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KARL BRUCKMAIER

THE STORY of POP

I wanna be white
Miles Davis

Im Andenken an

Ingeborg Schober (1947–2010)

Kevin Coyne (1944–2004)

Amiri Baraka (1934–2014)

GENESIS

Am Anfang war das Wort. Vielleicht war das Wort nur ein Laut, und irgendwann erhielt der Laut einen Rhythmus. Umba Umba. Das Wort, das da aus dem Mund eines Menschen kommt, gesungen oder gesprochen, es ist im Moment seiner Wortwerdung: Vergangenheit. Es kann in Gegenwart und Zukunft Wirkung entfalten – erfreuen, trösten, verletzen, töten, Unsterblichkeit erlangen – doch recht eigentlich ist es die Erinnerung an das Wort durch ein Gegenüber, das ihm Dauer verleiht. Und Macht. Deshalb bannen die Mächtigen das Wort auf Tontafeln, in Stein und auf Papyrus. Als Zeichen oder Buchstaben. Als Rhythmus. Sie bannen seine Flüchtigkeit und können es daher durch die Zeit reisen lassen. Oder an entlegenste Orte. Als die Maschine beginnt, diese Zeichen oder Buchstaben zu vervielfältigen, beginnt die Macht zu schwinden. Und als die Maschine die Worte mit der Stimme des Sprechenden hörbar machen kann, »Mary had a little lamb«, als sie die Stimme des Sprechenden vom Körper trennt, von Zeit und Raum, löst sich die Macht über das Wort langsam in nichts auf. Die Maschine ist nur ein mechanisches Ohr und hat bloß eine mechanische Zunge. Aber die Worte und die Stimme erscheinen echt. Echt und banal. Nur die Gefühle, welche die Stimmen aus der Maschine auslösen, scheinen noch echter, noch banaler. Zuerst kommen die Menschen zur Maschine, um ihr zuzuhören. Dann kommt die Maschine zu den Menschen. Die Maschine singt von dem, was Menschen fühlen und denken. Der Mensch fühlt und denkt schließlich, was die Maschine für ihn singt. Die Maschine hört irgendwann auf, ein mechanisches Ohr zu sein. Sie ist nun ein elektronisches Ohr. Und ihr züngelndes Maul frisst Kreide, wird besser als echt. Ihre Stimme kommt über undenkbare Weiten zu den Menschen. Die Stimme träumt für die Menschen. Sie erzählt ihnen vom Glück. Sie erzählt ihnen vom Aufstieg. Sie erzählt von verbotenen Genüssen und vergessenen Lüsten. Immer öfter, immer länger. Von links und von rechts. Dann wird die Maschine zum Auge. Die Maschine wird zum Hirn. Die Maschine wird zum Arschloch. Und hätten wir die Trommel nicht, sie würde uns zuscheißen ohne Ende.

Alles, was man erfindet, ist wahr

VORWORT

Sie können mich nachts um halb drei aufwecken und nach dem zweiten Vornamen von Prince fragen, und ich werde Ihnen kurz zeigen, wo das Nachschlagewerk steht, in dem Sie bitte selber nachschauen können, oder wie man meinen Rechner hochfährt. Dann werde ich mich umdrehen und weiterschlafen, vielleicht vom ersten Prince-Konzert träumen, das ich gesehen habe, irgendwann vor hundert Jahren in Frankfurt am Main, und am nächsten Morgen fällt mir vermutlich ein – oder auch nicht –, dass Prince mit vollem Namen Prince Rogers Nelson heißt und sein Vater ein Jazzmusiker war.

Und schon habe ich es wieder vergessen. Denn die Geschichte der Popmusik setzt sich nicht zusammen aus dem Wissen, wer 1972 bei Jethro Tull Bass gespielt und wer wann die erste House-Maxi veröffentlicht hat. Die Geschichte der Popmusik stellt für mich ein seit Jahrhunderten aufgeführtes Drama dar, das uns von einem bestimmten Typus Mensch erzählt, von seinen Lebensumständen, von seinen Träumen, von seinen politischen Ansichten und von seinen Unzulänglichkeiten. Ein Drama braucht einen Chor. Vielstimmig muss die Erzählung sein. Und im Rhythmus.

Die Geschichte der Popmusik ist ein Geräusch. Ein Schaben und Kratzen. Ein Jaulen und Heulen und Zähneknirschen. Ein Trommelruf. Die Geschichte der Popmusik braucht Schurken und Helden und ein gewisses Maß an Widersprüchlichkeit, sonst könnte man auch ein Sudoku lösen. Die Geschichte der Popmusik wird nacherzählt, seit Menschen den Verdacht haben, dass hinter drei Minuten Rumgehopse mit Musik mehr stecken könnte, als die fünf Sinne im ersten Moment wahrzunehmen in der Lage sind.

Auch dieses Buch ist eine Nacherzählung. Nichts darin erhebt den Anspruch auf Originalität, ja nicht einmal auf nachprüfbare Richtigkeit. Es geht um Lesen, Hören und Sagen und nicht um einen Doktorgrad. Zur Hölle mit Fußnoten, nieder mit Literaturlisten. Ich will ja keine gute Zensur von Ihnen, sondern lade Sie ein, neben mir auf der Terrasse eines Hauses in der Bretagne Platz zu nehmen, wo ein Gutteil dieses Buchs geschrieben worden ist. Ich möchte, dass Sie sich ein Bier oder ein Glas Wein einschenken und sich von mir zutexten lassen mit Geschichten über ein Gebiet, auf dem ich mich offenbar so gut auskenne, dass Menschen dafür Geld bezahlen, damit ich für ihre Zeitung schreibe oder in ihren Radiosendern Platten auflege – ein paar Textstellen wird der geneigte Leser oder Hörer auch wiedererkennen: Copy & Paste.

Selber hatte ich einst das Glück, genau so einem Labersack über den Weg zu laufen, als mein Interesse an Pop durch den Kauf eines ersten Kassettenrekorders geweckt war. Ich bekam irgendwie Awopbopaloobop Alopbamboom von Nik Cohn in die Hände, das meiner Meinung nach beste Buch über Pop, das je geschrieben worden ist, und auf jeden Fall das beste Buch, das Nik Cohn je geschrieben hat – ich leide mich durch alle seine seit damals publizierten Bücher, so wie man einem alten Freund eben die Treue hält, und weiß zumindest in seinem Fall, wovon ich rede. Nik Cohn schafft es, ein Maß an Hysterie und gleichzeitiger Ernsthaftigkeit zu entfalten, dass es sowohl dem bei Little Richard geborgten Titel gerecht wird als auch meinem damaligen ehrfürchtigen Interesse an dieser Musik, so dass mir dies eine Weile der einzige Weg schien, sich adäquat über Pop zu äußern.

Ich las in dem Buch, als ich auf meine theoretische Führerscheinprüfung gewartet habe, und ein Mädchen, das neben mir saß, fragte mich, warum. Vermutlich sind die zigtausend Club-16-, Zündfunk- und Nachtmix-Sendungen, all die Artikel und Bücher ein einziger Versuch, dem Mädchen eine Antwort zu geben. »My life was saved by rock’n’roll.« Aber warum? Ihr Ton war ein wenig verständnislos, ein wenig fassungslos, auf jedenfalls geringschätzig, und ich spürte an den drei, vier dürren Wörtern aus ihrem Mund, dass ich soeben und auf immer aus der engeren Wahl als ihr Lebensabschnittspartner hinausgepurzelt war. Nicht dass ich ein Interesse an einem Platz auf dieser Shortlist gehabt hätte.

Als es sich ergab, dass ich mit Schreiben über Pop Geld verdienen konnte, wollte ich jedenfalls auch so cool und trotzdem enthusiastisch schreiben wie Nik Cohn, so visionär wie Greil Marcus, so schlecht aufgelegt wie Lester Bangs. Und noch ein paar Dinge und Menschen mehr. Aufgeregt hat mich stets das Theorie-Herrenmenschentum, das sich im Pop ab 1980 leider breitgemacht hat, dieses Post-irgendwas-Gezeter, dieses K-Gruppentum, dieses Protzen mit französischer Philosophie und afroamerikanischem »Je ne sais quoi« und dieses Etwas, das sich widerlicherweise Pop-Stalinismus genannt hat. Ich wollte immer so einfach wie möglich schwierige Zusammenhänge oder Gefühlszustände benennen, und das ist wahrlich nicht immer geglückt, aber manchmal dann doch und damit sind wir wieder bei diesem Buch. Das hat sich ganz unerwünscht in mein Leben gedrängelt und es in mehr als einem Sinn bereichert. Es hat mich erneut unendlich neugierig gemacht und sich wie von selbst geschrieben. Weil ich mich habe treiben lassen. Es gab kein Ziel, keine letzte Weisheit, auf das es zusteuern konnte. Es fängt einfach an und hört einfach auf. Und doch, wie Peter Weiss so unnachahmlich überleitet, wenn er auf dialektischen Granit beißt: Und doch – gutes Schreiben über Pop gibt es auch für den Leser nicht umsonst oder zum offiziellen Listenpreis. Ein bisschen muss man sich schon anstrengen, ein bisschen was muss man mitbringen, ein bisschen was muss man sich bieten lassen, und wenn man dies nicht will oder kann, dann muss man so selbstsicher sein zu sagen: »I take it like a shower!«

Ich hoffe, Sie sind jemand, der nicht unbedingt hören und lesen will, was er schon kennt, weiß und billigt. Ich hoffe, Sie lassen sich von mir irritieren und inspirieren. No guru, no method, no teacher, wie der große Mann sagt. Keine Gewissheiten. Nur ein paar Vermutungen. Ein paar Gedankensprünge und Andeutungen. Und ein wenig Delirium. Womit wir bei den wunderbaren Bildern sind, die der Fotograf Olaf Unverzart aus seinem Kosmos beigesteuert hat, für mich die idealtypische visuelle Antwort auf meine Art zu texten. Ich bin ihm unendlich dankbar, dass er diese Ansichten von der Welt mit Ihnen und mir teilen mag. Obwohl er den Buben gar nicht gekannt hat, wie Karl Valentin in anderem Zusammenhang so unübertroffen anmerkt.

Dazu noch eine Geschichte über Black Sabbath. Bei einer ihrer Tourneen traten kleinwüchsige Menschen mit auf. Einer dieser Bühnenzwerge war ein rechter Säufer, der jede Gelegenheit genutzt haben soll, sich abzuseilen und sich in einem Pub seiner Trunksucht hinzugeben. Als er wieder einmal fehlte, machte sich ein muskelbepackter Roadie missmutig auf die Suche nach ihm, fand ihn in einem Pub, packte ihn, schulterte ihn und trug ihn zurück zum Tourbus, wo er ihn der Einfachheit halber in ein Gepäcknetz schmiss, damit er bis zum Abend seinen Rausch ausschlafen konnte. Eine resolute Dame mit Regenschirm beobachtete diese Szene, war empört, verschaffte sich Zutritt zum Bus und begann auf den verdutzten Roadie einzuschlagen und ihn auszuschimpfen, bis der sein Tun mit dem legendären Satz rechtfertigte: »Stop it! This is my fucking dwarf.« Und aus dem Gepäcknetz tönte es bestätigend: »Yes, I’m his fucking dwarf!« Und dieses Buch hier ist mein »fucking dwarf«. Und damit zu Ziryab.

Blackbird singing in the dead of night …

1 ZIRYAB

Er ist der Herr über zehntausend Lieder. Ziryab. Ziryab heißt Amsel; pájaro negro nennen ihn die Spanier. Denn Ziryab ist schwarz. Seine Kunst hat einst wohl den Neid seines Mentors erregt und dieser, Ishaq al-Mawsili, sorgte dafür, dass Ziryab bei Hofe in Ungnade fiel. Oder war es wie in der allerersten Erzählung aus Tausendundeiner Nacht? Schließlich befinden wir uns gerade in Bagdad und auch noch in den Zeiten kurz nach dem Ableben Harun al-Rashids: Ein Herrscher hatte etwas vergessen daheim und kehrte überraschend um. »Da fand er seine Gemahlin auf seinem Lager ruhend, wie sie einen hergelaufenen Schwarzen umschlungen hielt.« In der Geschichte wird dem Schwarzen der Kopf abgeschlagen, was sonst, aber dies ist die Version der Geschichte, die der Gehörnte erzählt. Vielleicht ist der schwarze Vogel ja ausgeflogen, über Syrien und Tunesien bis ans Ende der bekannten Welt, wo die örtlichen maurischen Herrscher in der Minderheit leben zwischen Christen und Juden, nach el-Andalus. Und wo man Bagdad in alter Todfeindschaft verbunden ist.

Der Kalif von Cordoba hat zwar Musiker aus Alexandrien und Medina um sich, aber Ziryab bringt aus Bagdad einen neuen Klang mit, persische Musik, indische Musik, und bald ist ihm der Kalif so verfallen, dass er Ziryab einen eigenen Zugang zu den königlichen Gemächern bauen lässt: Und waren die schwarzen Sänger Bagdads nicht auch ausgebildet als mukhannathun, als Lustknaben? Ziryab jedenfalls wird zu einem frühen Beau Brummel, auch wenn nicht Understatement sein Anliegen ist, sondern Flamboyanz. Dreimal täglich wechselt der Mann von Welt die prächtigen Kleider. Er putzt sich die Zähne und dreht sich die langen Haare zu Locken, die vorne weit in die Stirn fallen und neuerdings mit Duftsalzen gewaschen werden. Man rasiert sich mit einem Mal und betupft sich unter den Armen mit wohlriechendem Öl. Die Mahlzeiten haben plötzlich drei Gänge, und die Getränke werden in Kristallgläsern serviert. Spargel wird zum Statussymbol der feinen Küche und Wein eine lässliche Sünde – wie auch das Schachspiel.

Die arabische Laute wird von Ziryab um eine fünfte Saite ergänzt und nicht mehr mit einem Stück Holz, sondern einem Federkiel gezupft. Für die Frauen eröffnet er einen eigenen Schönheitssalon, und in seiner Musikschule – der ersten in Europa – werden Sklaven wie auch Sklavinnen aufgenommen und unterrichtet, die sich auf ein strenges und körperlich anspruchsvolles Regime einstellen müssen: Orte der Knechtschaft, aber auch mögliche Orte der Freiheit, denn nach den Regeln des Korans dürfen Sklaven nach Erledigung ihrer Pflichten ihr eigenes Geld dazuverdienen, um sich dereinst freikaufen zu können – ein Konzept, das wir tausend Jahre später in den spanischen Kolonien wiederfinden werden.

Zehn leibliche Kinder sollen Ziryab als Botschafter des guten Geschmacks nachgefolgt sein; seine Vorstellung von Musik wird Grundlage sowohl für die Musik Nordafrikas wie auch für die klagenden Gesänge Spaniens und Portugals. »Nicht vor seiner Zeit und nicht nach seiner Zeit«, schreibt sein Bewunderer al-Maqqari, ein arabischer Historiker, fast achthundert Jahre nach Ziryabs Tod, »hat es in seiner Zunft einen gegeben, der mehr geliebt, der mehr bewundert worden wäre.« Rock me, Amadeus.

Enter Blackamoorswith music

2 EL-ANDALUS

Als al-Maqqari sein Buch über den »Wohlgeruch vom Zweig Andalusiens« schreibt, existiert el-Andalus längst nicht mehr. Nur bis 1013 währt die kulturelle und wirtschaftliche Blüte unter den Umayyaden-Herrschern, Ziryabs Zeit, die Ära der Körperlotionen und gezupften Augenbrauen. Dann zerbricht das Kalifat nach einem kurzen und heftigen Bürgerkrieg. Die nun entstehenden Kleinstaaten – Taifas – erweisen sich als zu schwach, um den Galizier und Franken genannten Christen im Norden und Nordwesten der Iberischen Halbinsel ausreichend Widerstand leisten zu können. So holt man 1086 aus dem Maghreb furchteinflößende Glaubensbrüder zu Hilfe, streng und orthodox, die über schwarze Söldnerarmeen aus den Regionen südlich der Sahara gebieten.

Und so kommt auch die Trommel in den Norden, nach Europa, die Trommel, die angeblich mit Menschenblut gefüttert werden muss, mit dem Blut der Erschlagenen, die Trommel, bespannt mit der Haut der unglücklichen Opfer, ein Instrument in Händen dunkelhäutiger Wüteriche, schrecklich laut, schrecklich fremd. Sein Ruf – genau – wie Donnerhall erzeugt beim Frankenheere blanken Terror und lässt die Belagerten hinter den Stadtmauern erbleichen. Die Urangst vor Schwarzafrika schreibt sich so ein in die europäische Kultur. Black dada nihilismus for the umbrella’d jesus.

Doch als die unablässig nach Süden drängenden Christen besiegt sind – 1094 scheint es so weit –, wenden sich die radikalen Islamisten aus dem Maghreb, wie wir sie heute nennen würden, gegen ihre dekadenten Auftraggeber und übernehmen selbst die Macht in Spanien. Es folgen Jahrhunderte der strikten »Taliban«-Herrschaft, endend mit deren Zerfall und einem letzten, glanzvollen Aufflackern islamisch-liberaler Lebensart in den Grenzen Granadas, bis 1492 – ausgerechnet – der letzte der dortigen muslimischen Herrscher vor der spanischen Isabella kapitulieren muss und das Projekt Reconquista – die Rückeroberung Spaniens für den rechten Glauben – abgeschlossen ist.

In allen arabischen Herrschaftsgebieten, einschließlich der heute gerne verklärten Taifas in Spanien, vernutzen die Herrschenden Menschen als Sklaven, und Afrika war die natürliche Quelle für den Rohstoff Mensch. Und mit dem gleichen Eifer, mit dem Arbeitskraft – oder das Talent für Gesang und Musik – aus den Gebieten entlang des Nils und hinüber bis Darfur oder dem Tschad geraubt wird, missionieren die arabischen Sklavenjäger die Gebiete unter ihrem Einfluss. Hauptsächlich Stammesfürsten und Händler ordnen sich der neuen Religion vom einsamen und strengen Wüstengott unter – dasselbe gilt für Südostasien, wo Magellan demnächst auf jeder zweiten Insel auf einen muslimischen Handelsposten treffen wird –, während die einfachen Untertanen noch lange den heimischen Kulten anhängen; selbst im 21. Jahrhundert singt Bassekou Kouyaté, Modernisierer der Griot-Tradition seiner Heimat Mali, nicht zufällig davon – schließlich steht al-Qaida vor Timbuktu –, wie ein regionaler Fürst einst der gewaltsamen Islamisierung Widerstand geleistet hat.

Doch Allah kommt auch auf anderen Wegen ins Land: Ehemalige Sklaven, denen es gelang, sich freizukaufen, kehren oft genug in die alte Heimat zurück, im Gepäck den Koran und – da es sich meist um ausgebildete Sänger, zu alt gewordene Lustknaben, nicht mehr ganz taufrische Sängerinnen handeln mochte – die Musik aus dem Norden, die lüsternen Minnelieder ebenso wie die klagenden Rufe des Muezzins, und diese vermischt sich mit den Liedern der Wüste und den Zwiegesprächen der Trommeln, die Händler aus dem Süden mitbringen, mit dem Geklöppel der Kalebassen und dem Schnalzen der Fingerklaviere und den treibenden Rhythmen der Ngoni. Und eins ist sowohl der polyrhythmischen Trommelmusik der Wälder im Süden wie der monorhythmischen, auf Saiteninstrumente vertrauenden Musik der Araber gemein: Im Vergleich zur griechisch-byzantinisch geprägten Musik Europas erscheint sie hot, red hot: Von dirty dancing ist die Rede, von vorschnellenden Hüften, von kreisenden Becken, von sich öffnenden Schenkeln und einem Auf und Ab, das in Trance versetzt.

George Antheil fasst sich fast fünfhundert Jahre nach der Reconquista beim bloßen Gedanken daran immer noch aufgeregt in den Schritt: »Die Negermusik, wie der Neger selbst, hat Jahrmillionen unter entsetzlichster Hitze zugebracht; sie ist daher zu einem funkelnden Diamanten verbacken, schrecklich hart und schrecklich schön.« 1529 listet Martin Agricola sämtliche in Europa gebräuchlichen Instrumente auf. Von der Trommel ist allerdings nicht die Rede. 1540 lässt sich schließlich das Wort »drum« im Englischen nachweisen, und Europa registriert die Präsenz des Mohren, seinen Rhythmus; wir ahnen die Herkunft des Morris-Tanzes in Großbritannien ebenso wie die der Moriskentänzer des süddeutschen Bildhauers Erasmus Grasser. Shakespeare schreibt in seine Regieanweisung zu Love’s Labour’s Lost: »Enter Blackamoors with music«. Und deren Musik muss eben anders, vitaler, wilder gewesen sein als die Schellen und Tamburine der Söldner, die Flöten der Bauern oder die Vokalmusik der Gregorianik, sie erobert bald zaghaft zuckend und zappelig die Tanzböden des Kontinents als Chaconne und Sarabande. Als solche wird sie bald wieder in der Karibik mit afrikanischer Musik kollidieren, dadurch für ein erstes transatlantisches Feedback sorgen und bis heute im »französischen Getrommel«, der Tumba Francesa, nachhallen, einer ursprünglich haitianischen Musiziertradition, die im abgelegenen Osten Kubas die Zeitläufte überdauert hat.

Und haben wir hier nicht schon einen ersten Fingerzeig für die Grundbedingungen von Pop? Europa plus Afrika plus ein unerwartet sich öffnender Freiraum am anderen Ende der Welt? Denn weit jenseits des Meeres und der Zeit warten die Taifas der Neuen Welt. Das maurische Hybrid als erster Testlauf für eine Zukunft, die unsere Gegenwart ist. Der Mohr fängt an, seine Schuldigkeit zu tun.

Motherless children have a hard time

3 BLACK IVORY

Etwas verkürzt gesagt darf ein Christ nicht Sklave eines Christen sein. Alles Weitere regelt ein Bundesgesetz. Oder das Naturrecht. So kann man davon ausgehen, dass zu Zeiten der Reconquista in großen Teilen Europas nur etwa drei Prozent der Gesamtbevölkerung Sklavenstatus haben. Dazu herrscht allerdings von den Pyrenäen bis zum Ural Leibeigenschaft, die durchaus Züge von Sklaverei tragen kann. Aber der Handel mit Menschen über große Entfernungen hinweg setzt erst ein, als die Portugiesen – abgeschnitten von Resteuropa durch das mächtige Kastilien, an den Rand gedrückt, vergessen – damit beginnen, ihre Schiffe nach Süden zu schicken, die Küste Marokkos und Mauretaniens entlang, wo die Sklaverei erst 1981 offiziell abgeschafft wird.

1442 trifft dort ein ungenannter Kapitän auf das Geschäftsmodell seines Lebens. Er nimmt an der Küste einige Mauren gefangen, von denen einer sich als Adeliger zu erkennen gibt und im Tausch gegen die eigene Freiheit zehn andere Gefangene bietet. Innerhalb kürzester Zeit beginnt die in Konstantinopel und auf den Kreuzzügen gedemütigte Christenheit in Gestalt der portugiesischen Krone im Hinterhof des muselmanischen Reiches zu wildern – genau nach dem 1442 entdeckten Prinzip: Die Dorfvorsteher oder Häuptlinge der Küstenregion liefern Sklaven aus dem Landesinneren und werden dafür von den Portugiesen – später von Dänen, Brandenburgern, Holländern, Franzosen oder Engländern – bezahlt und in Ruhe gelassen. Manch afrikanischer Regent wird jährlich bis zu 250 000 Pfund Sterling für seine Sklaventransaktionen erhalten, mehr als ein britischer Vizekönig. Geld, mit dem sich Terrorregime aufbauen und erhalten lassen, von denen einst keine Rede sein kann und darf, wenn Black beautiful sein wird und Afrika eine große Mutter. Und der König von Portugal nimmt 1466 bereits mehr Geld durch Sklavenhandel ein als durch sämtliche Steuern aus seinem Reich. Alle sind’s zufrieden.

Da unter dem Blätterdach der Wälder am Kongo eine andere Zeitrechnung gilt – »Da mag ein Jahr noch als Jahrhundert fast gegolten haben« –, wird sich die folgende Szene aus dem Jahr 1883 auch Jahrhunderte vorher genauso abgespielt haben: »Während wir fröhlich mit Wasser spritzten und meine Tante Schlaflieder für ihr Baby sang, weil es weinte, umzingelten uns die Batambatamba. Plötzlich hörten wir einen Schrei: ›Hilfe! Hilfe! Die Krieger überfallen mich!‹ Wir verließen Hals über Kopf den Fluss und sahen, dass meine Tante schon in den Händen der Feinde war. Einer der Räuber riss ihr das Baby aus den Händen und legte es auf die roten Ameisen. Vor Schreck konnte niemand von uns zu ihm. Onkel Akambu und mein kleiner Vetter flohen und versteckten sich im Gebüsch; einer der Männer bemerkte mich, rannte auf mich zu und hielt mich fest.«

Ein Drittel der Gefangenen stirbt bereits während der Gewaltmärsche Richtung Küste, wo überfüllte Pferche oder befestigte Lager auf sie warten wie etwa Elmina, ein mittelalterlich anmutendes Sklaven-KZ vor der Küste Ghanas, bereits 1471 gebaut, also Jahrzehnte bevor Cristoforo Colombo nach Westen aufbricht, um Indien nicht zu finden. Europa entdeckt vor der Neuen Welt einen alten Hunger nach Reichtum durch die Arbeit anderer. Ein Schiffsarzt: »Sobald eine ausreichende Zahl Unglücklicher zusammengetrieben ist, beginnt meine Musterung. Die Starken werden gekauft, die Schwachen – denen Zähne fehlen oder Finger – werden aussortiert. Die Gekauften müssen sich dann niederknien, jeweils zwanzig oder dreißig. Ihre Schulter wird mit Palmöl eingerieben, dann erhalten sie ihr Brandzeichen: CABC (Churfürstlich-Afrikanisch-Brandenburgische Compagnie). Viele gehorchen ihren Oberen widerstandslos und ohne jeden eigenen Willen. Einige brüllen und tanzen, die Weiber schreien so laut, dass die Trommeln das Geheul nicht zu übertönen vermögen.«

Die Trommeln also sind Zeugen. Die Trommeln nehmen die Schreie der Gebrandmarkten in sich auf, während die so Verstümmelten in den Vesten entlang der westafrikanischen Küste an ihrem Verstand zu zweifeln beginnen. Sie sehen Mauern aus Stein. Finstere Gewölbe. Darin Menschen, die nackt übereinanderliegen. Fremde Sprachen. Ehemalige Todfeinde vielleicht, jetzt Opfer wie sie. Dann eine riesige Wasserfläche. Sie sehen weiße Wesen, an Land, in Booten, »vielleicht böse Geister«. Eigentlich sind diese Weißen rot; die versengte Haut hängt ihnen in Fetzen vom Rücken und vom Gesicht. »Ich war mir sicher, ins Reich der Jenseitigen geraten zu sein, die mir ans Leben wollten. Ihre langen Haare, die seltsamen Laute aus ihrem Mund, die unerklärliche Farbe der Haut, dies alles bestärkte meine Vermutung.« Olaudah Equiano, der Sklave, der dies später aufschreiben wird, meint, unter die Teufel gefallen zu sein. Der rote Wein, den diese Teufel trinken, was anderes sollte er sein als Menschenblut! Das kostbare Olivenöl: der Schweiß der Gequälten! Der stinkende Käse auf dem Teller des Anführers: das Gehirn der Sklaven? Wie auch anders? Die Teufel leben in schwimmenden Fässern, haben keine Frauen bei sich, die für sie kochen, keine Bäume, von denen sie ernten können, und kein Land, um darauf nach Nahrung zu suchen. »Als ich mich umblickte und einen großen Kupferkessel erblickte, der auf einem Feuer stand, war ich mir sicher, dass ich gekocht und gefressen werden sollte. Ich stürzte zu Boden und verlor das Bewusstsein aus schierer Angst.« Der gute, alte Missionarswitz mit dem Kochtopf, hier in der Originalfassung. Das Missverständnis als konstituierendes Element jeglicher zwischenmenschlicher Kommunikation. Die Seeleute reichen Olaudah übrigens einen Schnaps, damit er wieder zu sich kommt, »was mich noch mehr verwirrte, weil ich diese Art Rausch noch nie erlebt hatte«.

Die Teufel waren selbst arme Teufel. Ein Großteil der Mannschaften auf Sklavenschiffen ist mit ähnlicher Tücke, die sie den Schwarzen entgegenbringen, in den Hafenstädten Europas geschangheit worden, also gewaltsam an Bord verbracht und zum Dienst gepresst. Ein Fünftel wird die Reise nicht überleben. »Das Recht des Menschen ist’s auf dieser Erden, da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein«, wird Bert Brecht seinen Peachum singen lassen. In Zeiten, als der Mensch nicht nur des Menschen Wolf ist, sondern auch noch Gottes Fußabstreifer, ist Glück keine Kategorie, in der gedacht und gehandelt werden kann. Der »pursuit of happiness«, perfiderweise dereinst von Sklavenhaltern erdacht, ist noch fern, selbst für die Kapitäne der Sklavenschiffe. Die Mühsal, die Verrohung, das Sterben, die Hitze, die Unmenschlichkeit, die Enge an Bord: Nur wenige notorisch gewordene Segler wollen diese sadistische Tour öfter als notwendig auf sich nehmen. Die meisten Kapitäne hören nach vier oder fünf Überfahrten auf und investieren das zugegeben zuhauf verdiente Geld in die Sklavenschiffe anderer. Ein Schiffseigner warnt: »Die Kapitäne und Maate dürfen keine sonderlich empfindsame Natur und keine sonderlich empfindlichen Nasen haben. Mit dieser Art von Fracht muss man am besten von frühauf vertraut sein, sonst erträgt man es nicht. Es ist die pure Niedertracht auf See, die es zu meistern gilt, und eine Schinderei noch dazu.«

Hey ho, let’s go

4 TIEFENLAND

Warum ich das erzähle? Von Schiffen, die gerade mal 30 Meter lang sind und zehn Meter breit und mal 28, mal 280 Tage auf See sein werden, 300 Menschen an Bord? Von einem schwarzen Astronauten namens Sun Ra, der auf dem Saturn geboren wurde und in einem Raumanzug, der dem Outfit eines Hollywood-Pharaonen ähnelt, 1952 auf unserem Planeten landet? Von den Kru, einem Stamm, dessen Angehörige sich an Bord der Sklavenschiffe regelmäßig entweder zu Tode hungern oder an den Sicherheitsnetzen vorbei ins Meer stürzen, bis die Kru schließlich von der Sklavenhatz verschont bleiben? Von Space Oddities und einem Black Atlantic? Von Theo Parrish, Technomusiker aus der melancholischen Industriebrache Detroit, der mit Lenin sagen kann: »Kolonialismus plus Sklaverei plus Industrialisierung plus Kapitalismus ergibt große amerikanische Kunst«? Ein Fakt, der siebzig Jahre vor ihm bereits Zora Neale Hurston, die Queen der Harlem Renaissance, konstatieren ließ: »Die Sklaverei war der Preis für ein zivilisiertes Leben. Habe ich mir nicht ausgesucht, ist aber so.« Schien es ihr beim Schreiben dieser Zeilen einen Moment lang, als packe sie ein Ifrit, ein Wesen aus Rauch und Magie, und wirble sie durch Zeit und Raum? War sie da den Kru näher oder Olaudah Equiano, der notiert: »Ein Seemann ließ mich durch sein Fernrohr blicken, wohl um meine Verwirrung noch zu steigern. Darin verwandelten sich die Wolken in festes Land, das sich ständig aufzulösen und neu zu bilden schien. Nun war ich mir ganz sicher: Ich war in einer anderen Wirklichkeit gelandet und alles um mich herum beruhte auf Zauberei.«

Oder wie Arthur C. Clarke einmal anmerkt, der selbst seine Roboter an Stehpulten stehend Buchhaltung treiben ließ und die dienstbaren Maschinen wohl nur als Blechsklaven sehen konnte: »Jede wirklich fortgeschrittene Technologie wird sich von Zauberei nicht unterscheiden lassen.« Ohne Arthur C. Clarke kein Evernote, mit dem dieses Buch entsteht. Ohne Olaudah Equiano kein Kanye West und kein New Slaves. Ohne Kru keine Rock Steady Crew, kein »It’s like a jungle sometimes, it makes me wonder how I keep from going under«. Kein Bo Diddley und kein Link Wray. Kein Elvis und kein Amiri Baraka, der fragen kann, wer denn dann James Brown sei, wenn Elvis der King ist. Gott vielleicht? Kodwo Eshun spreizt sich in seinen popkulturellen Schriften wie ein Pfau und hält sich deshalb für ein posthumanes Wesen, eine Edelfeder, der Futurhythmaschine entstiegen. Aber sein Statement, dass »Humanismus gesund ist wie Rosenkohl«, gibt nur den Foucault mit einem Beat und ist somit auf demselben Mist gewachsen wie Gustave Flauberts hundert Jahre ältere Äußerung, dass ein Mensch, der keine Sklaven besitzt, dumm sei und es nichts Alberneres gebe als die Gleichheit: nämlich auf dem Mist eines dandyhaften, antibürgerlichen Ennuis, und es ändert nichts an der Tatsache, dass neun oder zwölf oder mehr Millionen Afrikaner unter brutalsten Umständen in eine Wirklichkeitsebene jenseits des genannten Humanismus geschleudert worden sind. Von Menschen. Von Menschen wie uns, von Menschen, die so ganz anders waren als wir – und dass wir bis heute die Auswirkungen davon noch nicht so recht verstehen können, weil die Ungeheuerlichkeit des jahrhundertelangen individuellen Erlebens sich unserer Vorstellungskraft entzieht – auch wenn wir noch so sehr auf die Zahlen, die Augenzeugenberichte und die Forschungsergebnisse starren.

Wir ahnen eher etwas von der nicht-menschlichen Dimension dieser Ausreißung, die einen Schmerzensschrei von ungeheurem Ausmaß provoziert haben muss und dessen Echo wir heute als Musik hören, entsprungen einer von vergangener Zeit verschlungenen Ungeheuerlichkeit wie Athene der väterlichen Großgottstirn. Und wir verstehen umso besser, wenn wir Europas Beitrag zu diesem Gesang kennenlernen, nicht nur den Beitrag als Täter, sondern auch als Opfer, als Mitleidende, als menschliche Wesen. Daher darf für dreißig Silberlinge und ungezählte Einladungen auf Kongresse und Podiumsgespräche den Humanismus nicht so einfach diskreditieren, wer den Blick für die kulturelle und politische Realität auf diesem Planeten schärfen will.

Holen wir aus, lassen wir uns Zeit: Die Trommel muss übers Meer, die Götter der Wälder, die Geister der Ahnen, der Terror der Sandwüsten. Sie werden schon dringend erwartet auf diesem neu entdeckten Kontinent, auf einem neuen Planeten: im Tiefenland.

Achtzig Millionen Jahre vor unserer Zeit bekamen die Raum-Zeit-Ingenieure von einer höheren Lebensform den Auftrag, das Universum (und den ganzen Rest) zu retten, indem sie ein fehlendes Element des so genannten Moralischen Codes, der dieses Universum (und den ganzen Rest) als eine Art ethische DNS durchzieht, ersetzen und damit wieder funktionsfähig machen. Die Raum-Zeit-Ingenieure entwickelten daraufhin einen kosmischen Fladen, der ein ganzes Lichtjahr durchmisst und etwa so dick ist wie der Watzmann hoch. Dieser »Tiefenland« genannte Fladen existiert jenseits der von uns wahrnehmbaren Realität in einem mehrdimensionalen Untergrund und wurde im Lauf der Äonen mit galaktischen Hilfsvölkern besiedelt, deren Aufgabe es ist und war, sich auf diesem Tiefenland gemäß einem bestimmten kulturellen Raster anzuordnen, um ein psychisches Muster zu bilden, das den angeknacksten Moralischen Code in unserem Universum (und dem ganzen Rest) durch eine Art lebendigen Patch reparieren sollte.

Doch wie bei Großprojekten so üblich, lief einiges aus dem Ruder, man kennt das ja: Der Bauplan für diese sinnvolle Anordnung der Völker und Individuen ging verloren und man war gezwungen, »psionisches Roulette« zu spielen, bis Perry Rhodan ein paar Jahrtausende nach unserer Zeitrechnung die Sache in Ordnung bringen wird, nachzulesen im Chronofossilien-Zyklus dieser immer wieder erstaunlichen Heftchenserie aus Rastatt.

Setzen wir nun statt »Tiefenland« das Wort »Amerika« ein, nehmen wir statt 80 Millionen Jahre überschaubarere 500, so erhalten wir freien Blick auf einen durch Genozid und ethnische Säuberungen freigeräumten Kontinent, auf dem seit seiner Neubesiedelung durch Menschen aus Europa, Afrika und Asien ein gigantischer Feldversuch in Sachen Identität abläuft, diverse schwer zu verstehende Experimente der räumlichen und kulturellen Anordnung, ein Tanz über die Jahrhunderte hinweg, der aber in seinem Sosein nicht nur für die Amerikas bedeutsam ist, sondern für unseren gesamten Planeten (und den ganzen Rest). Diese Bedeutsamkeit hat sich Menschen meiner Generation ganz selbstverständlich in die kulturelle DNS eingeschrieben; unsere Herzen flogen gebannt dem ontologisch Guten zu, das dort zu wohnen schien und sich zwar beim Näherkommen als Schein der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki entpuppte, als im Napalm-Glos vergehende Dschungelgebiete, als explodierende Raumfähre und nicht als das nimmermüde Glühen der Fackel in Händen der Freiheitsstatue. Aber war diese widersprüchliche Rezeption nicht bloß ein weiteres jener konstruktiven Missverständnisse, die das Menschliche, das Fortschreitende, das Unaufhaltsame dieser Neuen Welt ausmachen?

Das Freiheitsversprechen, das unser Amerika of the mind abgibt, ist jedenfalls kein antisoziales Desintegrationsprojekt, wie der stutenbissige Diskurs uns im Moment weismachen will. Es wird noch gelebte Realität sein, wenn wir feststellen, dass wir Symposien nicht essen können, auch wenn sie manchen Klugscheißer gut ernähren. America, the Beautiful: Dieser Text will noch einmal dieses Lied singen, gerade weil sich Amerika zum wiederholten Male selbst verliert, verirrt, weil es vergessen zu haben scheint, dass es am meisten bei sich ist, wenn es außer sich gerät.

At the bottom of the Atlantic Ocean there’s a railroad made of human bones

5 DIE MITTELPASSAGE

Ein Dreieck, ganz unschuldig und schnell hingekritzelt auf eine Seekarte: In Europa – zuerst nur in Portugal, später hauptsächlich in Großbritannien – rüsten Schiffseigner billig erstandene Prisenschiffe für eine manchmal mehrjährige Reise gen Süden aus und füllen die Schiffe mit Stoffen, Eisenbarren, Werkzeug, Tand. Der erste Schenkel. Mit diesen Waren werden in Westafrika in eigens gegründeten Niederlassungen oder bei lokalen Stammesgrößen Menschen gekauft und verladen für die Reise über den Atlantik, nach Brasilien, in die Karibik, in die Vereinigten Staaten: das ist der zweite Schenkel dieses gewinnbringenden Dreiecks, die so genannte Mittelpassage. Und nach dem Verkauf der Sklaven füllt man die Schiffe mit Rohstoffen aus der Neuen Welt – Zucker, Indigo, Baumwolle – und segelt zurück nach Europa: der dritte und letzte Schenkel des Dreiecks. Besonders apart: Der im wahrsten Wortsinne dunkle Teil der Transaktionen bleibt für Europa unsichtbar. Gar nicht wahr. Halb so schlimm. 1780, also Sekunden vor der Französischen Revolution, schicken die reichen Damen von Nantes ihre Wäsche zum Waschen nach Haiti, denn das Weiß von dort: unübertroffen.

Haiti, die Hölle. Frankreichs Schande. Sadistische Drittgeborene adliger Familien und auf Vergewaltigung und Qual spezialisierte Verwalter als unkontrollierte Gebieter über Leben, Sex und Tod. Zuckerrohr. Hitze. Fieber. Ausreichende Ernährung, Kleidung und Unterbringung der Sklaven wird angesichts der Mortalitätsrate in den Zuckerrohrfeldern und Raffinerien als unnötig erachtet; die industrielle Vernutzung von Leben wie dereinst in den deutschen KZs wird hier schon als feudale Farce vorweggenommen und in ständigen Sklavenaufständen mit ebenfalls entmenschter Grausamkeit beantwortet.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? 1790 werden die Kolonien von der Menschenrechtsdeklaration ausdrücklich ausgenommen. Der ehemalige Sklave und von Frankreichs Jakobinern inspirierte Führer der haitianischen Rebellion Toussaint Louverture wird 1802 von Napoleons Expeditionskorps gefangen genommen und stirbt 1803 in einem französischen Gefängnis infolge der unmenschlichen Haftbedingungen. Trotzdem wird Haiti 1804 der erste freie schwarze Staat auf amerikanischem Boden, aber es scheint irgendwie, als sei Haiti bis heute ein verfluchter Flecken Erde. Zu viel Blut. Zu viel Tod. Zu viel Angst. Voudon. Religion der Angst. Projektionsfläche für den Wunsch europäischer Intellektueller nach etwas kontrollierbarer Besessenheit. Kleine Trommel. Große Trommel. Böse Trommel. Jene Trommel, die bei der Brandmarkung dabei war. Die Trommel, welche die Mittelpassage mitmachen musste. »Wir nahmen auch jedes Mal Trommeln mit an Bord und die Sklaven durften an bestimmten Stellen an Deck tanzen und singen, jeweils eine kleine Gruppe.« Sie singen: »Bald, sehr bald schon sind wir in einem anderen Land. Und nur auf der Straße, die Gott uns weist, finden wir zurück nach Hause. Weggehen heißt ja nicht: vergessen.« Sie singen dieses Lied für Eleggua oder Legba, den, der den Weg weist. Und dieser Weg kann auch der Selbstmord sein, ein Hinübergehen in die Welt der Ahnen.

Doch die weißen Gespenster wissen sich zu helfen: »Den Tänzern und den Musikern, welche die beiden Trommeln schlugen, winkte ein Schluck Schnaps oder Kautabak oder ein kleines Stück Fleisch. Viele konnten dem nicht widerstehen.« Wir ahnen den Widerspruch zwischen der Todessehnsucht, wenn man eingepfercht unter Deck liegt, im Gestank der Kloaken und der eitrigen Wunden, des Schweißes und des Erbrochenen, und den kurzen, scharf bewachten Minuten Freigang an frischer Seeluft: Gesang, Tanz, Bewegung. »Und wenn wir abends ein wenig Lust auf Geselligkeit hatten, holten wir einige Sklaven an Deck und ließen sie zum Knall unserer Peitschen tanzen und springen, während einige von uns Dudelsack, Mundharmonika und Fiedel spielten.«

Hier lernen sich Trommel und schottischer Reel ein erstes Mal kennen; man beschnüffelt sich, staunt über den anderen. »Und die drallen jungen Mädchen verhalfen uns in den Abendstunden zu einiger Zerstreuung.« Noch bevor die männlichen von den weiblichen Sklaven getrennt werden, weil die Frauen oft genug die Männer zur Revolte anstacheln, können sich Offiziere und Mannschaften bis zu vier Gespielinnen für die Überfahrt herauspicken – außer der Kapitän ist über die Maßen religiös oder ein verkappter Menschenfreund. Der systematische Missbrauch schwarzer Frauen und die bewusste »Aufhellung« der schwarzen Ware beginnt also bereits an Bord der ersten Sklavenschiffe, wogegen die in einem kulturellen Automatismus bis heute unterstellte besondere Begabung von Menschen afrikanischer Abstammung für Gesang und Tanz zu einem guten Teil auf dem Terror der Bewacher beruhen mag: »Wer sich weigerte zu singen, der bekam die Peitsche zu spüren und dann sang er schon.«

Auf den Plantagen findet diese Nötigung ihre Fortsetzung – vom Geige spielenden Thomas Jefferson etwa ist bekannt, dass er sich nichts mehr wünscht als ein Plantagenorchester, das sein Besitzer nach Lust und Laune aufspielen lassen kann. »Wenn der Herr nachts nach Hause kam und Lust auf Musik und Tanz verspürte, dann mussten wir im Wohnzimmer Aufstellung nehmen und tanzen und springen, obwohl wir hundemüde und erschöpft von der Arbeit waren. ›Tanzt, ihr verdammten Nigger, tanzt!‹, schrie er. Wer einen Moment nach Luft schnappte oder einfach nicht mehr konnte, bekam die Peitsche zu spüren, die der Herr nie aus der Hand legte.« Solomon Northup, der dies in Twelve Years a Slave berichtet, muss bei diesen sadistischen Abendgesellschaften Fiedel spielen. Jetzt also ist dieses europäische Instrument schon in schwarzer Hand und die Trommel – verschwunden.

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BAD NEWS SAY

KILL

DRUM

But Drum

no

die

just

act         slick

be a piano

a fiddle

a nigger tap

fellah

drum’ll

yodle

if it need to

wird Newarks Dichterprinz Amiri Baraka einst zufrieden grinsend anmerken. Und Lydia Cabrera, kubanische Anthropologin, konstatiert: »Ohne Trommeln an Bord hätte es keine Sklaverei gegeben. Denn nicht ein Gefangener hätte die Überfahrt überlebt.« Es sind auch so mehr als genug gestorben: Allein zwischen 1680 und 1688 verzeichnet die RAC, die englische Sklaven-Kompagnie, 16 388 Todesfälle während der Überfahrt.

History shouldn’t be a mystery

6 COPY & PASTE I:
DIE ÜBERFAHRT

Zehn Minuten später erfolgte die erste Transition. Nach dem vierten Sprung kamen wir mit unseren Kugelraumern im kleinen Planetenreich der gelben Sonne an. (…) Wir rasten in breiter Zwanzig-Kilometer-Staffelung durch den planetarischen Raum, kreuzten die Bahnen der Welten Fünf und Vier, bis wir schließlich (…) angespannt auf den wirbelnden Planeten und den vorüberhuschenden Kontinent Atlantis starrten. (…) Third stone from the sun (…) Es war mir doch ein sonderbares Gefühl, als ich den anderen Morgen auf das Verdeck trat und zum ersten Mal nichts als Himmel und Wasser um mich sah. (…) Ich war wirklich in einer anderen Welt und fühlte mich abwechselnd größer und kleiner. (…) Bald kam Sturm und mit ihm die Seekrankheit. Beide waren weiter nicht gefährlich, aber doch den Neulingen furchtbar genug. (…) Die schwangeren Frauen hatte man achtern verstaut, die Kinder in einem erhöhten Verschlag, in dem sie steckten wie die Heringe im Fass. Wollte jemand schlafen, so konnte man nur aufeinander und übereinander liegen. Für die Notdurft gab es kleine Öffnungen nach draußen, aber die meisten verrichteten ihr Geschäft, wo sie standen oder lagen, aus Furcht, das bisschen Platz einzubüßen, das sie für sich ergattert haben. Der Gestank nach Urin, Kot und Schweiß ist nicht zu beschreiben. (…) Auf einen Schlag zog der Himmel zu, und es stürmte, dass die Schiffe nur mehr den sich türmenden Wellen und Wogen gehorchten und nicht mehr zu kontrollieren waren. Das ist der Zeitpunkt, an dem man den Verschlag voller aneinandergeketteter Sklaven nur noch als Höllenschlund bezeichnen kann. Die Ketten klirren, alle stöhnen und ächzen, weinen, schreien, die Brecher kommen mal von dieser, mal von der anderen Seite über die Reling, die Matrosen brüllen, der Wind heult und die See tost in einem fort. (…) Viele der Sklaven brechen sich die Glieder, andere ersticken oder ertrinken in qualvoller Enge. (…) Der Keim eines bösartigen Fiebers entwickelte sich unter uns. Fürchterlich verdorbene Luft, Mangel an Ausleerung zur rechten Zeit, Aderlässe, Abführmittel, die größte Gleichgültigkeit eines dicken Chirurgus, gar keine Chinarinde an Bord, (…) all dies beförderte die Ausbreitung des Fiebers. Einem alten Matrosen wurde im Sterben das Abendmahl gereicht. (…) Einige Monate hatte sich der Mensch nicht rasiert und in seinem Unrath gelegen. Das Hemde, dessen Farbe man nicht mehr erkennen konnte, das Kopfhaar, der Bart und die Augenbrauen und Wimpern wimmelten von Insekten. (…) Seine Hängematte war so befestigt, dass zwischen seinem Gesicht und dem Deck kein Viertelmeter Raum blieb. In dieser Lage konnte man ihm unmöglich die Sakramente reichen; weil aber nun das geistliche Schauspiel angehen sollte, bereitete man ihm im vorderen, luftigeren Schiffsteil ein neues, prächtig ausstaffiertes Gemach zu. (…) Man fragte den Sterbenden hunderterlei Dinge, die er glauben müsse; wir antworteten statt seiner. Diese Zeremonie rettete ihm wahrscheinlich das Leben. Er atmete kühlere, reinere Luft. Er genas von Tag zu Tag. (…) Aber in vier, fünf Tagen lagen noch ein Matrose und alle Neger (…) krank an demselben Fieber. Ich sprach von (…) einer Ventilationsröhre, die man neben dem Mast aufsetzen sollte. Der Kapitän fand diese Idee sehr lustig – und es geschah nichts. (…) Das war aber noch nicht alles: Ein noch größeres Unglück sollte uns treffen, eine Krankheit, durch die unseren Leuten das Zahnfleisch im Ober- und Unterkiefer derart anschwoll, dass es die Zähne bedeckte und der Erkrankte außerstande war, Nahrung zu sich zu nehmen. (…) Viele verspürten so heftige Schmerzen in Armen und Beinen, dass sie sich nicht aufrecht halten und keine Arbeit verrichten konnten. (…) Neunzehn Mann starben an diesem Übel. (…) In den englischen Transportschiffen wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe. (…) Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen und im Bettverschlag nicht gerade sitzen. (…) Es war für einen Einzelnen gänzlich unmöglich, sich umzuwenden, und ebenso unmöglich, auf dem Rücken zu liegen. (…) Wenn wir auf einer Seite gehörig geschwitzt und gebraten hatten, rief der rechte Flügelmann: Umgewendet! Und es wurde umgeschichtet; hatten wir nun auf der andern Seite quantum satis ausgehalten, rief das nämliche der linke Flügelmann, und wir zwängten uns wieder in die vorige Quetsche. (…) Die Kost war übrigens nicht sehr fein; heute Speck mit Erbsen und morgen Erbsen mit Speck. Zuweilen (…) Pudding, den wir aus muffigem Mehl halb mit Seewasser, halb mit süßem Wasser und altem Schöpsenfett machen mussten, (…) welches wohl vier oder fünf Jahre alt sein musste. (…) In dem Schiffsbrote waren oft viel Würmer, die wir als Schmalz mitessen mussten. (…) Das schwer geschwefelte Wasser lag in tiefer Verderbniß. Wenn ein Faß heraufgeschroten und aufgeschlagen wurde, roch es auf dem Verdeck wie Styx, Phlegethon und Kocytus zusammen: große fingerlange Fasern machten es fast konsistent; ohne es durch ein Tuch zu seigen, war es wohl nicht trinkbar: und dann musste man immer noch die Nase zuhalten, und dann schlug man sich doch noch, um nur an die Jauche zu kommen. (…) Einer entdeckte im Schiffsraum Ratten. Nun begann eine wilde Jagd auf diese schrecklichen Tiere und jeder, dem es gelang, eines von ihnen zu erlegen, konnte seinem Bauch diese abscheuliche Nahrung zuführen. Die meisten hatten nicht die Geduld, die Tiere auf dem Kohlenfeuer zu braten, sie schlangen sie roh hinunter und übergaben sich gleich hinterher. (…) Zwei Bootsmänner gerieten wegen einer erlegten Ratte in Streit und der eine erschlug den anderen mit der Axt (…) und wurde vom Kapitän zum Tode verurteilt. Der Bootsmann sollte gevierteilt werden, aber niemand besaß mehr die Kraft, das Urteil zu vollstrecken. So wurde er erdrosselt und der Leichnam ins Meer geworfen. (…) Um nicht hungers zu sterben, aßen wir das Leder, mit dem die Großrahe zum Schutz der Taue umwunden war. Diese Lederstücke, beständig dem Wasser, der Sonne und dem Wind ausgesetzt, waren so hart, dass wir sie vier bis fünf Tage lang in Meerwasser tauchen mussten, um sie weicher zu machen. Dann brieten wir sie auf Kohlen und würgten sie, von Ekel geschüttelt, durch die Kehle. (…) Und seht nur dort, der Mann, der diese Schiffe ausrüstet. Seht, wie er sich über den Tisch beugt, die Feder in der Hand, wie er berechnet, wie viele Verbrecher er braucht an der Küste von Guinea, seht nur, mit welcher Lust er die Anzahl der Gewehre schätzt, die er benötigt, um einen Schwarzen einzutauschen, wie viele Ketten, um ihn an seine Schiffswand zu schmieden, wie viele Peitschenhiebe, um ihn zur Arbeit abzurichten.