Norbert Seitz
Brief eines Lesers (5)
Wenn selbst der Spiegel damit anfange, »überheblich-intellektuelle Bekenntnisse zum Nichtwählen abzudrucken«, laufe es »doppelt gut für die christdemokratische Schlafwagengesellschaft«. So rüffelt der Sprecher des Berliner Senats, Richard Meng, im Kommentar eines SPD-Parteiblatts das Hamburger Magazin, wo in einem Essay von Harald Welzer das Nichtwählen in höchst fragwürdiger Weise als eine »politische Handlung« beschrieben wird. Der Vorgang ist in der Tat etwas peinlich, denn schon wieder hat sich vor einer Bundestagswahl ein prominenter Alarmist gefunden, der aus weltbewegenden Gründen zur Abstinenz aufruft und von der Wahl eines »kleineren Übels« nichts mehr wissen will. Ebenso überflüssig will uns die Reaktion eines Regierungssprechers vorkommen, der in seiner amtlichen Funktion Journalisten und Redakteuren eher Rede und Antwort zu stehen hätte, statt diese in Zensoren-Manier abzuwatschen.
Für das Kursbuch ist das Spiegel-Dropping erst recht ärgerlich, stand doch der Aufsatz Welzers, auf den hier angespielt wird, in seiner letzten Ausgabe (Nr. 174, S. 31–43). Dabei hat dessen Plädoyer nur wenig Aufrührerisches. Er fügt sich in eine eher bieder trotzige Tradition von nachkriegsdeutscher Ohnemichelei oder innenpolitischem Sonderwegsdenken, wie es nach dem KPD-Verbot 1956, der Enttäuschung über die sozialdemokratische Kurskorrektur des Godesberger Programms 1959 und der Ostermarschbewegung an der Grenze zum politischen Sektierertum üblich war.
Wer mit einem Wahlboykott als einzig verbliebener Alternative kokettiert, bestätigt damit ungewollt das TINA-Prinzip der Kanzlerin– getreu der Devise: »Wer mich nicht wählt, soll lieber gleich zu Hause bleiben«. Dies entspricht der bewährten Unionsstrategie einer »asymmetrischen Demobilisierung«, über »Themenklau« SPD-Wähler in die Wahlenthaltung zu treiben und damit die identitätsverdächtigen Inhalte des politischen Gegners in ihrer Harmlosigkeit vorzuführen. Welzer hin, Merkel her, seit geraumer Zeit gilt: Zur Nichtwahl muss nicht erst aufgerüttelt werden, sie findet im größer werdenden »Prekariat« der Gestrandeten und Hoffnungslosen längst statt.
Der erwähnte Rüffel des Berliner Regierungssprechers macht überdies deutlich, dass die Medienverschwörungstheoretiker bereits zum nächsten Gefecht nach der Bundestagswahl am 22. September rüsten. Denn schon 2009 wurde dem Journalisten Gabor Steingart (Ansichten eines Nichtwählers) und dem Schriftsteller Thomas Brussig unterstellt, eine Negativ-Kampagne gegen das Wählen losgetreten zu haben, um gleichsam schwankende SPD-Anhänger zur Abstinenz zu verleiten und Merkel damit gleichzeitig zur konservativ-liberalen Mehrheit zu verhelfen.
Die Wahlabstinenz wird – wie bei Welzer – auf fehlende problembewusste Inhalte oder einen Mangel an Unterscheidbarkeit der Parteien zurückgeführt. Doch die Demoskopie kann solche Urteile nicht bestätigen: Über 70 Prozent bringen etwa– laut infratest dimap– die derzeit miesen Werte der SPD mit deren politischem Personal in Verbindung, während nur 20 Prozent die von Welzer so vermissten Inhalte für ausschlaggebend halten.
Dabei wird ein wichtiges Enttäuschungsmotiv gerne ausgespart– die stupende Lernunfähigkeit der Parteien und ihrer Kader, Misserfolge bei Wahlen aufzuarbeiten, was für sich betrachtet schon einer Missachtung des Wählers gleichkommt. Dass die SPD bei ihrem 23-Prozent-Debakel 2009 mehr Stammwähler an Union und Liberale verlor als an die Linkspartei, »spielte merkwürdigerweise in der Aufarbeitung des Wahlergebnisses weder in den Medien noch in den Parteigremien eine wesentliche Rolle«, wundert sich Julian Nida-Rümelin im letzten Kursbuch. Offenbar standen die demoskopischen Werte quer zu den identitätsverbürgenden Dolchstoßlegenden der Agenda-Gegner. Das Heft 174 (Richtig wählen) lässt sich von alldem nicht kirre machen und fächert genügend plausible Gründe auf, weshalb es noch immer ernsthaft infrage kommt, wählen zu gehen, statt »intellektuell-überheblich« den Wahlzettel zu zerreißen und sich damit noch in einer Art Retterpose zu brüsten.
Da das Blatt sich in wohltuender Weise nicht mit der Pflege einer avantgardistischen Tradition aufbläst, vermeidet es auch jeden Anflug von Kampagne, auch nicht jener der üblich staatstragenden Art, auf jeden Fall wählen gehen zu sollen, getreu der biografisch verständlichen Maxime unseres Bürgerrechtlers im Bellevue: »Wir haben immer eine Wahl.«
Was da fehlt? Zum Beispiel ein analytischer Blick auf das zusehend wahlentscheidende Segment der unentschlossenen Spätentscheider und hernach doch Daheimgebliebenen. Außerdem: Warum wecken offenbar nur noch das Ausmaß des Merkel-Triumphes und die dramatischen innerparteilichen Konsequenzen im Falle eines weiteren SPD-Debakels Interesse und Neugier? Will sagen, das eigentliche Event wird erst hinterher erwartet, was die Blattmacher des neuen Kursbuch natürlich auch als eine kleine Bestätigung erfahren könnten, haben sie doch »die Krise der Parteien« im Auftaktheft 170 »geradezu als einen Demokratiegenerator« – so bei Jasmin Siri – herausgestellt.
Die »Kultur der Gelassenheit« ist als Gründungsbotschaft des neuen Kursbuchs von Armin Nassehi beschworen worden: »die Dinge erst mal sprechen und aufeinander beziehen zu lassen«. Dafür brauche man »Platz, Raum und Zeit« und vielleicht auch mal »schwierige Sätze«, wie beispielsweise jene Hammerparolen im letzten Heft: »Nichtwähler bilden den Brutkasten für die nächste Diktatur« (Felix W. Weyh) oder »Lynchjustiz ist vollendete Partizipation« (Armin Nassehi).
Doch wer unseren täglichen Alarmismus mit fast schon spielerischer Gelassenheit abtropfen lassen möchte, läuft stets Gefahr, der Abgehobenheit oder Beliebigkeit verdächtigt zu werden. Dies gilt erst recht für die stilisierte Neigung, der Permanenz von Schreckensnachrichten und Untergangsszenarien mit provokanten Bekenntnissen wie jenem, Krisen lieben zu können – so ein früherer Hefttitel –, widerstehen zu wollen.
Intellektuelle Köpfe nach legitimen Gründen Ausschau halten zu lassen, die für die Wahl etablierter Parteien (noch) sprechen könnten, mag als staatserhaltende Idee ganz gut wirken. Von einem »Spagat zwischen kritischer Distanz und solidarischer Nähe« sollte man freilich mehr erwarten. Den empfohlenen Parteien wäre weiß Gott etwas mehr zuzumuten, als ihnen nur die hehren programmatischen Ideale ins Gedächtnis zu rufen. Denn im Grunde müssten sich doch fast alle Parteien neu formieren, um nicht zu sagen neu erfinden, da sie mit ihren alten Formaten den Herausforderungen der globalisierten Welt gegenüber eher hilflos erscheinen.
Dies setzte einen Mut zur intellektuellen Zuspitzung voraus, der nicht die Sache von Enzensbergers Blattenkeln ist. So bleibt denn auch der Leser mit einem eigentümlichen Gefühl an souverän bewältigter Leere zurück. Schade, dass auch das intellektuelle Wahlkampf-Highlight schlechthin nicht gestreift wurde: Die letzte Hoffnung des fast entmutigten Sozialphilosophen Jürgen Habermas auf ein wachrüttelndes Wahlergebnis der trotzigen Anti-EU-Recken von der »Alternative für Deutschland«. Eine Art »Sonthofen-Strategie« von links – bestehend aus der vagen Aussicht, durch die Nacht populistischer EU-Gegner doch noch zum Licht eines nach wie vor visionär gedachten Europa zu gelangen.