Epub cover
Inhaltsverzeichnis
Buchcover
Titel
TEIL 1 Alles Hund
1. Fahndungsversuch
2. Anrede
3. Eine aufreißen
4. Hass fressen
5. Fluchtwege
TEIL 2 Wessen Mann
1. Insel mit Sonne
2. Ossis Schwiegersohn
3. Ratjens Mann
4. Gemachter Mann
5. Auch auf Inseln
6. Rückstoß
7. Kein Traum
8. Nein, ich selbst
TEIL 3 Tage der Befreiung
1. Unrecht und Recht
2. Die fette Hand
3. Abschied ohne Netz
Christian Geissler: Nachwort 1986
Glossar
Das Brot mit der Feile. Zum Auftakt von Christian Geisslers Trilogie des Widerstands und ihrer Romanpoetik – Nachwort von Ingo Meyer
Impressum

Anmerkungen

1 Aus dem Nachwort von 1986, S. 472 vorliegender Neuausgabe.

2 Bodo Kirchhoff: Legenden um den eigenen Körper. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1995, S. 37.

3 Gemeint ist das berüchtigte Kursbuch 32: Folter in der BRD, vom August 1973. Enzensberger, weil damals auf Kuba, will von nichts gewusst haben, womit Karl Markus Michel, dessen Kürzel auch unter dem Editorial steht, die Verantwortung allein getragen hätte, vgl. Wolfgang Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma: »›Sie hatten nie eine politische Forderung...‹ Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger über die Hintergründe der RAF«, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Bd. 2, S. 1392-1411, S. 1399.

4 Reinhard Baumgart: »Im hegelschen Aufwind. Hartmut Lange: Die Revolution als Geisterschiff« (1973), in: Ders.: Deutsche Literatur der Gegenwart. Kritiken, Essays, Kommentare, München 1994, S. 288-291, S. 290.

5 Dass man von ihr dennoch nicht lassen wollte, belegt der trotzig so benannte Sammelband von Gert Ueding (Hg.): Literatur ist Utopie, Frankfurt am Main 1978.

6 Wie dominant das Schlagwort war, wird noch in Rekonstruktionen wie Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur deutlich: Der von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel verantwortete zwölfte Band nimmt ›Realismus‹ im gesamten dritten Teil als symptomatischen Krisenbegriff des Erzählens für die siebziger Jahre überhaupt, vgl. dies. (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968, München 1992, S. 279-381.

7 Was auch, wenngleich spät, getan wurde, Peter Laemmle (Hg.): Realismus – welcher? 16 Autoren auf der Suche nach einem literarischen Begriff, München 1976. Aktuell findet Jürgen Link: »Wiederkehr des Realismus – aber welches? Mit besonderem Bezug auf Jonathan Littell«, KulturRevolution 54 (2008), S. 6-21, S. 19, trotz aller aufgefahrenen diskurstheoretischen Geschütze doch nur zur Reformulierung der altbekannten These zurück, Realismen seien als Ideologiekritik, »Funktion des Korrektivs«, an den ›herrschenden‹ Diskursen etwa von Wissenschaft, Journalismus, Psychiatrie usw. zu verstehen. Erdnäher Ingo Meyer: »Die Kehrseite der Moderne. Funktionen des Realismus heute«, Merkur 59 (2005), S. 918-929, der Realismus als simulierte Kontingenztilgung fasst, für die ein offenbar dauerhaftes Bedürfnis besteht.

8 Reinhard Baumgart: »Sogenannte Dokumentarliteratur«, in: Ders.: Deutsche Literatur, a.a.O., S. 293-305, erinnerte zu Recht bereits 1970 daran, dass kein Text, Kunstwerk ohne Stilisierung und Deutung auskomme, denn bereits die Auswahl des Materials impliziere Wertungen.

9 Ursula Treuberg: Vorleben. Mit einem Nachwort von Martin Walser, Frankfurt am Main 1968; Wolfgang Werner: Vom Waisenhaus ins Zuchthaus. Ein Sozialbericht. Nachwort von Martin Walser, Frankfurt am Main 1969.

10 Theodor W. Adorno: »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman«, in: Ders.: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1974, S. 41–48, S. 47.

11 Adorno: »Balzac-Lektüre«, in: Ders.: Noten, a.a.O., S. 139–157, S. 140f., 147.

12 Adorno: Ästhetische Theorie (1970), hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1973, S. 477.

13 Bertolt Brecht: »Volkstümlichkeit und Realismus« (1938), in: Ders.: Über Realismus, hg. v. Walter Hecht, Frankfurt am Main 1971, S. 67–74, S. 70.

14 Ebd.

15 Peter Bürger: »Was leistet der Widerspiegelungsbegriff in der Literaturwissenschaft?«, in: Ders.: Vermittlung – Rezeption – Funktion. Ästhetische Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1979, S. 21–56, S. 50f., hat hierzu alles Nötige gesagt. Mit Manfred Naumann (Hg.): Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin / DDR 1973, öffneten sich die ostdeutschen Philologien über die dort größere Freiräume genießende Romanistik vorsichtig der historisch interessierten Rezeptionsästhetik Hans Robert Jauß’.

16 Rüdiger Bubner: »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik« (1973), in: Ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989, S. 9–51, S. 26. Dieser Aporie entgeht auch Brecht, »Bemerkung zu meinem Aufsatz« (1955), in: Ders.: Über Realismus, a.a.O., S. 87, nicht: »Die einzelnen Werke müssen danach beurteilt werden, wieweit sie die Wirklichkeit im konkreten Fall erfassen.«

17 Bubner, a.a.O., S. 23. Wie sehr dieses Urteil zutrifft, zeigt exemplarisch Erwin Pracht: »Marxistisch-leninistische Theorie und künstlerische Methode«, in: Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Hg.): Zur Theorie des sozialistischen Realismus, Berlin / DDR 1974, S. 366-396, S. 375f., 381, 385. Weder Abbildtheorie noch Erkenntnisfunktion der Kunst können argumentativ konzise erhellt werden.

18 Lukács selbst bedauerte in einem späten Vorwort, im Laufe seines Forscherlebens recht eigentlich nur Zeit für die Untersuchung der Literatur des 19. Jahrhunderts gefunden zu haben, vgl. ders.: Werke Bd. 6: Probleme des Realismus III. Der historische Roman (1937), Neuwied 1964, S. 7. Seine Literaturtheorie findet sich am kompaktesten in »Erzählen oder Beschreiben?« (1936), in: Ders.: Werke Bd. 4: Probleme des Realismus I. Essays über Realismus, Neuwied 1971, S. 197-242, und ders.: »Kunst und objektive Wahrheit« (1954), a.a.O., S. 607-650.

19 Dass Lukács den klassizistisch-idealistischen Werkbegriff nie überwunden hat, ist seit Langem bekannt, vgl. Peter Ludz: »Marxismus und Literatur. Eine kritische Einführung in das Werk von Georg Lukács«, in: Lukács: Schriften zur Literatursoziologie, hg. v. Peter Ludz, Neuwied 21963, S. 19-68, S. 37f.

20 Etwa bei Michail Lifschitz: Krise des Häßlichen. Vom Kubismus zur Pop-Art, Dresden 1971, S. 65, 80f., 96, 102.

21 Explizit noch beim Autorenkollektiv unter Leitung von Michail Owsjannikow: Marxistisch-leninistische Ästhetik, Berlin / DDR 1976, S. 142.

22 »Realismus bedeutet, [...] außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen«, vgl. Friedrich Engels: Briefentwurf an Margaret Harkness von Anfang April 1888, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin / DDR 1957ff., Bd. 37, S. 42.

23 Heinrich Vormweg: »Sozialismus – fürs breite Publikum«, Süddeutsche Zeitung, 15.11.1973, bemerkte zu Recht, dass hier die Fiktion insinuiert werde, bisher hätten allein die Verleger in einsamer Entscheidungskompetenz ihre Programme gestaltet.

24 Christian Geissler: Das Brot mit der Feile, München 1973 [S. 2]. Einfache Nachweise im laufenden Text beziehen sich auf die vorliegende Neuausgabe des Romans.

25 Jörg Drews: »Wider einen neuen Realismus«, Merkur 29 (1975), S. 29-39, S. 31f.; Vormweg, a.a.O., sprach von einer »eher schon kuriose[n] als ärgerliche[n] Realismus-Vorstellung«.

26 Keith Bullivant / Klaus Briegleb: »Die Krise des Erzählens – ›1968‹ und danach«, in: Gegenwartsliteratur seit 1968, a.a.O., S. 302-339, S. 328.

27 Vormweg, a.a.O.

28 Yaak Karsunke: »Der Krimi, wo wir mitmachen«, Frankfurter Rundschau, 22.12.1973.

29 Martin Walser: »Berichte aus der Klassengesellschaft«, in: Erika Runge: Bottroper Protokolle, Frankfurt am Main 1968, S. 7-10, S. 9, ein »Arbeiter-Dasein im Kunstaggregat imitieren oder gar zur Sprache bringen« zu wollen, sei innerhalb einer strukturell bourgeoisen Literatur aussichtslos.

30 Elvira Högemann-Ledwohn: »Wohin mit dem Haß«, kürbiskern 2 (1974), S. 109-116, S. 110, 113. Später ebenso Robert Hosfeld / Helmut Peitsch: ›Weil uns diese Aktionen innerlich verändern, sind sie politisch‹. Bemerkungen zu vier Romanen über die Studentenbewegung«, in: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 8 (1978), S. 92-126, S. 124.

31 Lothar Baier: »Zum Zähneausbeißen«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.4.1974.

32 Oskar Neumann: Rez. Christian Geissler, Das Brot mit der Feile, Weimarer Beiträge 20 (1974), Heft 12, S. 139-146, S. 140.

33 Rolf Becker: »Das Ziel heißt Parteinahme«, Der Spiegel 6 (1974), S. 119-121, S. 120.

34 Ebd., S. 121.

35 Ebd., S. 119.

36 Auch das spricht für eine Art strategische Figur, die primär Verknüpfungen herstellen soll. Zum Vergleich: Der Erzähler bzw. ›Redende‹ in Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands (1975-1981) trägt gar keinen Namen.

37 Z.B. Högemann-Ledwohn, a.a.O., S. 115; Neumann, a.a.O., S. 145.

38 In Kalte Zeiten von 1965 sowie im Hörspiel Verständigungsschwierigkeiten und dem Lehrfilm Altersgenossen, beide von 1969.

39 »Ahlers lebt«, heißt es noch in Christian Geissler: Wildwechsel mit Gleisanschluß. Kinderlied, Berlin 1996, S. 16.

40 Brecht: »Das Typische«, in: Ders.: Über Realismus, a.a.O., S. 159.

41 James Joyce: Ulysses, hg. v. Declan Kiberd, London 1992 (Bodley Head Edition), S. 280-328.

42 So zeitnah Karl Markus Michel: »Unser Alltag: Nachruf zu Lebzeiten«, Kursbuch 41 (1975): S. 1-40, S. 8, offenkundig inspiriert von Erträgen der strukturalen Erzähltheorie.

43 Der Begriff ist übernommen von Wido Hempel: Manzoni und die Darstellung der Menschenmenge als erzähltechnisches Problem in den ›Promessi Sposi‹, bei Scott und in den historischen Romanen der französischen Romantik, Krefeld 1974, S. 44.

44 In Verständigungsschwierigkeiten und Altersgenossen schleppt ein Ludwig Kanzki, 1961 aus der DDR geflohen und bereits Doktorand, Ahlers und Renate nach einer Panne auf der Autobahn ab und bezieht illegal ein Zimmer in der Wilhelmsburger Wohnung des jungen Paars. Im Brot mit der Feile jedoch wohnt er bei Ahlers’ Schwiegervater und kommt mit dem Studium nicht voran.

45 Högemann-Ledwohn, a.a.O., S. 109. Dies gelang z.B. auch Jürgen Theobaldy: Sonntags Kino, Berlin 1978, mit seiner Geschichte einer Clique ›Halbstarker‹ Ende der fünfziger Jahre, doch nur als konventioneller Roman.

46 Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 22000, S. 62ff., differenzieren damit das narratologisch klassische Problem der Erzählperspektive noch einmal nach ›wer sieht?‹, ›wer spricht?‹ und den zwischen Figur und Erzählinstanz verschieden verfügbaren Wissensbeständen.

47 Zwei Falttafeln, die auch die Weiterentwicklungen zeigen, in Émile Zola: Les Rougon-Macquarts. Histoire naturelle et sociale d’un famille sous le Second Empire (éd. Pléiade), hg. v. Henri Mitterand u. Armand Lanoux, Paris 1960-1967, Bd. 5. Abbildungen des Stammbaums zudem in jeder Zola-Biographie.

48 Die Metapher des Experiments wurde schon zu Lebzeiten Zolas belächelt, da natürlich allein der Autor über Veranlagung und Schicksal seines Personals entscheidet, vgl. nur Jacques Dubois: Les romanciers du réel, Paris 2000, S. 235. Dass (zumal realistische) Romanfiguren dennoch ein ›Eigenleben‹ gewinnen, das Wahrscheinlichkeitsbedingungen gehorchen muss, ist dagegen ebenso klar: Ahlers könnte sich wohl zum Gewerkschaftler, nicht aber Bankdirektor entwickeln.

49 Christian Geissler: Schlachtvieh / Kalte Zeiten, Nachw. v. Michael Töteberg, Berlin 2014, S. 91; Geissler: Wird Zeit, dass wir leben. Geschichte einer exemplarischen Aktion (1976), Nachw. v. Detlef Grumbach, Berlin 2013, S. 9. Fortan mit der Sigle WZ im laufenden Text nachgewiesen.

50 Christian Geissler: kamalatta. romantisches fragment, Berlin 1988, S. 66. Fortan mit der Sigle K im laufenden Text belegt.

51 Recht dagegen sprechen andere für ihn, 118, 123.

52 Högemann-Ledwohn, a.a.O., S. 111.

53 Geissler legt bereits hier, wenn von späteren »Prozessberichten« die Rede ist, »ihre polnische Herkunft« an, die erst in kamalatta manifest wird: »frau luise halka koch geborene zelasko«, K 536. Es ergibt sich so ein verblüffendes Indiz dafür, dass Geissler schon 1973 plante, Proff in eine spektakuläre illegale Aktion zu verwickeln.

54 Er spielt an auf Karen Boye, die schwedische Autorin des dystopischen Romans Kallocain (1940), der auch Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands III, Frankfurt am Main 1981, S. 22ff., ein Denkmal setzte.

55 Gemeint sind Salmiakpastillen.

56 Das ist umso bemerkenswerter, als sich Geissler die Gesichter seiner Protagonisten bei der Niederschrift ganz konkret visualisierte, vgl. die Vorrede zu kamalatta, K 5.

57 Hugh Kenner: Ulysses, übers. v. Claus Melchior, Frankfurt am Main 1982, S. 53.

58 Hans Blumenberg: »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans« (1963), in: Hans Robert Jauß (Hg.): Wirklichkeit und Illusion (Poetik und Hermeneutik 1), München 21969, S. 9-27, S. 12ff.

59 Roland Barthes’: »L’effet de réel«, in: Communications 11 (1968), S. 84-89, berühmte Formulierung. Eine semiotische Lektüre ist hier allerdings nicht beabsichtigt.

60 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (1976), München 21984, S. 175ff.

61 Vom Autor aber noch durch Kursivierung gekennzeichnet und mit einem Glossar versehen, Schlachtvieh / Kalte Zeiten, a.a.O., S. 197f.

62 Gedacht war an eine neue Integrationsideologie bei abflachendem ökonomischen Wachstum und gleichzeitigem Anwachsen der Ausgaben öffentlicher Hand, vgl. Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 413ff.

63 In kamalatta wird er eine zentrale Bezugsperson für ungebrochenen Widerstand, K 184f.

64 Max Tau: Der assoziative Faktor in der Landschafts- und Ortsdarstellung Theodor Fontanes, Oldenburg 1928.

65 Wolfgang Koeppen: Jugend, Frankfurt am Main 1976, verfährt wie Geissler abrufend: Das Buch steckt voller Zeit- und Regionalgeschichte im Besonderen – für diejenigen, die das Allgemeine schon kennen.

66 Die Schwierigkeiten sind diskutiert bei Ingo Meyer: Im ›Banne der Wirklichkeit‹? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien, Würzburg 2009, S. 77-129. Dort auch die einschlägige Forschungsliteratur.

67 Ein Grenzfall wie Alexander Kluge: Schlachtbeschreibung (1964/78), Frankfurt am Main 1983, S. 368, will ein »Gitter« bieten, »an das sich die Phantasie des Lesers anklammern kann, wenn sie sich in Richtung Stalingrad bewegt«. Aber warum sollte sie das tun, statt gleich zum Geschichtsbuch zu greifen?

68 In Rainald Goetz: Irre, Frankfurt am Main 1983, S. 291, wird mit »Prof. Dr. De« als typischem »Achternbusch-Parasiten« wohl Jörg Drews gemeint sein; in Goetz: Kontrolliert, Frankfurt am Main 1988, S. 185, ist die Rede von der Zelle als »funktionale[r] Einheit lebender Systeme« ein Zitat aus dem Autopoiesis-Konzept Humberto Maturanas, populär geworden durch Luhmanns Systemtheorie.

69 Z.B. Xaver Bayer: Heute könnte ein glücklicher Tag sein, Salzburg 2001; Tanja Dückers: Hausers Zimmer, Frankfurt am Main 2010.

70 Er führte einen verschlüsselten Kassiber bei sich, 132, kamalatta, K 99.

71 Das Erfolgsbuch von Hans Hellmut Kirst: 08/15 heute, München 1963 (mit einem Hauptmann Ahlers!), erhebt durchaus den Anspruch eines Sittenbildes der frühen Bundeswehr. Ein bemerkenswertes, aus der Perspektive eines Rekruten manisch um das Bedeutungsfeld der Aggression kreisendes Stück Experimentalprosa ist Werner Fritsch: Steinbruch, Frankfurt am Main 1989.

72 Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 142, 149.

73 Hosfeld / Peitsch, a.a.O., S. 122, irren daher, wenn sie eine Schwäche des Buchs darin erkennen, dass die behaupteten Gewaltverhältnisse nur »in archaischen oder in exotischen Situationen« greifbar würden, schon jeder Wehrdiensttaugliche bekam zu spüren, was es heißt, seine Zeit unter eingeschränkten Grundrechten einzurichten.

74 Etwa bei Neumann, a.a.O., S. 144.

75 Hosfeld / Peitsch, a.a.O., S. 125f.

76 Geissler ließ auch am real existierenden Sozialismus und der Interventionsmacht Sowjetunion kein gutes Haar, vgl. Detlef Grumbach / Christian Geissler, Interview vom 28. Juni 1997, Typoskript, S. 11, 14.

77 Baier, a.a.O., Becker, a.a.O., S. 120.

78 Obwohl sie, seltsam genug, diesen Eindruck zu erwecken trachtete, vgl. Stefan Wolle: Der Traum der Revolte. Die DDR 1968, Berlin 2008, S. 153; Dietrich Staritz: Geschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt am Main 1996, S. 263.

79 Von Neumann, a.a.O., S. 145, hingegen wurde dieses Treffen »alte[r] deutsche[r] Antifaschisten« wohlwollend aufgenommen. Da er selbst in Buchenwald interniert war, ist das wenig verwunderlich.

80 Grumbach / Geissler, a.a.O., S. 11.

81Kalte Zeiten, a.a.O., S. 110, 112.

82 Ebd., S. 96, 101, 108.

83 Butz Peters: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004, S. 72; Susanne Bressan / Martin Jander: »Gudrun Ensslin«, in: Die RAF und der linke Terrorismus, a.a.O., S. 398-429, S. 406.

84 In Lenin: »Was tun?« (1902), einer der heiligen Schriften der RAF, in: Ders.: Ausgewählte Werke in drei Bänden, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus bei ZK der KPdSU, Berlin / DDR 81970, Bd. 1, S. 139-314, S. 250, 252.

85 Der Name des dritten Strategiepapiers vom April 1972, vgl. »Dem Volk dienen. Stadtguerilla und Klassenkampf«, in: Informationsdienst (Hg.): Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 112-144.

86 Nur leicht umgestellt aus Ulrike Meinhof: »Natürlich kann geschossen werden«, Der Spiegel 25 (1970), S. 74f., S. 75. Harmloser dagegen ist die Rückprojektion von Rudi Dutschkes berühmtem »[Holger], der Kampf geht weiter!« am Grab von Holger Meins im November 1974, das Geissler in den Handlungskontext von Wird Zeit, dass wir leben, WZ 249, versetzt, worauf schon Detlef Grumbach: »Ein Polizist im Widerstand – Bruno Meyer als Vorbild für Leo Kantfisch«, in: Wird Zeit, a.a.O., S. 319-357, S. 334, aufmerksam gemacht hat. Ein Widerhall dann noch in kamalatta, K 27. Kantfisch wird übrigens mit: »Unsern Tod bestimmen wir selbst«, WZ 15, die wiederholte Selbstmordankündigung der Stammheimer 1977 als Ausdruck von Freiheit in den Mund gelegt. In kamalatta wimmelt es von auch weniger bekannten RAF-Zitaten; das »wir werden menschen sein«, K 58, etwa ist aus der Kommandoerklärung der Stockholmer Botschaftsbesetzer vom 24. April 1975, in: Rote Armee Fraktion, a.a.O., S. 193-196, S. 196.

87 Auch noch deutlich unter dem Eindruck der Geiselnahme während der Olympischen Spiele, siehe Deutscher Bundestag, 199. Sitzung, Bonn, Freitag 22. September 1972, S. 11771. Vgl.: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/06/06199.pdf [Zugriff: 13. Juli 2016]

88 Unter Symbol wird im Anschluss an Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 21988, S. 69, eine Bildform verstanden, der, natürlich innerhalb der Fiktion, doch anders als bei reinen Sprachfiguren, ein deutlich empirischer Zug eignet: Handlungen, Gesten, Personen und Gegenstände v.a. sind ›symbolverdächtig‹.

89 Als Protest gegen den Vietnamkrieg – erfährt der Leser erst in kamalatta, K 70.

90 Kerstin Tode hat wie Petra Schelm Friseurin gelernt und hält sich, ebenfalls wie Schelm, um 1970 »in Berlin« auf. Es kommt hinzu, dass Ratjens Firma den Bonnepark neu gestaltet hat: »Für einen, der Deckung sucht, keine Chance«, 13. Tode stirbt in Feindesland.

91 Geissler holte Hoppe Anfang der Siebziger aus der Hamburger Drogenszene und war noch während dessen langjähriger Inhaftierung als Haftbetreuer zugelassen.

92 Eine Adresse in Hamburg-Schenefeld.

93 Narrativ im Sinne von Kurz, a.a.O., S. 50, da sie hier selbständiges Erzählsegment, nicht nur Darbietung eines Gegenstandes o.ä. ist; explikativ, ebd., S. 40f., da »wir alle« vom Gitter und »seiner unumgänglichen Strenge«, 297, geprägt seien, der Sinn dieser Szene also ausdrücklich verallgemeinert wird.

94 Rot fehlt als Farbe der Revolution und des Lebens überhaupt.

95 Grumbach / Geissler, a.a.O., S. 6.

96 Ebd., S. 10.

97 In kamalatta, K 39, 50, 70 u. passim wird Ahlers offenbar für diesen Baron arbeiten.

98 So Hosfeld / Peitsch, a.a.O., S. 126.

99 Besonders von Aussteigern wie Christof Wackernagel: »Christian Geissler: ›Kamalatta. Romantisches Fragment.‹ Politik als Religion«, Basler Zeitung, 5.10.1988; Klaus Jünschke: »›Begreifen, dass Krieg ist, und sich entscheiden‹«, Der Spiegel 12 (1989), S. 234-242.

100 Wend Kässens: »Der Radikale« (Nachruf zum Tod Christian Geisslers), Der Tagesspiegel, 5.9.2008.

101 Es versteht sich, dass die aktuelle Soziologie auf einem weitaus differenzierteren Niveau argumentiert.

102 Grumbach / Geissler, a.a.O., S. 11.

103 Meinhof, a.a.O., S. 75.

104 Grumbach / Geissler, a.a.O., S. 9.

105 Sven Kramer: Die Subversion der Literatur. Christian Geisslers ›kamalatta‹, sein Gesamtwerk und ein Vergleich mit Peter Weiss, Stuttgart 1996, S. 247f., zu den Jean Paul-Allusionen in kamalatta.

106 Jean Paul: »Vorschule der Ästhetik« (1804/12), in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Miller u. Wilhelm Schmidt-Biggemann, München 1959ff., Bd. I/5, S. 7-538, S. 258.

107 Dies notieren bereits Hosfeld / Peitsch, a.a.O., S. 124.

108 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, S. 32.

109 Eine Grundanforderung modernen realistischen Erzählens. Bernd W. Seiler: Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert, Stuttgart 1983, zeigt, dass ab ungefähr 1800 die Ansprüche an Exaktheit von Raum- und Zeitangaben steigen: ›Böhmen am Meer‹ wird vom Leser nicht mehr ertragen.

110 Detlef Grumbach macht darauf aufmerksam, dass man hierin eine Anspielung auf Willi Bredel: Unter Türmen und Masten. Geschichte einer Stadt in Geschichten (1960) erkennen kann. Das freilich hieße auch, dass Geissler damit implizit anzeigt, wie er das Thema angeht.

111 Georg Lukács: »Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik«, in: Ders. / Franz Mehring: Friedrich Nietzsche, Berlin 1957, S. 41-84, S. 58, 71, 76ff. Herausragend während der 1970er als Jahrzehnt des Mythosverbots die Beiträge in Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik 4), München 1971; speziell im ästhetischen Diskurs entspannt sich die Lage erst mit Karl Heinz Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt am Main 1983.

112 Im berühmten »Exkurs I: Odysseus oder Mythos und Aufklärung«, in: Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente« (1944), in: Horkheimer: Gesammelte Schriften Bd. 5, hg. v. Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main, S. 11-290, S. 67-103. Aufschlussreich Jochen Schimmang: Der schöne Vogel Phönix. Erinnerungen eines Dreißigjährigen, Frankfurt am Main 1979, S. 149, 284: Über den bürgerlichen Philosophen Adorno hatte man sich in der K-Gruppe nur ironisch zu äußern, ernsthaftes Studium seiner Schriften war erst möglich, nachdem man der »Organisation« den Rücken gekehrt hatte.

113 Rita Schober: »Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte«, in: Dies. / Winfried Engler (Hg.): 100 Jahre Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte, Tübingen 1995, S. 17-52, S. 40.

114 Semantische Ansätze bei Dragan Stojanovič: Ironie und Bedeutung, Frankfurt am Main 1981; Uwe Japp: Theorie der Ironie, Frankfurt am Main 1983; Ironie als »Rede, die in der Anmut ihrer Faktur sich durchsichtig macht für ein anderes Sagen, das ebensogut an seine Stelle hätte treten können, aber zu seinen Gunsten nicht hat treten wollen« , bei Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt am Main 1989, S. 362.

115 Zum Russlandfeldzug ab 1941: »[U]nd bis aus Maidanek, Treblinka, Auschwitz und Sobibor die warmen Klamotten von Oma Mojens anlangten, war meistens schon wieder Matsch überall, und viele Kollegen schon tot, erst knüppelholzhart dann schwammfaulholzweich, schmeiß ihn weg«, 397, oder wenn in kamalatta, K 537, Proffs erschossene Mutter »vom flur gewischt« wird.

116 Jean Paul, a.a.O., S. 450.

117 Joyce, a.a.O., S. 142.

118 Das meint zumindest Vladimir Nabokov: »James Joyce: ›Ulysses‹«, in: Ders.: Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der europäischen Literatur, hg. v. Fredson Bowers, übers. v. Karl A. Klewer u. Robert A. Russell, Frankfurt am Main 1982, S. 353-452, S. 392.

119 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 650ff.

120 Kalte Zeiten, a.a.O., S. 140.

121 Die Vorgänge v.a. um die erste Fassung von Anfrage hat Michael Töteberg: »Erzählen in Bildern. Nachdenken in Worten. Zur Film- und Fernseharbeit Christian Geisslers«, in Schlachtvieh. Kalte Zeiten, a.a.O., S. 199-245, S. 202ff., rekonstruiert.

122 Kolportiert von Jacques-Benoîst Méchin 1956, vgl. Richard Ellmann: James Joyce (1959), revidierte Ausgabe, übersetzt von Fritz Senn u.a., Frankfurt am Main 1994, S. 773.

123 Grumbach / Geissler, a.a.O., S. 8.

124 Dies vermochte selbst ein so erfahrener Kritiker wie Reinhard Baumgart: »Aus zweiter, heißer Hand. Christian Geissler: ›Kalte Zeiten‹« (1965), in: Ders.: Deutsche Literatur, a.a.O., S. 141-143, S. 142, nicht zu sehen: »Wieder einmal erweist sich, dass Langeweile schlecht nachzuerzählen ist durch Langweile.«

125 Becker, a.a.O., S. 121.

126 Grumbach / Geissler, a.a.O., S. 8.

127 Becker, a.a.O., S. 121.

128 Baier, a.a.O.

129 Högemann-Ledwohn, a.a.O., S. 110.

130 Neumann, a.a.O., S. 144.

131 Kramer, a.a.O., S. 241, an fortgeschrittensten Beispielen aus kamalatta.

132 So treffend Thomas Hoeps: Arbeit am Widerspruch. ›Terrorismus‹ in deutschen Romanen und Erzählungen (1837-1992), Dresden 2001, S. 144.

133 Ahlers bewegt sich offenbar mühsam in den sogenannten »Donnerbüchsen« aus Reichsbahnbestand gen Norden, bis weit in die Siebziger im Regionalverkehr gebräuchlich, doch für Lärm im Innenraum und unkontrollierbare Heizung berüchtigt. In Zeiten von Online-Tickets und ICE-Sprintern mag daran erinnert werden, dass in den Sechzigern das Streckennetz noch keineswegs flächendeckend elektrifiziert war und selbst Dampfloks zum Alltagsbild zählten.

134 Alfred Döblins seit der Auseinandersetzung mit dem Futurismus mehrfach wiederholter Marschbefehl, vgl. nur »Der Bau des epischen Werks« (1929), in ders.: Aufsätze zur Literatur, hg. v. Walter Muschg, Olten 1963, S. 103-132, S. 107, 132.

135 So Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer, Frankfurt am Main, S. 492f., der ihnen mit verblüffender Arroganz den Sinn für Ästhetisches überhaupt abspricht.

136 Manfred Durzak: »Nach der Studentenbewegung: Neue literarische Konzepte und Erzählentwürfe in den siebziger Jahren«, in: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 1994, S. 602-658, S. 624.

137 Kramer, a.a.O., S. 242.

138 Günter Blöcker: »Ein Parsifal der Arbeitswelt«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.1973, zu Wolfgang Hermann Körners Roman Katt im Glück.

139 Kramer, a.a.O., S. 388ff., hat ausführlich die Sicht der historischen Entwicklung, politischer Diskurse, Sprecherpositionen usw. von kamalatta und der Ästhetik des Widerstands kontrastiert.

140 Ausdrücklich Peter Weiss:Notizbücher 1971-1980, Frankfurt am Main 1981, S. 898.

141 Jörg Drews: »›So beginnt die Arbeit, nach Überwindung des alltäglichen Brechreizes.‹ Peter Weiss’ Journal aus dem Jahr 1970: ›Rekonvaleszenz‹«, in: Ders.: Luftgeister und Erdenschwere. Rezensionen zur deutschen Literatur 1967-1999, Frankfurt am Main 1999, S. 170-174, S. 173.

142 Alfred Andersch: »Wie man widersteht. Reichtum und Tiefe von Peter Weiss«, in: Ders.: Öffentlicher Brief an einen sowjetischen Schriftsteller, das Überholte betreffend. Reportagen und Aufsätze, Zürich 1977, S. 143-153, S. 146.

143 Baumgart: »Ein rot geträumtes Leben« (1975), in: Ders.: Deutsche Literatur, a.a.O., S. 319.

144 Weiss, a.a.O., S. 724.

145 Peter Weiss: »Meine Ortschaft« (1964), in: Ders.: Rapporte, Frankfurt am Main 1968, S. 113-124, S. 114.

146 Grumbach / Geissler, a.a.O., S. 5.

147 Ebd., S. 18.

148 Peter Weiss: Notizbücher 1960-1971, Frankfurt am Main 1982, S. 351.

149 Aus dem Nachwort von 1986, in vorliegender Ausgabe S. 472.

150 Die Ausnahme ist natürlich der irritierende Ausbruch in den Konjunktiv Futur I zum Ende des dritten Bandes der Ästhetik des Widerstands.

151 Explizit im Nachwort von 1986 (siehe Anm. 149), in erster Person Plural und als Variation eines RAF-Zitats erkennbar, vgl. »Dem Volk dienen«, a.a.O., S. 113. Kramer, a.a.O., S. 427, hat speziell die Differenz der historischen Perspektive in der Ästhetik des Widerstands und kamalatta benannt – umso bemerkenswerter, als beide Autoren ungefähr zeitgleich zu bekennenden Kommunisten wurden.

152Kalte Zeiten, a.a.O., S. 132, 194.

153 Ebd., S. 188.

154 Noch hier ist die klassen- und bildungsspezifische Zuordnung von Geissler fein differenziert: Ahlers hört den von der Musiktheorie, namentlich Adornos, als Kitschmeister verfemten Tschaikowski, Bantumak hingegen frönt der reinen Lehre, nämlich Bach-Kantaten.

155 Wiederum eine explikative, doch recht intrikate Allegorie, die Stoff genug für eine Seminararbeit abgäbe.

156 Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt am Main 1971, S. 60, 139ff. Kerngedanke ist, dass die »ästhetische Abstraktion«, der Schein, korrumpierbar sei und Missbrauch ermögliche, etwa für Werbung, Design und Ideologie.

157 Ähnlich Kramer, a.a.O., S. 420.

158 Peter Weiss: Notizbücher 1971-1980, a.a.O., S. 756.

159 Insofern ist Högemann-Ledwohns Frage, wohin und mit wem?, a.a.O., S. 116, unbedarft: Natürlich geht Ahlers in Richtung klassenbewusster Zukunft, aber gerade nicht mit den sieben RAF-Mitgliedern, die ihm, höchst doppeldeutig, »schon weit voraus« sind, 468.

160 Kramer, a.a.O., S. 139.

161 Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands II, Frankfurt am Main 1978, S. 312ff.

162Kamalatta, K 53: »lenin und stalin und mao tse tung, büchner, jean paul und melville und conrad, und hikmet und fühmann, weiss und celan. und die texte: raf. und schuberts briefe«; K 378: »bizet«; K 380: »satz eines mozartklavierkonzerts«.

163 Bemerkt nur von Hosfeld / Peitsch, a.a.O., S. 122, 125f.; Kramer, a.a.O., S. 153ff., analysiert ihn in kamalatta.

164 Die Ausnahme ist natürlich Walter Benjamins esoterische Zeitkonzeption, doch hat schon Adorno: »Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹« (1955), in: Ders.: Noten, a.a.O., S. 567-582, S. 579f., seine Umwerbung des materialistischen Lagers als Irrweg des Autoritätsbedürftigen benannt.

165 Auch das Denken der RAF nährt sich wesentlich vom Dezisionismus, vgl. nur »Das Konzept Stadtguerilla« vom April 1971, in: Rote Armee Fraktion, a.a.O., S. 27-48, S. 31: »hier und jetzt Stadtguerilla zu machen«; die Kategorie des ›Sprungs‹ dann explizit in »Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front« vom Mai 1982, a.a.O., S. 291-306, S. 292, 293, 302; »existentielle Tiefe der Kämpfe«, a.a.O., S. 296; »Begriff der Situation«, a.a.O., S. 298. Die strukturelle Analogie zum rechten Dezisionismus der Ernst Jünger, Carl Schmitt usw. bemerkte damals allein Til Schulz: »›Der Kampf als inneres Erlebnis‹. Abenteuer des falschen Bewußtseins«, in: Kursbuch 35 (1974), S. 135-152, S. 141, 146.

Impressum und Copyright

Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2016

www.verbrecherverlag.de

© Verbrecher Verlag 2016
Lektorat: Kristina Wengorz

ISBN Print: 978-3-943167-19-1
eISBN EPUB:  9783957322234
eISBN Mobipocket: 9783957322241

5. Fluchtwege

Er lief durchs Gittertor, hinter die Mauern, unter den Helm mit der Neugier eines hoffnungslosen Mannes, mit der Sicherheit eines Gefangenen, endlich alles in Ordnung, eingesperrt, abgezählt, angezogen, satt gemacht, aufgepasst. Ganz klar, sagte Jürgen und stelzte zutraulich vor zum Hauptfeldwebel, der, noch im Hof draußen, im Schnee, die Stubenbelegung bekanntmachen wollte, »ich geh am besten gleich mit zu Ahlers, den kenn ich«.

Der kleine, bleiche Uniformmann sah von unten her auf Jürgen herab. »Mach dich mal ganz schnell so klein, wie du kannst«, sagte er.

Jürgen lachte verschmitzt, den Trick kannte er vom Konfirmationsunterricht, wenn Rabatz war, und krümmte sich runter über Knie und Stiefel zu einem kantigen Knoten.

»Name!«, rief der Soldat in den Dreck.

»Jürgen Tapp«, kam es gequetscht aus den Wadenmuskeln.

»Meine Herren«, sagte der Soldat, »Herr Tapp sagt mir eben, er kennt hier einen. Aber glauben Sie mir, er täuscht sich. Sie täuschen sich alle. Denn hier, von nun an, kennt erst einmal keiner mehr einen. Bis Sie mich kennen, Ihren Lieblingsausbilder, kennt hier demnächst sogar keiner auch nur noch sich selbst. Sie sehen«, er wies auf den kauernden Jürgen zu seinen Füßen, »wir fangen hier ganz klein an, sozusagen von ganz innen unten aus dem Ei heraus fangen wir an, meine Herren.« Er kippte den runden Jürgen vorsichtig mit dem Knie zur Seite weg in den Dreck, sagte ruhig nach unten: »Nicht aufmachen, Tapp, nicht aufstehen, Sie bleiben ganz klein und rund«, und dann sagte er zu den anderen: »Ganz klein und rund, meine Herren. Und ich werde Sie, das schwöre ich Ihnen, in die engsten, wärmsten Ecken rollen und Sie bebrüten lassen, bis da was Neues ausschlüpft. Und ich sage es Ihnen noch einmal: Sie werden sich nicht wiedererkennen. – Jetzt pass mal auf, Tapp, jetzt sage ich Ei des Kolumbus, und dann rollen Sie sich zurück auf die Hacken, bleiben aber schön klein und krumm und rund dabei, noch ist das Kücken nicht fertig, wir setzen das Ei nur zurück auf die Spitze – klar? Versuchen wirs mal: Ei des Kolumbus!« Jürgen zappelte klamm und immer noch kichernd, Soldatenleben, das schaff ich, zurück in den Hackensitz, den Kopf schon wieder weggekauert zwischen Waden und Knie. Der Soldat freute sich. »Und wer ist hier Ahlers?«

Ahlers hob seinen Arm.

»Vortreten!«

Ahlers trat vor.

»Ei des Kolumbus!«, brüllte der Ausbilder, und, bums, saß Ahlers genauso krumm im nassen Hofasphalt wie Jürgen. Alle lachten, wurden gescheucht, gezählt, abgehakt und auf die verschiedenen Stuben verteilt, und erst als es vierzig Minuten später Tee gab für alle, ging Kolumbus nach draußen in den sanften Schnee zurück und entließ die beiden an ihren neuen Platz.

Ihnen taten die Knochen weh. Ihnen war schwindelig. Jürgen ging im ersten Schreck erst mal weg zum Kotzen. Aber sie hatten die gleiche Stube bekommen, »ganz dufter Typ, irgendwie«, sagte Ahlers, und Jürgen meinte auch, dass man hier ganz gut sehen kann, woran man ist, »besser als draußen, und krummpuckeln musst du da nämlich auch, aber da machen sie Spruch, damit du nichts merkst. Hier nicht. Das finde ich besser.« Er legte sich wieder hin. Ihm war immer noch schlecht. Sein kleines Gesicht war jämmerlich leer und spitz, die Nase ganz weiß, der Mund ohne Lippen, der ganze Mann vollkommen beschämt und atemlos entschlossen. Ahlers sah das, sah sich selber in Jürgens Gesicht, fühlte sich verloren und aufgehoben, hätte jetzt gern mal Jürgen die Hand gegeben, aber vom oberen Bett zum unteren, das war zu weit für bloß einen Arm.

*

Die ersten sechs Wochen waren nichts als Dreck und Geschrei und Erschöpfung, Fressen und Puckeln und falsche Träume, und alles nach Plan. Die Eier bebrüten, nannte Kolumbus das. Es gab noch ein paar andere Unterführer, aber die krähten nur nach, was dieser Oberunterführer auf seinem Mist ihnen vorgesungen hatte. Und immerhin, nichts gegen Kolumbus: Der hatte die niedergemachten Jürgen und Ahlers auf eine Stube entlassen, von Anfang an, Ahlers mit seinem »A« auf die Stube der letzten im Alphabet, der Reihe nach Rainer Sastell, Jürgen Tapp, Volker Trebin, Pit Vreese und Willi Wieland.

Sastell kam von der Schule, Abitur, wollte später mal Lehrer werden, las Heine und Henry Miller. Sein Kopf war etwas zu groß, wirkte aber nicht schwer, eher zu leicht, zu dünn geblasen aus feinem, zerbrechlichem Zeug, »wenn der mal hinfällt, gibts Scherben«, und unterm Schläfenhaar konnte man Adern sehen.

Trebin war der Typ für Mädchen, Pfeifenraucher, schön dickes dunkles Haar, bulliger Kellerbass, konnte Gitarre spielen, war Werkzeugmacher geworden, weil sein Vater das auch war.

Vreese, der Kleinste, sah frech und krank aus, »von dem haben paar Leute schon mal was abgefressen«, rotblondes Krisselhaar, scharf auf Süßkram und Autos, und als Kind ein paar Heime und mit sechzehn schon mal zehn Monate Jugendknast abgesessen, trotzdem: Maschinenschlosser mit Seefahrtsbuch. Und dann Willi Wieland: Schlachthof, ausgelernt, blonde Wolle die Stirn runter fast bis zur platten Nase, war mal Stadtjugendboxmeister gewesen, schön schlauer Kopf, war ein Westernfan und auch ein bedeutender Fresser, konnte indonesisch kochen und kannte am Klosterstern zwei Herrschaftsnutten aus Japan.

Der Typ Wieland kam hier auf Anhieb an, auch beim Chef, Oberleutnant Ratjen, auch bei Kolumbus. Bei dem auch dann noch, als Willi mal gegen den lauthals sagte, »was hier gespielt wird, Leute: Klumbumbus, der männerbrütende Minitruthahn!«

Kolumbus sah auf, Wieland sprang krächzend in Deckung hinter die beiden riesigen Fäuste, der Ausbilder kam an Wielands Platz, Waffenreinigen, nahm das Sturmgewehr auf, sah vom noch nicht ausgebauten Schloss prüfend über Kimme und Korn, richtete aber dabei die Mündung auf Wieland.

»Und wenn Sie jetzt bitte mal den ersten Schuss ganz langsam kommen lassen wollen, Herr Hauptfeld«, sagte Wieland mit seiner eingeklemmten Lachstimme. Kolumbus legte die Waffe zurück und sagte an alle: »Der erste schlüpft schon, meine Herren: Selbsthenker Wieland. Heute Nacht, null Uhr zehn, feldmarschmäßig vor der Kantine, wenn ich bitten darf.«

Von nun an saßen die beiden abends manchmal beim Bier.

»Der ist heiß, der Mann«, sagte Wieland, »von dem hol ich alles.« Und immerhin kam er auch nicht, wie Kolumbus es vorgeschlagen und von ihm gefordert hatte, in die Totschlägersondereinheit nach Hammelburg, sondern stand schon bald mit weißer Hilfskochmütze an der Stabsküchenklappe und sorgte für alle, vor allem für Stube neun. Kolumbus war einverstanden. Ihm brachte Wieland außerplanmäßig morgens zum Wecken Honig in heißer Milch.

Die sechs Leute auf Stube neun waren gewiss nicht von Haus aus ein Freundesclub, oder wie geht das zusammen: Der angefressene Vreese und der schöne Trebin? Hass-Ahlers und der feine Sastell? Selbsthenker Wieland und der freundliche, ratlose Jürgen Tapp? Das geht nicht zusammen und geht nicht, und geht dann am Ende doch, weil über allen für alle gleichzeitig der gleiche Schlag niedergeht, öde und niederträchtig und bis an die Zähne bewaffnet.

»Die Waffen, die haben wir, nicht die«, sagte Ahlers mal in den ersten Wochen, als er dachte, dass er kaputt ist von Hass und Kränkung. Aber Wieland machte darauf nur schlau sein »psst, psst!«, und Sastell sagte: »Die haben nicht nur die Waffen, die haben die Waffen und uns.«

*

Ahlers war trotz solcher Reden auch jetzt noch im Ganzen nicht unglücklich. Sicher, am Anfang der Schock, reglos und krumm in der kalten Nässe des Ankunftstages, und später noch in den ersten Wochen die Schreiereien, der Spott, das Schindludertreiben, das Strafenandrohen und Stubengedrängel, das waren für ihn keine Kleinigkeiten. Aber alles hier, selbst das Gemeinste, rutschte und bröckelte schließlich doch weg in einen von ihm bisher nicht durchschauten Ordnungs- und Sicherheitsraster, den er mit sich schleppte wie jeder, nur nicht Sastell vielleicht, und der ihm nach und nach den Unsinn zur Einsicht ordnen half, zu der Einsicht, dass das alles am Ende doch hinkommt zu seinen Gunsten: Die Schreierei lässt nach, wenn man gehorcht. Schindluder kann nur werden, wer sich querstellt, wie damals die kleine Sau an jenem schönen Herbsttag im Schlachthof, Messer auf Stich, Knochen brechen, Blut kotzen. Strafenandrohen läuft nicht bei einem, der seine Pflicht tut. Und das Stubengedrängel, »na gut, denn wann hast du sonst so Kollegen für jeden Tag, und auch abends, wenn alles mal Hund ist, und du kannst dich beraten, sind alle gleich. Alle gleich unten im Dreck, das ist klar. Aber doch eben alle gleich. Und draußen immer, was ist denn? Draußen stehst du meist nämlich immer allein da, kein Flachs. Nur mal zum Beispiel Willi neulich doch auch: Hängst du so irgendwo hinterm Panzer, alles bloß immer warten, und dann mal so reden, was alles so war, und Jürgen sagt, dass sein Alter früher erst immer noch hinter ihm her war, wegen der Mutter, dass er da nicht mehr bleiben soll, und hat wohl auch Schläge gegeben, so einfach von der Schule weg, bis er zu Haus ist, und ist schon immer gerannt jeden Tag, sagt Jürgen. Und Willi sagt: Was denn, Dünnmann? Wenn du damals schon mal bei Wieland gekommen wärst, so wie jetzt, dann stell ich dir gegen den Alten doch leicht meinen Stamm auf die Straße, siehst du. Damals hatte Jürgen nämlich noch keinen Freund gehabt, aber hier jetzt Willi, und all die andern doch auch. Und draußen musst du nämlich nie so zusammenhalten, denkst du, aber hier drinnen. Alles für Hund. Das ist nämlich Kameradschaft.« Zusammen mit jener Einsicht, nach der Gemeinheit auch Nutzen bringen kann und Schwachsinn schließlich auch Fortschritt, bildete sich, nicht nur bei Ahlers, noch ein anderes Hilfsmittel aus: Der stille Stolz von geschundenen Könnern, von Kerlen, die einfach alles aushalten und endlich so die Distanz gewinnen zur übrigen laschen, faulen, verrückten Welt. Endlich? Distanz? Die erste eigene Position, immerhin. Zwar im Nichts, und sicher im Unsinn, aber doch endlich mal deutlich scharf abgesetzt von all dem fesselnden Unsinn draußen. Und mit dieser Gegenposition aus Dreckklamotten, Angstflüchen, verstunkenen Sechs-Mann-Buden, langen Messern und Panzerknall, mit diesem Stück erster, eigener Welt mag es zusammenhängen, dass alle sechs, nicht nur Ahlers, zum ersten Mal anfingen, Briefe zu schreiben. Meistens Briefe an Mädchen und Eltern, aber Ahlers schrieb auch, an Bantumak, Merkatt und Oli. Und wenn man seine Briefe und die der anderen mal durch ein Sieb drücken könnte, dann bliebe im Sieb ein Rest, dann bliebe aus all den Monaten im Sieb der Bodensatz, aus dem sich Grundsätze kleistern lassen, bliebe übrig klumpiges Reden, das in all seiner Unabsichtlichkeit und Gleichgültigkeit und Zufälligkeit und Unschuld und Schläue Licht gibt auf eine Szene, in der Prägungen ausgeteilt werden für später.

Folgt hier also ein Bündel Briefreste aus Stube neun.

»Erst bist du sauer auf alles. Aber dann denkst du, du willst ja nicht immer als letzter bloß hinterherfliegen. Bei manchen läuft alles mit verbundenen Augen, Hitlersäge, vierzig Pfund, am besten die Uzi, die ist ja nun wirklich ganz ideal, und auch das M 1, Karabiner, mit Kerben noch aus Korea, macht nichts, und die Feinde sind immer bloß Russen, auch die Feindmodelle. Und könnten doch auch mal die Amis hier unser Feind sein, sagt neulich einer. Wenn wir mit dem Osten gehn, nur mal angenommen, steht dir der Ami hier doch vor jeder Tür.«

»Am ersten Tag war das hier alles wie Sklavenmarkt, weil die Ausbilder sich aus den Neuen das rausholen können, was sie wollen, und im ersten Zug sind dann immer die ganz schönen Apparate, und im letzten nur Natozwerge, und die schleppst du dann nachts doch alle noch mit, Vreese mit Plattfüßen hängt schon immer gleich hinten im Gurt rein bei mir, und Tapp sein MG, der bricht doch zusammen, der Sack.«

»Auf Befehl und Gehorsam geht bei den meisten hier alles, Heimatschutztruppe doch auch, da werden die Verheizkompanien aufgebaut, strategische Punkte schützen, amerikanische Radarstation, jeden Tag Flaggenparade, zweimal gleich, und die Scheißfahne darf nicht auf den Boden, und immer Hand an die Mütze, auch wir, wenn die hochgeht, egal, wo und wann.«

»Wieviel hops gehn, ist zweitrangig, der Befehlsfluss muss fließen. Das ist immer die einzige Hauptsache, sagen sie. Und dann die Typen mit der weißen Binde, die wiegen aus, je nachdem, wie es kräftemäßig steht, ob wir welche sterben lassen können, um das Gesamtgefüge zu halten. Es wird aber immer so gedreht, dass der Eindruck entsteht, der Feind ist schwächer als wir. Und wenn es nun wirklich mal hart auf hart geht, das zeichnet sich dann dadurch aus, dass der kleine Mann, auch der Unteroffizier und der Kompaniechef nicht mehr wissen, was überhaupt gespielt wird. Dann entsteht Unruhe. Dann werden sie wütend, und irgendeiner muss ja nun auch mal wieder Befehl geben, und da ist aber keiner, und dann fragt man, was soll das Ganze. Und die Leute hängen im Dreck, im Regen, und klappern sich einen ab. Aber damit kommst du auch nicht weiter. Ganz gut, wenn du hart wirst. Das Eigentliche spielt sich nämlich sowieso immer irgendwo auf einer ganz anderen Ebene ab. Da guckt keiner durch, alles klar. Und dann wird eben gewartet, die ganze Nacht, bis Befehl kommt. Eigenmächtig darfst du nicht handeln. Du hast zu gehorchen. Und wenn es nichts zu gehorchen gibt, dann hast du zu warten, oder sie machen Molli mit dir. Neulich doch auch, der eine, Sastell, der hatte noch mal was nachgefasst, sechs Monate Nachschlag, wegen der Mäuse wollte er noch was länger machen beim Bund, sagt er. Und Tapp macht inzwischen so Marketender und Mädchen für alles, und vor der Nachtübung will er schnell noch sein Zeug loswerden, quatscht jeden schnell noch mal an mit Brause und Schokolade und Kaugummi und so. Und Sastl, also der wollte nämlich auch noch studieren, und wollte von Tapp nichts nehmen. Und Jürgen quatscht so lange an ihn hin, bis er was nimmt. Und ich sag noch zu ihm, zu Sastl, nur so aus Quatsch: Das wirst du noch bitter bereuen, dass du den Dreck gekauft hast. Und dann fahrn sie ab, und ich hau mich hin, innendienstkrank, alles in Ordnung. Und dann kommt hier nachts einer an: Sastl ist tot, haben sie überfahren, Panzer, halben Kopf wegrasiert. Und wieso? Weil er draußen zu faul und zu kaputt war, und wollte sein Loch nicht mehr graben wie alle, und hatten wer weiß wie Hunger, und kein Fraß überall, und dann hält er dem Kleinsten die ganze Schokolade hin: Los, kannst du haben, aber buddel für mich das Loch. Und hat sich hingepackt in seinem Schlafsack, nachts im Gelände, obgleich das gar nicht zulässig war. Aber Pit Vreese, der buddelt für Schokolade ja noch ganz andere Löcher, und wenn ich fertig bin, sag ich Bescheid, sagt er zu Sastl. Aber die waren dann mit der komischen Sicherheitsbeleuchtung am Verschieben, und dann haben sie Sastl die Rübe abgefahren, schöner Nachschlag! Und ich sag noch zu ihm, dass er das bitter bereuen wird, das mit der Schokolade. Und stimmt ja auch: Nämlich ohne den Süßkram hätte er Pit Vreese doch nie so weit gekriegt, und dann hätte er selber das Loch gebuddelt und nicht geschlafen und Rübe ab. Alles so wahnsinnig, alles.«

»Neulich doch auch, Kasernenmeisterschaft im Armdrücken, Willi Wieland gegen Thekenreißer, ein alter Inka, ganz stechende braune Augen, hatte kurz vorher in Farmsen wieder ne Theke eingenordet, so nennen das hier die Alten, wenn einer mal richtig hingelangt hat, und die Feldjäger holen ihn hinterher aus dem Schlüpferblock, nebenan die Wohnkaserne, weil er dachte, das wär seine Stube, und sie nehmen ihn in die Schellis, und die reißt er auch noch kaputt, und reißt auch noch eben die Heizung mit aus der Wand, ein Übertier, ohne Flachs, und gegen den macht Wieland sein Armedrücken. Also erst mit der Taste, und dann mit einmal ruckzuck, und da bricht dem anderen der Arm, ganz oben, ganz eben, bloß blubb, fällt der Arm um, und alles gegrölt, und der ist dann gelb geworden, das Tier, Augen verdreht und parterre. Nachher hat die Bude das rüber auf Dienstunfall umgegeigt.«

»Also Einzelkämpfer, ich weiß nicht. Auch nicht für Boxen. In der Küche bist du für Ernstfälle sicherer. Siehst du ja auch an Gulaschrobert. Hast du mitgekriegt, wie der in die Kiste gegangen ist, neulich erst? War schon lange wieder zivil, aber ist noch ganz kernig eingegangen. Muss sich irgendwann mal die Klötzer so tierisch gestoßen haben, Turmspringen oder was machen die. Noch ein Jahr danach war er auf der Rampe, Hakenmann, Schlachthof, Hodenkrebs. Und nicht eine müde Mark dafür, siehst du.«

904. Machen fast alle, nur so, aus Spaß. Aber alles immer Verdacht, ganz klar. Aber andersrum, also mal ohne Ausweis, geht trotzdem alles. Hier bei den Schließ- und Schnarchern kommst du abends noch mit der Speisekarte von Charly durch sämtliche Sperren. Alles bloß Spruch.«