Autor: Peter Leek

 

Übersetzung aus dem Englischen: Dr. M. Goch

 

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ISBN: 978-1-78310-645-5

Peter Leek

 

 

 

Russische Malerei

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

Einleitung

Ikonenmalerei

Parsunas

Die Akademie

Gegenströmungen in der Kunst

Die Wanderer

Die Entstehung der russischen “Avantgarde”

Religiöse Malerei

Vom 18. Jahrhundert bis zu den 1860er Jahren

Von den 1860er bis zu den 1890er Jahren

Porträtmalerei

Vom 18. Jahrhundert bis zu den 1860er Jahren

Von den 1860er bis zu den 1890er Jahren

Von den 1890er Jahren bis zur nachrevolutionären Zeit

Historienmalerei

Vom 18. Jahrhundert bis zu den 1860er Jahren

Von den 1860er bis zu den 1890er Jahren

Von den 1890er Jahren bis zur nachrevolutionären Zeit

Interieurs und Genremalerei

Interieurs im 18. und 19. Jahrhundert

Genremalerei vom 18. Jahrhundert bis zu den 1860er Jahren

Genremalerei von den 1860er bis zu den 1890er Jahren

Die nachrevolutionäre Periode: Das Leben des Volkes

Landschaftsmalerei

Vom 18. Jahrhundert bis zu den 1860er Jahren

Von den 1860er bis zu den 1890er Jahren

Von den 1890er Jahren bis zur nachrevolutionären Zeit

Stillleben

Vom 18. Jahrhundert bis zu den 1860er Jahren

Von den 1860er bis zu den 1890er Jahren

Von den 1890er Jahren bis zur nachrevolutionären Zeit

Die “Avantgarde” des 20. Jahrhunderts  und die revolutionäre Kunst

Eine neue Welt der Kunst

Abstraktion

Symbolismus

Biographien

ALEXANDER BENOIS

IWAN BILIBIN

LEON BAKST

KONSTANTIN SOMOW

VALENTIN SEROW

ALEXANDER GOLOWIN

NIKOLAI ROERICH

JEWGENI LANCERAY

MSTISLAW DOBUSCHINSKI

BORIS KUSTODIJEW

SINAIDA SEREBRJAKOWA

IGOR GRABAR

NIKOLAI SAPUNOW

SERGEJ SUDEIKIN

DMITRI MOTROCHIN

GEORGI NARBUT

SERGEJ TSCHECHONIN

Künstlerverzeichnis

Bildverzeichnis

1. Unbekannter Künstler, Die Muttergottes von Wladimir,

 

 

Einleitung

 

 

Die erhabene Metaphorik der großen Ikonenmaler, die Porträtmalerei des 18. und des 19. Jahrhunderts, die Bilder der See, des Schnees und der Wälder, die Darstellungen des bäuerlichen Lebens und die historischen Gemälde der Wanderer, die Eleganz der Bewegung Welt der Kunst, die kühnen Experimente der Künstler des frühen 20. Jahrhunderts ... Wer mit der russischen Malerei nicht vertraut ist, wird ihren Reichtum und ihre Vielseitigkeit als eine Überraschung oder zumindest als eine aufregende Entdeckung empfinden. In der Tat ist die Kreativität der russischen Künstler der letzten zweieinhalb Jahrhunderte so ausgeprägt gewesen, dass ein Buch wie das vorliegende hoffnungslos überfordert wäre, wollte es einen erschöpfenden Überblick über ihr Schaffen geben. Sein Ziel ist es eher, eine repräsentative Auswahl der russischen Malerei vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn der nachrevolutionären Epoche (sowie einige Ausblicke auf jüngere Arbeiten) zu bieten. In diesem Rahmen werden lediglich einige Bemerkungen zu Russlands reichem Erbe der Ikonenmalerei möglich sein. Ebenso wenig kann die Kunst der sowjetischen Ära ausführlich berücksichtigt werden.

 

Ikonenmalerei

 

Obwohl die Ikonenmalerei sich rasch zu einem genuinen Bestandteil der russischen Kultur entwickelte, handelte es sich zunächst um eine importierte Kunstform, die von Konstantinopel aus nach Russland gelangt war. Der Begriff Ikone, eine Übertragung des griechischen Wortes für Abbildung oder Bild, verweist auf seinen byzantinischen Ursprung. Nachdem der Großfürst Wladimir der Heilige des Kiewer Reiches (des ersten russischen Staatsgebildes) Gesandte ausgeschickt hatte, die ihm über die unterschiedlichen existierenden Religionen berichten sollten, nahm er im Jahr 988, und zwar sowohl für sich selbst wie auch für seine gesamten Untertanen, den christlichen Glauben an und veranstaltete im Dnjepr eine Massentaufe. Er lud byzantinische Künstler und Baumeister nach Kiew ein, um christliche Kultstätten zu bauen und zu schmücken. Auf diese Weise wurden die Steinkirchen Kiews mit großartigen Fresken und Mosaiken ausgestattet. Wandmalereien waren unzweckmäßig, weil viele der frühen Kirchen in Kiew aus Holz errichtet worden waren, stattdessen wurden religiöse Bilder auf hölzerne Tafeln gemalt. Diese wiederum zierten häufig einen Wandschirm, der den Altarraum vom Hauptteil der Kirche trennte und sich schließlich zur Ikonostase entwickelte, einer mit gestuft angeordneten Ikonen kunstvoll dekorierten Trennwand.

2. Der Heilige Georg als Drachentöter, 15. Jh.

3. Passion Christi, 15. Jh. Eitempera aus Holz,

 

 

Man nimmt an, dass die berühmteste dieser frühen Ikonen, Die Gottesmutter von Wladimir (heute in der Tretjakow-Galerie in Moskau), während des ersten Viertels des 12. Jahrhunderts in Konstantinopel gemalt wurde. Zwischen dieser Zeit und der des Simon Uschakow (1626-1686), vermutlich der letzte bedeutsame Ikonenmaler, bildete sich eine große Vielfalt an Schulen und Stilen der Ikonenmalerei heraus, unter denen die von Wladimir-Suzdal, Jaroslawl, Pskow, Nowgorod und Moskau herausragten.

Die ersten Ikonenmaler sind biographisch nicht fassbar, man weiß jedoch, dass es sich nicht ausnahmslos um Mönche handelte, und bald schon waren Werkstätten, die sich auf Ikonen und andere Formen des Kirchenschmucks spezialisiert hatten, in vielen Teilen Russlands verbreitet.

Theophanes der Grieche (ca. 1340-1405), einer der großen Meister der Ikonenmalerei, kam aus Konstantinopel nach Russland und übte großen Einfluss sowohl auf die Nowgoroder wie auch auf die Moskauer Schule aus. Weitere bekannte Meister sind Andrej Rubljow, dessen berühmtestes Werk, die Alttestamentliche Trinität, sich in der Tretjakow-Galerie befindet, und sein Freund und Partner Daniil Tschorny (wie Rubljow ein Mönch) sowie Dionysius, einer der ersten Laien unter den führenden Ikonenmalern. Als Dionysius (ca. 1440-1508) und seine Söhne ihre Werke schufen, verbreitete sich zunehmend der Besitz von Ikonen. Zunächst hatten Adlige und Kaufleute sie an einem besonderen Ehrenplatz in ihren Häusern ausgestellt, zuweilen sogar in einem eigens für diesen Zweck vorgesehenen Raum. Aber dann begannen auch vermögende Bauernfamilien, Ikonen in einer “schönen Ecke” (krasny ugol) aufzuhängen.

4. Andrej Rubljow,
Alttestamentliche Trinität, 1422-1427.

5. Unbekannter Künstler,
Porträt von Jakob Turgenjew, vor 1696.

 

 

Parsunas

 

Die Ikonenmaler stellten neben Christus, der Jungfrau Maria und Heiligen oder Engeln bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts grundsätzlich nur Figuren aus dem Alten und Neuen Testament dar. Dann aber rief Iwan IV., der Schreckliche, im Jahr 1551 ein Kirchenkonzil (Stoglav) zusammen, um eine Reihe strittiger Fragen zu klären, unter anderem die, ob die Darstellung lebender Menschen in Ikonen frevelhaft sei. Der etwas kryptische Beschluss des Konzils in dieser Angelegenheit wurde so gedeutet, dass die Aufnahme von Zaren und Personen aus Geschichte und Sage neben biblischen Figuren zulässig sei. In der Folge öffnete sich die Ikonenmalerei neuen Stilrichtungen und Inhalten, bis im Rahmen des Schismas, das die russisch-orthodoxe Kirche Mitte des 17. Jahrhunderts spaltete, Nikon (der Patriarch der Reformpartei) und Awwakum (der Führer der konservativen Altgläubigen) sich gegenseitig in ihren Bemühungen zu übertreffen trachteten, die Reinheit der Ikonenmalerei wiederherzustellen. Nikon zerschmetterte, verbrannte oder verunstaltete durch das Ausstechen der Augen der Ikonengestalten jene Ikonen, die von der byzantinischen Tradition abwichen, insbesondere dann, wenn sie weltliche Figuren darstellten. Und Awwakum geißelte Neuerungen und fremde Einflüsse in einer Sprache, die kaum weniger drastisch war als die Nikons.

Aber der Beschluss von Iwans Stoglav hatte unbeabsichtigt den Weg für die Ausbreitung der weltlichen Kunst geebnet. Maler wandten sich Porträts und anderen künstlerischen Ausdrucksformen zu, um nicht die Aufmerksamkeit Nikons und Awwakums sowie ihrer Anhänger zu erregen. Eine Folge davon war die Mode der Parsunas (abgeleitet von dem lateinischen persona). Dies waren im Stil den Ikonen ähnelnde Bilder lebender Menschen, die aber keinen religiösen Charakter hatten und häufig auf hölzerne Tafeln, seltener auf Leinwand gemalt wurden. Zunächst außerordentlich stilisiert, wurde das Hauptaugenmerk weniger darauf gerichtet, den Charakter der Personen einzufangen als vielmehr ihren gesellschaftlichen Rang darzustellen. Aber die Parsunas machten in der Porträtmalerei schon bald einer realistischeren Form Platz. Das vor 1696 von einem unbekannten Künstler gemalte Porträt des Hofnarren Peters des Großen, Jakob Turgenjew, zum Beispiel weist eine psychologische Tiefe und eine Ironie auf, die man in den meisten Parsunas vermisst. Die zweifelnde Schläue, die den Gesichtsausdruck des Narren kennzeichnet, und die Art und Weise, in der diese kraftvolle Figur die Leinwand besetzt, mögen ein Hinweis darauf gewesen sein, dass Weisheit nicht allein Prinzen und Torheit ebenso wenig allein den Narren vorbehalten ist.

6. Iwan Kramskoj, Porträt von Pawel Tretjakow, 1876.

 

 

Die Akademie

 

Die Entscheidung Peters des Großen, eine Hauptstadt zu bauen, die “... ein Fenster nach Europa” sein würde, war für die russische Malerei von beträchtlicher Bedeutung. Zum einen holte er Architekten, Handwerker und Künstler aus verschiedenen Teilen Europas nach Russland. Sie sollten sowohl die Bauten St. Petersburgs entwerfen und verzieren als auch ihre russischen Zeitgenossen in den Fertigkeiten unterweisen, die erforderlich waren, um seinen Plan der Modernisierung des gesamten Landes umzusetzen. Mit einer ähnlichen Intention finanzierte er die Ausbildung russischer Künstler im Ausland, und auch seine Planungen zur Einrichtung einer Kunstabteilung in der gerade neu gegründeten Akademie der Wissenschaften sollten diesem Ziel dienen. Diese Pläne trugen nach dem Tod Peters des Großen erste Früchte: Man gründete im Jahre 1757 die Kaiserliche Akademie der Künste, die sechs Jahre später ihren eigentlichen Betrieb aufnahm und über ein Jahrhundert lang einen außerordentlich starken Einfluss auf die russische Kunst ausübte. Sie wurde durch eine Vorbereitungsschule ergänzt, in die hoffnungsvolle künstlerische Talente schon mit sechs oder zehn Jahren geschickt wurden. Die Akademie war durch eine äußerst strenge Hierarchie gekennzeichnet, in der die vergebenen Titel von “Künstler ohne Rang” bis hin zum Akademiemitglied, Professor und Ratsmitglied reichten. Studenten, die über die nötige Ausdauer verfügten, mühten sich 15 Jahre mit ihren Studien ab. Bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde die Akademie durch das bedingungslose Festhalten an klassischen Ideen beherrscht. Russische Künstler empfanden die Vorschriften und Einstellungen der Akademie häufig als frustrierend. Ihr Verdienst bestand jedoch zweifellos darin, dass sie verheißungsvollen Talenten eine umfassende und strenge künstlerische Ausbildung ermöglichte.

 

Gegenströmungen in der Kunst

 

Anfangs stellten ausländische Künstler die Mehrheit des Lehrkörpers der Akademie dar, in erster Linie Franzosen und Italiener. Dies hatte zur Folge, dass die russische Malerei während der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark von den Modeströmungen beeinflusst wurden, die in anderen Teilen Europas vorherrschten und Russland erfahrungsgemäß mit einer leichten Verzögerung erreichten. Angesichts der Entfernung zwischen St. Petersburg und Moskau einerseits und den westeuropäischen Hauptstädten andererseits ist dieser Rückstand kaum verwunderlich. Aber die russischen Maler hatten durchaus Möglichkeiten, sich mit russischer und nicht-russischer Kunst vertraut zu machen. Sie verdankten dies sowohl der Verbreitung von Reproduktionen – häufig Stiche und Lithographien – als auch der Angewohnheit der herrschenden Klasse, im großen Stil Kunstwerke zu erwerben. Katharina II., die Große, unterstützte die Akademie nicht nur finanziell (unter anderem durch Reisestipendien für Absolventen), sondern kaufte auch Meisterwerke französischer, italienischer und niederländischer Künstler für die Eremitage. Während der Französischen Revolution (1789) gelang ihren Agenten – und im Allgemeinen auch anderen russischen Besuchern der französischen Hauptstadt – eine Reihe günstiger Gelegenheitskäufe, als die Ausstattungen von Schlössern geplündert und verscherbelt wurden.

7. Jean-Marc Nattier, Porträt von Peter dem Großen, 1717.

8. Viktor Wasnetzow, Iwan der
Zarensohn und der graue Wolf, 1889.

 

 

Die Wanderer

 

Im Jahr 1863, in dem der erste Salon der Abgelehnten (Salon des Refusés) in Paris veranstaltet wurde, verließen vierzehn hoch begabte Kunststudenten (dreizehn Maler und ein Bildhauer) die Kaiserliche Akademie der Künste in St. Petersburg aus Protest gegen deren konservative Haltung und restriktiven Vorschriften. Ihr nächster Schritt bestand in der Gründung eines Künstlerbundes, bei dem aber sehr schnell deutlich wurde, dass es eines breiter verankerten und besser organisierten Verbandes bedurfte. Dies führte schließlich zur Bildung der Gesellschaft für Wanderkunstausstellungen. Die Gesellschaft wurde im November 1870 eingetragen, und die erste ihrer insgesamt 43 Ausstellungen fand im November 1871 statt (die letzte im Jahre 1923). Iwan Kramskoj, Porträt-, Historien- und Genremaler, unterrichtete an der Zeichenschule der Förderungsgesellschaft von St. Peterburg, bevor er 1869 zum Akademiemitglied befördert wurde. Wassili Perow, Porträt-, Historien- und Genremaler, unterrichtete 1871-1883 Malerei an der Schule für Malerei, Bildhauerei und Architektur zu Moskau; Grigori Mjassojedon, Porträt-, Historien- und Genremaler, hielt sich nach seinen Studien an der Akademie der Künste zu St. Petersburg in Deutschland, Italien, Spanien und Frankreich auf. Er war Direktionsmitglied der Gesellschaft für Wanderkunstausstellungen; weiterhin Nikolai Gay, Maler von religiösen und geschichtlichen Themen, sowie Porträt- und Landschaftsmaler, Bildhauer, Kupferstecher und Autor von Artikeln über Kunst, waren die treibenden Kräfte hinter der Gründung. Eines ihrer Hauptanliegen, das sich im Namen der Gesellschaft niederschlug, war, dass sich die Kunst um ein breiteres Publikum bemühen müsse. Um dieses Ziel zu erreichen, organisierten sie – möglicherweise von den narodniki (den zu dieser Zeit durch Russland ziehenden populistischen Verfechtern sozialer und politischer Reformen) angeregt – Wanderausstellungen, die von einer Stadt zur nächsten zogen.

Wie die Impressionisten in Frankreich, die ihre erste Ausstellung ebenfalls 1871 organisierten, vereinigten die Peredwischniki – als Reisende, Wanderer und Wandervögel übersetzt – bald ein breites Spektrum von Künstlern unterschiedlicher Stilrichtungen und stark voneinander abweichender künstlerischer Interessen. Zu Anfang allerdings handelte es sich bei der Gesellschaft um eine fest gefügte Organisation mit einer einheitlichen Zielsetzung. Zu einer Zeit, da die Schriften von Herzen, Tschernyschewski, Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi das soziale Gewissen weckten, widmeten sich die meisten Mitglieder der Gesellschaft den Lebensbedingungen der einfachen russischen Bevölkerung und bemühten sich, das Bewusstsein für die entsetzliche Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der damaligen Gesellschaft zu wecken. Die Kunstbewegung, die sich auf diese Anliegen konzentrierte, wurde als Kritischer Realismus bekannt.

 

Die Entstehung der russischen “Avantgarde”

 

Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts wollten die Künstler der russischen Moderne der Malerei einen größeren Ausblick verleihen. Es galt, ihre tiefe Verbundenheit zur russischen Tradition mit einem Erneuerungsprinzip zu vereinen, das sich in den verschiedensten Strömungen äußerte. Die russische Avantgarde fand ihre Inspiration sowohl in den Quellen des eigenen Landes als auch in jenen fremder Länder, sodass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die russische Kunst weltweit an der Spitze aller künstlerischen Progresse stand.

Ungefähr ein Jahrhundert später erwarben Sergej Schtschukin und die Brüder Michail und Iwan Morosow zahlreiche Gemälde der Impressionisten und brachten sie mit zurück nach Russland. Im Jahr 1892 vermachte der Kaufmann und Industrielle Pawel Tretjakow seine riesige Gemäldesammlung – darunter mehr als tausend verschiedene russische Künstler – der Stadt Moskau. Sechs Jahre später öffnete das Russische Museum im Michaelspalast in St. Petersburg seine Pforten (heute beherbergt es mehr als 300.000 Exponate, darunter etwa 14.000 Gemälde).

Ausstellungen spielten bei der Entwicklung der russischen Kunst ebenfalls eine wichtige Rolle. Am Ende des 19. Jahrhunderts dauerte der allmähliche künstlerische Niedergang der Ikonen bereits etwa zweihundert Jahre an, auch wenn sie als Objekte religiöser Verehrung weiterhin hoch geschätzt wurden. Während dieser Zeit waren viele von ihnen beschädigt, dilettantisch restauriert oder durch Ruß fast unkenntlich geworden.

Aber 1904 wurde die volle Pracht von Rubljows Alttestamentlicher Trinität wieder hergestellt, und im Jahr 1913 zeigte, um das tausendjährige Bestehen der Dynastie der Romanows zu begehen, eine großartige Ausstellung in Moskau restaurierte und gesäuberte Ikonen. In den ersten ein oder zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden daraufhin die wieder entdeckten Farben und stilistischen Eigenarten der Ikonenmalerei von einer Reihe von Malern erkundet und verwendet. In ähnlicher Weise bewirkte eine 1905 von Diaghilew initiierte große Ausstellung zur Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts im Taurischen Palais in St. Petersburg ein merkliches Wiederaufleben des Interesses an Porträts und der überkommenen russischen Kunst im Allgemeinen.

Internationale Ausstellungen, wie sie 1908 und 1909 die Zeitschrift Das Goldene Vlies organisierte, ermöglichten es russischen Künstlern im Verbund mit Auslandsreisen und Russlandbesuchen ausländischer Künstler, sich mit Bewegungen wie dem Impressionismus, dem Symbolismus, dem Futurismus und dem Kubismus vertraut zu machen. Es ist außerordentlich faszinierend zu sehen, wie so unterschiedliche Künstler wie Grabar, Wrubel, Chagall oder Larionow und Gontscharowa diese Einflüsse aufnahmen und nutzten, um ihr eigenes Werk zu schaffen – wobei sie häufig russische Elemente einfließen ließen.

9. Nikolai Sujetin, Entwurf für
die Ausmalung einer Wand. Witebsk. 1920.

10. Nikolai Gay, Quid est veritas? Jesus und Pilatus, 1890.

 

 

Religiöse Malerei

 

 

Vom 18. Jahrhundert bis zu den 1860er Jahren

 

Brüllow und eine Anzahl weiterer Künstler, darunter auch Bruni, wurden 1843 beauftragt, das Innere der Isaaks-Kathedrale in St. Petersburg auszuschmücken. Brüllow, russischer Künstler aus französischer Abstammung (seine Familie war als Konsequenz der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahr 1685 durch Ludwig XIV. aus Frankreich geflohen), hob die russische Malerei auf europäisches Niveau. Er hat in den pompösen Klassizismus romantische Wärme gebracht und so die Schönheit des Menschen auf lebendige und geistreiche Weise verkörpert. Er lebte bis 1835 in Italien und malte Bilder mit verschiedenen Themen und Stilarten. Bibel und Antike dienten ihm zuerst als Bildgegenstand. Dann wurden ihm die wichtigsten Wandgemälde der St. Isaaks-Kathedrale anvertraut; an der Kuppel sind die Figuren der vier Evangelisten, der zwölf Apostel, sowie vier große Kompositionen aus dem Neuen Testament gemalt. Seine Darstellung der hl. Jungfrau, von Heiligen und Engeln umgeben, füllt das Innere des beeindruckenden mittleren Gewölbes (Deckengemälde größer als 800 m², von vergoldetem Stuck und weißem Marmor umgeben). Die Skizzen dieser Kompositionen, sowie naturgetreue Entwürfe sind bis heute konserviert.

Die Feuchtigkeit, die Kälte und der Steinstaub in der neu errichteten Kathedrale zerrütteten seine Gesundheit, so dass er sich 1847 gezwungen sah, äußerst widerwillig die Arbeit an den Wandgemälden einzustellen, mit denen er gehofft hatte, seine künstlerische Laufbahn krönen zu können.

Zwei weitere Maler herausragender geschichtlicher und religiöser Werke waren Anton Lossenko und Alexander Iwanow, dessen Vater Andrej Iwanow der schon erwähnte Professor für Historienmalerei an der Akademie war. Lossenko, der aus einem kleinen ukrainischen Dorf stammte, hatte sehr früh beide Eltern verloren. Nach einigen Gesangskursen wurde er auf Grund seiner bemerkenswerten Stimme nach St. Petersburg geschickt. Im Alter von 16 Jahren wurde er der Obhut Argunows (zu dieser Zeit schon einer der führenden Porträtmaler) anvertraut und studierte anschließend an der Akademie, an der er später Professor für Historienmalerei wurde. Lossenkos künstlerische Ausbildung fand in Paris und Rom ihren Abschluss und mehrere seiner religiösen Werke – wie etwa Der wunderbare Fischzug und Das Opfer Abrahams – zeigen den Einfluss der italienischen Renaissance-Malerei. Interessanterweise waren seine Bilder Kain (1768) und Abel (1769) als Übungen in der Darstellung lebender Personen gedacht und erhielten erst mehrere Jahrzehnte nach seinem Tod ihre biblischen Namen.

Alexander Iwanow, ein Zeitgenosse Brüllows, war unbestritten der einflussreichste religiöse Maler seiner Zeit. Nachdem er sich mit Bildern wie Apollo, Hyazinth und Kyparissos beim Musizieren und Christus erscheint Maria Magdalena nach seiner Auferstehung (1836) etabliert hatte, widmete er sich in Christus erscheint dem Volk einer riesigen Leinwand, die für die nächsten 20 Jahre, von 1837 bis zum Jahr vor seinem Tode, einen Großteil seiner Energie beanspruchen sollte. Trotz all dieser mühseligen Jahre war Iwanow jedoch niemals zufrieden mit diesem Bild, und er betrachtete es nie als vollendet. Tatsächlich aber sind die Bemühungen des Malers deutlich sichtbar, und vielen von Iwanows vorbereitenden Studien – Landschaften, Naturstudien, Akten und Porträts, darunter ein Kopf von Johannes dem Täufer, der schon für sich genommen ein Meisterwerk ist – ist eine Vitalität eigen, die man in dem Gemälde selbst vermisst. Während des letzten Jahrzehnts seines Lebens schuf Iwanow mehr als 250 biblische Skizzen, von denen sich zahlreiche durch ihre klaren Farben und ihre spirituelle Intensität auszeichnen. Sein großer Ehrgeiz bestand darin, diese Aquarellstudien in Wandgemälde für einen Tempel umzusetzen, das alle Formen menschlicher Spiritualität erfassen sollte. Dieses sowohl von der Mythologie wie auch christlichen Ideen genährte Projekt nahm in seiner Vorstellung einen so großen Raum ein, dass er sich immer wieder mit neuen Entschuldigungen der Arbeit am Inneren der Isaaks-Kathedrale entzog, um sich auf die Konzeption dieses perfekten Tempels konzentrieren zu können.

11. Nikolai Gay,
Der Kalvarienberg (Unvollendet), 1893.

12. Iwan Kramskoj, Christus in der Wüste, 1872.

 

 

Von den 1860er bis zu den 1890er Jahren

 

Die religiöse Malerei der Wanderer war durch eine künstlerische und psychologische Intensität gekennzeichnet, der man seit den Tagen Alexander Iwanows im 19. Jahrhundert nicht mehr begegnet war.

Im Jahre 1863, dem Jahr, als die vierzehn Künstler gegen den Konservatismus der Akademie rebellierten, wurde Nikolai Gays ausdrucksstarkes Gemälde Das Abendmahl in St. Petersburg ausgestellt und entfachte eine leidenschaftliche Kontroverse. Dostojewski gehörte zu jenen, die von dem Realismus und der Theatralik des Bildes verstört waren – von der geistergleichen Silhouette des Judas, den unheimlichen Schatten und der drohenden Atmosphäre, als die anderen Apostel zusehen müssen, wie er sie verlässt. Viele Künstler vor ihm (die wichtigsten darunter Leonardo da Vinci, Tintoretto) versuchten sich an der Darstellung dieser biblischen Episode. Doch von seinem Bild, das überaus ausdrucksvolle Figuren inszeniert, wurden die Betrachter zutiefst berührt. Obwohl Gay die klassischen Regeln beiseite ließ, erzielte er so großen Erfolg (Kaiser Alexander II. kaufte sogar das Bild), dass ihm der Professortitel erteilt wurde. Später versicherte er, dass er bei der Arbeit an diesem Bild “den modernen Sinn der Heiligen Schrift erkannte ... Denn das war keine Legende, sondern ein reales, lebendiges und ewiges Drama”. Gays spätere Bilder, die er als einen Versuch bezeichnete, “... ein Evangelium aus Farben” zu erschaffen, schockierten nicht minder. In mehreren von ihnen wird Christus als gewöhnlicher, leidender Mensch gezeigt, der eher einem politischen Gefangenen als dem Sohn Gottes ähnelt – ein derart schockierender Gedanke, dass das Bild Quid est veritas? (Was ist die Wahrheit?) 1860 aus einer Ausstellung genommen werden musste, weil es als gotteslästerlich empfunden wurde. Nikolai Gay wollte, im Gegensatz zu Kramskoj oder Polenow, die Darstellung Christi nicht idealisieren, sondern bezweckte das Mitleiden des Betrachters. Das wird im Kalvarienberg oder in der Kreuzigung deutlich. Er verleiht dem Auferstandenen einen sehr menschlichen Ausdruck und sagt dazu: “Ich werde ihnen das Gehirn erschüttern mit den Leiden Christi. Zum Leiden zwinge ich sie, ohne sie zu bemitleiden. Sie werden lange ihre belanglosen Interessen nach der Ausstellung vergessen.” Dank technischer und bildnerischer Mittel, wie Licht- und Schattenkontraste, oder nervöser Linienführung, erzielt Gay mit Virtuosität expressive und realistische Werke.

13. Nikolai Gay, Das Abendmahl, 1863.

14. Alexander Iwanow,
Christus erscheint dem Volk, 1837-1857.

15. Iwan Kramskoj, Die Verspottung Christi
(“Sei gegrüßt, König der Juden”), 1877-1882.