kinder bekommen. Arztbesuche im Schnitt nicht mehr einmal pro Jahr, sondern einmal pro Monat. Dann die Pleite seines wichtigsten Auftraggebers, Wirtschaftskrise, erste Zahlungsverzüge. Erste Überweisungen von Katja.

Sie hat ihm dann vorgeschlagen zusammenzuziehen. Nicht aus Liebe, schiere Notwendigkeit. Katja hatte ohnehin die Schnauze voll davon, so zu tun, als wäre sie 20. In ihrem Alter wird die Zeit knapper, da ist die bessere Hälfte so gut wie rum, wenn man keine Kinder bekommt. Sie wolle, sagte sie, noch ein paar schöne Jahre haben, es klang nicht einmal dramatisch, nur ein bisschen sentimental. Am liebsten mit ihm. Ob er sich vorstellen könne, mit ihr hinauszuziehen aufs Land. Damals hatte er Tränen in den Augen vor Rührung, und jetzt, da er wieder daran denkt, immerhin einen Kloß im Hals. Ist es die Erinnerung oder wirkt das Bier schon? Er weiß es nicht. Er will ihr eine SMS schreiben, aber sein Handy liegt zu Hause; er bräuchte eine Leine für dieses verdammte Ding. In dem Kaff wird es sicher irgendwo eine Telefonzelle geben, Segen der Rückständigkeit. Noch zwei Stationen.

Von der S-Bahnhaltestelle aus sieht er Felder, in der Ferne die Hochhäuser der Vorstadt. Als er sich umdreht, kommt er sich vor wie ein Eroberer; all diese Maschendrahtzäune, menschenleere Vorgärten, weißgestrichene Fassaden. Er fühlt sich ganz leicht, die Sonne fließt durch sein Blut, er ist ein Viertel Dioptrin betrunken. Da, ein Stück rechts, gibt es eine Kneipe; vielleicht was essen, sonst fängt demnächst sein Kopf an, zu eng zu werden vor lauter Alkohol.