Autor: Hans-Jürgen Döpp

 

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ISBN 978-1-78310-646-2

 

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Hans-Jürgen Döpp

 

 

 

Erotische Phantasien

 

 

 

 

 

 

INHALT

 

 

Einleitung

Loves Body  Reflexionen zur Fragmentierung des Körpers

Womit wir wieder bei den Blasons anatomiques angelangt sind.

Fernöstliche Erotik

Gebundenes Glück - zur chinesischen Erotik

Anmut und Groteske - zu den erotischen Holzschnitten Japans

Das Lob des Hinterns

Unsere Ärsche sollen die Friedenszeichen sein!

Fuß-Fetischismus

Lesbos

Sapphos verleugnete Liebe

Objekte der Begierde

“See me! - Touch me!” Zur Erotik des Tastsinnes

Sado-Masochismus

Von den Wonnen der Peitsche

Die Ekstase

Orale Erotik

Orale Freuden

Priapus

Der verdammte Gott

Brüste

Liste der Illustrationen

Anmerkungen

1. Margit Gaal, 1920.

 

 

Einleitung

 

 

Love’s Body
Reflexionen zur Fragmentierung des Körpers

 

Nicht der Körper als Ganzes, sondern einzelne Körperpartien sind Gegenstand der Abhandlungen in diesem Buch. Indem wir den Körper fragmentieren, fetischisieren wir zugleich seine Teile: Jede dieser Körperpartien kann als einzelne zur Quelle erotischer Leidenschaft, zum Objekt fetischistischer Verehrung werden. Und doch konstituiert sich der ganze Körper wiederum als Summe seiner Teile.

Die Partialisierung, die wir hier vornehmen, lässt auch an den Reliquienkult denken. Die Reliquienverehrung begann im Mittelalter mit der Anbetung der Gebeine von Märtyrern und gründete auf dem Glauben, Teile des Körpers heiliger Menschen seien besonders machthaltig. Insofern huldigt jeder Fetischist, so aufgeklärt er sich auch sonst geben mag, einem solchen Reliquienkult. Die Aufteilung des Körpers wurde vormals nur bei Heiligen vorgenommen: dem Glauben folgend vervollständigt sich dieser ja wieder im Paradies. Erst später wurden auch andere mächtige Personen, wie Bischöfe und Könige, nach ihrem Tode tranchiert.

Bei unserer kulturellen Vermessung einzelner Körperpartien geht es uns insbesondere um die Geschichte von deren “erotischer Aufladung”. Ob diese nun religiös oder erotisch bedeutsam sind: auf jeden Fall gewinnen sie für den “Gläubigen” und Liebenden eine Über-Wertigkeit, die sich einer ihnen innewohnenden Attraktion und Macht verdankt. Auf diese Weise lebt im Gläubigen wie auch im Liebenden der Fetisch-Glaube alter Kulturen noch fort.

 

O Leib, wie lässt du gnädig meine Seele

Ein Glück verspür’n, das ich mir selbst verhehle,

Und während sich die wackre Zunge scheut,

All das zu loben, was mich hoch erfreut,

Hast du, o Leib, an Macht noch zugenommen,

Ja, ohne dich zumal ist nichts vollkommen,

Ist auch der Geist nicht greifbar, er zerrinnt

Wie vager Schatten oder flüchtiger Wind.[1]

 

Die Blasons anatomiques du corps féminin erschienen 1536, eine vielfach neu aufgelegte Sammlung von Preisgedichten auf jeweils einzelne Körperteile. Mit diesen Lobliedern auf die Teile des weiblichen Körpers wurde eine frühe Form des sexuellen Fetischismus geschaffen. “Niemals”, schrieb Hartmut Böhme, “kommt es auf die Preisung des ‘ganzen Körpers’ an, geschweige denn auf die Person der Angebeteten, sondern auf die rhetorische Exposition von Körperfragmenten oder Accessoires”[2]. Dabei stellten Haupt und Schoß die “Zentralorgane” dieser Dichtung dar.

Es war zu erwarten, dass Vertreter der Kirche in diesen poetischen Verfahren einen neuen Götzendienst witterten und in der durchgehenden Nacktheit der Frauen sündige Schamlosigkeit erkannten:

 

“Die venushaften Glieder zu besingen,

Göttliche Ehren ihnen darzubringen,

Ein Irrtum ist und Götzendienerei,

Wofür die Erd um Gottes Rache schrei.”

 

Heißt es in einer Schrift Contre les blasonneurs des membres aus dem Jahre 1539.[3] Die Dichter der Blasons seien “…die ersten Fetischisten der Literaturgeschichte”[4]: “Die Blasons anatomiques bilden eine Art sexuelles Menu à la carte: von Kopf bis Fuß eine Folge fetischistierter Leckerbissen (und in den Contreblasons von Kopf bis Fuß eine Folge von sinnlichen Abscheulichkeiten und Entstellungen). Eine solche Gastrosophie des weiblichen Fleisches ist nur denkbar, wenn die Frau als Person durchgestrichen wird. Die Fetischisierung des weiblichen Körpers erzwingt den Ausschluss der Frau”[5]. Insofern seien die Blasons frauenlos.

Die poetische Zerstückelung des weiblichen Körpers entspreche einem fetischistischem Phallozentrismus, dem, wie Böhme bemerkt, durchaus auch Aggressivität zugrunde liege. “Sexistisch” würde man sie heute nennen. “Frau – das ist ein Konglomerat sexuell-rhetorischer Körperteile, an denen Männer ihre Lust haben”: Man wird des Körpers der Frau in allen Einzelheiten habhaft, um den Preis, dass sie selbst negiert wird. “Zelebriert wird eine höfisch kultivierte Zerlegung der Frau im Dienste männlicher Phantasien”[6]. Der Frauenkörper – eine Puppe der Lust? In Böhmes Kritik schwingt viel zeitgenössische feministische Kritik mit: Nur im Verein mit dem Personalen könne dem Körperlichen gehuldigt werden, als sei der Körper selbst etwas Minderes. Was Böhme auf den Phallozentrismus bezieht, ist jedoch in erweitertem kulturellen Zusammenhang zu sehen: Der fortschreitende Zivilisationsprozess ging einher mit einer zunehmenden Entfremdung des Körpers; noch in jeder individuellen Entwicklungsgeschichte wiederholt sich dieser Prozess.

2. Anonym, 1940.

3. Intensives Vergnügen, 19. Jahrhundert.

4. Erotische Holzplastik.

Arbeit der Makonde in Tansania.

 

 

Die lustvolle Beschäftigung mit dem eigenen Körper ist für das Kind einziges Ziel. Viel stärker noch als Erwachsene sind Kinder fähig, Lust aus der Betätigung ihres ganzen Körpers zu ziehen. Dieses ursprünglich umfassende Lustgefühl des Kindes ist beim Erwachsenen auf einen kleinen Bezirk, auf das Genitale als das Exekutivorgan der Lust, konzentriert und beschränkt. Doch erotische Lust setzt, so Norman O’Brown, die “Auferstehung des ganzen Leibes” voraus[7]: “Unsere verdrängten Wünsche richten sich nicht auf Lust im allgemeinen, sondern ausgesprochen auf Lust durch die Erfüllung des Lebens in unserem eigenen Körper”[8]. Alle Werte sind leibliche Werte. Unser unzerstörbares Unbewusstes wünscht eine Rückkehr zur Kindheit. Diese Kindheitsbindung stammt aus der Sehnsucht nach dem Lustprinzip, nach der Wiederentdeckung des Leibes, den uns die Kultur entfremdete. “Das ewige Kind in uns ist sogar im Sexualakt enttäuscht, und zwar durch die Gewaltherrschaft der Genitalorganisation”[9]. Es ist eine zutiefst narzisstische Sehnsucht, die in der Theorie Norman O’Browns ihre Sprache findet. Ihm verspricht die Psychoanalyse nichts Geringeres als die Heilung des Risses zwischen Körper und Geist: die Verwandlung des menschlichen Ich in ein körperliches Ich und die Auferstehung des Leibes[10]. Dieser Riss kennzeichnet unsere Kultur. Dietmar Kamper und Christoph Wulf skizzieren in ihren Studien das Schicksal des Körpers in der Geschichte und gehen davon aus, dass „…der historische Fortschritt europäischer Prägung seit dem Mittelalter aufgrund einer spezifisch abendländischen Trennung von Körper und Geist ermöglicht wurde und sich dann als ‘Vergeistigung’ des Lebens, als Rationalisierung, als Abstraktion auf Kosten des menschlichen Körpers, d.h. als Entmaterialisierung vollzogen habe”[11]. Im Vollzug des Fortschritts habe eine Distanzierung des körperlichen Lebens bis zur feindseligen Entfremdung stattgefunden. Die Körper mit ihrer Vielfalt der Sinne, Leidenschaften und Wünsche seien in ein Kontrollgefüge von Ge- und Verboten eingespannt und über eine Kette von Repressionsmaßnahmen zu einfältigen “stummen Dienern” gemacht worden. So mussten sie ihre Eigengesetzlichkeit auf unterirdischem Wege fortsetzen. Diese Distanzierung bestand in einem unaufhaltsamen Abstraktionsprozess, in einem größer werdenden Abstand der Menschen zum eigenen Körper, aber auch zum Körper anderer Menschen. Der Fortschritt im Namen der Naturbeherrschung führte in den letzten beiden Jahrhunderten zunehmend zur Zerstörung der Natur, und nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Natur des Menschen. Herrschaft des Menschen über die Natur wird zugleich zur Herrschaft über die Natur des Menschen. Die “Hassliebe gegen den Körper” ist die Basis dessen, was wir “Kultur” nennen: “Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, den ‘corpus’ unterschieden. In der Selbsterniedrigung des Menschen zum Corpus rächt sich die Natur dafür, dass der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat”[12].

Unter den Bedingungen von Arbeitsintensivierung, Disziplinierung und verschärfter Verstandeskontrolle wird der Körper zunehmend “…von einem Lustorgan zu einem Leistungsorgan umgeformt”[13]. Die industrialisierten Gesellschaften haben unter dem Prinzip der Arbeitsteilung Arbeit und Leben getrennt, Lernen und Arbeiten, Kopf- und Handarbeit. Das Resultat ist die Maschinisierung des Körpers. Selbst eine “Befreiung der Sexualität” ändert wenig an dieser Deformation der inneren Natur des Menschen. “Sexualität ist, zumindest in der modernen Deformation zu ‘Sex’, ein zu enger Begriff, um die Fülle und Vielseitigkeit der Regungen, Energien und Verbindungen richtig zu bezeichnen”, urteilt Rudolf zur Lippe[14]. Vollends im Zeitalter der Digitalisierung verliert der Körper an substantieller Bedeutung. Volkssport und Swinger-Clubs sind Versuche, den entfremdeten Corpus zu reanimieren.

Das bislang Verachtete ist für Friedrich Nietzsche, den ersten modernen Körper-Philosophen, in die vorderste Linie gerückt. Als erster sah er, dass die Zerstörung der Menschlichkeit im Zeitalter des Kapitalismus mit der Vernichtung des Körpers begann. Den lebendigen Körper pries er als alleinigen Träger von Glück, Freude und Selbsterhöhung[15] und kritisiert heftig das Leibverständnis der christlichen Moral. “Alles Fleisch ist sündig”, lehrte das Christentum, das zwar die Arbeit pries, das Fleisch aber als Quelle allen Übels erniedrigte. Der mit dem Leib behaftete - das war der “Leibhaftige”. Das teuflische Fleisch musste einem asketischen Geist unterworfen werden. Christlich, das ist für ihn “der Hass gegen die Sinne, gegen die Freuden der Sinne, gegen die Freude überhaupt”[16].

Den “Verächtern des Leibes” hält er entgegen: “Es ist mehr Vernunft in deinem Leib, als in deiner besten Weisheit”[17]. Da der Geist geneigt sei, sich falsch zu interpretieren, rät Nietzsche, vom Leib auszugehen und ihn “…als Leitfaden zu benutzen ... Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist”[18],- eine These, die heute durch die psychosomatische Forschung bestätigt wird. Nietzsche nimmt die psychoanalytische Erkenntnis vorweg, dass alles Seelisch-Geistige seinen Ursprung im körperlichen Empfinden habe: “‘Ich’ sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst – dein Leib und seine große Vernunft, die sagt nicht Ich, aber tut ich”[19]. Nietzsche ist vor falschen Vereinnahmungen in Schutz zu nehmen, insbesondere vor der Ideologie des Faschismus, der sein barbarisches Menschenbild gern mit der Berufung auf ihn fundierte. “Wir sind heute der Zivilisation müde”: Auf diese Klage Nietzsches setzte der Faschismus die blanke Gewalt. Eben diese aber lag dem Zivilisationsprozess, den Nietzsche kritisiert, von Anfang an zugrunde. Nicht ein Zuviel an Vernunft und Aufklärung behinderte die Befreiung des Menschen, sondern ein Zuwenig: eben auch an leiblicher Vernunft. Der faschistische Körper-Drill war nur die letzte Konsequenz dieses Prozesses, der den Körper zum Schweigen brachte. Die im Dritten Reich den Körper priesen, “…hatten seit je zum Töten die nächste Affinität, wie die Naturliebhaber zur Jagd. Sie sehen den Körper als beweglichen Mechanismus, die Teile in ihren Gelenken, das Fleisch als Polsterung des Skeletts. Sie gehen mit dem Körper um, hantieren mit seinen Gliedern, als wären sie schon abgetrennt”[20]. Der neue Mensch ist eine Körpermaschine: seine Physis ist maschinisiert, seine Psyche eliminiert[21]. “Ich gehe nicht euren Weg, ihr Verächter des Leibes!” hält Nietzsche den Philistern entgegen.

5. Anonym, Tittenfick, 1850.

6. Bilder des Frühlings, kolorierte Shunga,

18. Jahrhundert. Seide auf Pappe.

7. David Greiner, Liebesspiele I, 1917.

 

 

Hat die “sexuelle Revolution” den Körper befreit? Wohl nur in Grenzen. Ja, was als Befreiung erschien, war häufig nichts anderes als die Übertragung der gesellschaftlich verfügten Selbstinstrumentalisierung und Mechanisierung auf den genitalen Bereich. “Die so genannte ‘Sexwelle’ zeigt, Bedürfnisse, die so lange aus der Moral und aus der Öffentlichkeit verbannt waren, in Form mechanisch beschreibbarer und nachzumachender Techniken zu propagieren, bedeutet, sie noch mehr zu verachten”[22]. Sexualität und Erotik sind nicht länger mehr Ausdruck des Widerstandes gegen den fortschreitenden Prozess der Vergesellschaftung, eher dessen Opfer. Dagegen erfährt der Körper in der Privatheit des Fetischisten durch seine sinnliche Aufladung eine libidinöse Aufwertung, die ihm potenziell zurückerstattet, was ihm der Vergesellschaftungsprozess austrieb. So versuchte Eberhard Schorsch, die Perversion zu ent-dämonisieren, wenn er in ihr das Komplement einer allseits verkürzten Sinnlichkeit sieht: “Die Perversionen decouvrieren die Enge, die Eindimensionalität, die amputierte Lust einer nur genitalen, partnerschaftlichen Heterosexualität”[23]. Er führt aus: “Exhibitionismus und Voyeurismus zeigen die Beschränkung der Sexualität durch ihre Intimisierung und durch die Schamschranke ... Fetischismus zeigt die Enge der Personalität und der Partnerschaftsideologie. Dabei ist eine emotionale Bindung, eine ‘Liebe’ zu Objekten verbreitet. Eine sadomasochistische Beziehung weist auf die Möglichkeit einer schrankenlosen Unbedingtheit in der gegenseitigen Zuwendung hin bis zur Auslieferung und Auslöschung der eigenen Person, zeigt also die Grenzen, die in der erlaubten Sexualität durch die Individualität gegeben ist”[24]. Schorschs Rehabilitierung der Perversionen gilt allerdings nur auf soziologisch-analytischer Ebene: “Die Perversionen als Phänomen machen die Utopie sexueller Freiheit, die Utopie einer unbeschnittenen Lust sichtbar, weil sie die starken Beschneidungen und die Enge dessen, was als Sexualität sozial zugelassen ist und als normal definiert wird, zeigen”. Das klingt schön. Doch auf subjektiver, psychoanalytischer Ebene können sich in diesen Perversionen andererseits auch ungeheure Zwänge ausdrücken. In jedem Falle weisen sie auf die Dynamik und Sprengkraft des Sexuellen hin.

Freud verstand Perversion als Positiv der Neurose, da sich bei ihr das, was bei der Neurose verdrängt wird, “…direkt in Phantasievorsätzen und Taten” äußere[25]. Volkmar Sigusch spitzt diese These zu: “Die Perversion ist das Positiv der Normalität. Sie ist nicht deren Verkehrung und Verdrehung, sondern deren Betonung und Überhöhung”[26]. So bündle der Fetisch des Perversen die sinnlichen Erfahrungen der Kindheit, während beim “Normosexuellen” eine zerstreute, mehr oder weniger milde Fetischisierung mehrerer Körperteile und Eigenheiten des so genannten Sexualobjekts vorläge, ohne die allerdings das normale Sexualbegehren gar nicht vorstellbar sein. Die scheinbare Unmittelbarkeit, mit der die Sexualität des Fetischisten sich mit den Dingen bzw. den Partialobjekten in Verbindung setzt, “lässt den perversen Akt als das scheinbar Lebendige und Lustvolle schlechthin erscheinen, der unwillkürlichen Organlust und dem animalischen Lustreflex verwandt”[27]. Dabei fällt Sigusch die Nähe des fetischistischen zum poetisch-verdichtenden Geschehen auf: “Die Überraschung: Der perverse Akt ist mit dem Gedichteschreiben vergleichbar”[28].

8. David Greiner, Liebesspiele II, 1917.

 

 

Womit wir wieder bei den Blasons anatomiques angelangt sind.

 

Alle die in den nachfolgenden Essays pointierten Körperpartien können zum Gegenstand sowohl der Fetischisierung als auch der Poetisierung werden: das ekstatische Gesicht, das schöne Hinterteil, die Brüste, das Bein bzw. der Fuß. Über eine psychoanalytisch orientierte kulturgeschichtliche Betrachtungsweise wird deutlich, dass der Körper, wie wir ihn erfahren, nicht etwas naturhaft Gegebenes, sondern vor allem etwas Geschichtliches ist. Andere Aufsätze in diesem Band befassen sich mit der Oralität und mit dem Tastsinn. Die orale Lust wie auch der Tastsinn sind Modi einer sinnlichen Aneignung der Welt; dass dieses Buch mit Bildern der Erotischen Kunst “getrüffelt” ist, soll ebenso auch den Augensinn ansprechen. Die Kapitel “Wonnen der Peitsche” und “Lesbos” beziehen sich nicht nur auf reale Geschlechter-Verhältnisse: bedeutsamer ist das Phantasma, das ihnen zugrunde liegt. Ein zentrales Phantasma, das im Zentrum sowohl der Kultur- als auch der Lebensgeschichte steht, ist der “Phallus”. Wie ein ‘Basso Continuo’ durchzieht er jede sexuelle Entwicklung, auch wenn seine Macht verleugnet wird. „Es ist mehr Vernunft in deinem Leib, als in deiner besten Weisheit”: Ein Bewusstsein des Leiblichen ist zu entwickeln, das die Trennung zwischen Köper und Geist überwindet und das den Körper ebenso auch als kulturgeschichtliches Produkt begreift. Alle Einzel-Erotismen aber finden zusammen im Lobpreis des Ganzen Körpers:

 

So wollen wir den Leib gebührlich preisen,

Ihm als dem Herrn und Meister Ehr erweisen,

Da ja der Geist, der nur das Denken pflegt,

Uns leiblos weder Glück noch Leid erregt:

Den Leib macht seine Tatkraft rühmenswert,

Die Kraft, die uns vollendet, uns verzehrt.[29]

9. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.

 

 

Fernöstliche Erotik

 

 

Gebundenes Glück - zur chinesischen Erotik

 

In der taoistischen Kunst wie im taoistischen Leben war Harmonie das Ziel, Harmonie zwischen den Teilen der dialektischen Situation, die zum Einklang zwischen dem Menschen und dem bewegten Universum und zur höchsten Gelassenheit führte. In diesem Kontext war Liebe für die alten Chinesen eine Form, die Kräfte des Himmels und der Erde in Einklang zu bringen und damit den schöpferischen Zyklus der Natur in Gang zu halten. So wurde “Erotik” zu einer Lebenskunst und zugleich zu einem integralen Bestandteil der “Religion”, so weit sich die europäischen Begriffe der Erotik und der Religion auf diese philosophischen Anschauungen übertragen lassen. Die chinesische taoistische Religion geht davon aus, dass Lust und Liebe reine Dinge sind. “Wenn wir zur chinesischen Erotik Zutritt finden wollen,” schreibt Etiemble, ein Kenner der Kunst Chinas, “müssen wir uns von dem Sündenbegriff frei machen, von der Opposition zwischen dem absolut schlechten Fleisch und dem Geist, der absolut rein wäre.” Eine Auffassung, wie sie im Christentum vorherrscht. Insofern halte uns die chinesische erotische Kunst einen Spiegel vor Augen, der uns zeige, wie “verdorben” und “voreingenommen” wir sind.

Das Wortpaar yin und yang macht uns in direkter Weise mit der chinesischen Erotik bekannt: “Der Weg des yin und des yang” bezeichnet im Chinesischen den Koitus. Eine der berühmtesten Formeln der altchinesischen Philosophie, “yi yin yi yang cheh we tao”, ”Einerseits yin, andererseits yang, das ist das Tao”, deutet an, dass der Koitus zwischen Mann und Frau die gleiche Harmonie ausdrückt, die im Wechsel von Tag und Nacht, von Winter und Sommer herrscht. Der Koitus symbolisiert die Weltordnung, die Ordnung des Guten, während er in unserer Kultur mit einem alten Makel behaftet ist.

Das ist auch die Meinung des Meisters Tung-hüan in seiner Liebeskunst: “Der Mensch ist das erhabenste der Geschöpfe unter dem Himmel. Von allem, was ihm zukommt, lässt sich nichts mit der geschlechtlichen Vereinigung vergleichen: nach der Harmonie des Himmels mit der Erde gebildet, reguliert sie das yin und beherrscht das yang. Diejenigen, die diesen Sinn begreifen, können ihre Substanz erhalten und ihr Leben verlängern; diejenigen, die nicht die wahre Bedeutung verstehen, werden sich schaden und ihre Tage verkürzen.” So wichtig die Teilung des Universums in yin und yang ist, so wichtig ist auch die Idee, dass beide Prinzipien untrennbar sind und sich gegenseitig beeinflussen. Zahlreiche chinesische Handbücher sind uns überliefert, die den Liebenden eine sexuelle Erziehung zu geben versuchen, deren Techniken zugleich der Lust, der Moral und der Religion zugute kamen. Dabei wird der Koitus stets indirekt poetisch umschrieben, z. B. als ”Blütenkrieg”, als ”die grosse Kerze anzünden”, als ”Spiel von Wolke und Regen.” Vielfältig sind die Metaphern für sexuelle Positionen:

 

Seide abhaspeln;

der zusammengerollte Drache;

die Vereinigung der Eisvögel;

die flatternden Schmetterlinge;

die Bambusse am Altar;

das Paar der tanzenden Phönixe;

das galoppierende Turnierpferd;

der Sprung des weißen Tigers;

die Katze und die Maus im selben Loch.

10. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.

11. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.

 

 

Es widerspricht der chinesischen Ästhetik, Dinge unverhüllt und direkt anzusprechen. Eine Sache soll durch Anspielungen suggeriert werden, ohne sie gleich auf den ersten Blick deutlich zu machen. Jeder Verstoß gegen diese Tradition gilt als vulgär. Schon der europäische Begriff der ”Erotik” wäre zu direkt; er wird mit der ”Idee des Frühlings” umschrieben. Ungekünstelt, jedoch ohne Grobheit, wird die körperliche Liebe in den Versen eines als erotisch geltenden Volksliedes besungen:

 

”Offen das Fenster im Licht eines herbstlichen Mondes,

Die Kerze ausgelöscht, die Seidentunika gelöst,

Erstickendes Lachen unter Bettvorhängen:

Ihr ganzer Körper schwimmt im Tuberosenduft.”

 

Auch in den erotischen Bildern, seien es Seidenmalereien, Porzellanmalereien, Holzschnitte oder Buchillustrationen, wird Sexualität nie roh und pornographisch dargestellt, sondern immer im Kontext von Schönheit und Harmonie. Bedeutungsvolle und symbolträchtige Details bereichern die Bilder, Details, die der europäische Betrachter in ihrer Bedeutung oft nur schwer entschlüsseln kann. Der Darstellung von Zärtlichkeit wird ein hoher Stellenwert beigemessen. Die Gesichter der Liebenden sind eher von Gleichmut als von Leidenschaft geprägt. Auf diese feine Weise versichert eine der ältesten und fruchtbarsten Kulturen der Erde durch ihre Religion, dass es gut und sinnvoll ist, die Liebe zu vollziehen. Im Zentrum der taoistischen Lehrbücher steht dabei die Technik der Samenenthaltung, die eine unvergleichliche Wirkung zeitige. Nicht nur, dass der Mann seine Kräfte nicht verausgabe und die Frau befriedigt werde; es vollzog sich zwischen ihnen auch eine subtile Alchimie: Der Mann empfing von der Frau das yin, und diese gewann vom Mann die reine Essenz des yang. Der coitus reservatus gilt, ebenso wie im Tantrismus, als die höchste Form der geschlechtlichen Vereinigung. Durch ihn wird es möglich, die Trennung zwischen männlicher und weiblicher Energie zu überwinden. Ziel ist also nicht die Zeugung neuen Lebens, sondern die Identifikation mit den kosmischen Kräften des Lebens. (Belächeln wir nicht die Säftetheorie, die davon ausgeht, dass der Same durch die Wirbelsäule ins Hirn geleitet wird: In der europäischen Medizin des 17. und 18. Jahrhunderts galten ähnliche Annahmen auch hier. Und niemand vergesse die Onanieängste heimlich masturbierender Jünglinge, die infolge allzuhäufigen Handanlegens Rückenmark- und Hirnschwund befürchteten). Während die Ejakulation zwar einen Augenblick der Lust bringe, dann aber zu Erschlaffung des ganzen Körpers, zu Ohrensausen, Ermüdung der Augen und Trockenheit der Kehle führe, bringe der coitus reservatus oder coitus interruptus dagegen eine Stärkung der Vitalität und Schärfung aller Sinnesorgane mit sich.

Von den zahlreichen chinesischen Handbüchern stehen an erster Stelle die von Sou Nu King und von Sou Nu Fang, der schildert, wie der legendäre Gelbe Kaiser, Huang-ti (laut Überlieferung 2697 bis 2599 v.Chr.) sich von erfahrenen jungen Frauen unterweisen lässt. In der Abhandlung über das Schlafzimmer ist folgender Dialog zwischen dem Kaiser und seiner Lehrerin, einem jungen Mädchen, zu lesen:

Der Gelbe Kaiser fragte das junge, ganz natürliche Mädchen: ”Mein Geist ist ungekräftigt und unausgeglichen; mein Herz ist traurig und ich lebe beständig in Angst. Was kann ich tun, um mich davon zu heilen?” Das junge, ganz natürliche Mädchen antwortete: ”Alle menschliche Schwäche stammt aus dem unglücklichen Vollzug des Geschlechtsaktes. Ebenso wie das Wasser den Sieg über das Feuer davonträgt, siegt die Frau über den Mann. Diejenigen, die in der Kurzweil geschickt sind, ähneln den guten Köchen, die zu einer schmackhaften Suppe die fünf Geschmäcker vereinigen können. Diejenigen, die die Kunst des yin und yang verstehen, können die fünf Arten der Wollust vereinigen; die es nicht können, sterben vor der Reife, ohne wirklich das geringste Vergnügen aus der Lust gewonnen zu haben.”

12. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.

13. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.

14. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.

15. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.

 

 

Muss man sich nicht gegen diese Gefahr schützen? Und eine andere Lektion aus diesem Werk: Huang-ti fragte: “Was erlangt man mit der Ausführung des Beischlafs auf dem Wege des Yin-Yang?” “Dem Manne dient der Beischlaf dazu, seine Energien hervorzubringen - der Frau, ihre Krankheiten abzuschütteln. Diejenigen, die die Methode nicht kennen, meinen, der Beischlaf könne der Gesundheit schaden. In Wirklichkeit hat der Beischlaf nur ein Ziel, nämlich die Freude und die körperliche Lust, aber auch die Ruhe des Herzens und die Stärkung der Willenskraft. Der Mensch fühlt sich weder satt noch hungrig, weder kalt noch warm; der Körper ist befriedigt und die Seele gleichermassen. Die Energie strömt gelinde hin und wieder, und keinerlei Begehren stört diese Harmonie; so wirkt sich das Ergebnis solcher Vereinigung aus. Wenn man diese Regel befolgt, werden die Frauen zum vollen Genusse kommen und die Männer stets gesund bleiben,” erwiderte Sunü.

Alle diese Lehrbücher empfehlen, möglichst oft und bis ins hohe Alter hinein, die Liebe zu vollziehen: “Der Mann möchte, auch wenn er noch so alt ist, nicht ohne Frau leben; ist er ohne Frau, leidet seine Konzentration; leidet seine Konzentration Yi, erlahmen seine Verstandeskräfte Shen; erlahmen seine Verstandeskräfte, verringert sich seine Lebensdauer.” Aus der Han-Zeit, also aus vorchristlicher Ära, sind acht Werke bekannt, die sich der Liebeskunst widmen. Seit dieser Zeit gilt das Credo: ”Die Kunst der sexuellen Beziehung zu den Frauen besteht darin, Herr seiner selbst zu bleiben, indem man nicht ejakuliert, damit das Sperma zum Gehirn zurückläuft und in es eindringt.” Jeder gebildete Chinese wusste, dass man die männliche Kraft stärken konnte, indem man aus der ”Jadequelle” trank, d.h., dass man in der Frau blieb, während sie den Orgasmus bekam, und dass man sie erst danach verließ, ohne den Samen von sich gegeben zu haben. Die Traktate lehren, dass man auf diese Weise mit mehreren Frauen in derselben Nacht Beischlaf haben kann. Eine taoistische Weisheit betont dabei den gesundheitlichen Aspekt: “Diejenigen, die jeden Tag mehrmals Geschlechtsverkehr haben, ohne den Samen zu vergießen, werden alle ihre Krankheiten heilen und ein hohes Alter erreichen. Wenn der Beischlaf mit verschiedenen Frauen vollzogen wird, so ist der Erfolg umso größer. Am besten ist, zehn und mehr Frauen in einer einzigen Nacht zu lieben.”

16. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.

 

 

Sex, Medizin und Religion sind im Taoismus eng miteinander verwoben, denn der menschliche Körper ist wie die Welt, in der er lebt, von Energien durchdrungen. Zwischen der äußeren Welt, in der der Mensch lebt, und seinem inneren Selbst besteht eine Gleichheit. So nahm die Sexualität seit jeher eine zentrale Stellung im Leben ein. Ein Mann war verpflichtet, viele Frauen sexuell zu befriedigen, ohne selbst in den Zustand der Erschöpfung zu geraten. Deshalb erlernte er mehrere erotische Techniken, denn es war für ihn von grundsätzlicher Bedeutung, mehrere Frauen zu wiederholten Orgasmen zu bringen, ohne selbst zum Höhepunkt zu kommen. Die taoistische Selbstkultivierung, vom schlichten Bemühen bis zu den Gipfeln geistiger Vollendung, basierte hauptsächlich auf der Beeinflussung der sexuellen Energien. Der Tantrismus, der unter dem Einfluss des Buddhismus entstand, stimmte in Ansichten und Zielen mit dem Taoismus weitgehend überein. Die stärkste Entfaltung der erotischen Kunst und Kultur fiel mit der Entwicklung der reichen Handelsstädte in Südchina zusammen, zu Beginn der Periode, die als die Neuzeit Chinas gilt. Vom 10. Jahrhundert an waren so berühmte Städte wie Suzhou, Hangzhou und Quanzhou in der damaligen Welt kulturell am weitesten entwickelt. Teure Bordelle, Weinhäuser und andere Stätten des Vergnügens wie Bade- und Teehäuser wurden von reichen Händlern aufgesucht und bildeten eine Subkultur, die in zeitgenössischen Schriften und Romanen umfassend dokumentiert ist. Hierzu gehörte auch die ehrwürdige Tradition der Kurtisanen. Das Goldene Zeitalter der erotischen Kunst Chinas ist gegen das Ende der Ming-Periode (1368 bis 1644) anzusiedeln, die sich durch relative Freiheit und durch die Entfaltung aller Formen von Kunst und Wissenschaft auszeichnete. Es war die Prüderie des Konfuzianismus, die viele die taoistischen Lehrbücher illustrierenden erotischen Bilder zerstörte. Der Konfuzianismus verwarf die Erotik und forderte die Geschlechtertrennung sowie die Unterordnung der persönlichen Leidenschaften unter die Gesetze von Familie und Staat. Später war es dann der Einfluss des Christentums, das die Bilderstürmerei fortsetzte. Und was bis dahin noch nicht vernichtet war, fiel schließlich der maoistischen Kulturrevolution zum Opfer.

17. Bilder des Frühlings, kolorierte Shunga,

18. Jahrhundert. Seide auf Pappe.

 

 

Unsere philosophischen Ausführungen mögen die zierlich-freundlichen Erotica Chinas zwar verständlich machen. Beinahe gebetsmühlenartig werden diese Zusammenhänge in vielen Büchern über die erotische Kunst Chinas immer wieder dargestellt. Aber die chinesische Erotik wird uns weiterhin ein Rätsel aufgeben. Als Europäer fragen wir, wie erotische Ekstase mit einer so exakt ausgearbeiteten Technik und einer minutiösen Einhaltung von Vorschriften vereinbar ist. Geht nicht die Spontaneität des Gefühlslebens und das leidenschaftliche Empfinden dabei verloren? Unterliegt nicht all das Feine-Kleine-Reine einem Mechanismus der Verniedlichung und der Idealisierung? Findet nicht gar eine Verkehrung ins Gegenteil statt? Lässt die so hochkultivierte Triebkontrolle nicht auch auf tieferliegende Ängste schließen, die sich hinter der offiziellen, ideologischen Liebesauffassung verbergen?

Die Vermeidung des männlichen Orgasmus ist nicht nur, wie man heute meinen könnte, bevölkerungspolitische Maßnahme: der Hinweis auf die Vergeudung von Lebensenergien lässt tiefere Beweggründe vermuten, beispielsweise eine Angst vor dem Orgasmus, in dem zwei Körper vollkommen eins werden. Der Orgasmus bedeutet tatsächlich einen ”kleinen Tod”, insofern sich in ihm für einen Augenblick die Grenzen des Individuums aufheben. Dem Tod zu entrinnen: Heißt das für diese sehr männer-zentrierte Sexualität nicht auch, der Vereinigung mit der Frau zu entrinnen? Sitzt dem Manne mit seiner Angst vor dem Tode etwa eine Angst vor dem Matriarchat im Nacken?  Enthaltsamkeit sei gefährlich; ebenso gefährlich sei aber auch der Verlust an Sperma als Lebenssubstanz.

Vernachlässigt ein junger Mann sein Liebesleben, werde er von Phantomen heimgesucht, die ihm im Traum in den verführerischsten Gestalten erscheinen. Lässt er sich mit ihnen ein, saugen sie ihm die Lebenskraft aus. Hier hat die chinesische Tradition viel mit der europäischen gemein. Im Traum macht das Unbewusste seine Rechte geltend. Häufiger Verkehr ist also empfehlenswert. So scheint die chinesische Sexualität in dem Schraubstock zwischen zwei Ängsten eingespannt zu sein: der Angst vor dem Verlust der Lebenskraft infolge Enthaltung, und der Angst vor dem Verlust der Lebenskraft durch Ejakulation. Auf Grund der gemeinsamen conditio humana, dass wir alle Kinder von Vätern und Müttern sind, die, in welcher Form auch immer, den ödipalen Konflikt zu bewältigen haben, besteht auch in China die Sexualität aus einem Amalgam von Lust und Angst. Nach diesen Elementen ist, trotz aller Harmoniebeteuerung, Ausschau zu halten. Was bedeutet es zum Beispiel, dass auf Hunderten von chinesischen Bildern, die alle denkbaren sexuellen Positionen darstellen, kaum Abbildungen des Cunnilingus zu finden sind? Ist diese Position mit einem Tabu belegt? Auf tausend freizügige Bilder kommen etwa drei Bilder mit diesem Motiv. Das scheint doch merkwürdig zu sein. Vielleicht können uns die Füße, diese zierlichen Elemente eines jeden Bildes, ein Indiz für die verborgenen Ängste liefern: Auf allen Darstellungen, die wir kennen, behalten die weiblichen Personen, auch wenn sie nackt sind, ihre Schuhe an. Nie werden die weiblichen Füße entblößt gezeigt, denn ihnen wie auch den bestickten Schuhen kommt eine spezielle, höchst erotische Qualität zu: sie üben auf die asiatischen Männer einen für uns nicht leicht nachzuvollziehenden und nur schwer verständlichen Reiz aus.

18. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.

 

 

Der Brauch, die Füße zusammenzubinden, verbreitete sich vor allem während der Ming-Periode. Nicht nur Kurtisanen und Konkubinen, sondern auch einfachen Bauersfrauen wurden in der Kindheit die Füße gebrochen, die dann bis zum Lebensende eingebunden blieben. Es galt als schändlich, sich diesem Brauch nicht zu fügen. Die Mandschu-Frauen revoltierten, als man ihnen nach 1644 diese Mode nachzuahmen untersagte, die ihnen so wichtig war. Der Schnürfuß bildete eine Tabuzone: Wenn man ihn berühren konnte, ohne heftig zurückgewiesen zu werden, durfte man alles erhoffen. Erst Mao Tse Tung schaffte 1949 diesen Brauch ab.

Einige Autoren vermuteten, dass der unbequeme, gekünstelte, von den ”Goldlotussen” vorge-schriebene Gang die Entwicklung der Vaginalreflexe begünstigte, ein Effekt, der medizinisch aber nicht nachgewiesen werden konnte. Etiemble dagegen behauptet, dass der Schnürfuß der Chinesin ”…nichts mit dem zu tun habe, was das Wesen der chinesischen Erotik war und bleibt: der Theorie vom yin und vom yang, dem coitus reservatus, der Achtsamkeit gegenüber dem Lustempfinden des Partners, der Unbefangenheit vor der Sinnlichkeit.”

19. Hochzeitsbuch mit verschiedenen Liebesstellungen,

19. Jahrhundert, Japan.