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2005

Ich nahm den Schnellzug und nickte ein. Genau rechtzeitig öffnete ich die Augen: Azaleenhügel. Vor dem Bahnhof befand sich eine breite Straße, die dort vor anderthalb Jahren noch nicht gewesen war, mit einem asphaltierten Parkplatz daneben – vordem ein Acker. Ein Holzhaus war mit einer Außenwand aus Plastik versehen worden. Ich suchte nach den Katzen, die ich noch kannte, doch es ließ sich keine blicken: weder die rote, schwanzlose noch die getigerte, der immer Rotz aus der Nase lief.

Lautstark rollte mein Koffer über den Asphalt der Gasse. Beim dicken Herrn Lüttgrube hing Wäsche draußen. Um die Trauben seines Weinstockes hatte er wieder Papiertüten gebunden. Ein Haus war inzwischen abgerissen worden, ein Haus, das ich mir nicht mehr in Erinnerung rufen konnte. Der Park war geharkt worden. Die Zikaden machten Lärm.

Dschiro war nicht im Garten der Vierseitens. Die Häuser von Imnetz und Frau Suzuki lagen verlassen da. Im Garten von Imnetz waren zwei Kakibäume gefällt worden.

Die meisten Pflanzen in unserem Garten hatte man entfernt, doch das Biwabäumchen und der Schlafbaum standen noch da. Es wuchs Unkraut. Das ließ mich hoffen. Ada und Ab hatten sich vielleicht behaupten können.

Ich schleppte mein Gepäck die Außentreppe des Wohngebäudes von van Tricht hinauf. Bei S. stand die Wohnungstür offen.

»Willkommen daheim!«, rief Frau S. lachend, während sie sich verbeugte. S. reichte mir beide Hände. Er hustete vor Freude.

Ich stellte den Koffer und die Reisetasche unter den Flügel im Kämmerchen, in dem ich übernachten sollte. Wir stellten gegenseitig fest, dass wir uns nicht verändert hätten. Frau S. schenkte mir etwas Kaltes ein. Ob ich nicht lieber etwas Warmes trinken wolle? Nein, lieber etwas Kaltes. Ich sagte, während ich nach Worten suchte, dass alles in Junglaub teure Erinnerungen wachrufe: die Schwüle, die Zikaden, das Geräusch der Türen des Küchenschranks, das Häuschen von Frau Suzuki. »Morgen werde ich Frau Suzuki im Pflegeheim besuchen.«

»Wissen Sie denn nicht, dass Frau Suzuki gestorben ist?«, fragte sie verwundert.

»Nein, nein.« Ich hatte mit der Möglichkeit gerechnet, mich jedoch immer an den Gedanken geklammert, dass ihre Todesnachricht mich dann schon erreicht hätte. Ihr Tod schockierte mich. »Lebt Chibi noch?«

»Wer?«

»Der kleine Hund von Frau Schattenberg. Der war sehr, sehr krank.«

»Nein, Frau Schattenberg hat keinen Hund mehr.«

»O je.« Mehr Neuigkeiten ertrug ich nicht.

Bei Schattenbergs wurde nicht gleich geöffnet. Ich klingelte noch einmal. Durch ein offen stehendes Fenster rief ich ins Hausinnere, dass ich es sei.

»Wer?«, fragte Frau Schattenberg.

»Heesto, der Nachbar, der bei Frau Suzuki gegenüber gewohnt hat!«

Sie öffnete die Tür. »Was machen Sie denn hier?!«

»Ich bin auf der Durchreise. Ich logiere zwei Nächte bei Familie Siebenseen.«

»Bei wem?«

»Bei Herrn und Frau Siebenseen. Von ihnen habe ich erfahren, dass Frau Suzuki gestorben ist.«

»Wussten Sie das nicht? Wann war das gleich wieder? Es war, glaube ich, dieses Jahr, ja. An der Beisetzung habe ich nicht teilgenommen. Frau Suzukis Kinder haben bis zum Schluss sehr gut für sie gesorgt.«

»Und ich hörte, dass Chibi auch gestorben ist. Das tut mir sehr leid.«

»Ja, Chibi ist auch nicht mehr unter uns. Er war ein Jahr lang korb­lägerig.«

»Schlimm.«

»Hey, Alter! Komm mal! Ein seltener Gast!«

»Heesto-san!«, stellte ihr Mann fest. Es war nicht viel von ihm übrig. Das Einzige, was seinem kleinen Körper noch ein wenig Substanz gab, war die zu große, wacklige Zahnprothese. »Wie ist es in Neuseeland?«, fragte er, um sofort selbst darauf zu antworten: »Herrlich. Mit all der schönen Natur.«

»Ja, es ist schön da, aber ich würde mit dem größten Vergnügen auch wieder hier leben.«

»Und all die Weiden und die Schafe«, fuhr er fort. »Im Fernsehen haben sie gezeigt, dass es in Neuseeland sicher fünfzig Millionen Schafe gibt. Haben Sie auch Schafe?«

»Zweiundzwanzig. Vielleicht sind es inzwischen mehr. Es ist gerade Lämmersaison.«

»Lämmchen!«

»Heesto-san wusste nicht, dass Frau Suzuki gestorben ist.«

Gemächlich ging ich nach Zumbach. Vor einem alten Wohngebäude saß eine Krähe auf einem Zaun. Ich grüßte den Vogel. Zwei Katzen lagen unter einem geparkten Auto. Ein Bagger riss mit seinem Greifer ein kleines Holzhaus ein.

Im Badehaus hatte ich Mühe, meine verschwitzten Socken von den Füßen zu ziehen. Für das Schuhschließfach hatte ich kein passendes Kleingeld. Ich stellte die Schuhe in ein Schließfach, ohne es abzuschließen.

Nackte Männer vor einem Ventilator sahen fern. Ich zog meine Kleidung aus und betrat mit einem weißen Handtuch den Baderaum. Ein Mann lag, mit einem orangefarbenen Handtuch über der Schamgegend, auf aneinander gemauerten Felsbrocken. Er sagte zu mir, dass er ein »Klatschweib« sei. Ich bekam seinen Lebenslauf und das laufende Leben seiner Kinder zu hören. Er sei siebzig. Seine Eltern seien beide vierundneunzig geworden, und er habe vor, mindestens ebenso alt zu werden. Die Kinder seien sehr gut in allen Sprachen. Sie verstünden oder sprächen wohlgemerkt vier davon, aber heiraten wollten sie nicht. Falls ich morgen Zeit hätte, würde er mir die Stadt zeigen, denn er sei in Tokio geboren und aufgewachsen. Nein, ich hätte schon Pläne. Oh, wenn ich schon Pläne hätte, dann eben ein andermal.

In einem der Bäder, einem Bad mit grünem Wasser, setzte sich die Quasselstrippe wieder neben mich. Eine elektronische Tafel zeigte an, dass das Wasser 41,6 Grad Celsius warm und 91,5 Zentimeter tief war.

Im Gut-und-billig kaufte ich acht Unterhosen. Dort stand ich plötzlich Aug in Aug Frau van der Meent gegenüber. Sie reagierte erstaunter als ich. Ihr Mann sei auf Reisen in der Türkei, für seine Arbeit, aber mit einem Freund. Sie sei also allein. Wir könnten ja eine Tasse Tee trinken, zum Beispiel hier in Zumbach, schlug sie vor. Ja, ich hätte noch Zeit – Herr und Frau S. erwarteten mich nicht vor acht Uhr.

In einem leeren, eiskalten Café erzählte sie mir von Junglaub. Ihre Nachbarin sei tot. Frau Binneneiland habe unlängst eine Hirnblutung gehabt; ihre Söhne könnten ihren Tod kaum erwarten. »Warum kommen Sie nicht wieder zurück? Sie könnten doch eines der leer stehenden Häuser beziehen?«

Ich trank ein Glas Milch mit Eiswürfeln und Grüner-Tee-Geschmack, sie eine Tasse schwarzen Tee. Sie fragte die Serviererin, wie spät es sei – Frau van der Meent trug, so wie ich, keine Armbanduhr. Das Mädchen stellte einen Wecker auf unseren Tisch. Wir könnten noch zehn Minuten bleiben, wurde beschlossen.

Wir liefen über den dunklen Pfad hinter dem Urnenfeld. Regentropfen.

Vor der Villa Frau Binneneilands lag ein dicker Baumstumpf – die alte Rotkiefer vor ihrer Tür war abgeholzt worden. Auf der Hügeltreppe brachte Frau van der Meent einen Taschenregenschirm zum Vorschein. Ich sagte, dass sie ihn ruhig über ihren eigenen Kopf halten sollte. Sie benutzte ihn nicht. »Kommen Sie noch kurz mit? Ich habe etwas für Sie.«

Vor ihrem Haus stand eine Legion von Topfpflanzen. An der Haustür hing eine Spinne. »Sie halten sich wieder eine Spinne?«

»Ja, die hier. Hübsch, nicht wahr? Kommen Sie nur in den Flur. Ich habe neulich eine Eule gehört, in den Bäumen bei Witwe Binneneiland. Einen Eulenschrei hatte ich hier schon seit Jahren nicht mehr gehört. Bei der Bibliothek scheint neulich auch eine Eule gehört worden zu sein. Einen Augenblick.« In der Küche kniete sie sich hin und zog sie eine kleine Schachtel aus einem Schränkchen. »Beachten Sie den Krempel gar nicht. Das nächste Mal müssen Sie unbedingt im Apartment meines Sohnes übernachten. Das steht ja doch bloß leer.« Sie gab mir eine Dose Tee, zwei Büchsen Seeigeleingeweide und drei Pfirsiche mit.

Meine Essgewohnheiten und -vorlieben, fand S., seien die eines Japaners. Wir aßen gerösteten Fisch, mit Haut, Gräten und Eingeweiden. Während des Essens rief Frau van der Meent an. Ob ich am nächsten Abend Zeit hätte, mit ihr und ihrer Tochter in die Stadt zu gehen. »Meine Tochter würde Sie gern einmal treffen.«

»Äh, ja, nein, ich habe dieses Mal nur sehr wenig Zeit. Ich bin nur zwei Nächte hier.«

»Sie haben Ihrem Gastgeber versprochen, den morgigen Abend bei ihm zu verbringen?«

»Ja, das habe ich versprochen«, log ich.

»Frau van der Meent hat gefragt, ob ich für morgen Abend schon Pläne hätte.«

S. sah seine Frau bedeutungsvoll an.

Langsam blätterte er durch die Noten, die ich aus Deutschland mit­gebracht hatte. Er summte jedes Stück. Bei den meisten sagte er: »Das können Sie spielen.« Ich fragte ihn, von welchen Stücken er Kopien haben wollte. Er seufzte. »Ich kann auch alles kopieren«, schlug ich vor.

»Nein, nein, ich werde mal schauen.« Er machte kleine Stapel. »Dies zum Beispiel.«

»Das hier nicht? Das ist der zweite Teil von diesem.«

»O ja, dann das auch. Aber dann wird es so viel für Sie.«

»Das macht nichts.«

»Aber dann will ich es bezahlen.«

»Gut, wenn ich für die Übernachtungen und, falls wir noch flöten, für die Flötenstunde zahlen darf.«

»Nein, das ist natürlich nicht nötig.«

Im Zimmer mit dem Flügel faltete ich den Futon auseinander. Das Kissen legte ich zur Seite. Den Koffer schob ich unter den Klavierhocker. Ich sah mir die CDs an, die auf dem Flügel lagen, und machte das Licht aus. Als ich Schritte hörte, richtete ich mich auf. Ein junger Mann wischte mit einem Mopp die Hügeltreppe.

Ich schlief auf der Bettdecke.

˜

Frau S. musste arbeiten. S. hatte noch Urlaub. Er hatte eine starke Abneigung gegen Telefone, doch nun besaß er ein Handy, das sich auch als Digitalkamera benutzen ließ. Damit fotografierte und filmte er mich. Zum Glück machte er etwas falsch, sodass der Ton fehlte.

S. stellte eine riesige Schüssel mit dünnen Nudeln und zwei Teller mit Reisbällchen auf den Tisch. »Mögen Sie das?«

Nach dem Mittagessen holte er die Flöten und Notenständer. Ich nahm die neuen Noten. Angespannt versuchte ich, den Takt zu halten. Als dies nicht gelang, griff er zu einer vertrauten Fuge von Bach. Er ließ mich verschiedene Partien spielen. Es ging nicht.

»Ich bin auf mich selbst wütend. Ich, ich werde steif bei der entstehenden Panik aufgrund meiner kommenden Fehler.«

»Sie dürfen in einem Stück nicht aufhören. Wenn Sie Ihrem Können vertrauen, können Sie auch Fehler machen und weiterspielen.«

»Nein, ich habe kein bisschen Vertrauen in mich selbst! Ich kann es nicht, ich kann es nicht, ich kann es nicht! Es geht nicht, es geht nicht.«

Er griff zu einem anderen Musikstück, doch auch mit ihm klappte es nicht.

Um drei Uhr kamen Frau Busch und Frau West, um zu flöten. Sie bildeten mit S. derzeit ein Ensemble. Auch zusammen mit den beiden Damen versagte ich. Um mich im Takt zu halten, spielte S. einzelne ­Stücke mit mir zusammen. Allmählich blickte er strenger drein. Ich fühlte mich todunglücklich. Ungefähr auf der Hälfte eines Larghettos von Tele­mann legte er die Bassflöte weg und stellte den Reiskocher an. Zu dritt rackerten wir uns weiter ab. Ich bedeutete den Damen, den letzten Teil noch einmal zu spielen, damit S. das Ende mitspielen könne. Ein Vivace spielten sie so schnell, dass ich stöhnte: »Ein bisschen langsamer, bitte. Ich habe das hier schon eine ganze Weile nicht mehr gespielt.«

Worauf S. launisch reagierte: »Wer bestimmt das hier eigentlich?« So etwas hatte er noch nie zu mir gesagt.

Den Rest des Tages sah er verdrießlich drein. Frau S. wusste nicht, was los war, vermutete jedoch, dass er Schmerzen hätte. »Willst du ein Pflaster für deinen Nacken haben?«

»Nein.«

»Für die Brust?«

»Nein, da habe ich schon eines.« Mit Pflastern hielt er seine Nerven zusammen.

Es sollte früh gegessen werden, selbst gemachtes Sushi, doch da Frau S. annahm, dass ich erst noch ins Badehaus gehen würde, wollte sie mit dem Essen warten. Ich stotterte, dass ich dann nach dem Essen gehen würde. Mit einem vollen Magen zu baden, nein, das sei zu gefährlich, fand sie. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte, verließ dann aber doch die beklemmende Wohnung. Unglücklich schlenderte ich nach Zumbach.

Das Wasser in den Bädern stank nach sich in Auflösung befindlichen Körpern.

Um acht Uhr war ich zurück. Während des Essens hatten wir uns nicht viel zu erzählen. Ich schwieg so lange, bis ich dachte: Jetzt muss ich etwas sagen. »Im vorigen Jahr, kurz vor unserem Umzug, wollte Herr van Tricht über den Krieg sprechen. Mit mir hatte er öfter mal über den Krieg geredet, aber das hier war anders. Im Krieg ist Herr van Tricht sehr vielen niederländischen Kriegsgefangenen begegnet – in Birma und in Thailand. Er hat an der Thailand-Birma-Eisenbahn ge­arbeitet. Da hat er sehr viel Elend gesehen.«

Sie zeigten kein Interesse. Dann hielt ich eben wieder den Mund.

Sie fragte mich, ob die Würstchen in Deutschland leckerer seien als in den Niederlanden.

»Die Würstchen in Holland«, antwortete ich verärgert, »bestehen aus Schlachtabfällen und Pony- und Pferdefleisch.«

»Und das Fleisch in Neuseeland? Lamm? Wie ist das bei Ihnen?«

»Ich finde, dass Lammfleisch stinkt.«

Ja, das fand er auch. Er aß lieber Schweinefleisch.

»Ich finde auch, dass Schweinefleisch stinkt.«

»O ja?«, reagierte sie.

»Nicht zum Aushalten.«

»Und Rindfleisch? Schmeckt das gut in Neuseeland?«

»Das esse ich eigentlich nie. Ich esse eigentlich überhaupt kein Fleisch.«

»Nein? Ja, Sie essen so gern Fisch. Aber überhaupt kein Fleisch?«

Beim Abwasch durfte ich nicht helfen. Sie spülte unter fließendem kaltem Wasser mit einem schäumenden Schwamm ab. Ich sagte, dass ich noch kurz nach draußen gehen würde.

In der Gasse beim Park lehnte ich mich an einen Zaun. Ich sah mir den Baum an, den Kootje als Kletterbaum benutzt hatte. Mücken landeten auf meinen Beinen.

In der Gasse ging Frau Westbaum im Nachthemd mit einem kleinen Hund in den Armen.

»Guten Abend«, wünschte ich.

»Was machen Sie in Japan?!«

»Ich bin auf der Durchreise.«

»Sie wohnen bei Herrn und Frau Siebenseen?«

»Ja, zwei Nächte.« Ich streichelte den Schnauzer. »Er ist groß geworden.«

»Harry, erinnerst du dich noch an Heesto-san? Ja, nicht wahr?«

Auf der Außentreppe des Wohngebäudes versuchte ich, eine Motte zu retten. Die Motte flog ständig gegen eine Lampe, wo zwei Geckos sie belauerten. Erst nach dem dritten Rettungsversuch blieb die Motte im Dunkeln.

»Ich habe in der Gasse Frau Westbaum gesprochen.«

Er nickte. »Haben Sie Frau van der Meent heute noch im Gut-und-billig gesehen?«, fragte er sarkastisch.

Ich ging sofort ins Bett. Er hustete noch eine Weile in der Küche.

˜

Am Tag meiner Abreise blieb ich etwas länger liegen. Beim Frühstück sagte ich, dass ich erstaunt sei über den Packen an Reklameblättchen in der Zeitung. Frau S. studierte einen großen, auseinandergefalteten Werbe­prospekt. »Dieser Packen Papier sieht aus wie eine Tapetenrolle«, sagte ich, während ich das Ganze zusammenrollte.

S. lachte darüber, hustete, stand auf und legte kurz eine Hand auf meine Schulter.

Frau S. ging zur Arbeit. Sie wollte mich umarmen, schreckte jedoch zurück, als sie merkte, dass ich keine Anstalten machte, die Umarmung zu erwidern. Ich verbeugte mich und sprach meinen Dank aus. Erst im Flur legte ich flüchtig einen Arm um ihre Schulter.

»Ich bin’s wieder. Heesto«, sagte ich durch die Haustür.

»Oh, Heesto-san.« Frau Schattenberg öffnete.

»Ich komme, weil ich Sie fragen wollte, auf welchem Friedhof Frau Suzuki liegt. Ich wollte noch ihr Grab besuchen.«

»Aber Sie fliegen doch heute?«

»Erst heute Abend.«

»Ihr Grab? Was sind Sie doch für ein merkwürdiger Mann. Nicht einmal ich bin an ihrem Grab gewesen. Kommen Sie herein.« Aus dem Badezimmer hörte man Herrn Schattenberg, wie er sich Wasser über seinen kleinen Körper schüttete. Ich folgte ihr zu einem kleinen Zimmer. Sie setzte sich neben das Telefon, einen alten Bakelitapparat mit Wählscheibe, auf den Boden.

»Schattenberg am Apparat, aus Junglaub. Heesto-san ist hier bei mir. Er möchte heute das Grab Ihrer Mutter besuchen. Ja, ja, ja. Gern den Namen des Friedhofs und des nächstgelegenen Bahnhofs. Und die Nummer des Grabs. Ja, ja, ja, ja. Ja, ja, das ist er, ja, merkwürdig.« Langsam und mit zittriger Hand schrieb sie auf einem Zettel mit. »Ja, ja, ja, ja. In Ordnung. Ja, ja, ja, ja. Das werde ich ihm sagen, ja, ja, ja, ja. Ja, ja. Er geht jetzt. Ja. Vielen Dank, ja, ja.«

Sie gab mir den Zettel. »Bahnhof Hochschweif.« Das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab. »Ja? Ja, ja, ja, ja. Beim Blumenstand. Ja, ja, in Ordnung, vielen Dank, ja, ja.« Sie legte auf. »Das war die Schwiegertochter von Frau Suzuki. Sie kommen mit zum Grab. Ob Sie beim Blumenstand im Bahnhof auf sie warten möchten.«

Da standen sie: der älteste Sohn von Frau Suzuki und seine Frau.

Ich entschuldigte mich für meine kurze Hose und das ungepflegte Hemd.

»Meine Schwester kommt auch gleich«, sagte er, »aber wir gehen schon mal vor. Was sind Ihre Pläne für heute?«

»Äh, ja, das Grab besuchen und dann zum Flughafen. Ich fliege heute ab, heute Abend um sechs Uhr. Nach Neuseeland.«

»Dann müssen wir uns beeilen! Wir nehmen ein Taxi.«

»Wir können auch gern laufen. Mir wurde gesagt, dass es nicht so weit sei?«

»Es ist heiß, und Heesto-san trägt keine Kopfbedeckung. Deshalb sollten wir mit einem Taxi fahren. Aber wir können doch noch kurz auf Fumiko warten«, fand sie.

»Nein, wir warten nicht auf sie! Sie sitzt ganz bestimmt im Regionalzug. Das würde zu lange dauern.«

»Ich würde es wirklich bevorzugen zu laufen.«

»Es ist viel zu warm für Heesto-san«, sagte sie.

»Ich finde es eigentlich ganz angenehm.«

»Aber Sie haben wenig Zeit«, sagte er.

Am Blumenstand kauften wir Blumen.

»Heesto-san hat die Blumen bezahlt«, erzählte sie ihrem Mann.

»Dann nehmen wir noch einen Strauß.«

Wir saßen in einem schwarzen Taxi. »Wann ist Ihre Mutter eigentlich gestorben?«

»Im April, am 11.«, antwortete sie, »einen Tag vor dem Todestag ihres Mannes. Was für ein Zufall, oder?«

»Die Kirschbäume haben geblüht?«

»Ja, die standen in voller Blüte.«

»Ich wollte Ihre Mutter eigentlich im Heim besuchen, aber vorgestern hörte ich, dass sie gestorben wäre.«

»Nach Ihrem Wegzug nach Neuseeland hat meine Mutter zwei Monate im Heim gelegen. Bis sie dort noch eine Hirnblutung bekam. Eines Morgens – meine Mutter war ein Morgenmensch – stand sie nicht mehr auf. Durch die Blutung hatte sie das Bewusstsein verloren.«

»Ist sie noch einmal zu sich gekommen?«

»Nein, sie hat zehn Monate lang an Röhrchen und Schläuchen gelegen, in einem Krankenhaus, einem anderen Krankenhaus.« Er stieß sich zwei Finger in die Nase.

Das Taxi erreichte ein Tempelgelände: eine Fläche aus Asphalt in einer Bergmulde. Suzuki bezahlte den Fahrer und lotste mich in einen kleinen, feuchtkalten Saal. »Wir haben eine Beziehung zu Ihnen«, stellte er fest, »unsere Familie und Sie, nach allem, was Sie für meine Mutter getan haben. Wir sind miteinander verbunden.«

»Tee? Warm oder kalt?«, fragte sie.

»Äh, lieber Wasser.«

»Lassen Sie uns besser sofort gehen. Fumiko kommt schon noch«, sagte er. »Das hier ist ein Friedhof mit Parkatmosphäre.«

»Ja, hier ist es überhaupt nicht unheimlich«, sagte sie. »Nicht einmal im Dunkeln.«

»Ja, es sieht tatsächlich wie ein Park aus«, bestätigte ich. Wir gingen an einem einbetonierten Bach und einem Teich mit zehn steinernen Buddhastatuen auf Sockeln vorbei. Die steilsten Abschnitte des Geländes waren abgetragen und durch Beton ersetzt worden.

Suzuki hatte ein Bündel Weihrauchstäbchen und Streichhölzer bei sich. Seine Frau nahm zwei Eimer aus Holz, einen Handfeger und ein Kehrblech von einem Gestell. Ich nahm ihr das Kehrblech und den Handfeger ab. Bei den ersten beiden Gräbern an einem Hügelweg blieb sie stehen. »Das hier sind …«

»Nein, dafür ist jetzt keine Zeit!«

»Das sind die Gräber von Fumikos Mann und das Grab der anderen Schwester meines Mannes.«

»Da zünden wir auch gleich Weihrauch an! Aber erst gehen wir zu Vater und Mutter!«

Ein schwarzer Funkelstein: das elterliche Grab.

»Heesto-san!« Suzukis Schwester stieg den Hang hinauf. »Verzeihen Sie, dass wir Ihnen keine Todesanzeige geschickt haben!«, kreischte sie.

Ich ging ihr ein kleines Stück entgegen. Mit beiden Händen ergriff sie meine rechte Hand.

»Heesto-san, Sie dürfen als Erster Weihrauch verbrennen.« Suzuki machte vor, was von mir erwartet wurde. Er ging in die Hocke, die Hände aneinandergelegt, und reichte mir drei rauchende Stäbchen.

Ich deponierte sie auf dem Rost einer kleinen Weihrauchschale und legte meine Hände aneinander, faltete sie jedoch anschließend ziemlich hilflos. Die Tränen stiegen mir in die Augen. Ich dachte: Nichts anmerken lassen.

Suzukis Schwester kniete nach mir nieder und tat dies sehr viel länger und intensiver als ich es getan hatte. »Das hier sind die neuen Namen unserer Eltern«, sagte sie, als sie wieder stand, und zeigte auf die Schriftzeichen im Stein.

»Man braucht einen neuen Namen, um in den Himmel kommen zu können«, erklärte er.

»Um in den Himmel zu kommen?«

»Der neue Name ist das Passwort für den Himmel. Hübsche Namen sind sehr teuer. Je teurer der Name, desto hübscher, und umso leichter kommt man hinein.«

»Das ist merkwürdig«, fand ich. »Dann hat eine arme Person weniger Chancen.«

»Ja, das ist schon ein bisschen merkwürdig. Wir gehen zu den anderen Gräbern«, sagte er, »denn Heesto-san hat nur wenig Zeit!«

Auch an den beiden anderen Gräbern durfte ich Weihrauch verbrennen. Ein Teil der Blumen, die wir für Frau Suzuki gekauft hatten, wurde über diese zwei Gräber verteilt.

Er nahm mich mit den Hügel hinunter zum Tempelteich. Seine Frau und seine Schwester blieben an den Gräbern zurück. »Sie reinigen noch die Gräber.« Der Besuch am Grab von Frau Suzuki hatte keine zehn Minuten gedauert. Am Rand des Teiches ließ er mich die Buddhas bewundern. Er klatschte in die Hände. Dicke Karpfen wurden von seinem Applaus angelockt. Er kicherte. »Sie denken, dass sie gefüttert werden. Sollen wir wieder in den gekühlten Saal gehen?« Er sah, dass ich zögerte. »Oder möchten Sie die Toilette besuchen?«

»Ja, die Toilette bitte.«

Suzuki ging mit mir mit. Ich schloss mich in einem Stehklo ein. Wie lange konnte ich hier bleiben? Zehn Minuten?

Als ich aus der Toilette kam, sah er mich besorgt an. »Ist alles in Ordnung?«

»Hier essen wir etwas«, sagte er vor dem Tempelrestaurant. Es war noch nicht einmal halb zwölf. »Was nehmen wir?«, fragte er und zeigte auf ein Menüfoto des teuersten Gerichts, eines Fleischgerichts. »Sollen wir das mal nehmen?« Die Damen waren einverstanden.

»Ich möchte lieber dieses Gericht.«

»Mit Ei?«, fragte er verwundert.

»Setzen Sie sich ruhig auf diese Seite, Heesto-san«, sagte seine Schwester, »dann können Sie die Natur besser betrachten.«

Ich ging um den Tisch herum. Sie stellten ihre Taschen vor das Fenster, sodass ich vor allem die Taschen betrachten konnte. »Wissen Sie schon, was Sie mit dem Haus Ihrer Mutter machen werden?«

Nein, das wussten sie noch nicht.

»Aber Ihr jüngster Bruder, hatte der nicht Interesse an dem Haus?«

»Nein, er will dort nicht wohnen«, sagte Suzuki.

»Und Sie?«, fragte ich die Schwester.

»Ich? Für mich ist das Haus zu dunkel. Abends ist es da ziemlich gruselig, so still und so dunkel. Möchten Sie es uns nicht abkaufen?«

»Ja, das würde ich natürlich schon gern, aber ich fürchte, dass es für uns zu teuer wäre. Die Grundstückspreise sind hier so hoch.«

»Wir würden es Ihnen auch zu einem sehr, sehr guten Preis verkaufen!«

Das Essen kam auf den Tisch. Meines war viel zu salzig.

»Sollen wir Bier bestellen?«, fragte er, wobei er seine Frau ansah.

»Äh, ich trinke kein Bier«, sagte ich, »denn ich fliege heute Abend.«

»Ja, natürlich«, sagte er. »Für uns dann mal Bier?« Seine Frau schlug ihm unter dem Tisch mit der Faust aufs Knie. »Nein, das sollten wir besser nicht tun«, antwortete er anschließend selbst.

Die Inhaberin des Restaurants kam an den Tisch. Sie reichte Suzuki eine Tragetasche mit Päckchen grünen Tees. Diese Tasche war für mich bestimmt. Er bezahlte.

Man hatte ein Taxi gerufen. Ich stieg als Erster ein, auf den Platz hinter dem Fahrer. Suzuki setzte sich neben den Fahrer. Suzukis Frau und Schwester debattierten über die Frage, wer neben mir sitzen sollte. Es wurde die Schwester. Um nicht noch weitere Verzögerungen zu verursachen, sprang sie ins Taxi. Dabei stieß sie sich hart an der Leiste über der Wagentür und prallte zurück auf den Bürgersteig. In hockender Haltung jammerte sie, die Augen geschlossen. Der Taxifahrer und ihre Schwägerin beugten sich über sie. Nur Suzuki blieb im Taxi sitzen. Die Restaurantinhaberin kam herbeigeeilt. »Einen kalten Lappen!«, rief ich ihr zu.

»Ins Krankenhaus?«, fragte Suzuki. Der Taxifahrer kannte da ein Krankenhaus in Hochschweif.

»Nein, nein«, jammerte die Verletzte, »nicht nach Hochschweif. Das ist viel zu weit von zu Hause entfernt.«

»Gut, ein Krankenhaus in der Stadt«, entschied Suzuki.

Sie stieg langsam ein, mit einem Handtuch voller Eis auf dem Kopf. Das Taxi fuhr im Schritttempo an dem Betonbach entlang. »Erst zum Bahnhof Hochschweif«, sagte Suzuki, »sonst verpasst Heesto-san sein Flugzeug.«

Vor dem Bahnhof öffnete der Fahrer meine Tür. Mit einem gepeinigten Blick verbeugte sich die Tochter von Frau Suzuki vor mir.

Im Zug nach Zumbach flog auf einer der Zwischenstationen ein Käfer in den Waggon. Er landete auf dem Rücken. Ich nahm ihn hoch und setzte mich mit ihm bis zur nächsten Station hin, an der ich kurz ausstieg, um ihm wieder die Freiheit zu schenken. Summend flog er über den Bahnsteig.

In Zumbach kaufte ich Wein und Tintenpatronen. Ich nahm den vertrauten Weg, vorbei am Händler für Biogemüse und dem für Staffeleien. »Heesto-san!«, hörte ich es hinter mir. Der Staffeleihändler und seine Frau standen auf der Straße. »Kommen Sie kurz herein!«

»Na ja, äh, ich bin sozusagen in Eile, in ziemlich großer Eile. Ich muss das Flugzeug um sechs Uhr bekommen. Ich fliege heute wieder nach Neuseeland. Ich bin nur zwei kurze Nächte in Junglaub gewesen.«

»Oh, Sie haben keine Zeit«, sagte Frau Kastanienfeld.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte ich. »Sie haben sich nicht verändert.«

»Ja, uns geht es ganz gut«, sagte er, »aber wenn Sie keine Zeit haben …«

»Beim nächsten Mal bleibe ich etwas länger!«

»Sind Sie denn nicht im Badehaus gewesen?« S. musste ein wenig über meine Wallfahrt lachen, vielleicht aus Verlegenheit, dass ich etwas getan hatte, was naheliegend war, aber was niemand in Junglaub machte. Ich stellte eine Flasche Beaujolais aus dem Jahr 2002 zu seinem Weinvorrat auf die Fensterbank.

Er kam, meine Reisetasche für mich tragend, die Außentreppe mit hinunter. Beim nächsten Mal müsste ich länger bleiben, fand er. Er verbeugte sich und winkte mir nach.

Im Flughafen rief ich Suzuki an. »Heesto hier. Ich wollte fragen, wie es Ihrer Schwester geht.«

»Oh, machen Sie sich keine Sorgen. Sie ist wieder zu Hause. Im Krankenhaus hat man Röntgenaufnahmen gemacht. Aber sie hat sich nichts gebrochen. Es gibt keinen Schaden. Machen Sie sich bitte keine Sorgen um sie.«

˜

Der Flugbegleiter teilte mit, dass es »ein paar Probleme« mit dem Strom gäbe. Deshalb würde es während des Neustarts des »elektrischen Systems« kurz dunkel werden. Solche Mitteilungen bekam man zehn Minuten bevor die Maschine im Bismarckarchipel zerschellte. Wie sollte ich meine letzten zehn Minuten verbringen? Ich beschloss, an Annelotte und Kootje zu denken.

Das Flugzeug von Wellington nach Dunedin stank nach Pisse. Neben mir las ein Mann ein Buch über Sport. Die Menschen waren mir fremd.

Annemieke und Pleun holten mich ab. Er stand, von Rückenschmerzen gebeugt, an einen Pfeiler gelehnt. Von ihr bekam ich einen Kuss, von ihm eine Umarmung. Sie sagte, dass sie mich vermisst hätte. Das machte mich verlegen. Ungeschickt entgegnete ich, dass ich das Flöten vermisst hätte. Ich fügte dem wenig überzeugend hinzu, dass ich die beiden natürlich auch vermisst hätte. Im Wagen bat Pleun um eine Zusammenfassung meines Aufenthalts in Europa und Japan.

»Äh, ja, Japan war eine Katastrophe, aber die Niederlande haben mir durchaus zugesagt. Da habe ich sogar gedacht, dass wir auch wieder in den Niederlanden leben könnten. Das ging mir schon seit Jahren nicht mehr so.«

»Japan war eine Katastrophe?«, fragte er.

»Ach, Katastrophe ist vielleicht etwas zu viel gesagt, aber der Besuch bei unseren alten Nachbarn war nicht so gelungen. Und die netteste Frau aus dem Viertel war gestorben. Ich habe ihr Grab besucht. Dieser Grabbesuch war eine Katastrophe. Die Tochter der Verstorbenen war mit und hat sich so schwer am Kopf gestoßen, dass ich schon Angst hatte, dass sie einen Schädelbruch hat. Weil ich zu diesem Grab gewollt hatte, war es meine Schuld.«

»Das ist doch Unsinn«, sagte Annemieke.

»Nein, ich kann dem voll und ganz folgen«, sagte er. »Und ich bin einer Meinung mit Detlev. Es ist seine Schuld.«

»Ja, denn wenn ich nicht dieses Grab besucht hätte, hätte sie sich nicht am Kopf verletzt.«

Das Gras stand hoch. Die Birn-, Pflaumen- und Pfirsichbäume blühten. Flip lag im Obstgarten in der Sonne. Kootje kam miauend die Treppe herunter.

»Was für eine Halunkin!«, rief Annemieke. »Zu uns ist sie nie gekommen.« Sie reichte mir eine kleine Tasche. Sie hatte ein Brot für mich gebacken. Die Tasche enthielt außerdem die Reste einer warmen Mahlzeit, eine Apfelsine, einen Apfel und einen Schokoladenriegel sowie eine Flasche Joghurt aus unserer eigenen Kultur, die sie hatte am Leben halten können.

Ich war so müde von der Reise, dass nichts mehr zu mir durchdrang. »Eine Tasse Tee?«, fragte ich pflichtschuldig.

»Äh ja. Lecker«, antwortete sie.

»Nein, ich glaube, dass wir Detlev besser allein lassen sollten«, ­beschloss Pleun.

Inhaltsverzeichnis
Cover
Haupttitel
Junglaub lesen...
Impressum und Copyright

Detlev van Heest

JUNGLAUB

JAHRE IN JAPAN

Aus dem Niederländischen von
Gerd Busse und Ulrich Faure

Zum Geleit

Im Westen Tokios liegt das malerische Vorstadtviertel Junglaub. Die Häuschen in Junglaub stehen dicht gedrängt. Man kann es als Wunder ansehen, dass dazwischen noch Platz für ein paar Bäume, Teiche und Bäche ist. Die Gassen sind nicht viel mehr als asphaltierte Wege, schmal und mäandernd und ungeeignet für Autos. Junglaub hat sogar einen kleinen Park, den ehemaligen Garten eines zu seiner Zeit bekannten Schriftstellers. Dort, neben dem Park, am Fuße eines steilen, wenn auch nicht sehr hohen Hügels, wurden die folgenden Porträts aufgezeichnet.

Für Han

Frau Suzuki

2000

Frau Suzuki wohnte uns in der Gasse gegenüber. Im Schirmständer, draußen neben der Haustür, stand ein Stock, ein abgeschälter Ast mit einer natürlichen Krümmung, auf den sich Herr Suzuki gestützt hatte, als es ihm nicht mehr so gut ging. Seine Witwe ließ den Stock dort stehen, wie sie auch seinen Namen an der Tür nicht durch den ihrigen ersetzte.

Über ihre Gesundheit klagte sie nicht, obwohl sie regelmäßig ins Krankenhaus musste, um ihre Leiden erträglich zu halten. Dann kam sie munter mit einem Plastikbeutel voller Tabletten nach Hause zurück. »Die Hälfte dieser Tabletten geben sie mir gegen die Nebenwirkungen der anderen Hälfte. Die Tabletten machen den Magen kaputt. Meine Söhne legen mir immer ans Herz, sie alle zu nehmen. Das mache ich dann auch. Im Moment wollen sie sogar, dass ich Joghurt esse. Für meine Knochen. Ich kriege nur wenig davon runter. Früher gab es das nicht. Joghurt!«

Für eine Japanerin ihres Alters war sie ziemlich groß. »Früher war ich eins siebenundfünfzig. In der Schule stand ich immer ganz vorn, denn wir wurden der Größe nach aufgestellt. Weil ich so lang war, habe ich Leichtathletik gemacht. Ich konnte gut laufen. Ja, lange ist’s her. Ich habe auch an den nationalen Leichtathletikmeisterschaften teilgenommen. Das war das erste Mal, dass ich von zu Hause weg war.« Frau Suzuki kam vom Land, aus einer der nördlichen Provinzen. Den summenden Dialekt ihrer Gegend sprach sie noch immer. »Die Jungs aus meinem Dorf fanden mich ganz hübsch, glaube ich, aber auch nur, weil sie nicht wussten, wie die jungen Frauen in der Stadt aussahen.«

»Na, Sie können sich nicht beklagen.«

»Ach was. Ich bin eine längst verwelkte Blume. Einst habe ich einen kurzen Tag geblüht, wie es so schön heißt.«

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Frau Schattenberg spazierte jeden Tag zweimal mit ihrem Hündchen den Hügel hinab zu Frau Suzuki. Frau Schattenberg war zwar alt, aber noch nicht so alt wie ihre Freundin, und deshalb, im Gegensatz zu Frau Suzuki, in der Lage, meinen Namen zu behalten. »Herr Heesto!« Und dann kamen die Fragen. »Wo arbeitet Ihre Frau?« Und: »Warum fährt sie mit dem Fahrrad ins Büro?« Oder: »Warum haben Sie keine Kinder, Herr Heesto?«

Eines Morgens war sie wieder mit dem Hund unterwegs zu ihrer Freundin. »Oh, Herr Heesto! Sie sind wieder da! Herr Heesto ist wieder da!«, rief sie nun auch Chibi, dem Hündchen, zu. Sie öffnete Frau Suzukis Gartenpforte, ging zur Haustür und drehte ihren Kopf in meine Richtung. »Waren Sie in Ihrem Land?«

»Nein, ich war nicht in Holland.« Ich schüttelte meine Bettdecke über der Balustrade der Veranda aus. Kootjes Haare rieselten auf die Gasse.

»Waren Sie verreist?«

»Ja, ich war verreist.«

»Wir haben uns alle Sorgen um Sie gemacht. Alle hier in der Nachbarschaft. Es war ständig dunkel bei Ihnen. Im Haus hat sich nichts gerührt.« Frau Schattenberg drückte auf die Klingel und sagte »Bingbong!« zu dem Hündchen. »Wohin ging denn die Reise?«

»Nach Australien.«

»Oh, Australien. Herr Heesto war in Australien.« Sie öffnete die Tür. Im Flur hielten die zwei Freundinnen ein Schwätzchen. Das Hündchen bekam ein Leckerli von Frau Suzuki.

Nachmittags holte ich die Wäsche von der Veranda herein. Der Zeitungsbote von Die Botschaft, um die vierzig, bockte sein Moped auf den Ständer und ließ den Motor laufen. Er kam durch die Pforte und öffnete die Haustür. »Frau Suzuki! Das Zeitungsgeld!«

Frau Suzuki freute sich über jeden Besucher. Auch die Zeugen Jehovas, die in unserer Gegend oft paarweise vor der Tür erschienen, durften bei ihr mit einer Tasse grünem Tee rechnen. Da sie jedoch nicht zu bekehren war und die Besuche bei ihr als allzu zeitraubend galten, begannen die Zeugen des Unaussprechlichen, sie zu meiden.

Der Zeitungsmann kam wieder nach draußen, stellte den Motor ab, steckte sich eine Zigarette an und ging wieder hinein. Er kam noch einmal heraus, tippte die Asche von seiner Zigarette und ging wieder hinein.

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Frau Suzuki kam mir auf der Gasse entgegen. »Das ist ja lange her! Kein Bettzeug über der Balustrade. Kein Licht mehr abends bei Ihnen. Ich dachte, dass Sie vielleicht klammheimlich umgezogen wären. Schön, dass Sie wieder da sind.«

»Wir waren verreist.«

»Ja, das habe ich von Frau Schattenberg gehört.«

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Beim Hinaustragen der Müllsäcke begegnete ich Frau Baumdorf. Ich wünschte ihr einen guten Morgen und stellte meinen Müllsack achtlos ab. Frau Baumdorf brachte einige Minuten damit zu, die gesammelten Müllsäcke zu ordnen.

Frau Schattenberg kam mit Chibi in die Gasse. »Was ist das doch für eine schöne Clematis.«

»Gibt es auch ein japanisches Wort für Clematis?«, fragte ich.

»Jeder sagt Clematis«, sagte sie nach einigem Grübeln. »Wie geht es Ihrer Katze?«

»Kootje geht es gut. Sie schläft. Auf der Veranda. Sie ist gerade vorhin von einer anstrengenden Nacht zurückgekommen.«

»Ich habe Ihre Frau schon eine Weile nicht gesehen. Ist sie auf Geschäftsreise?«

»Nein, sie ist im Büro.«

Frau Baumdorf trippelte in einem kleinen Bogen um mich herum. Sie wurde langsamer, zeigte nach oben: »Darf Ihre Clematis eigentlich an den elektrischen Leitungen entlangklettern?«

»Die Leitung ist alt. Da fließt nichts mehr durch«, antwortete ich verärgert.

»Oh, wie gut Sie doch Japanisch sprechen«, sagte Frau Baumdorf, eine Formulierung, die für Ausländer bestimmt war, die im Ringen mit der Sprache den Kürzeren zogen.

Hinter mir hörte ich Frau Schattenberg »Bingbong!« zu ihrem Hündchen sagen.

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»Ist Ihre Frau schon zurück?«, fragte Frau Suzuki. An ihrem Gartenwasserhahn füllte sie eine blaue Gießkanne.

»Ja, sie ist wieder da.«

»Aber ich sehe sie nur noch selten.«

»Sie kommt oft spät von der Arbeit zurück.«

»Wann denn?«

»Gegen acht.«

»Und morgens? Wann verlässt sie das Haus?«

»Nicht so früh. Meist gegen neun.«

»Das ist ganz schön spät, ja. Wäre es nicht besser, wenn sie etwas früher losginge und früher nach Hause käme? So sitzen Sie den ganzen Tag allein da.«

»Ach, das hat auch seine Vorteile.«

Frau Suzuki nickte. »Sie können die Betten lüften und das Haus aufräumen, wenn Sie allein sind«, vermutete sie.

»So ist es.«

»Ist die nun schon verblüht?«, fragte sie und zeigte auf die Blüten der Zifferblattpflanze.

»Nein, die fängt gerade erst an zu blühen. Sie ist voller Knospen.«

»Und die Blumen da? Die sehen ja aus, als ob sie aus der Mauer wachsen. Sind die dort von selbst hingekommen?«

»Nein, die haben wir in die Fugen gepflanzt. Das ist Goldlack.«

»In die Fugen gepflanzt?«

»Ja, die haben wir dort letztes Jahr gepflanzt.«

»In eine Mauer? Das ist bestimmt nicht einfach.«

»Wie steht es um Ihre Gesundheit? Die Wärme ist doch bestimmt gut für Sie?«

»In meinem Alter geht es einem natürlich nicht mehr so gut, aber die Wärme ist tatsächlich wohltuend. Aber durch die Wärme schießt auch überall das Unkraut in die Höhe. Ich muss mich viel bücken, um es zu zupfen. Davon kriege ich es am Rücken.«

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Eines Abends sahen wir Kootje auf Frau Suzukis Dach springen. Jede kleine Bewegung auf dem Blechdach erzeugte Lärm. Frau Suzuki kam heraus und sah nach oben. Im Dunkeln konnte sie die Katze nicht sehen.

Am nächsten Morgen stand sie in ihrem Garten.

»Äh, ich schäme mich ein bisschen«, stammelte ich, »aber, äh, unsere Katze ist gestern Abend auf Ihr Dach gesprungen. Sie ist lieb, aber manchmal auch ungezogen. Haben Sie sie gehört?«

»Nein, ich höre nie etwas, aber das kommt daher, weil mein Fernseher immer so laut ist, nicht wahr? Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Ja, sehr gern.«

»Oh, da ist ja mein Ältester.«

Ihr Sohn kam durch den Park. Wir verbeugten uns voreinander, nannten unsere Namen. Ich entschuldigte mich bei ihm für mein unrasiertes Gesicht.

Drinnen zündete er sofort eine Kerze auf dem kleinen buddhistischen Hausaltar an und murmelte ein Gebet. Über dem Altar hing ein großes Foto des alten Herrn Suzuki.

»Ja, das ist ein Foto meines Mannes, als er noch jung war. Er war damals dreiundsiebzig. Wir mussten doch ein schönes Foto von ihm aufhängen, oder?«

Der Sohn von Frau Suzuki war Nachtwächter bei der Telefongesellschaft, bei der er gearbeitet hatte, bis er vor sechs Jahren in Rente gegangen war. »Ein komisches Land, oder? Dass man nach der Pensionierung weiterarbeiten muss, weil man vom Staat keine Unterstützung bekommt.«

»Sind Sie neulich zur Wahl gegangen?«, fragte ich sie.

»Ja, natürlich. Aber es hat an dem Tag so geregnet. Ich bin den ganzen Weg zum Wahllokal gelaufen, und als ich dort ankam, hatte ich vergessen, wen ich nun gleich wieder wählen sollte. Da bin nach Hause zurückgegangen, um meine Söhne anzurufen und zu fragen, wen ich eigentlich wählen soll. Das habe ich aufgeschrieben und bin danach noch einmal zum Wahllokal gegangen. Haben Sie auch gewählt?«

»Nein, als Ausländer dürfen wir nur Steuern zahlen.«

»Ist das in Ihrem Land auch so, dass Ausländer nicht wählen dürfen?«, fragte sie.

»Bei uns dürfen sie auch nur Steuern zahlen.«

»Sie wohnen hier doch schon sehr lange?«, fragte der Sohn nicht besonders interessiert.

»Acht Jahre, meine Frau neun Jahre.«

»Und können Sie dann nicht die japanische Staatsbürgerschaft annehmen?«

»Daran haben wir noch nicht gedacht. Aber wir müssen nicht unbedingt Japaner werden. Meine Frau kann nächstes Jahr ein Dauervisum bekommen.«

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Ich schob mein Fahrrad den Hügel hinauf. Auf halber Strecke traf ich Frau Suzuki, die auf dem Heimweg war. »Wo gehen Sie hin?«

»Zu meiner Japanischstunde.«

»Geben Sie Unterricht?«, fragte sie erstaunt.

»Ich nehme Unterricht.«

»Ach, Sie nehmen Unterricht«, sagte sie mit einem Lächeln über den alternden Mann in seiner kurzen Hose, der noch immer zur Schule ging.

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Frau Suzuki brachte ihren Müll in die Gasse. Es regnete.

»Heute ist Seniorentag, nicht wahr?«, fragte ich.

Sie hielt ihren Schirm auch ein bisschen über mich. »Ja, heute ist Seniorentag. Ich habe gestern von der Stadt Geld für etwas Feines zu essen bekommen. Das ist einer der wenigen Vorteile des Alters. Dass sie einem nur mal so Geld bringen.« Sie lachte darüber. »Waren Sie wieder weg?«

»Nur ein paar Tage.«

»Es ist immer dunkel bei Ihnen. Ich sehe Sie so selten.«

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»Ich bin im Krankenhaus gewesen. Meine Medikamente waren alle.« Sie zeigte mir den Beutel mit den neuen Medikamenten. Über ihren Kopf hielt sie einen Sonnenschirm.

»Die reichen wohl eine Weile.«

»Es ist warm heute. Ich muss diese Woche noch zum Grab meines Mannes. Aber da zieht es mich nicht unbedingt hin, wenn es so heiß ist.«

»Ist das Grab weit weg?«

»Außerhalb der Stadt, bei Hochschweif.«

»Dort ist doch auch das Grab des Shōwa-Kaisers?« Shōwa-Kaiser: der postume Name Hirohitos.

»Sind Sie da schon einmal gewesen?«

»Ein paarmal. Es ist schön da.«

»Früher bin ich immer ohne die Jungs zum Grab meines Mannes gefahren. Mit der Bahn und das letzte Stück im Taxi. Dieses Jahr gehe ich zusammen mit den Jungs. Vielleicht können wir ein Großraumtaxi nehmen. Haben Sie in Ihrem Land auch Totengedenktage?«

»Nicht wie hier.«

»Aber Sie haben doch auch Gräber?«

»Ja, die haben wir auch.«

»Und müssen Sie dann nie dorthin?«

»Äh, ja schon, aber nicht an festen Tagen.« Ich fühlte mich ertappt. Wie viele Jahre war ich schon nicht mehr am Grab meiner Mutter gewesen?

»Werden die Toten in Ihrem Land auch verbrannt?«

»Verbrannt oder begraben. Beides ist möglich.«

2001

Ich nahm die Wäsche ab. Frau Suzuki war hinten in ihrem Garten bei der Komposttonne. Sie zog tote Zweige aus den Sträuchern. Um Kopf und Hals hatte sie ein Handtuch geschlungen. Einer der Zweige wollte nicht, wie sie wollte. Mit aller Kraft zerrte sie daran. Plötzlich verschwand sie aus meinem Blickfeld. Vom äußersten Ende der Veranda konnte ich sie sehen. Da lag sie, die Beine in der Luft.

»Frau Suzuki, Frau Suzuki!«

Verwirrt schaute sie sich um. Sie versuchte aufzustehen. An einem Bäumchen zog sie sich hoch. Ich rannte hinunter, schlüpfte in meine Holzpantinen. Bei ihrer Gartenpforte rief ich sie wieder. Sie hielt sich noch immer an dem Bäumchen fest. Mit dem rechten Fuß stand sie auf einem Blech. »Ach, Sie sind es. Ich bin hingefallen.«

»Ich habe gesehen, wie es passiert ist. Haben Sie sich verletzt?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.«

»Der Boden ist hier nicht so hart.«

Sie klopfte ihre Hose ab. »Ich glaube, es geht schon. Ich war im Garten beschäftigt. Das Laub musste mal weggeräumt werden. Es sieht ja nicht aus, all dieses Laub. Da bin ich gefallen.«

»Ich habe es zufällig gesehen.«

»Diese blöden Blätter aber auch.«

»Lassen Sie das Laub ruhig liegen. Es ist Nahrung für die Bäume.«

»Ja, das stimmt schon. Ich lasse es für heute mal so. Haben Sie Lust auf eine Tasse Tee?«

»Gern, aber ich muss erst den Rest Wäsche abnehmen. Ich komme in einer halben Stunde. Ist Ihnen das recht?«

»Sie sind immer willkommen.«

»Bis in einer halben Stunde also.«

»Können Sie mir noch helfen, meinen Schuh zu suchen? Ich kann ihn nirgends finden.«

Der Schuh, ein Pantoffel mit einer Holzsohle, lag umgedreht im Laub. Ich stellte ihn vor sie hin. Sie zog ihre Socke aus, stieg vom Blech in den Holzpantoffel.

»Ich werde den Sack Laub mitnehmen. Wo soll er hin?«

»Dahin, zu den Gartensachen.«

»Ich glaube nicht, dass ich mich verletzt habe«, sagte sie drinnen.

»Wo darf ich mich hinsetzen?«

»Überall. Es gibt keine reservierten Plätze.«

»Aber das ist doch Ihr Platz?«

»Nein. Setzen Sie sich nur. Es ist nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind. So wird es dank meines Sturzes ein schöner Nachmittag.« Sie schenkte grünen Tee ein und reichte mir Gebäck und gezuckerte Bohnen, die noch von Neujahr übrig waren. An einer halb zugezogenen Übergardine hingen zwei gewaschene Socken und ein Kleiderbügel mit einem Unterhemd.

Der Hausaltar war umgestellt worden. Er stand ein wenig höher als im vorigen Jahr. Der Fernseher stand auch anders, auffälliger. An allen Wänden türmte sich Krempel auf. Sortierte Reklameblätter, Lumpen, Beutel, Audiokassetten. Auf einem kleinen, runden Tisch standen sieben Teedosen, auf der Bodenmatte eine große elektrische Thermoskanne und ein Toaster.

»Und was machen Sie so zu Ihrem Vergnügen?«, fragte sie.

»Ich lese gern und spiele Tennis mit meiner Frau.«

»Und was lesen Sie?«

»Bücher.«

»Bücher aus Ihrem Land?«

»Auch.«

»Ich singe zu meinem Vergnügen. Früher habe ich auch viel gelesen, den Kindern vorgelesen. Geschichten, wissen Sie? Aber als sie etwas älter wurden, habe ich angefangen, für sie zu singen. Mögen Sie Musik?«

»Ja, sicher.«

»Nehmen Sie noch etwas von den Keksen.« Sie schob mir zwei Schälchen mit Leckereien hin.

»Danke.« Ich nahm noch einen Keks.

»Möchten Sie mein Lieblingslied hören?« Unter Stofflappen und Nähzeug verborgen stand ein Kassettenrecorder. Aus einer Einkaufstasche nahm sie eine Kassette. »Hier haben Sie den Text.« Ein Mann fing an zu singen. Sie schloss die Augen und sang leise mit. Als es zu Ende war, goss sie heißes Wasser aus der Thermoskanne ins Teekännchen. »Schön, nicht wahr?«

»Wunderschön.«

Frau Suzuki nahm sich den Text, setzte ihre Brille auf und wieder ab. »Es geht um einen Verbrecher.« Sie sang es noch einmal, diesmal ohne Begleitung. Ihre Stimme kratzte wie eine alte Platte. »Möchten Sie sich die Kassette einmal ausleihen? Ich gebe Ihnen auch den Text mit. Dann können Sie es üben.«

»Gern.«

Sie erzählte von zu Hause, Fukushima, im Norden Japans, von ihrem Mann und den Kindern. »Mein Mann ist schon so lange tot. Und ich lebe immer noch. Ich glaube, dass dies vielleicht mein letztes Jahr sein wird.«

»Japanische Frauen können sehr alt werden. Sie haben die höchste Lebenserwartung auf der ganzen Welt«, schwafelte ich.

»Ach, ich erwarte nicht mehr so viel Lebenszeit. Mein Jüngster ist bereits achtundvierzig. Eine meiner beiden Töchter ist schon gestorben. Sie ist nur einundfünfzig geworden. Die beiden ältesten Jungs sind auch schon in Rente.«

»Waren Ihre Kinder zu Neujahr hier?«

»Am 2. Januar. Alle. Ich habe Sushi kommen lassen. Drei solche Schalen. So viel, dass wir es nicht aufessen konnten. Eine Schande bei diesen herrlichen Sachen, aber man kann sie nicht aufheben. Früher habe ich selbst gekocht, aber dafür bin ich zu alt. Der Mann meiner verstorbenen Tochter war übrigens auch da. Sie ist so jung gestorben. An Krebs. Der Krebs hatte in alle Organe gestreut. Sie war so krank. Kurz vor ihrem Tod haben sie sie noch hierhergefahren, mit dem Krankenwagen. Sie wollte, dass ich noch einmal für sie singe. Ach, meine Tochter konnte viel besser singen als ich. Sie war verrückt nach Musik. Sie hörte gar nicht auf, sich bei mir zu bedanken. Ich habe gesagt: ›Du sollst mir nicht danken! Du sollst gesund werden!‹ Aber sie konnte natürlich nicht gesund werden. Hier, hier hatten sie sie hingelegt. Sie schien so froh zu sein. Ja, ich habe für sie gesungen. Damals hatte ich ja noch eine bessere Stimme. Sie wollte nicht, dass ich aufhörte mit Singen.« Sie wühlte wieder in ihrer Einkaufstasche, fand eine Kassette. Frau Suzukis eigene Stimme. Lieder über die Liebe, die Natur und das Glück. Leise sang sie mit sich selbst mit, die Augen geschlossen, den Kopf mit ihren runden, festen Pausbacken etwas schief gelegt.

Die Frau und ihr wehmütiger Gesang machten mich für einen Moment sehr glücklich.

Sie gab mir eine Handvoll Kekse mit nach Hause (»für Ihre Frau«).

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»Mutter ist nicht da«, sagte die älteste Schwiegertochter, die einmal in der Woche kam, um bei Frau Suzuki ein wenig zu putzen.

»Das ist für Ihre Schwiegermutter. Aus dem Bioladen. Sie sehen zwar nicht schön aus, sind aber sehr lecker.«

»Oh, bio? Herzlichen Dank«, sagte sie pflichtschuldig. Sie nahm den Beutel Mandarinen.

Ein paar Stunden später kam Frau Suzuki in die Gasse. Sie winkte mir zu. »Danke für die herrlichen Mandarinen.«