Tilo Prückner, Jahrgang 1940, ist Schauspieler und Bühnenautor. Nach Engagements in München, St. Gallen, Ober­hausen und Zürich spielte er Anfang der Siebzigerjahre an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin, deren Gründungsmitglied er war, und am Bayerischen Staatsschauspiel. Größere Bekanntheit erlangte er als Darsteller des Neuen Deutschen Films. Er war in zahlreichen deutschen Film- und Fernsehproduktionen zu sehen, u. a. in »Adelheid und ihre Mörder«, im Hamburger »Tatort« oder in den Fil­men »Der Schneider von Ulm«, »Der Willi-Busch-Report« und »Iron Sky«. Er verfasste die Bühnenstücke »Meier muß Suppe essen« (1999) und gemeinsam mit Roland Teubner »Gilgamesch und Engidu« (1984).

Tilo Prückner

Willi Merkatz
wird verlassen


20. Kapitel

Fünf Monate später stehen Wilhelm und ich inmitten Tausender Inder auf einem lehmigen Hügel am Ufer des Yamuna. Genau dort, wo die beiden heiligen Flüsse Ganges und Yamuna mit dem unterirdischen mythischen Saraswati, dem Fluss der Erleuchtung zusammenfließen.

Wir sind zur Kumbh-Mela gereist, wie Millionen von Indern. Bis zum Horizont ist die Ebene gefüllt mit Menschen, Zelten und Ashrams. Dazwischen laut hupend buntgeschmückte Jeeps, auf denen berühmte Yogis mit ihrem Gefolge anreisen. Plätze, auf denen Hunderte von Pilgern aus riesigen Töpfen verköstigt werden, Abhänge, an denen dichtgedrängt Männer und Frauen kauernd urinieren. Ab und zu ein Elefant in der Menge. Fakire, grell geschminkt, mit Spießen durch beide Wangen. Prozessionen nackter Yogis, die sich in der Nähe des Ufers auflösen, um ihrer Energie freien Lauf zu lassen. Kreischend stürmen sie durch das Menschengewühl zum Fluss hinunter, werfen sich ins flache Wasser, umarmen voller Emphase den heiligen Fluss.

Es ist eine besondere Kumbh-Mela. Nach dem Stand der Sterne wird erst in 280 Jahren wieder eine ähnlich heilige stattfinden. Es ist Montag, der 29. Februar 2001, nach den astrologischen Berechnungen einer der drei heiligsten Tage dieser so heiligen Kumb-Mela.

Wir beide werden wie einzelne Körner in einer fließenden Sandlawine mitgezogen. Alles ist friedlich, keiner stößt den anderen. Alles gleitet hinunter zum Sangam, wo das flache schlammige Wasser des Ganges sich mit dem klareren tieferen Wasser des Yamuna vermischt.

Wilhelm zieht seine Hose aus, sein Hemd, drückt mir beides zusammen mit den Gummisandalen in die Hände und strömt inmitten der dunklen Körper weiter hinab. Ich versuche, ihn auf die hygienische Situation aufmerksam zu machen, doch Wilhelm entgleitet mir. Ich sehe, wie er Halt findet in einer Gruppe an einem abgestorbenen Baumstamm. Wilhelm scheint sich gut zu fühlen inmitten der nackten Leiber seiner Mitmenschen. Kräftig rot leuchtet seine Narbe vom Nabel bis in den Genitalbereich.

Er springt mit den anderen ins Wasser. Es reicht ihm bis zur Brust, und wie alle hält er seine Nase zu und taucht ein Dutzend Mal unter.

Nach dem zwölften Mal verharrt er in gebückter Haltung. Die Kundalini-Schlange ist erwacht – nach langem Schlaf – und beschert Willi Merkatz die sehnlichst erhoffte Erektion. Er weint. Seine Tränen rinnen die Wangen entlang, vereinigen sich mit dem Wasser des Yamuna und fließen weiter in den heiligen Ganges davon.

Er weint.

Impressum und Copyright

Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2013

www.verbrecherverlag.de


© Verbrecher Verlag 2013


Lektorat: Kristina Wengorz
Satz und E-Book-Herstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-943167-40-5

ISBN Epub: 9783943167863

ISBN Mobipocket: 9783943167870

Das ist die Geschichte von meinem Freund Wilhelm Merkatz, wie er sie mir erzählt hat.

Der Schreck, den er da hatte,
Hätt’ ihn fast umgeschmissen,
Als hätt’ ihn eine Ratte
Plötzlich ins Herz gebissen.

Wilhelm Busch

1. Kapitel

In dem Jahr, in dem die Erde zweitausendmal seit Christi Geburt die Sonne umkreist hatte und sechzigmal seit seiner Geburt, verließ Wilhelm Merkatz seine Frau – also, seine Frau verließ ihn.

Er stand wie jeden Morgen unter der Dusche. Und während das heiße Wasser über seinen Körper rann, brach es aus ihm heraus, und noch während es aus ihm herausbrach, wunderte Wilhelm sich darüber, dass es aus ihm herausbrach. Ein heftiges Schluchzen.

Laut brach es aus ihm heraus – mehrfach.

So etwas kannte Wilhelm nicht von sich. Für einen Moment hatte er das Bedürfnis, in der Ecke der Dusche an den weißen Kacheln niederzusinken, um sich seinem Schmerz, den ihn dieses Schluchzen schlagartig fühlen ließ, hinzugeben, während das heiße Wasser über seinen nackten Leib lief. Doch es war ihm, als ob er diese Situation bereits in einem Film gesehen hätte.

Wilhelm blieb stehen und hielt den Duschkopf fest in der Hand.

»Schlotternd vor Selbstmitleid«, schoss es ihm durch den Kopf.

Und wirklich: Wilhelm schlotterte. Er spürte keine Tränen. Entweder waren da keine, oder der Duschstrahl brauste sie weg und sie mischten sich mit dem Wasser, bevor sie leicht kreiselnd im Abfluss verschwanden.

Wilhelm verließ die Dusche, griff sich ein großes Frottiertuch und begann, sich abzutrocknen. Er empfand ein merkwürdiges Staunen über sich und das, was ihm eben widerfahren war. Er stellte einen Fuß auf den Wannenrand und zog nachdrücklich das Handtuch zwischen dritter und vierter und dann vierter und fünfter Zehe hindurch. Das machte er von Kindesbeinen an so, um seinen rezidivierenden Fußpilz nicht hochkommen zu lassen, jedenfalls nicht aus dem Raum zwischen dritter und fünfter Zehe.

Er wusste, dass seine Frau mit dem Frühstück im Berliner Zimmer auf ihn wartete. Es half nichts. Wilhelm fühlte sich einsam. »Einsam bis auf die Knochen«, benannte er dieses Gefühl und wunderte sich erneut, dass er innerhalb von wenigen Sekunden seinen Zustand mit Schlagworten belegen konnte. Anscheinend verlangte sein innerer Aufruhr nach Zuordnungen.

Er stellte den zweiten Fuß auf den Badewannenrand und versuchte, sich eine Einsamkeit bis auf die Knochen vorzustellen, als er hörte, wie seine Frau nach ihm rief. Die Vertrautheit des Rufs traf ihn schmerzhaft im Rücken. Etwas mühsam rappelte er sich auf, warf den Bademantel über und wagte keinen Blick in den Spiegel. Bitte jetzt nicht dieses Gesicht mit den erschreckten Kinderaugen! Er öffnete die Tür zum Flur.

Wilhelm war 60 Jahre alt und hasste es, seiner Umgebung zu jeder Unzeit ein Gesicht zu präsentieren, das so gar nicht zu seiner inneren Befindlichkeit passte. Er war als Kind nie geschlagen worden, und fühlte sich auch nie dementsprechend, hatte also keinen Grund zu mimischen Entgleisungen, wie er es nannte.

Geschlagen worden bist du zwar nicht, aber geliebt? Ach, Willi, ich kenne dich schon so lange, und ich kenne auch diesen Gesichtsausdruck an dir … Er verrät dich. Mehr als du denkst.

Die Morgensonne, reflektiert von den Fenstern und der hellen Hauswand des Rückgebäudes, dem Berliner »Gartenhaus«, schien in den großen Raum.

Es war eine gute Idee gewesen, die Küche dort einzubauen und das Schlafzimmer in der ehemaligen Küche einzurichten. So war das Berliner Zimmer, dieser merkwürdige Raum in den Berliner Altbauwohnungen zwischen den vorderen Zimmern und dem Seitenflügel mit dem einen großen Fenster in der hintersten Ecke, zum belebten Zentrum der Wohnung geworden.

Es war wie immer: Katarina saß in ihrem kimonoartigen Morgenrock, den sie vor Jahren in London ertrödelt hatten, an der Stirnseite des Tisches. Ganz selbstverständlich hatte Wilhelm ihr diesen Platz überlassen, als eine der vielen Kompensationen im Privaten für seine – wie er es nannte – »natürliche Dominanz« im Beruflichen.

Sie wäre nie auf die Idee gekommen, mein lieber Willi, dir diesen Platz frei zu machen, du weißt das …

Sie saß dort und lächelte leise. Normalerweise machte Wilhelm das Frühstück, bevor er in die Praxis fuhr, und Katarina kam dazu, um sich anschließend noch eine Stunde hinzulegen. Doch nun war sie vor ihm da.

Das Frühstück war beiden sehr wichtig – für Gespräche über das Nächstliegende oder über die globalen Zusammenhänge, über die sich speziell Wilhelm gerne mit morgendlich frischem Geist ausließ. Katarina, die Vorträge eigentlich hasste, genoss diese morgendlichen Geistesspaziergänge ihres Mannes, weil sie sich ohne didaktischen Impetus zwischen Tee und Knäckebrot wie absichtslos den Weg ins Freie suchten. Es war diese halbe Stunde entspannter Unterhaltung, die der Beziehung das tägliche Fundament gab.

An diesem Tag war die Unterhaltung wortkarg. Katarina stellte lediglich ein paar Fragen zu der Reise, zu der Wilhelm nach dem Frühstück aufbrechen wollte: »Wie lange willst du wegbleiben?«

»Ich denke, so zehn Tage.«

»Zehn Tage, ich dachte sechs?«

»Na ja, so lange wie du …⁠«

Katarina war nach der gemeinsam absolvierten Ayurveda-Kur in Sri Lanka, das war jetzt sechs Wochen her, noch einmal für zehn Tage zurück nach Kovalam in Südindien geflogen – allein –⁠, um sich dort weiter behandeln zu lassen. Das gab Wilhelm nun das Recht, fand er, dasselbe für sich einzufordern. Noch nie hatte er in der langen Zeit ihrer Ehe so etwas durchzusetzen gewagt.

»Bleib ja sitzen!«, sagte sie und verschwand für kurze Zeit auf dem Klo. Wie üblich versuchte Katarina, mit diesem Satz zu verhindern, dass Wilhelm die Gelegenheit ergriff, das Frühstück zu beenden, um an die Arbeit zu gehen. Wilhelm liebte diesen Satz, auch wenn er nicht immer sitzen bleiben konnte. Einer musste ja schließlich das Geld verdienen.

Alles war wie immer – und trotzdem: Kaum saß Wilhelm allein am Tisch, da schossen ihm Tränen aus den Augen, so zahlreich, dass sie sich zu Rinnsalen vereinigten, die ihm über die Wangen herabliefen und sich am Kinn trafen, bevor er in der Lage war zu reagieren. Mit einer heftigen Bewegung wischte er sie ab, bevor sie auf die Marmelade tropften.

Da wusste er, die Krise hatte ihn erreicht. Drei Monate lang hatte sie sich angeschlichen und vor zehn Minuten in der Dusche sein Innerstes, sein Herz erreicht: Es würde nichts mehr so sein wie früher.

Begonnen hatte es damit, dass Wilhelm vor gut drei Monaten beschlossen hatte, sich beruflich weiterzubilden und einen Intensivkurs als Therapeut zu absolvieren, um so langfristig etwas gegen die sich ganz allgemein verschlechternde wirtschaftliche Situation des Ärztestandes zu tun.

Er könnte nach dem Kurs jeden Patienten unentrinnbar an sich ketten, ihn vom körperlichen Defekt zur seelischen Ursache zwingen, und umgekehrt jeden Psychotiker auffordern, doch mal etwas für seinen Körper zu tun, also seine Klientel in der Hölle der Psychosomatik schmoren lassen, möglichst lange und möglichst einträglich für sein Portemonnaie.

Sein Hauptmotiv war allerdings ein anderes: Er wollte den öden Praxisbetrieb wieder interessanter machen.

»Mein inhaltliches Defizit etwas ausgleichen«, so hatte er es vor wenigen Tagen am Frühstückstisch genannt.

»Auf meine Kosten«, entgegnete Katarina, die in erster Linie das Lustmoment bei Wilhelm spürte, dem dieser nachgeben wollte, während sie allein zu Hause säße. »Diese Art von Selbstverwirklichung hast du doch nicht mehr nötig. Du willst dich einfach amüsieren!«

Was für ein Vorwurf! Wilhelm kratzte seine ganze moralische Widerstandskraft zusammen, behauptete, er habe ein Recht darauf, nach Jahren der uneigennützigsten Maloche auch mal wieder an sich zu denken, um nicht alle Lust am Arztsein zu verlieren, und die Idee habe ja schließlich auch eine ökonomische Dimension.

Kurz und gut, Wilhelm war es sich selbst schuldig, die Ausbildung zu beginnen, und verbrachte fortan drei Abende in der Woche im Therapiezentrum.

Die neue Motivation, die die Ausbildung mit sich brachte, wurde Wilhelm allerdings verdorben durch Katarina: quod erat exspectandum.

Obwohl er sich im Anschluss an die Seminare jedes Bier mit den Kolleginnen und Kollegen verkniff und sogleich heim zu seiner Frau eilte, saß sie stets tiefgekränkt vor dem Fernseher und verweigerte jede Kommunikation.

Als sie auch mit Grippe und Migräne Wilhelm nicht davon abhalten konnte, »sich selbst zu verwirklichen«, wurde schnell sein trotziges Festhalten an dem einmal gefassten Vorhaben gegen den Widerstand seiner Frau das eigentlich Anstrengende für ihn – anstrengender als die anspruchsvollen Abendseminare nach dem langen Praxisalltag.

Wilhelm, das Zentrum des Universums – Katarinas Universums! Klar …

Es ist immer leicht zu reden – aber wenn man selber drin steckt …⁠, wenn du weißt, während du lachst, ist sie traurig …, schlimmer noch, sie ist unglücklich, weil du lachst, … weil du nicht bei ihr bist …

Willi, ich glaube fast, du bildest dir was ein auf dein selbstbezügliches Mitgefühl!

Ach, lass mich in Frieden!

Jedenfalls zog sie aus – aus dem Bett. Zuerst wollte sie natürlich, dass er im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafe, weil das zu weich für ihren Rücken sei. Dem setzte er entgegen, dass es schließlich nicht sein Wunsch sei, getrennt zu schlafen, und behauptete seinen Schlafplatz im Ehebett.

Als sie sich kennenlernten, also vor tausend Jahren, hatte er die Meinung vertreten, es sei besser, wenn Mann und Frau prinzipiell getrennt schliefen, um eine Beziehung möglichst lange frisch zu halten. Er war allerdings schnell eingeknickt, weil Katarina das extrem albern fand und seine Vorstellungen ganz einfach ignorierte. Physisch. Sie war ganz einfach neben ihm liegen geblieben und hatte ihm durch diese Nähe den Schlaf geraubt.

Irgendwann hatte sie Wilhelm dann so weit, dass er nicht mehr allein schlafen wollte, ja, es nicht mehr konnte.

Und bis vor Kurzem konnte es Wilhelm nicht ertragen, wenn Katarina infolge eines Streites – und gestritten hatten sie, seit sie sich kannten, genauer: vier Wochen nach dem ersten Kennen­lernen, da war er 21, da gab es den ersten heftigen Streit, und seitdem ging das 39 Jahre so –

Neben den guten Zeiten! Neben den guten Zeiten!

Ja, Willi, ich weiß, ihr hattet viele gute Zeiten.

– konnte es nicht ertragen, wenn Katarina im Streit das Bett ­verließ.

Dann geriet Wilhelm in Panik, verfolgte sie durch die Wohnung und bettelte, selbst wenn er im Recht war, so lange, bis sie völlig erschöpft – nicht versöhnt, aber immerhin – ins gemeinsame Bett zurückkehrte.

In diesen Tagen aber glaubte Wilhelm, es sei nicht falsch, mit seiner Energie, über die er zeitlebens reichlich verfügt hatte, etwas mehr zu haushalten. Er erinnerte sich nun daran, dass es angenehm sein konnte, allein im Bett zu liegen, ohne die Verpflichtung, seine Frau in den Schlaf zu streicheln, und ohne den selbstauferlegten Druck, noch nach 35 Ehejahren den potentiellen Verführer geben zu müssen.

Sie konnte ja kommen, wenn sie wollte. Er hatte nichts dagegen! So entschied er für sich. Aber Katarina kam nicht.

Bei einem der inzwischen ziemlich einsilbig verlaufenden Frühstücke eröffnete sie Wilhelm stattdessen mit einer eigenartigen, fast freundlichen Gefasstheit, dass sie um eine Auszeit bitte.

»Das«, schoss es Wilhelm durch den Kopf, »das bedeutet auch Auszeit für mich!«

Doch er nickte nur ein paarmal blöde mit dem Kopf.

Das Zeitalter der gegenseitigen ständigen Bemühung war damit vorerst abgeschlossen. Krisen hatten sie viele hinter sich. Die weitaus schlimmste 1975, deren Nachbeben beide bis heute immer wieder erzittern ließ.

Doch anders als früher nahm Wilhelm sich diesmal vor, Ruhe zu bewahren, sich innerlich etwas zurückzulehnen und zu beobachten, wohin ihre Ehe diesmal triebe. Vielleicht würden sie ja in aller Friedlichkeit hinaus aufs offene Meer treiben und sich dort in der Unendlichkeit verlieren. Die Ehe würde sich still und leise auflösen – ein immer wieder aufkeimender heimlicher Wunsch Wilhelms –⁠, oder sie würden wieder zueinander getrieben werden, in eine neue Formation, die für beide angenehmer wäre.

Aufs offene Meer! Willi!

In diesem Schwebezustand beendete Wilhelm seine Fortbildung, und trotz der Umstände waren beide gemeinsam, wie jedes Jahr, zu der lange vorher gebuchten Reise nach Indien aufgebrochen.

Anders als in den Vorjahren hatte Katarina diesmal verlangt, dass sie nach zwei Wochen Gammelei in Kovalam hinüber nach Sri Lanka fliegen, um sich dort einer ayurvedischen Panchakarma-Kur zu unterziehen.

Unter der ständigen Bedrohung, ein Secondhand-Leben führen zu müssen, hatte Wilhelm auf einer möglichst originellen Kur ohne touristischen Schnickschnack bestanden, die das Baden im Meer und ausgedehnte Aufenthalte in der Sonne ebenso verbot wie sättigendes Essen. Dass auch sexuelle Enthalt­samkeit gefordert war, passte jetzt ausgezeichnet.

So hatte er gnädig zugestimmt, große Lust darauf verspürte er nicht. Andererseits: Für die Leber und auch für Hirn und Gemüt war eine solche Reinigungskur bestimmt nicht verkehrt.

Mein lieber Freund Willi, du bist so großzügig. Du hättest ja auch nein sagen können und sie alleine nach Sri Lanka fahren lassen. Aber nein …

Kovalam liegt in Kerala, an der Südspitze von Indien, am Meer. Natürlich hatte sich der Ort, seit sie ihn kannten, verändert. Geblieben waren die Kokospalmen, unter denen kein Elend möglich ist, und die wie ein grüner Teppich das ganze Land bedecken.

Und die Krähen, die zu Tausenden in den riesigen Blattwedeln sitzen und mit ihrem andauernden Gekrächze nie bedrückende Stille aufkommen lassen. Wilhelm liebte diese frechen, schwarzen Gesellen sehr. Ihnen entging nichts, was irgendwie ihrem Fortkommen dienen konnte. Wilhelm genoss es, unter ihren Augen ein Stück Nan auf die Brüstung des offenen Hotelganges zu legen, sich auf einem Stuhl davorzusetzen und zu dösen. Er konnte sicher sein, dass in dem Moment, in dem er einzunicken schien, keine Sekunde früher, einer seiner schwarzen Freunde sich von seiner Palme abstieß, um das Stück Fladenbrot im Vorbeiflug mit seinem Schnabel zu schnappen. Das glückte ihnen meistens nicht beim ersten Mal, und ihre flüchtigen Bauchlandungen auf der Brüstung amüsierten Wilhelm ganz besonders.

Geblieben waren in Kovalam auch die schmalen Pfade zwischen den bemoosten und schwarz veralgten Ziegelmauern, so schmal, dass man mit seinem Gepäck einem Entgegenkommenden nur mühsam ausweichen konnte.

Dann selbstverständlich die beiden kleinen, geschwungenen Strände, die dicht gedrängte Reihe der Lokale, in denen man aufs Meer blickt, Tee trinkt, oder abends den wunderbaren, wenn auch schlecht zubereiteten Fisch isst.

Geblieben war auch das Hotel Neptun, vielleicht einst das erste Haus am Platz. Obwohl es inzwischen etwas verwahrlost und eingekreist von einer Menge neuerer und neuester kleiner Hotels war, hielten Katarina und Wilhelm ihm die Treue. Und ihrem Zimmer: »Room 112, the room with the big window, please.«

Der Nagel in der einst rosafarben getünchten Wand, den ­Wilhelm zum Aufspannen des Moskitonetzes brauchte, war noch da. Der Strick für die Wäsche war auf die gleiche Weise gespannt.

Anders als das letzte Mal aber fassten sie diesmal nicht den Plan, sich hier jede Nacht zu lieben, da das stabilisierend für eine lange Ehe sei. Sie schliefen einfach dort.

Das war auch bei ihren früheren Besuchen nach höchstens einer Woche so. Doch Wilhelm erinnerte sich nun mit Wehmut, wie er hier auf Katarina gelegen hatte, während sie der Katakali-Vorstellung auf dem Hoteldach gegenüber zugesehen hatten, wo sich im Kerzenlicht die grell geschminkten Götter mit Zottel­mähnen und tiaraartigen Kronen unter Kostümschichten zum Rhythmus schneller Trommeln durcheinander stoben, dann wieder, aufstampfend und mit den Augen rollend, helle Schreie ausstießen.

Hier in Indien empfand Wilhelm zum ersten Mal die ganze Schwere der Auszeit: Ohne Liebe, und sei es nur die körperliche, war sein Leben elend.

Er schwamm jeden Morgen, wenn das Meer noch ruhig war und sich die Dünung noch sanft am Strand brach, die Lighthouse Bucht von einem Ende bis zum anderen einmal auf und ab. Das war eine Pflichtübung. Die Vorwärtsbewegung im Wasser empfand Wilhelm schon immer als mühsam. Während er mechanisch bei jedem Schwimmzug seinen Kopf ins Wasser tauchte, überließ er sich trüben Gedanken. Warum den Kopf immer wieder aus dem Wasser heben, warum sich nicht einfach hinaus treiben lassen, unbemerkt, der Strand war noch leer und Katarina noch im Bett unter dem Moskitonetz. Vielleicht war das die friedliche Auflösung der Ehe, wenn die eine Ehehälfte hinaus aufs Meer trieb.

Doch, nein, ertrinken wollte Wilhelm nicht. Lieber abstürzen, im freien Fall bei klarem Bewusstsein durch die Luft sausen und am Boden zerschellen! Aber nicht mit Nase, Lungen und Hirn voller Wasser langsam hinübertrudeln!

Wilhelm schwamm also jeden Morgen zum Ufer zurück, obschon zu dieser Zeit die Ebbe das Wasser aufs Meer hinauszog. Die tägliche kleine Angst, es nicht zu schaffen, hatte die Wirkung einer Adrenalinspritze und entlarvte die trüben Gedanken als das, was sie waren: pathetisch.

Die Vormittage verbrachte Wilhelm in einem der wackeligen Rattanstühle im Café Santana und blickte aufs Meer. In der zweiten Reihe, da ihm in der ersten die vorbeiziehenden Händler und Bettler keine Ruhe ließen. Inzwischen kannte er sie alle.

Er saß da unter einem Sonnensegel und schlürfte gemächlich zwei big pots chai massala, seinen geliebten indischen Tee.

Das Café Santana war Wilhelms liebster Ort auf Erden. Vor acht Jahren hatte er das erste Mal dort gesessen, und jedes Mal, wenn er sich nach Stunden entschloss, seinen Platz zu verlassen, um Katarina zu suchen, zögerte er, weil er gerne noch weiter den Frauen zugesehen hätte, wie sie riesige Thunfische, Schwertfische, Blue Marlins auf dem Kopf vorbeitrugen, um den Fang ihrer Männer, deren winzige Boote weit draußen auf der Horizontlinie zwischen Himmel und Wasser als Punkte schwammen, an eines der Restaurants zu verkaufen. Auch hätte er lieber noch eine Seite weiter in »Indische Mythen und Symbole« von Heinrich Zimmer, einem Indologen, lesen wollen oder weiter im Buch über indische Philosophie desselben Autors. Seit acht Jahren las er hier in diesen beiden Büchern und kam zu keinem Ende, weil es so viel zu gucken gab und er jedes Jahr wieder von vorne anfing.

Auch in diesem Krisenjahr übte das Santana diese besänftigende Wirkung auf Wilhelm aus. Die Vorstellung, dass der ganze Kosmos mit sämtlichen Milchstraßen nur ein Augenzwinkern Shivas lang existiert, fand er tröstlich.

»Vielleicht wird ja alles wieder gut«, grummelte es in ihm.

Was heißt hier »wird alles wieder gut«? Eben jammerst du, dass die 39 Jahre mit deiner Frau nicht gut waren. Jetzt plötzlich, wo sie sich von dir löst und eigene Pläne entwickelt, war auf einmal alles gut!

Gut, gut, ich meine nicht wieder gut, sondern gut, … gut! Verstehst du? Vielleicht wird alles gut!

Vielleicht war es ja doch noch möglich, die Schutthaufen zwischen ihnen wegzuräumen, und, ohne vor Anstrengung zu keuchen, aufeinander zuzugehen, vielleicht war es möglich, den anderen als anderen zu sehen, und nicht als drückenden Auswuchs seiner selbst.

Vielleicht gab es die Chance, die Beziehung zwischen Katarina und ihm auf eine völlig neue Basis zu stellen, ohne diesen Ehegeröllberg, der jedes Mal überstiegen werden musste, um so einfache Sätze sagen zu können wie: Ich liebe dich – immer noch – trotz allem.

Wie oft bekam Wilhelm keinen hoch. Das lag doch, das lag doch alles nur an genau diesem Geröllberg …

Kerala ist das Ursprungsland von Ayurveda, und an jeder zweiten Ecke in Kovalam werden treatments der angeblich ältesten Medizin der Menschheit angeboten. Während der Saison füllt sich der Ort mit Kellnern, Köchen, Schneidern, Masseuren, Yoga­lehrern, Kashmiris aus dem fernen Nordindien und Sikhs aus dem Punjab, die beide Schmuck verkaufen – seit ein paar Jahren haben sie Konkurrenz von den Tibetern bekommen – und eben auch Ayurveda-Spezialisten.

Katarina hatte, wie viele Frauen ihrer Schicht und ihres Alters, eine Vorliebe für alternative Medizin. Und auch Wilhelm, obwohl Schulmediziner, war durchaus offen für den ganzheitlichen Ansatz dieser Heilmethode.

Katarina ging zu Dr. Cheran.

Dr. Cheran und sein Masseur Kavi waren zwei typische Kerali: zierlich der eine, gedrungen der andere. Dr. Cheran war Brahmane, machte sich aber offiziell nichts daraus. Wilhelm weiß bis heute nicht, ob er unter seinem Hemd die heilige Opferschnur trägt, die jeder Brahmane sich über die nackte linke Schulter zu legen hat.

Dr. Cheran war fein und lächelte still – »wahrscheinlich schüchtern«, dachte Wilhelm. Er, selbst nur einsneunundsechzig, kam sich ihm gegenüber wie ein teutonischer Recke vor.

Dr. Cheran kam aus Ernakulam im Norden Keralas, gegenüber von Cochin gelegen, das vor der Küste auf einer Insel liegt. Vasco da Gama landete dort 1498 und wunderte sich, dass er dort unter anderem Christen traf, die den Papst nicht kannten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Kavi kam aus einem Dorf im Landesinneren, war robuster und strotzte vor dieser Energie, die, wie Wilhelm sagte, »einem die Inder liebenswert, aber auch entsetzlich penetrant machen kann«.

Wenn Katarina nicht einen der zahlreichen Schneider mit ihren europäischen Vorstellungen über indische Gewänder kujonierte, verbrachte sie viele Stunden des Tages in oder vor der angemieteten Hütte von Dr. Cheran, die etwas tiefer in einer Niederung im Schatten der Palmen lag, wartete, ließ sich auf einer Liege von Kavi durchkneten, warmes Öl in dünnem Strahl über die Stirn gießen oder sich im Nebenraum von Dr. Cheran auf ihre Vata-, Kapha- und Pittaanteile hin analysieren und entsprechende Arzneien verabreichen.

Die Folge war, dass sie beim gemeinsamen Abendessen im Santana keinen Fisch mehr aß, sondern zwei Stunden an einer Portion plain rice herummümmelte. Raja, dem Chef dort, entging das nicht, und er verfolgte mit seinen extrem dunklen Augen missbilligend die neuen Essgewohnheiten seiner guten Kundin. Da schmeckte Wilhelm sein pumph redfish auch nicht mehr so recht. Die Distanz zu Katarina wuchs.

Er selbst vertrieb sich seine Nachmittage mit Krishna, dem Sohn des Hotelchefs, bei einer Runde Carrom, dem indischen Brettspiel, allerdings ohne Ehrgeiz. Oft ließ er sich auch während der drückenden Mittagshitze in der Bude von Ranjit nieder, dem hünenhaften Sikh, der hinter seiner Vitrine mit den Tausenden Silberringen, braceletts und Ketten döste, um ihm dabei Gesellschaft zu leisten, auf einem Kissen sitzend, den Kopf nach hinten an die Wand gelehnt.

Oder er zog sich ins Lonely Planet zurück, ließ sich dort eine Schale Ladyfingers, weich gekocht, in einer weißlichen, cremigen Soße servieren, dazu ein Glas Lemon Soda, in das er eine kräftige Prise Salz kippte, die das Getränk für einen Moment heftig aufschäumen ließ.

Das Lonely Planet ist ein besonderer Platz in Kovalam. An der Rückseite des Ortes gelegen, geht der Blick über die Reisfelder, zwischen denen sich Reste eines Mangrovensumpfes gehalten haben, auf die hohen Kokospalmenhaine weiter landeinwärts, die sich die steil ansteigenden Hügel hinaufziehen. Am Nachmittag war kaum jemand hier. Alle waren am Strand. Die Hitze war mit Händen zu greifen. Feucht und schwer, drückte sie Wilhelm in seinen Stuhl. Wilhelm überließ sich gerne der Lähmung durch diese höhere Macht. Langsam wie ein Reptil zerdrückte er ab und zu eine der grünlichen Schoten mit seiner Zunge am Gaumen, um den glibberigen Inhalt langsam seinen Schlund hinunterrutschen zu lassen. Die Litanei der Ragas, die hier ohne Unterbrechung zur Ehre der Gottheit aus dem Lautsprecher leierte, narkotisierte ihn und ließ ihm jede Bewegung unnötig erscheinen.

Hoch über ihm kreiste manchmal ein Paar Weißkopfadler. Mit ihren leuchtend rostbraunen Schwingen und dem weißgefiederten Kopf zogen sie ihre Kreise vor dem tiefen Blau des Himmels. Hin und wieder schwirrte ein Eisvogel vorüber, mit seinem grellroten Riesenschnabel, als habe er ihn gerade in einen Farbeimer getunkt. Die Kuhreiher, die dösend im Wasser standen, beeindruckte das alles nicht.

Und im Gras am Rande des lehmigen Tümpels, der die Begrenzung des Lokales bildete, saßen, wie eh und je, die beiden weißen Gänse. Wilhelm hatte über die Jahre eine große Zuneigung zu ihnen gefasst. Auch dieses Ehepaar war älter geworden. Eine der beiden, er oder sie, das konnte Wilhelm nicht erkennen, hatte seit diesem Jahr Probleme, nach dem Verlassen des Wassers die steile Uferböschung zu erklimmen. Aber mit welcher Gelassenheit der Ehepartner das übersah! In dieser Ehe herrschte Selbstverständlichkeit – und das bei ständiger Nähe. Und wie zärtlich sie sich gegenseitig mit ihren Schnäbeln im Gefieder zupften!

Ob die Inder einer solchen Vorbildehe wegen Hamsa verehren, den großen Ganterich, Reittier von Brahma, der die Welt mit seinem Gesang – so hatte Wilhelm es bei Heinrich Zimmer gelesen – erfüllt?

»Ihr heiligen Gänse, wie beneide ich euch um eure Ehe …!«, dachte Wilhelm in ihre Richtung. Dann versickerte auch dieser Seufzer in einer Spalte seiner Hirnlappen und Wilhelms Kopf sank langsam zur Seite.

Wilhelm träumte.

Er träumte vom Ort seines Todes. Er saß auf Hamsa, dem heiligen Ganter, und flog mit ihm hoch durch die Luft. Weit hinten sah er das Meer, das sich mit dem Blau des Himmels vereinigte, und unter ihm lag, von der Sonne ausgedörrt, die Ebene von Madurai. Aus dem Dunst, der über der Stadt lag, ragten die zwölf riesigen Tempeltürme des Minakshi-Tempels, schimmernd mit ihren Tausenden bunten Götterfiguren, über den Staub und den Verhau der Menschenwohnungen. Sausend ging es hinab, auf einen der großen, runden Felsbrocken zu, die wie kolossale Elefantenhaufen dort unvermittelt im Land liegen. Wilhelm kannte den Felsen und den Shiva-Tempel, der an seinem Fuß ihm vorgebaut lag, teils aus ihm herausgeschlagen war.

Vor Jahren war er mit Katarina in einer Motorrikscha die acht Kilometer von Madurai herausgefahren, um den Tempelelefanten, von dem sie gehört hatten, zu besuchen. Es war sengend heiß damals, die Stunde nach Mittag. Die Straße ausgestorben, schattenlos. Menschenleer lag der Tempel im gleißenden Licht. Die Rikscha setzte sie ab und röhrte die Straße zurück nach Madurai. Abweisend lag der Tempel vor ihnen, die Farben seiner Bemalung aufgefressen von der Helligkeit. Sie stiegen die Stufen hinauf zur Vorhalle. Zwischen den Säulen saßen und lagen ungefähr zwei Dutzend Sadhus. Sie stiegen über sie hinweg zum Tempeleingang. Die große, giftig grün gestrichene Holztür war geschlossen: »closed 12 h – 16 h«. Der Elefant war nicht zu sprechen.

Da hatten sie sich erschöpft an einer Säule niedergelassen, und Wilhelm hatte festgestellt, dass einige der Gestalten, die um sie herum auf dem speckigen Marmorboden lagen, nie wieder aufstehen würden, dass sie diesen Platz für ihren Tod bestimmt hatten.

Seitdem war Willi klar, dass er hier zu sterben habe. Er hatte sich vorgenommen, hierher zu kommen, wenn es mit ihm zu Ende ginge, um sich hier in den Schatten neben diese zerlumpten Männer zu legen und mit ihnen das Ende zu erwarten. Gemäß der vierten Stufe im Leben eines Weisen, der nach indischer Auffassung heimatlos, ohne Gedanken, ohne Wünsche, ohne Liebe zu geben, ohne sie zu erwarten, seine Straße entlanggeht, bis er irgendwann in einem staubigen Graben landet, um dort zu eben diesem Staub zu werden.

Im Traum nun stand Wilhelm wieder vor der giftgrünen Tür. Und wieder war sie geschlossen. Da schlug der Ganterich mit seinem Schnabel hart gegen das Holz, dass es dröhnte. Stille. Der Elefant war immer noch nicht zu sprechen. Nochmals klopfte der Ganterich laut ans Tor, und Wilhelm erwachte aus seinem Mittagsschläfchen.

Mann oder Frau Gans erhob sich gerade flügelschlagend aus dem Wasser, reckte den Hals und rief mit lautem Krächzen die Götter an.

Wilhelm erhob sich und machte sich auf zum Strand.

Oder er ging von dort zur Ayurveda-Hütte des Dr. Cheran, um auf Katarina zu warten. Einmal kam sie ihm auf einem der schmalen Dämme, die die Reisfelder trennen, entgegen, den Kopf etwas im Genick, mit den Armen leicht rudernd. Sie wirkte versonnen und friedlich. Es war am späten Nachmittag und das Licht fiel sanft durch die Palmen auf die Frau, wie sie so vor sich hin schlenderte. Hatte die Ayurveda-Behandlung eine solche Wirkung auf sie? Sie erblickte ihn und lächelte. Da liebte sie Wilhelm, also: Wilhelm liebte sie.

Die Abreise zur großen Panchakarma-Kur auf Sri Lanka rückte näher. Und Wilhelm hatte ein Erlebnis, das ihm sehr zu denken gab: Er hatte sich am Strand niedergelassen, um sich die Vorstellung, die die Sonne dort jeden Abend vor Publikum gibt, anzusehen.

Während sie sich immer größer und röter werdend auf die Horizontlinie des arabischen Meeres herabließ, musste Wilhelm ­plötz­lich an die Azteken im fernen Mexiko denken, die sich nie sicher waren, ob die Sonne wieder aufgehen würde, ob ihre Kraft dazu ausreiche, und die ihr deshalb zur Nahrung vorsorglich Menschenblut als eine Art Aufbaupräparat opferten. Dieses öko­logische Feingefühl wollte ihm recht plausibel erscheinen, und er sinnierte darüber, ob es nicht sinnvoll sei, auch in Deutschland vor Baubeginn für jeden geplanten Autobahn­kilometer einen Menschen zu opfern – zur Besänftigung der Natur.

Da spülte eine auslaufende Welle einen Fisch direkt vor ihn auf den Sand. Es war einer dieser Kofferfische mit stacheligem, schachtelförmig-eckigem Bauch. Er war ungewöhnlich groß, zwei Handspannen lang. Er lag da, und seine Kiemen klappten auf und zu, während er Willi mit seinen blöden Glubschaugen anglotzte. Die nächste Welle, die im Licht der letzten Sonnenstrahlen wie eine Öllache schimmernd im Sand verlief, drehte ihn quer. Jetzt blickte er Wilhelm direkt mit seinem linken Auge an. Er atmete immer noch und gab ihm zu verstehen: »Pass auf, Alter, auch du liegst bald auf dem Trockenem.«

Auf einmal hatte Katarina überhaupt keine Lust mehr auf die Panchakarma-Kur in Sri Lanka. Wilhelm kannte diese plötzlichen Umschwünge seiner Frau und fürchtete sie, nicht nur, weil sie oft recht teuer zu stehen kamen. Aber gegen das Recht auf Spontaneität, das sie für sich beanspruchte, hatte er kaum eine Chance, wenn er sich nicht selbst kleinlich vorkommen wollte. Doch diesmal gab es kein Entrinnen. Schließlich war die Kur gebucht und angezahlt.

Sie fand hoch oben in den Bergen, in Diyatalawa südlich von Kandy, der Stadt, wo sich alles um diesen hochverehrten Zahn von Buddha dreht, in einer ehemals englischen Kolonialvilla statt, die vermutlich einem Tee-Tycoon gehört hatte. In der Nacht war es dort empfindlich kalt, und tagsüber nieselte es, so wie es der Tee und die Engländer lieben.

Zwanzig Tage dauerte die Kur, und Wilhelm machte gute Miene zu all den Anwendungen. Ließ sich nun ebenfalls heißes Öl über die Stirn laufen, trank frierend früh um fünf Uhr bereits becherweise entsetzlich schmeckende Kräutersude, die speziell für ihn – seine Pitta-, Kapha- und Vatakonstitution – zusammengebraut waren, nahm Abführmittel, die ihm nicht erlaubten, das Grundstück zu verlassen, fügte sich der heftigen Diät. Das heißt, er bekam die ersten Tage fast nichts und wenn doch extrem Gesundes, Pflanzliches zu essen, ohne einen Krümel Salz. Und was am härtesten war: Er fügte sich auch in die Gruppe williger, positiver Deutscher ein, die ihm naiv schienen, so wie sie auf die esoterischen Angebote der recht sympathischen Leiterin vom Bodensee ansprangen. Das bittere Gebräu für den Körper und Meditation für die Seele, auf dieser Schiene lief das Reinigungsvorhaben.

So ließen diese ordentlichen Deutschen das »goldene Licht« bei der Morgenmeditation mit großer Gewissenhaftigkeit und voller Inbrunst in sich fließen. Sie waren streberhaft darauf bedacht, dass »die Liebe sich in ihnen ausbreitet«. Wilhelm kam sich unter ihnen vor wie ein schwarzer Rabe.

»Ja verdammt noch mal, das kann doch nicht sein!«, dachte sich Wilhelm. »Sind die denn alle zu wenig geliebt worden, oder bekommen sie keine Liebe von ihrer Frau oder ihrem Mann? Ich werde geliebt, also bin ich! Das ist alles, was sie ­denken.«

Und mittendrin Willi Merkatz, der selbstverständlich über den Dingen steht und alles – weswegen noch gleich? – mitmacht.

Na ja, ich, mein Lieber, leide ja nicht an einem Mangel an Liebe, ich leide darunter, dass Katarina meine Liebe nicht mehr annimmt! Ich leide an Liebesstau, wenn du so willst!

Ach so …

In der Ablehnung des esoterischen Fastfoods waren Katarina und Wilhelm sich übrigens einig. Die hier geforderte sexuelle Abstinenz bedeutete in ihrer Situation nichts Neues, verstärkte aber Willis Unwohlsein.

Die Kur schlug gut an. Wilhelm konnte bereits nach vier Tagen kaum noch die vielen Stufen in dem parkähnlichen Garten hinaufsteigen, um in den Massage-Pavillon zu gelangen. So sensibel war er geworden, einfach völlig schlaff. Zwischen den Anwendungen lag er im Liegestuhl, hörte entspannt dem Geschwätz von Gerlinde, Heiner, Silke und den anderen zu. Eingewickelt in Tücher, die die Wärme der Ölgüsse halten sollten, blickte er den großen Schmetterlingen nach, die sich an den Hibiskusblüten tummelten.

Wilhelm befand sich in einem Zustand friedlicher Entrücktheit. Er ließ es zu, dass die Zeit verstrich, ohne von ihr geschunden zu werden. Die Reinheit seines Körpers war bereits so weit fortgeschritten, dass er in einen angenehmen Rausch fiel, als er beim obligatorischen gemeinsamen Besuch einer Teeplantage hoch oben im Nebel eine Teeprobe zu sich genommen hatte. Zwei Stunden fühlte sich Wilhelm heiter schwerelos, high vom Tein, während der Bus den unendlichen Schlängelpfad zwischen den kunstvoll angelegten Teegärten, bizarren Felsen und Bachläufen wieder hinunterfuhr. »Der Hebel zum ganzheitlichen Empfinden ist die physische Schwäche … vielleicht sogar der Urgrund der Weisheit.« So dachte es in Wilhelm synchron zu den Kurven hin und her.

Als sie am vorletzten Abend der Kur nach der fadesten Reissuppe der Welt vom gemeinsamen Essen aufstanden – Katarina selbstverständlich von der Stirnseite des Tisches, die sie für sich besetzt hatte, während alle anderen täglich, wie gewünscht, ihre Plätze änderten –⁠, eröffnete sie ihm, dass sie im Anschluss an die Kur gerne nach Trivandrum zurückfliegen würde, um weitere zehn Tage in Kovalam zu verbringen – allein, ohne Wilhelm. Den riefe schließlich die Praxis, sie aber habe ja Zeit. Kurz durchzuckte es Wilhelm bis in sein Sacrum, doch dann fand er das Vorhaben sehr gut, blieb nur erstaunt: Das hatte er von ­seiner Frau all die langen Ehejahre immer erwartet, selber für sich die Dinge zu planen, unabhängig von ihm eigene Wege zu gehen!

Womöglich war das die Neuorientierung der Ehe, der Beginn einer neuen Zweisamkeit, in der beide Teile im Vertrauen zueinander als eigenständige Individuen leben könnten …

»Das ist eine gute Idee«, sagte er und wollte nicht auf den milden, aber präzisen Schmerz in seinem Steißbein achten.

Das war es, was Wilhelm an jenem Morgen am Berliner Frühstückstisch durchs Hirn pulste, während Katarina auf dem Klo saß. »Unser Innenleben ist reich, unglaublich speicherfähig, und in Sekundenbruchteilen lässt sich herunterladen, wofür man Jahre seinen Arsch hingehalten hat.« (Zitat Wilhelm)

»Ich fahre noch kurz in der Praxis vorbei«, rief er sich zusammenreißend in Richtung Toilette und stand auf.

»Soll ich dir Brote schmieren?«, drang es gedämpft durch die Tür.

»Nein, nicht nötig.« Dass Wilhelm dieses Angebot nicht annahm, zeigte, wie gekränkt er war, denn im Auto auf der Strecke nach München ununterbrochen zu essen, war ihrer beider Leidenschaft.

Er zog sich an und holte seine Reisetasche und seinen flachen Alukoffer voller Bücher aus seinem Arbeitszimmer. Im Stillen wusste er schon, dass er keines davon während der nächsten zehn Tage lesen würde, trotzdem gab ihm das Kulturgut Halt angesichts der drohenden Niedergeschlagenheit.

Als er wieder in die Küche trat, stand Katarina an der Arbeitsplatte – Marmor, rosso Portogallo – und schmierte mit ernstem Gesicht Brote für ihn.

Die Verabschiedung an der Wohnungstüre wollte Wilhelm kurz halten. Nach einer flüchtigen Umarmung bückte er sich nach seinem Gepäck. Beim Öffnen der Tür spürte er, dass er blass wurde. Er zog sie eilends hinter sich zu und ging starr die Treppe hinunter. Er hörte, wie oben sich nochmals die Tür öffnete.

»Melde dich, wenn du angekommen bist!«, rief ihm Katarina ins Treppenhaus nach.

»Ja«, antwortete Wilhelm und wusste nicht, was »angekommen« bedeuten sollte.

Wenn es Wilhelm schlecht geht, hat er einen Trick, der zwar nicht besonders originell ist, doch mal besser, mal schlechter funktioniert: Er macht die Augen auf und versucht, einen grünen Baum zu sehen vor dem blauen Himmel oder, wenn alles grau ist, zu fühlen, wie das Herz schlägt, wie das Blut durch die Adern pulsiert, wie die Muskeln sich dehnen und strecken – und kommt dann zu dem Ergebnis, dass das Leben schön ist, trotz allem.