Autor: Gerry Souter

Redaktion der deutschen Veröffentlichung: Klaus H. Carl

 

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4. Etage

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Weltweit alle Rechte vorbehalten

Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

 

ISBN: 978-1-78310-638-7

Gerry Souter

 

 

 

Frida Kahlo

Hinter dem Spiegel

 

 

 

 

 

 

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1. Der Traum oder Das Bett, 1940. Öl auf Leinwand,

74 x 98,5 cm. Sammlung Isidore Ducasse, Frankreich.

Inhaltsverzeichnis

 

 

Einleitung

Das wilde Ding

Tod der Unschuld

Señora Diego Rivera

Affäre der Kunst

„Ich brauche dringend Geld!“

„Lang lebe die Freude, das Leben, Diego!“

Schlussfolgerung

Index

Anmerkungen

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2. Selbstporträt, 1930. Öl auf Leinwand,

65 x 55 cm. Museum of Fine Arts, Boston.

 

 

Einleitung

 

 

Das klare, von schwarzen Haaren gerahmte Gesicht Frida Kahlos und der Rest ihrer gepeinigten Hülle haben sich den Flammen des Krematoriums ergeben. Die Feuersglut, die zu ihrem letzten Bett geworden ist, verwandelt das tote Fleisch in Asche und beendet die Zeit des ihr ungehorsamen Körpers, der ihren Geist bewahrt hatte. Ihr loderndes Aussehen im Tod war genauso irreal wie ihre Porträts zu Lebzeiten. Und so schnell, wie ihre Asche abkühlte und verglomm, so schnell verschwanden ihr Name, ihre Arbeiten und ihr kurzer Flirt mit dem Ruhm in den schwarzen, unbekannten Tiefen des menschlichen Gedächtnisses. Sie wurde zur Fußnote, zum „viel versprechenden Talent“, das für immer im Schatten ihres Ehemannes, des berühmten mexikanischen Wandmalers Diego Rivera, blieb, oder, wie ein New Yorker Kunstkritiker über ihre Arbeiten gähnend schrieb: „…gemalt von einer von Riveras Ex-Frauen“.

Vielleicht hätte Frida Kahlo besser 30 Jahre früher bei einem entsetzlichen Busunglück umkommen sollen, aber ihr Körper, ein zertrümmertes Wrack, hielt lang genug zusammen, um eine Legende zu kreieren. Zudem entstand eine Sammlung von Arbeiten, die drei Jahrzehnte nach ihrem Tod wieder die Öffentlichkeit beschäftigen sollten. Ihre Bilder haben Glanzlichter in eine neue Welt gesetzt, die jetzt bereit war, ihre Malerei zu verstehen und mit offenen Armen aufzunehmen. Ihre Gemälde bildeten ein visuelles Tagebuch, eine äußerliche Manifestation ihres inneren Dialogs, der nur allzu oft ein Schmerzensschrei war.

Die Bilder gaben den Erinnerungen, den Landschaften ihrer Phantasie, den flüchtigen Szenen und Gesichtern, die sie studiert hatte, Gestalt. Diese Gemälde mit ihren symbolischen Farben hielten ihr den Wahnsinn (gelb) und das klaustrophobische Gefängnis aus Gips und Stahlkorsett vom Leibe. Ihr persönliches ikonographisches Vokabular gibt Anhaltspunkte, inwiefern sie ihr Leben liebte, hasste, verschlang und dessen Schönheit wahrnahm. Ihre Bilder, angereichert mit Texten, Tagebuchseiten und Erinnerungen ihrer Zeitgenossen, zeigen uns ein in reduziertem Tempo gelebtes Leben, das Frida Kahlo möglicherweise freiwillig beendete und das uns eine mutige Sammlung an Selbstporträts hinterließ, eine Summe all seiner einzelnen Phasen.

Die Malerin und ihre Persönlichkeit sind eins und dennoch trug sie viele Masken. Im Kreis ihrer Vertrauten dominierte Frida jeden Raum mit ihren geistreichen, barschen Kommentaren: ihre eindeutige Identifikation mit den Bauern von Mexiko bei gleichzeitiger Distanz zu ihnen; ihr Verspotten der Europäer und deren Neigung, sich unter den Fahnen der Impressionisten, Post-Impressionisten, Expressionisten, Surrealisten, Sozio-Realisten und anderen, immer auf der Suche nach Geld und reichen Gönnern oder einem Sitz in den Akademien, zu versammeln.

Und dennoch, so wie ihre Arbeiten immer besser wurden, sehnte sie sich nach Anerkennung für sich und für jene Gemälde, die sie früher als Andenken verschenkt hatte. Was einst als Zeitvertreib begann, vereinnahmte schnell ihr Leben. Fridas Gespräche waren mit vulgärem Straßenjargon gepfeffert, der über ihre kleine Statur, ihre katholische Erziehung und ihre konservative Liebe zu traditionellen mexikanischen Bräuchen hinwegtäuschte. Als sie in New York eine Straße entlang bummelte und ihr Tehuantepec-Kleid mit dem roten Besatz, verziert mit tausendjährigen Jade-Juwelen und einem scharlachroten Rebozo-Tuch über ihren Schultern trug, näherte sich ihr ein kleiner Junge und fragte: „Ist der Zirkus in der Stadt?“ Sie war eine „One-Woman-Show“ in jeder Gesellschaft, eine dadaistische Sammlung von Widersprüchen.

Ihr Innenleben schwankte zwischen Übermut und Verzweiflung. Sie kämpfte nahezu ständig gegen die Schmerzen, verursacht durch die Verletzungen ihres Rückgrats und ihres Rückens sowie ihres rechten Fußes und Beines, aber auch gegen etliche Pilzinfektionen, diverse Abtreibungsviren und die andauernden experimentellen „Dienste“ ihrer Ärzte. Die einzige stetige Freude in ihrem Leben war Diego Rivera — ihr Ehemann, ihr Froschkönig, ein beleibter Kommunist mit Glupschaugen, wildem Haar und dem Ruf eines Ladykillers. Sie ertrug seine Untreue und konterte mit eigenen Affären auf drei Kontinenten, bei denen sie sowohl mit kräftig gebauten Männern als auch mit begehrenswerten Frauen verkehrte. Aber am Ende fanden Diego und Frida wie zwei verwundete Tiere immer wieder zueinander, zwar getrennt durch ihre Kunst, die Politik und ihr vulkanisches Temperament, aber zusammengehalten vom zarten roten Band ihrer Liebe.

Fridas Bilder auf Metall, Karton und Leinwand mit flachen wandmalerischen Perspektiven, harten Kanten und kühnen, schwungvollen Bewegungen voller Lokalkolorit, spiegelten Diegos Einfluss wider. Er malte, was er auf der Oberfläche sah, sie dagegen kehrte ihr Innerstes nach außen und machte sich selbst zum Thema. Aber als Fridas Begabung im Umgang mit dem Medium und ihre Fähigkeit, in der Kunst ihre Gefühle auszudrücken in den 1940er Jahren deutlich zunahm, ließ sie ihr ungehorsamer Körper im Stich und nahm ihr die Kraft, die Bilderflut, die aus ihrer erschöpften Psyche strömte, umzusetzen. Bald blieb ihr nichts mehr außer Narkotika und dem täglichen Liter Brandy.

Diego hielt bis zum Ende zu ihr, aber auch Mexiko, das allmählich den Wert dieses bis dahin ungehobenen Schatzes erkannte. Die ihr von ihrem Heimatland lange verweigerte Anerkennung wurde Frida Kahlo erst in einer Einzelausstellung in Mexiko-Stadt zuteil, da, wo ihr Leben begann und seinen allzu kurzen 47-jährigen Bogen spannte. Als sie dahingegangen war, blieben nur die Augen, die uns mit direktem und herausforderndem Blick beobachten, zurück.

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3. Diego Rivera, Selbstporträt, 1906. Öl auf Leinwand,

55 x 54 cm. Staatliche Sammlung von Sinaloa, Mexiko.

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4. Pancho Villa und Adelita, um 1927.

Öl auf Leinwand, 65 x 45 cm.

Museo del Instituto Tlaxcala de Cultura, Tlaxcala.

 

 

Das wilde Ding

 

 

Magdalena Carmen Frida Kahlo y Calderón wurde am 6. Juli 1907 in Coyoacán, Mexiko, geboren. In ihren Mädchenjahren schien es, wo immer sie ging, als ob sie renne, als ob sie wenig Zeit übrig und noch so viel zu tun habe. Und zu dieser Zeit war Rennen, sich Verstecken und schnell herausfinden, welcher bewaffnete Haufen sich gerade ihrem Dorf näherte, alltägliche Überlebensnotwendigkeit der Mexikaner. Frida änderte allmählich die deutsche Buchstabierung ihres Namens, den sie von ihrem jüdischen Vater Wilhelm (der seinen Vornamen in Guillermo änderte) erhalten hatte, einem in Deutschland herangewachsenen Ungarn. Dennoch verwendete sie noch in manchen persönlichen Briefen die deutsche Schreibweise „Frieda“. Ihre Mutter Matilde, geborene Calderón, eine fromme Katholikin und Mestizin von indianisch-europäischer Abstammung, hatte streng konservative und religiöse Ansichten über den Platz einer Frau in der Welt. Auf der anderen Seite stand Fridas Vater, ein Künstler und Photograph mit einem gewissen Bekanntheitsgrad, der sie ermutigte, für sich selbst zu denken. Guillermo war in La Casa Azul (das Blaue Haus), an der Ecke der Londres- und Allende-Straße in Coyoacán, von lauter Töchtern umgeben. Inmitten all dieser traditionellen Häuslichkeit klammerte er sich an Frida wie an einen Ersatzsohn, der in seine Fußstapfen als Künstler treten sollte. Er wurde ihr erster Mentor, der sie aus der traditionellen und von der Mehrheit der mexikanischen Frauen akzeptierten Rolle befreite. Sie wurde seine Assistentin und begann, seinen Beruf zu erlernen, jedoch mit wenig Begeisterung für das Medium der Photographie. Sie reiste zwar mit ihm, aber vor allem, um da zu sein, falls er einen seiner epileptischen Anfälle erlitt.

Guillermo Kahlo war ein stolzer, anspruchsvoller Mann mit geregelten Gewohnheiten und vielen intellektuellen Beschäftigungen, von der Freude an klassischer Musik — er spielte fast täglich auf einem kleinen deutschen Klavier — bis hin zu seiner eigenen Malerei und allgemeinen Wertschätzung der Kunst. Seine Arbeiten in Öl und Aquarell waren zwar nur durchschnittlich, aber Frida war fasziniert von der Art, wie er die dünnen Pinselstriche eines photographischen Retuscheurs verwendete, um auf einer bloßen Leinwand Szenen zu schaffen anstatt nur die Doppelkinne eitler Porträtkunden zu überpinseln. Er behielt unbeugsam seine eigene Dualität: nach außen hin aktiv, aber innerlich gefangen von seiner Epilepsie.

Wenn er, hingestreckt von einem starken Anfall und auf der Straße liegend, sein Bewusstsein wieder erlangte, kniete Frida an seiner Seite, hielt die Ätherflasche und stellte sicher, dass seine Kamera nicht gestohlen wurde. Guillermo musizierte und las in seiner großen Bibliothek, aber innerlich war er wegen der Sorgen über das fehlende, für den Unterhalt seiner Familie notwendige Geld ständig gereizt. Er trug, laut Frida, eine „stille“ Maske. Sie lernte von ihm jene Selbstkontrolle oder wenigstens den Anschein davon. So war sie in den dunkelsten Momenten ihres Lebens niemals gewillt, öffentlich ein Gesicht zu zeigen, das enthüllen würde, was sich tatsächlich hinter dem stoischen Ausdruck verbarg.

Frida Kahlo war verwöhnt, verzogen und leicht zu beeindrucken. Guillermos Erfolg brachte ihm unter Porfirio Díaz eine Stelle bei der Regierung ein, für die er als eine Art Werbung mexikanische Architektur photographierte, um ausländische Investoren zu locken. Seit 1876 war Díaz Präsident von Mexiko und hatte sich eine darwinistische Philosophie zu Eigen gemacht. Dieses Konzept vom „Überleben des Stärkeren“ ging davon aus, dass alle Regierungsgelder und -programme dazu verwendet wurden, die Reichen und Erfolgreichen zu fördern, während man die wenig produktiven Bauern vernachlässigte. Mexiko wurde der ökonomische Liebling jener Länder des internationalen Handels, die seinen Mineralreichtum und die billigen Arbeitskräfte ausnutzten. Europäische Kultur und Bräuche herrschten vor, während mexikanische und indianische Traditionen auf der Strecke blieben. Díaz wählte persönlich Guillermo Kahlo aus, um ausländischen Investoren die beste Seite Mexikos zu präsentieren und katapultierte so den umherreisenden Porträtphotographen in die begehrte Mittelklasse.

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5. Diego Rivera, Akt von Frida Kahlo, 1930.

Lithographie, 44 x 30 cm.

Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.

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6. Diego Rivera, Akt von Frida Kahlo, 1930.

Lithographie, 44 x 30 cm.

Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.

Von El Universal Ilustrado veröffentlichtes Gedicht

 

30. November 1922

 

GEDÄCHTNIS

Ich hatte gelächelt. Nichts weiter. Aber plötzlich wusste ich

in der Tiefe meines Schweigens,

dass er mir folgte. Wie mein Schatten, ohne Schuld und leicht.

In der Nacht schluchzte ein Lied…

Die Indios wurden länger und schlängelten sich durch die Gassen der Stadt.

Eine Harfe und eine Jarana waren die Musik, und die lächelnden dunkelhäutigen Mädchen

waren das Glück.

Im Hintergrund, hinter dem „Z?calo”, glänzte der Fluss

und wurde dunkler,

wie die Augenblicke meines Lebens.

Er folgte mir.

Am Ende landete ich weinend und allein in der Vorhalle

der Gemeindekirche,

geschützt von meiner Bolita-Stola und durchnässt von Tränen.

Brief an Alejandro Gómez Arias

 

25. April 1927

 

Gestern war ich sehr krank und sehr traurig; Du kannst Dir nicht vorstellen, wie verzweifelt man sein kann, wenn man so krank ist. Ich empfinde ein grauenhaftes Unbehagen, das ich nicht beschreiben kann, und außerdem habe ich manchmal Schmerzen, die durch nichts gelindert werden können. Sie wollten mir heute das Gipskorsett anlegen, aber es wird wohl Dienstag oder Mittwoch werden, weil mein Vater nicht das Geld hatte – und es kostet sechs Pesos. Es ist nicht einmal so sehr das Geld, weil sie es leicht bekommen könnten. Niemand zu Hause glaubt, dass ich wirklich krank bin, weil ich es noch nicht einmal sagen kann, weil meine Mama, die sich als einzige ein wenig Sorgen [um mich] macht, krank wird. Und sie sagen, dass ich schuld bin, dass ich sehr unvernünftig bin. Also leidet, verzweifelt und so weiter niemand außer mir. Ich kann nicht viel schreiben, weil ich mich kaum herunterbeugen kann; ich kann nicht gehen, weil meine Beine schrecklich weh tun. Das Lesen langweilt mich auch schon – ich habe nichts Schönes zum Lesen – ich kann nichts tun, außer zu weinen, und manchmal kann ich nicht einmal das. Ich empfinde bei nichts Freude; ich habe keine einzige Ablenkung – nur Sorgen – und all meine Besucher ärgern mich nur. […] Du kannst Dir nicht vorstellen, wie mich diese vier Wände zur Verzweiflung bringen. Alles! Es ist unmöglich, Dir meine Verzweiflung zu schildern.

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7. Porträt von Alicia Galant (Detail), 1927.

Öl auf Leinwand, 107 x 93,5 cm.

Museo Dolores Olmedo, Mexiko-Stadt.

 

 

Kahlo verschwendete keine Zeit. Er kaufte eine Parzelle im nahe gelegenen Vorort von Coyoacán am Randbezirk von Mexiko Stadt und baute dort ein traditionell mexikanisches Heim mit zum Innenhof geöffneten Räumen, die La Casa Azul, tiefblau bemalt mit roten Zierleisten. Um Frida eine bessere Ausbildung bieten zu können, meldete er sie 1922 an einer freien nationalen höheren Schule in San Ildefonso an, die sie auf ein Hochschulstudium vorbereitete. Sie war eines der aus 2. 000 Bewerbern aufgenommenen 35 Mädchen und stieg neben den männlichen Schülern, von denen später einige zu führenden Intellektuellen und Politikern Mexikos werden sollten, zu einer der Klassenbesten auf. Sie genoss ihre neue Freiheit weitab von den stumpfen häuslichen Aufgaben und trieb sich mit einigen Schulcliquen herum. Sie fühlte sich der Cachuchas-Clique zugehörig — benannt nach der Art der von ihnen getragenen Kopfbedeckung, einer Gruppe intellektueller Bohemiens.

Diesen kunterbunten elitären Haufen führte Alejandro Gómez Arias an, der in unzähligen Reden wiederholte, dass eine neue Aufklärung Mexikos „Optimismus, Opfer, Liebe, Freude“ und mutige Führung fordere. Sein gutes Aussehen, sein selbstsicheres Auftreten und seinen beeindruckenden Intellekt fand Frida anziehend. Ihr ganzes Leben lang zog sie Männer dieses Schlages an, und sobald sie von ihr erobert waren, wurde jeder von ihnen in ein leidenschaftliches, besitzergreifendes Netz verstrickt. Aber jede Eroberung verwirrte dieses Mädchen vom Land, wenn es darüber nachdachte, was diese maßgebenden Männer wohl in ihr sahen.

Sie war klein, schlank, dunkel und ein Krüppel. Als dreizehnjährige war Frida an der wachstumshemmenden Kinderlähmung erkrankt, die ihr rechtes Bein verkümmern ließ. Nachbarskinder hänselten sie mit Rufen wie „pata de palo“ („Holzbein/Hinkebein“). Um ihr Gebrechen zu kaschieren, trug sie am dünnen Bein mehrere Strümpfe übereinander und der Absatz ihres Schuhs wurde um zwölf cm erhöht. Betrachtet man die Situation der Medizin im Mexiko der 1920er Jahre — heiße Walnussölbäder und Kalzium-Präparate — so hatte sie Glück, noch am Leben zu sein. Um ihr Lahmen noch mehr zu kompensieren, stürzte sie sich auf den Sport: Rennen, Boxen, Schwimmen und Ringen, d. h. jegliche anstrengende Aktivität, die Mädchen offen stand. Aber ihre größte Betätigung blieb die intellektuelle Debatte, und in Arias fand sie einen wahren Seelenverwandten.

1923 wurden sie ein Liebespaar und verbrachten Stunden in der Ibero-Amerikanischen Bibliothek, vertieften sich in Gogol, Tolstoi, Spengler, Hegel, Kant und andere außerordentliche europäische Philosophen. Aus diesem Beisammensein und ihren eigenen Studien entwickelte sich allmählich eine tiefe Affinität zum Sozialismus und der Erhebung der Massen. Für sie waren in jenem Kreis der auf der sozialen Leiter emporsteigenden Studenten diese beiden Konzepte Lippenbekenntnisse, aber Frida blieb für den Rest ihres Lebens eine bekennende und laut vernehmbare Kommunistin. Sie tauschte sogar als eine Bestätigung ihres Engagements für revolutionäre Ideale das Datum, 1910, des Beginns der mexikanischen Revolution, gegen das Datum ihres eigentlichen Geburtsjahres, 1907, aus. Die Atmosphäre in Mexiko Stadt war durch politische Debatten aufgeheizt und gefährlich. Flüchtige Sprecher traten auf, um jegliches Regime herauszufordern, nur um dann auf der Straße niedergeschossen oder von der Korruption geschluckt zu werden. Díaz wurde von Madero abgelöst, der sich dreizehn Monate hielt, bis ihn eine tödliche Ladung von Gewehrkugeln seines Generals Victoriano Huerta stoppte.

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8. Porträt meiner Schwester Cristina, 1928.

Öl auf Holz, 99 x 81,5 cm.

Sammlung Otto Atencio Troconis, Caracas.

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9. Porträt einer Dame in Weiß, um 1929.

Öl auf Leinwand, 119 x 81 cm.

Privatsammlung, Deutschland.

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10. Diego Rivera, Porträt der Señora Doña
Evangelina Rivas de Lachica, 1949.

Öl auf Leinwand, 198,1 x 139,7 cm. Privatsammlung.

 

 

 

Die populistischen Helden Francisco „Pancha“ Villa und Emiliano Zapata teilten die bäuerliche Bevölkerung des Landes unter sich auf und brachten jeden zur Strecke, der mit ihren Manifesten zur Landreform nicht einverstanden war. Ihnen gelang es aber weder, eine Mehrheit zu bilden noch waren sie aufgrund ihres Temperaments oder Bildung fähig zu regieren. Venustiano Carranza ergriff die Macht, als Huerta aus Mexiko floh und war nicht besser als der Haufen, der ihm vorausgegangen war. All diese Politiker waren letztendlich ein Produkt von Díaz’ eurozentrischen ökonomischen Grundsätzen, die die Reichen ernährten und die Armen ignorierten. In dieses Vakuum wurden die proletarischen Ideale der über Russland hinwegfegenden kommunistischen Revolution geworfen, der dann der Meuchelmord am Zaren und seiner Familie 1917 folgte. Die sozialistischen Theorien von Marx und Engels sahen nach dem Gemetzel der scheinbar endlosen mexikanischen Revolution viel versprechender aus.

Und dennoch, trotz der zunehmend politisch-dialektischen Debatten hielt Frida an einigen katholischen Lehren ihrer Mutter fest und — nach einem satirischen Flirt mit europäischer Kleidung und Haltung einschließlich der Travestie als Mann im maßgeschneiderten Anzug — entwickelte sie eine leidenschaftliche Liebe für alle traditionell mexikanischen Dinge. Während dieser Zeit gab der Vater ihr einen Malkasten mit Wasserfarben und Pinsel. Er hatte auf Expeditionen mit seiner Kamera und bei Aufträgen oft Farben dabei. Frida übernahm diese Gewohnheit, wenn sie ihn begleitete.

Zehn Jahre Revolution hatten Mexikos Wirtschaft zugrunde gerichtet und Guillermo Kahlo seinen Job bei der Regierung gekostet. Matilde entließ ihre Dienerschaft. Dem Leben im Blauen Haus wurde ein Dämpfer aufgesetzt, als die Töchter alle Aufgaben im Haushalt übernahmen. Guillermo schulterte auf der Suche nach Porträtaufträgen erneut seine Graflex-Kamera.

Mit dem allgemeinen Aufatmen der Bevölkerung unter der Regierung der beiden Generäle Alvaro Obregon und Plutarco Calles errangen einige der lokalen Intellektuellen und Künstler die Gunst der Ministerien. „Revolutionäre“ Landreformen wurden zwar versprochen, aber unterhalb der Oberfläche war alles wie immer. Das Feuer in den politischen Debatten und den aufkeimenden Bewegungen loderte in der mexikanischen Hauptstadt konstant weiter. Frida wurde in der Schule recht nachlässig, sie erfreute sich mehr der Stimulation durch ihre intellektuellen Freunde als der vorgeschriebenen Studien. Als 15-jährige hatte sie einen scharfen Intellekt.

Sie testete politische und philosophische Doktrinen mit Freunden in unschuldigen Debatten, wo schlagende Argumente nicht mit Tod vergolten wurden. Während dieser Zeit erfuhr sie, dass der Erziehungsminister ein großes Wandbild für den Schulhof in Auftrag gab: Die Schöpfung bedeckte eine Fläche von 150 Quadratmetern. Der Wandmaler war der mexikanische Künstler Diego Rivera, der in den vergangenen 14 Jahren in Europa gearbeitet hatte. Assistiert von seiner Frau Guadalupe (Lupe) Marín und einem Team von Kunsthandwerkern setzte er das Gerüst zusammen und trug buntes Wachs, das Warmluftgebläse benötigt, damit es zu einer Harzbasis schmelzen konnte, auf die bereits mit Kohle skizzierte Mauer. Dieser langsame Glasierungsprozess wurde letztendlich zugunsten eines verputzten Freskos aufgegeben, aber für Frida war die Entstehung der Szene, die sich ihren Weg über die blanke Wand bahnte, faszinierend. Sie und einige Freunde schlichen oft in das Auditorium, um Rivera bei seiner Arbeit zu beobachten. Sein Aussehen war weit entfernt von dem eines hungernden Künstlers.

Das Gerüst knirschte unter seinem Gewicht, sobald er darauf hin- und herlief. Alles an ihm war übergroß, vom unbändigen Haarwuchs bis hin zum weiten Gürtel, der seine am Gesäß durchhängende und an den Knien ausgebeulte Hose fest hielt. Die Studenten gaben ihm den Spitznamen Panzón (Fettwanst). Schließlich endeten diese Verunglimpfungen, als eine andere Gruppe von Studenten, die die Ansichten ihrer elitären ultra-konservativen Eltern repräsentierten, anfingen, andere Wände, an denen die Künstler David Siqueiros und Jose Clemente Orozco arbeiteten, zu beschädigen. Sie behaupteten, dass die Wandgemälde Atheismus und sozialistische Ideologie förderten. Riveras Assistenten bewaffneten sich und agierten als Wächter, wenn sie nicht Farben mischten oder Skizzen auf die Wand übertrugen. Rivera selbst pflegte das Image eines Revolver tragenden Verteidigers der kreativen Freiheit. Oft tauchte er zu Partys mit großem Colt in seinem Gürtel oder seiner Jackentasche auf.

Bereits in sehr jungen Jahren war Frida von ihrem Vater beigebracht worden, die Malerei zu achten. Als Teil seiner Erziehung ermutigte er sie, populäre Drucke und Zeichnungen anderer Künstler zu kopieren. Um die finanzielle Situation zu Hause zu erleichtern, ging sie bei einem Freund ihres Vaters, dem Graveur Fernando Fernandez, in die Lehre. Fernandez lobte ihre Arbeit und gab ihr Zeit, mit Feder und Druckfarbe zu kopieren. Sie malte mit derselben Begeisterung, mit der sie auch handgefertigte Spielzeuge, Puppen und bunte bestickte Kostüme sammelte: Es war Hobby und zugleich Mittel persönlichen Ausdrucks, nicht etwa als „Kunst“, da sie überhaupt nicht daran dachte, eine professionelle Künstlerin zu werden.

Sie betrachtete die Fähigkeiten eines Künstlers wie Diego Rivera als weit über ihren Talenten stehend. Ihre sehr frühen Arbeiten waren Studien in Farbe und Formen von Gebäuden wie Nimm dir noch eins aus dem Jahr 1925. Es ist ein nach der naiven Auffassung eines Kindes aus der Vogelperspektive gemalter städtischer Platz: der Eselskarren nimmt seinen Weg über eine Avenue im Vordergrund.

Eine andere Arbeit, Urbane Landschaft (Paisaje Urbano), ist eine Komposition von architektonischen Ebenen und linearen Schornsteinen, die eine durch subtilen Gebrauch von Schatten erzielte raffinierte Struktur zeigt. Diese Anwendung verweist auf das Wissen, das sie durch Kopieren unter Fernandez’ Anleitung erlangte. Es zeigt auch einen Blick für Komposition, nicht unähnlich den Photos von Edward Weston, der ein Jahr in Mexiko verbrachte und im Begriff war, Formen und Texturen in ihrer Wechselbeziehung neu zu sehen. Obwohl Frida ihre Malerei als einen angenehmen Zeitvertreib betrachtete, hielt es sie nicht davon ab, einen stillschweigend geduldeten Platz im Auditorium zu ergattern, wo sie Rivera bei der Arbeit zuschauen konnte — sogar unter den eifersüchtigen Blicken und Beleidigungen von Lupe Marín. Die Ehefrau brachte Diego regelmäßig in einem Korb sein Mittagessen. Auf diese Art gelang es ihr, ihn im Auge zu behalten, besonders dann, wenn er ein ausnehmend schönes Modell malte. Lupe war seine zweite Ehefrau, und sie kannte ihn sehr gut.

Und dann änderte sich schlagartig alles für immer. Kahlo erzählte der Autorin Raquel Tibol folgendes:

„Die Busse in jenen Tagen waren zwar absolut dürftig, aber sehr beliebt. Die Straßenbahnen waren leer. Ich stieg mit Alejandro Arias in den Bus und saß bei ihm am Ende neben dem Handlauf. Augenblicke später stieß der Bus mit einer Straßenbahn der Linie Xochimilco zusammen und die Tram drückte ihn gegen eine Hausecke. Es war ein merkwürdiger Zusammenprall, nicht gewaltig, sondern schwerfällig und langsam, bei dem jeder verletzt wurde, ich aber weitaus ernsthafter als die anderen. Ich war damals achtzehn, sah aber viel jünger aus, sogar jünger als meine Schwester Cristi, obwohl ich elf Monate älter war als sie. Ich war ein intelligentes junges Mädchen, aber nicht sehr praktisch veranlagt, trotz der Freiheit, die ich gewonnen hatte. Vielleicht konnte ich aus diesem Grunde die Situation nicht einschätzen und ich hatte von meinen Verletzungen noch keine Ahnung. Die Kollision hatte uns nach vorne geworfen, und der Handlauf ging durch mich hindurch wie ein Schwert durch einen Bullen. Ein Mann sah, dass ich fürchterlich blutete und trug mich zu einem Tisch in der nahe gelegenen Billardhalle, bis das Rote Kreuz mich abholte. Als ich meine Mutter erblickte, sagte ich zu ihr: „Ich lebe noch, und außerdem habe ich etwas, für das ich lebe, und dieses Etwas ist die Malerei. Weil ich mich im Gipskorsett, das vom Schlüsselbein bis zum Becken reichte, hinlegen musste, fertigte meine Mutter einen sehr lustigen Apparat an, der die Staffelei unterstützte. Sie war diejenige, die daran dachte, ein Kopfende im Renaissancestil mit einem Baldachin und Spiegel an mein Bett zu bauen, um mein Abbild als Modell zu benutzen. [1]

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11. Porträt von Miguel N. Lira, 1927.

Öl auf Leinwand, 99,2 x 67,5 cm.

Museo del Instituto Tlaxcala de Cultura, Tlaxcala.

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12. Porträt von Diego Rivera, 1937.

Öl auf Leinwand, 46 x 32 cm. Sammlung Jacques

und Natasha Gelman, Mexiko-Stadt.

 

 

Die Unfall war grauenhaft. Irgendwie riss die Kollision Frida ihre Kleidung vom Leib und schleuderte sie nackt auf den zerschmetterten Boden des Busses. In ihrer Nähe hatte ein Maler oder Kunsthandwerker gesessen, der ein Päckchen mit Goldpuder trug. Es platzte auf und bestäubte ihren bloßen Körper. Der eiserne Handlauf hatte ihre Hüfte durchstochen, tauchte in ihrer Vagina wieder auf und ein Blutschwall schoss aus der Wunde und vermischte sich mit dem goldenen Staub. In diesem Chaos fingen die Umherstehenden an zu schreien, als sie ihren bizarr durchlöcherten, gleichzeitig vergoldeten und blutüberströmten Körper sahen, „La Balarina! La Balarina!“ Einer der Herumstehenden bestand darauf, den Handlauf aus ihr herauszuziehen und griff deshalb nach unten und riss ihn aus der Wunde. Sie schrie so laut, dass sogar die Sirene der heranfahrenden Ambulanz nicht zu hören war.

Eine deutsche Ärztin, Henriette Begun, stellte 1946 ein Krankheitsbild von Frida Kahlo zusammen. Der Eintrag vom 17. September 1925 liest sich wie folgt:

„Der Unfall verursachte Frakturen des dritten und vierten Lendenwirbels, drei Frakturen des Beckens, elf Frakturen am rechten Fuß, Ausrenkung des linken Ellbogens. Unterleibswunde durch einen eisernen Handlauf, der die linke Hüfte durchbohrte, durch die Vagina heraustrat und die linke Lippe einriss. Akute Bauchfellentzündung. Blasenentzündung mit Kathederbehandlung für mehrere Tage. Drei Monate Bettruhe im Hospital. Rückgratfraktur von Ärzten nicht erkannt, bis Dr. Ortiz Tirado eine neunmonatige Ruhigstellung im Gipskorsett anordnete. Von da ab hatte sie ein Gefühl konstanter Müdigkeit und manchmal Schmerzen im Rückgrat und rechten Bein, die sie nie wieder loswerden sollte. “[2]

 

 

 

 

 

Brief an Alejandro Gómez Arias

 

20. Oktober 1925

 

Nach den Aussagen von Dr. Diaz Infante, der mich beim Roten Kreuz behandelte, bin ich nun außer Gefahr und ich werde mehr oder weniger gesund werden. […] Die rechte Seite meines Beckens ist gebrochen und verschoben. Mein Fuß war verrenkt, mein linker Ellenbogen war verrenkt und wies einen kleinen Bruch auf, und was die Wunden, von denen ich Dir in dem anderen Brief geschrieben habe, anbetrifft: die längste ging von der Hüfte bis zum Schritt durch meinen Körper, und es gab zwei von ihnen. Eine ist bereits verheilt, und die andere ist etwa zwei Zentimeter lang und etwa eineinhalb Zentimeter tief, aber ich glaube, sie wird bald verheilen. Mein rechter Fuß ist von tiefen Kratzern bedeckt und ein weiteres Problem ist, dass […] Dr. Diaz Infante (der sehr nett ist) mich nicht länger behandeln wollte, weil er sagte, dass Coyoacán sehr weit entfernt ist und er einen verletzten Menschen nicht einfach verlassen könne, wenn sie ihn riefen. Also ist er durch Pedro Calderün aus Coyoacán ersetzt worden. Kannst Du Dich an ihn erinnern?

Nun, da jeder Arzt etwas anderes über ein und dieselbe Krankheit sagt, sagte Pedro natürlich, dass er der Meinung ist, dass alles sehr gut aussehe, bis auf den Arm, und dass er sehr bezweifelt, dass ich ihn strecken könne, weil das Gelenk zwar in Ordnung sei, die Sehne aber verkürzt sei und mich daran hindere, den Arm zu strecken, und dass es, wenn ich es doch schaffen sollte, sehr lange dauern werde und erst nach vielen Massagen und heißen Wasserbädern möglich sein werde. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie weh es tut, jedes Mal, wenn sie an mir ziehen, weine ich einen Liter Tränen, auch wenn sie sagen, dass man der Lahmheit eines Hundes und den Tränen einer Frau nicht glauben soll. Mein Bein bereitet mir so große Schmerzen, dass man glauben muss, dass es zermalmt ist. Außerdem pocht das ganze Bein fürchterlich und ich fühle mich sehr unwohl, wie Du Dir vorstellen kannst, aber sie sagen, dass der Knochen mit Ruhe rasch heilen wird und dass ich nach und nach wieder gehen können werde.

 

 

 

 

 

Brief an Alejandro Gómez Arias

 

10. Januar 1927