Autor: Albert Kostenevich

 

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© Estate Picasso / Artists Rights Society, New York, USA / Picasso

© Estate Matisse / Artists Rights Society, New York, USA / Les Héritiers Matisse

 

ISBN: 978-1-78310-634-9

 

Weltweit alle Rechte vorbehalten.

Soweit nichts anderes gesagt ist, liegt das Copyright der wiedergegebenen Arbeiten bei den jeweiligen Photographen. Trotz intensiver Nachforschungen ist es aber nicht in jedem Fall möglich gewesen, die Eigentumsrechte festzustellen. Wo dies der Fall ist, würden wir eine entsprechende Information begrüßen.

Albert Kostenevich

 

 

 

BONNARD
und die Nabis

 

 

 

 

 

 

INHALT

 

 

DAS LEBEN

SEINE MEISTERWERKE

DIE NABIS

EDOUARD VUILLARD (1868-1940)

KER XAVIER ROUSSEL (1867-1944)

MAURICE DENIS (1870-1943)

FÉLIX VALLOTTON (1865-1925)

BIOGRAPHIEN

PIERRE BONNARD

KER XAVIER ROUSSEL

MAURICE DENIS

EDOUARD VUILLARD

FÉLIX VALLOTTON

BIBLIOGRAPHIE

INDEX

ANMERKUNGEN

 

Bonnard um 1890.

Fotografiert von Alfred Natanson.

DAS LEBEN

 

 

Artikel von Christian Zervos,
Cahiers d Art, 1947, zitiert von Matisse,

Januar 1948. Privatsammlung.

 

 

Im Oktober 1947 veranstaltete das Musée de l’Orangerie in Paris eine postume Ausstellung der Werke von Pierre Bonnard. Gegen Ende desselben Jahres erschien in der einflussreichen Zeitschrift „Cahiers d’Art“ auf der ersten Seite eine Besprechung, verfasst vom Herausgeber, Christian Zervos. Die provokative Überschrift lautete: „Ist Pierre Bonnard ein großer Maler?“. Im ersten Abschnitt verleiht Zervos seinem Erstaunen über den großen Umfang der Exposition Ausdruck, kannte man doch bisher Bonnard nur aufgrund von seltenen und eher bescheidenen Ausstellungen. Er sei, so sagt Zervos, von der Ausstellung enttäuscht, die Werke seien es nicht wert, dass ihnen eine umfassende Ausstellung gewidmet würde. „… Vergessen wir nicht, dass Bonnards Anfänge vom wunderbaren Licht des Impressionismus erhellt sind. In mancher Hinsicht war er der letzte Träger jener Ästhetik. Doch war er ein schwacher Träger, ohne großes Talent. Das überrascht kaum. Willensschwach und wenig originell, vermochte er nicht, dem Impressionismus einen neuen Aufschwung zu verleihen, seine Elemente durch eine handwerkliche Basis zu untermauern oder ihnen zum mindesten eine neue Wendung zu geben. Obwohl er überzeugt davon war, dass man sich in der Kunst nicht nur von Gefühlen leiten lassen darf wie die Impressionisten, war er nicht imstande, seine Malerei mit geistigen Werten zu beseelen. Er wusste sehr wohl, dass das Ziel der Kunst nicht mehr die Nachbildung der Wirklichkeit war, fand aber nicht die schöpferische Kraft wie einige andere Künstler seiner Zeit, die das Glück hatten, sofort gegen den Impressionismus zu rebellieren. In Bonnards Werken wird der Impressionismus fade und zerfällt.“[1]

Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Zervos’ Urteil auf persönlicher Animosität gründete. Er war ganz einfach das Sprachrohr der Avantgarde, welche die Entwicklung der modernen Kunst als eine Abfolge radikaler Bewegungen sah, von denen jede neue die vorherige ersetzte und und ihre eigene Welt schuf, die sich jeweils ein Stück mehr von der Realität entfernte als die vorangehende. Diese Sichtweise der Geschichte der Malerei als eine Chronik avantgardistischer Strömungen ließ Bonnard keinen Platz, um so weniger, als er selbst sich niemals in den Vordergrund drängte und sich überhaupt von allen Kontroversen fernhielt. Außerdem lebte er größtenteils nicht in Paris und stellte nur ganz selten aus. Mit Sicherheit hätten sich nicht alle Avantgardisten Zervos’ Meinung angeschlossen. Picasso zum Beispiel schätzte Bonnard als Maler sehr, ganz im Unterschied also zu Zervos, der übrigens ein großer Verehrer von Picasso war und einen vollständigen Katalog seiner Gemälde und Zeichnungen herausgegeben hatte. Als Matisse den Artikel in den „Cahiers d’Art“ zu Gesicht bekam, packte ihn der Zorn. In großen Zügen schrieb er auf den Blattrand: „Ja! Ich bezeuge, dass Pierre Bonnard ein großer Künstler unserer Zeit und fraglos der Zukunft ist. Henri Matisse. Jan. 48.“[2]

 

Pierre Bonnard, Das Krocketspiel, 1892.

Öl auf Leinwand, 130 x 162 cm, Musée d Orsay, Paris.

 

 

Matisse sollte Recht behalten. Bereits um die Mitte des 20. Jahrhunderts zog Bonnards Malerei junge Künstler wesentlich mehr an als etwa in den 20er oder 30er Jahren. Fama spielte ein seltsames Spiel mit ihm. Gleich von Anfang fand er in gewissen Kreisen Anerkennung. Er musste nicht Armut und Ablehnung erfahren wie so viele der führenden Avantgardisten, die entweder erst spät in ihrem Leben oder gar erst nach ihrem Tod Ruhm erlangten. Die populäre Vorstellung vom verkannten Künstler, einem armen Hungerleider aus der Boheme, der auf Unverständnis stößt, weil er mit den alten Normen bricht, passt ganz und gar nicht auf Bonnard. Er fand immer wieder Abnehmer für seine Gemälde. Schon früh hatte er unter Künstlern und Sammlern manchen Kenner für sich gewonnen, der ihn zu schätzen wusste. Allerdings war ihre Zahl beschränkt; die generelle Anerkennung, die er durchaus verdient hätte, ließ lange auf sich warten.

Wie kommt es, dass es Bonnard im Laufe seines langen Lebens nicht gelang, das breite Publikum für sich einzunehmen? Gründe dafür sind in seinem Charakter und seiner Lebensführung zu suchen. Er zeigte sich kaum an der Öffentlichkeit und ging Ausstellungen aus dem Weg. Als die Veranstalter des Salon d’Automne 1946 mit dem Wunsch an ihn herantraten, eine große retrospektive Ausstellung seiner Werke zu veranstalten, reagierte er befremdet. „Eine Retrospektive? Bin ich denn schon tot?“ Ein weiterer Grund lag im Wesen seiner Kunst, der jede Effekthascherei abging. Die Feinheiten und die Nuancen seiner Werke bleiben dem Zuschauer, dessen Sensibilität nicht darauf eingestimmt ist, verschlossen. Hinzu kommt ein weiterer Grund, weshalb Bonnard vom Publikum eher abweisend aufgenommen wurde. Sein Leben hatte nichts Außergewöhnliches, es gab darin nichts Spektakuläres und schon gar nichts Skandalöses, nichts also, was das allgemeine Interesse erregt hätte. In dieser Hinsicht konnte Bonnard nicht konkurrieren mit van Gogh, Gauguin oder Toulouse-Lautrec. Da war kein Stoff für Legenden. Und gerade Legenden sind es, die das Publikum braucht, das so gerne Idole aus Persönlichkeiten macht, gegen die es noch gestern gleichgültig oder gar feindselig gestimmt war. Aber die Zeit tut ihre heilende Wirkung. Die Einstellung zu Bonnard hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr stark geändert. Die großen Einzelausstellungen, die 1984-1985 in Paris, Washington, Zürich und Frankfurt am Main stattfanden, waren von Erfolg gekrönt und machten als wichtige kulturelle Ereignisse von sich reden.

Wie verlief Bonnards Leben? Seine frühe Kindheit verbrachte er in Fontenay-aux-Roses bei Paris. Sein Vater war ein hoher Beamter im Kriegsministerium, und die Familie hoffte, dass Pierre in seine Fußstapfen treten würde. Aber der anfängliche Impuls, der von dem bürgerlichen Milieu ausging und den jungen Bonnard zunächst veranlasste, sich an der juristischen Fakultät einzuschreiben, hielt nicht lange an. Er war weniger im Hörsaal der Rechtswissenschaften anzutreffen als an der Académie Julian und später an der Ecole des Beaux-Arts. Der innigste Wunsch jedes Schülers der Ecole war es, den Prix de Rome zu gewinnen. Als Bonnard nach knapp einem Jahr diesen Preis nicht gewann, kehrte er der Schule den Rücken. Sein Bild, Triumph des Mordechai, das er zu einem der vorgegebenen Themen eingereicht hatte, wurde mit der Begründung abgelehnt, es mangle ihm an Ernsthaftigkeit.

 

Pierre Bonnard, Andrée Bonnard mit
ihren Hunden, 1890. Öl auf Leinwand,

180 x 80 cm, Privatsammlung.

 

Pierre Bonnard, France-Champagne, 1891.

Farblithographie, 78 x 50 cm, Musée de Reims.

 

Pierre Bonnard, Die weiße Zeitschrift, 1894.

Farblithographie, 80 x 362 cm,

National Gallery of Art, Washington.

 

Pierre Bonnard, Portrait von Berthe Schaedlin, 1892.

Öl auf Leinwand, 31 x 16,5 cm, Galerie Daniel Malingue, Paris.

 

 

Als der Beginn seiner künstlerischen Laufbahn sind die kleinen Landschaftsbilder anzusehen, die er im Sommer 1888 malte und in denen er die akademischen Vorschriften kaum beherzigt. Sie entstanden in Grand-Lemps in der Dauphiné und wurden von seinen Freunden Sérusier, Denis, Roussel und Vuillard sehr geschätzt. Die Landschaftsstudien der Umgebung von Grand-Lemps sind schlicht im Aufbau und frisch in der Farbe. Es zeigt sich darin eine poetisch-sensible Naturbetrachtung, die an Corot erinnert. Unbefriedigt von dem Unterricht an der Ecole des Beaux-Arts und in der Académie Julian, beginnen Bonnard und Vuillard selbständig zu arbeiten. Fleißig besuchen sie die Museen. In den ersten zehn Jahren ihrer Freundschaft verging selten ein Tag, an dem sie sich nicht trafen. Trotzdem sprachen sie sich gegenseitig mit „Sie“ an, während Bonnard die übrigen Mitglieder der Nabis duzte.

Zu der Gruppe der Nabis, die Paul Sérusier zusammenführte, gehörten einige Mitglieder der Académie Julian. Sie weigerten sich, die Regeln des Impressionismus zu befolgen, und beriefen sich stattdessen vor allem auf Gauguin. Ihr Name leitet sich vom hebräischen nabi ab, was so viel wie „Prophet“ oder „Seher“ heißt, und symbolisiert ihren Willen, nach neuen Ausdrucksmitteln der Kunst zu suchen. Beeinflusst waren sie sowohl von der japanischen Kunst, vor allem von den Holzschnitten, als auch von populärer und primitiver Kunst sowie von dem symbolistischen Maler Puvis de Chavannes. Obwohl sich die einzelnen Nabis stark voneinander unterschieden, gab es zwei Hauptideen, über die sich alle einig waren: erstens die subjektive Fehlinterpretation, die den Emotionen des Künstlers entspringt, der bestimmte Aspekte des dargestellten Motivs hervorheben will, und zweitens die objektive Fehlinterpretation, die das Dargestellte der grundlegenden Ausgestaltung des Bildes unterordnet. Die Kunst der Nabis ist charakterisiert durch die fehlende Perspektive sowie die Verwendung purer oder dunkler Farbtöne. Sie alle versuchten, die Barriere zwischen Staffelmalerei und dekorativer Kunst zu überwinden, indem sie mit Illustrationen, Tapeten, Schaufenstern, Wandteppichen, Einrichtungsgegenständen Wandteppichen und Einrichtungsgegenständen experimentierten.

Zu den Nabis gehörten Künstler wie Pierre Bonnard, Edouard Vuillard, Felix Vallotton, Ker Xavier Roussel, Georges Lacombe, der Bildhauer Aristide Maillol sowie Maurice Denis, der verkündete: „Man vergesse nie, dass ein Bild an erster Stelle kein Schlachtross, keine nackte Frau, keine Erzählung, sondern eine Oberfläche ist, die in einer bestimmten Ordnung mit Farben bedeckt wurde.“

In den 90er Jahren führte Bonnard keineswegs ein Einsiedlerleben. Er liebte die langen Spaziergänge mit Roussel und hörte gern dem Redefluss von Denis zu, obwohl er selbst wortkarg blieb. Er war ein geselliger Mensch im besten Sinne des Wortes. Auf einem seiner humoristischen Erinnerungsbilder (1910) ist der Clichy-Platz dargestellt, der Mittelpunkt des Künstlerviertels, dessen Bewohner jung und lustig waren. Langsam schlendern Bonnard, Vuillard und Roussel über den Platz. Etwas abseits ist Denis, er eilt irgendwoanders hin, eine Mappe mit „Theories“ unter den Arm geklemmt. Von der anderen Seite kommt ihnen Toulouse-Lautrec, einen dicken Stock schwingend, entgegen.

 

Pierre Bonnard, Selbstbildnis, 1889.

Tempera auf Karton, 21,5 x 15,8 cm. Privatsammlung.

 

Pierre Bonnard, Das Leben eines Malers,
Zeichenblockblatt. Bleistift und Federzeichnung,

Pinselstrich, ca. 1910. Privatsammlung.

 

Pierre Bonnard, Die Brücke, 1896-1897.

Farblithographie, 27 x 41 cm.

 

 

Toulouse-Lautrec hegte gegenüber Bonnard und Vuillard eine große Sympathie. Von Zeit zu Zeit nahm er ihnen ihre Bilder ab, mietete eine Kutsche und fuhr damit zu bekannten Kunsthändlern, auch wenn es nicht leicht war, deren Interesse für die Werke der jungen Maler zu gewinnen. Lautrec war besonders von Bonnards Plakatentwurf France-Champagne angetan. Bonnard führte ihn in die Druckerei von Ancours ein, und bereits 1891, im gleichen Jahr mit dem France-Champagne-Plakat, erschienen auch die berühmten Theater-Plakate des Moulin-Rouge und andere von Lautrec. Das Plakat France-Champagne, das 1889 vom Weinhändler E. Debray in Auftrag gegeben worden war, sollte eine besondere Rolle im Schicksal von Bonnard spielen. Diese Arbeit brachte ihm das erste Honorar ein, sehr wenig im Vergleich zu dem, was der damals gefeierte Jean Meissonnier verdiente, aber doch ein Honorar, welches bewies, dass er mit dem Künstlerhandwerk sein Brot verdienen konnte. Diesen kleinen Erfolg konnte Bonnard in dem Augenblick verbuchen, als er gerade beim Examen an der Universität durchgefallen war. Kann es sein, dass er die Brücken hinter sich abreißen wollte, um der Beamtenlaufbahn endgültig Adieu zu sagen und sich gänzlich der Kunst zu widmen?

Am 19. März 1891 schrieb Bonnard an seine Mutter: „lch werde mein Plakat nicht an den Mauern hängen sehen. Es wird erst Ende des Monats erscheinen. Aber ich berühre die hundert Francs und muss gestehen, dass ich stolz bin, sie in der Tasche zu haben.“[3]

Zur selben Zeit schickte Bonnard dem Salon des Indépendants fünf Gemälde. Ende desselben Jahres 1891 stellte er gemeinsam mit Toulouse-Lautrec, Bernard, Anquetin und Denis in der Galerie Le Barc de Bouteville aus. Dem Journalisten, der auf der Ausstellung die Künstler interviewte, wollte Bonnard seine Lieblingskünstler nicht nennen, er sagte, dass er zu keiner Schule gehöre und sich darum bemühe, etwas Individuelles zu schaffen und zu vergessen, was er an der Ecole des Beaux-Arts gelernt habe.

 

Pierre Bonnard, Das kleine Wäschemädchen, 1896.

Farblithographie, 30 x 19 cm, Nationalbibliothek, Paris.

 

 

Noch ein anderes Ereignis, das für Bonnard wichtig war, fiel in das Jahr 1891. Die Zeitschrift „Revue Blanche“, die bisher in Brüssel herausgegeben wurde, verlegte ihren Sitz nach Paris. Bonnard und die anderen Nabis stellten rasch eine gute Beziehung zum Herausgeber Tadée Natanson her, der gleich Vuillard, Roussel und Denis ein ehemaliger Zögling des Lycée Condorcet war. Natanson gelang es, die talentiertesten Künstler, Schriftsteller und Musiker zur Mitarbeit zu gewinnen. Das Frontispiz wurde jeweils entweder von Bonnard oder Vuillard entworfen. Hier wurden die neuen Gedichte von Mallarmé, die Schriften von Proust und Strindberg, Oscar Wilde und Maxim Gorki veröffentlicht; auch Debussy schrieb gelegentlich Artikel, und es erschienen Rezensionen zu Leo Tolstoi. Natanson selbst widmete seinen ersten Artikel dem Schaffen von Utamaro und Hiroshige. Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass die „Revue Blanche“ die beste Zeitschrift der 90er Jahre war. In der Redaktion, in der alle Nabis häufig zu Gast waren, herrschte eine stimulierende, kreative Atmosphäre. Wichtig war auch die persönliche Unterstützung, die Natanson den Künstlern zukommen ließ. Er war ja ebenso jung wie sie, und er scheute sich nicht, zu seinem persönlichen Geschmack zu stehen. Sogar Natansons Freunde hatten, wie sie ihm später gestanden, daran gezweifelt, ob man sich auf einen Mann verlassen könne, der sein Haus mit den Gemälden von Bonnard und Vuillard schmückte. Natansons Erinnerungen an Bonnard vermitteln den besten Eindruck von seiner Person. „Bonnard, als ich ihn kennen lernte, war ein magerer junger Mensch, dessen Haltung manchmal ein wenig gebeugt war, mit etwas hervorstehenden, sehr weißen Vorderzähnen. Er war schüchtern und kurzsichtig. An den Wangen dunkelblondes Haargekräusel, auf der Nase, dicht vor den schwarzen Pupillen, ein kleiner Kneifer mit einem Eisengestell von der Art, wie sie am Ende des vorigen Jahrhunderts getragen wurden. Er sprach wenig, konnte aber bereits das Bildnis seiner fülligen Großmutter vorzeigen, bei der er anfangs in Paris lebte. Das Porträt war in der Dauphiné zustande gekommen. Es zeigt die alte Frau, mehrere weiße Hennen fütternd. Wenn es um die Theorie der Malkunst ging, verhielt sich mein Freund sehr zurückhaltend; gerne ließ er sich jedoch über den japanischen Holzschnitt aus, den er sehr liebte. Damals war diese Art von Appetit leicht zu befriedigen. Er hatte auch eine Vorliebe für karierte Stoffe, die mehr als alle anderen nach seinem Geschmack waren. Wenn er lächelte, so dass die weißen Zähne glänzten, war das Lächeln so anziehend, dass man es festhalten wollte. Bonnard lächelte aus Höflichkeit, zum Teil aus Schüchternheit, doch wenn er sein Lächeln einmal ‘gezähmt’ hatte, war er nicht mehr verlegen, und es war, als hätte sich eine innere Spannung gelöst … Bonnard änderte sich kaum seit den ersten Tagen unserer Bekanntschaft. Er ließ sich selten zur Lebhaftigkeit hinreißen, noch seltener zur Mitteilsamkeit, und er verstand es, seine Gefühle nicht nach außen dringen zu lassen …“[4]

 

Pierre Bonnard, Das Frühstück der Kinder, ca. 1906.

Öl auf Holz, 27 x 33,5 cm, Nancy, Musée des Beaux-Arts.

 

 

„Er war der Humorist unseres Kreises“, berichtet Lugne-Poe. „Eine sorglose Heiterkeit und scharfsinniger Geist sind in seinen Gemälden sichtbar.“[5] „Phantastisch begabt, aber zu klug, um seine Überlegenheit fühlen zu lassen, verstand er es, unter einer schelmischen Art sein geniales Wesen zu verbergen“[6], sagt Verkade über ihn. Doch war Bonnards Humor nicht immer ganz harmlos. Der russische Maler Alexander Benois erzählte, dass seine Bekanntschaft mit Bonnard in den 90er Jahren von kurzer Dauer war, wegen des „typisch französischen esprit gouailleur“[7], jenes spöttischen Geistes, der ihm unbehaglich war. Allerdings war Benois’ Reaktion ungewöhnlich. Bonnard hatte nichts von einem geborenen Spötter an sich, mit zunehmendem Alter wurde er immer reservierter, fast misstrauisch anderen gegenüber. Eigentlich hat er sein Leben lang, sogar in der Nabi-Zeit, eher seine eigene als die Gesellschaft der Freunde gesucht, oder, richtiger gesagt, sich ganz in seine Kunst zurückgezogen. Natanson sagt mit Recht, dass Bonnards Misanthropie eine Folge seiner angeborenen Gutherzigkeit war.[8]

Doch war Bonnard wahrscheinlich auch in seiner Jugend eine kompliziertere Natur, als seine Freunde glaubten. Hinter seiner Verschlossenheit und Zurückhaltung verbargen sich Eigenschaften, die man bei ihm nicht vermutet hätte. Aus dem Selbstbildnis von 1889 (Privatsammlung, Paris) schaut kein Spaßvogel, kein lustiger Kauz, sondern ein nervöser und eher unsicherer junger Mann. Der starre Blick verrät eine grüblerische Versonnenheit und Gedanken, die er lieber für sich behält. Doch seine Bekannten sahen ihn als einen fröhlichen, aufgeschlossenen Menschen. Und das war er auch. Aber nicht nur. Mit zunehmendem Alter zeigten sich in seiner Persönlichkeit andere Züge, die früher nicht zum Vorschein gekommen waren. Mit dreißig Jahren (als ihn Benois kennen lernte) ist er nicht mehr, was er mit zwanzig war: Er ist jetzt weniger unbekümmert und nicht mehr so erpicht darauf, andere mit seinen paradoxen Kompositionen zu verblüffen.

 

Pierre Bonnard, Bürgerliche Nachmittagsruhe oder
Die Familie Terrasse, 1900. Öl auf Leinwand,

139 x 212 cm, Musée dOrsay, Paris.

 

 

1891 äußerte Bonnard dem Korrespondenten des „Echo de Paris“ gegenüber, dass die Malerei vor allem dekorativ sein müsse, dass das Talent sich darin offenbare, wie sich die Linien verteilen. Nach drei, vier Jahren beginnt er sich von den ausgeklügelten dekorativen Effekten abzuwenden; von der übertriebenen Komplexität seiner Jugendzeit geht er über zu einer freieren Behandlung der Farbe, einer lebhaften Faktur und zu einer inneren Integrität. Hier liegt ein Wendepunkt in seinem Schaffen, der jedoch nicht etwa plötzlich eintritt. Die Änderungen in Bonnards Schaffen kamen nach und nach, so dass sich keine klare Scheidelinie zwischen den zwei Perioden ziehen lässt. Aber die Veränderungen sind zweifellos da. Betrachtet man ein Gemälde in der neuen Manier, hat man das deutliche Gefühl, dass es sich nicht um etwas eigentlich Neues, sondern um eine Transformation des Früheren handelt, und dass dieses neue Bild Ausdruck eines tieferen Verständnisses ist. Er entwickelte sich weiter und blieb sich denoch selbst treu. Bonnards Kunst drückt immer eine gleich bleibende Treue zu seinem Ich und seinem Weltbild aus. Im Verlauf seiner ganzen künstlerischen Schaffenszeit, die sechzig Jahre umfasst, finden wir immer wieder die Themen, die ihn bereits als Jüngling beschäftigt hatten, ohne dass es dabei je zu langweiligen Selbstwiederholungen gekommen wäre. Jedes seiner Bilder hat einen eigenen, individuellen Charakter. Die Intonation hat bei ihm oft etwas Humorvolles. Benois sah darin die Ursache der Oberflächlichkeit, die er dem französischen Maler vorwarf.[9] Hätte Bonnard diesen Humor immer und überall einfließen lassen, müsste man Benois wohl bis zu einem gewissen Grad Recht geben. Doch Bonnard setzte Humor nur ein, wenn er direkte Gefühlsäußerungen vermeiden wollte. Er gehorchte einem feinen Taktgefühl, das an Anton Tschechow erinnert. Tschechow und Bonnard machten niemals persönlich Bekanntschaft, ihre Wege haben sich nie gekreuzt, aber menschlich waren sie verwandte Seelen. Humor kam immer ins Spiel, wenn Bonnard Kinder malte; damit schützte er sich vor der überschwänglichen Gefühlsseligkeit, die in diesem Genre so oft überhand nahm.

 

Pierre Bonnard, Das rote Strumpfband, ca. 1905.

Öl auf Leinwand, 61 x 50 cm, Privatsammlung.

 

Pierre Bonnard, Trägheit, 1899.

Öl auf Leinwand, 96 x 105 cm, Privatsammlung, Paris.

 

Pierre Bonnard, Siesta, 1900. Öl auf Leinwand,

109 x 132 cm, National Gallery of Victoria, Melbourne.

 

Pierre Bonnard, Akt mit
schwarzem Damenstrumpf, ca. 1900.

Öl auf Platte, 59 x 43 cm, Privatsammlung.

 

 

Bonnards Ehe blieb kinderlos. Viele Jahre lang hauste er als Junggeselle. Das schien ihm nichts auszumachen. Wenn man jedoch seine Werke als eine Art Tagebuch studiert, entsteht ein anderer Eindruck. Warum nimmt er in seinem Schaffen in dem Zeitabschnitt von 1890 bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer wieder das Thema der stillen häuslichen Freuden und der gutbürgerlichen Familienatmosphäre auf? Szenen wie das Füttern und Baden eines Kleinkindes, Kinder beim Spielen und Herumtollen, Spaziergänge, ein verwunschener Gartenwinkel, ein stimmungsvolles Interieur sind amüsant, geben aber auch zu denken. Natürlich drückt sich darin auch der Zeitgeschmack aus, und alle Nabis waren von solchen Sujets angezogen. Aber bei Bonnard haben diese Motive eine ganz besondere Note. Er schildert sie nicht mit der betonten Gleichgültigkeit, die man bei Vallotton spürt; er gibt nicht vor, dass sie ihn kühl lassen. Dennoch kann man nicht ohne weiteres eine Sehnsucht nach Familienfreuden herauslesen, selbst wenn man versucht wäre. Bonnard scheint sich selbst humorvoll daran erinnern zu wollen, dass das Familienleben emotionale Bedürfnisse befriedigt, dass es aber gleichzeitig auch monoton, ja absurd ist: eine Haltung ganz wie bei Tschechow. Eine Art Resümee all dieser banalen und deshalb humoristisch behandelten Situationen bildet das monumentale Bildnis der Familie Terrasse, ein Werk, das in der europäischen Kunst ohne Vorbild dasteht. Bonnard nannte das Gemälde Bürgerliche Nachmittagsruhe (1900, Sammlung Bernheim- Jeune, Paris; Version in der Staatsgalerie, Stuttgart) und parodiert damit die Ekloge von Mallarmé „Der Nachmittag eines Fauns“. Zweifellos liebte der Maler seine Figuren, nicht nur, weil es seine Verwandten sind (Bonnards Schwester Andrée war mit dem Komponisten Claude Terrasse verheiratet); trotzdem versammelt er sie hier, um das Majestätisch-Lächerliche des provinziellen Müßiggangs auf eine ironische Weise zur Schau zu stellen.

Gleichzeitig entsteht Mann und Frau (1900, Musée d’Orsay, Paris), ein Werk, das durch seine psychologische Dramatik bei Bonnard überraschend anmutet. Der psychologische Aspekt des Gemäldes geht nicht auf eine Erzählung zurück und veranschaulicht auch nicht das damals so beliebte Thema des Kampfes zwischen den Geschlechtern. Vielmehr ist es ein Doppelbildnis des Künstlers mit Marthe, seiner Muse und Gemahlin: alles in allem ein zutiefst persönliches Werk. Natürlich ist dieses Bild nicht typisch für Bonnard, die Ironie ist hier abgestreift, und wir werden Zeugen eines Dramas, das durchaus biographischen Charakter hat. Aber sowohl dieses Bild als auch die Bürgerliche Nachmittagsruhe verdienen unsere Aufmerksamkeit, denn sie zeigen uns Bonnard nicht nur als raffinierten Künstler, sondern auch als vielschichtige Persönlichkeit. Durch die Begegnung mit Marthe änderte sich vieles in seinem Leben. Dieses Mädchen, das auf der Suche nach Arbeit nach Paris gekommen war, gehörte nicht dem gleichen gesellschaftlichen Milieu an wie Bonnard; im Vergleich zu ihm und seinen Freunden war sie ungebildet. Trotzdem wurde sie Bonnards Muse und war ihm eine unerschöpfliche Quelle künstlerischer Anregungen. Sie saß ihm nicht Modell. „Das war für ihn nicht nötig, da er sie ja ständig im Leben sah und an ihr beobachten konnte, wie eine Bewegung in eine andere überging mit einer Natürlichkeit, die man nicht vergessen und nicht erlernen kann. Einige der herrlichsten Gemälde von Bonnard waren dank der Körperhaltungen entstanden, die ihm gelegentlich bei ihr aufgefallen waren.“[10] Überraschend entdeckt man sie im Gemälde Spiegel über dem Waschtisch (Puschkin-Museum der bildenden Künste, Moskau). Man sieht die Frau des Hauses, in einem kleinen Zimmer sitzen und Kaffee trinken, ohne sich auch nur im geringsten daran zu stören, dass das Modell des Malers dabei ist, seine Hüllen fallen zu lassen.

Man erzählt sich, Bonnards Frau hätte ihm die zurückgezogene Lebensweise aufgenötigt, weil sie ihn in häuslichen Schranken, fern von den Freunden und von Paris halten wollte. Im Laufe der Jahre muss sie tatsächlich unerträglich geworden sein, doch weiß niemand zu berichten, dass Bonnard sich je darüber beschwert oder seiner Unzufriedenheit Luft gemacht hätte. Er war geduldig und weise in seiner Liebe. Vielleicht fehlte ihm eine gewisse charakterliche Stärke. „Er war immer ängstlich ihretwegen, denn er fürchtete ihre Taktlosigkeit“, berichtet Matisse. „Sie hat ihn allen entfremdet. Mich hat sie zwar im Hause gelitten. Sie pflegte zu sagen: ‘Ach, der Matisse, der beschäftigt sich nur mit seiner Malerei …’ Wahrscheinlich war ich in ihren Augen ungefährlich.“[11] Die Freunde waren offenbar der Ansicht, dass Bonnard unter der Fuchtel seiner Frau stand. Tatsächlich aber fügte er sich den Erfordernissen seiner Kunst, und Marthe ließ ihn gewähren. Für ihn war es praktisch, in ländlicher Einsamkeit zu leben, wo ihn nichts von seiner Arbeit ablenkte. Nach dem ersten Weltkrieg machen seine seltenen Aufenthalte in Paris jährlich kaum zwei Monate aus. „lch fahre hin, um zu sehen, was los ist, um meine Bilder mit den Bildern der anderen zu vergleichen; in Paris bin ich Kritiker, ich kann da nicht arbeiten: zu viel Lärm und ablenkende Eindrücke. Ich weiß, dass andere Maler sich an solch ein Leben gewöhnen. Mir fällt es schwer.“[12] Ja, er hatte sich wirklich verändert und schien vergessen zu haben, wie lieb ihm einst der Pariser Straßenlärm gewesen war.

. Schon die etwa fünfzehn Gemälde aus der Zeit zwischen 1888 und 1890 (frühere sind nicht erhalten) zeigen deutlich, zu welchen Genres Bonnard sich hingezogen fühlte: Landschaften, Stillleben und Porträts. Dazu gehören das dekorative Wandbild (1889, Musée d’Orsay, Paris), das ornamental wie ein Stück Textilware gestaltet ist, und die spontanen, unvermittelt wirkenden Figurenkompositionen von der Art, wie sie bei den Impressionisten beliebt waren. Als Beispiel sei (1889, Sammlung Milliner, Paris) genannt, das Vorbild der Szenen des Pariser Lebens, die der Künstler später schaffen sollte. Auf dieses Bild gehen letztlich auch die beiden Eremitage-Gemälde und zurück.