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Pierre Rosanvallon

Demokratische Legitimität

Unparteilichkeit –
Reflexivität –
Nähe

Aus dem Französischen von
Thomas Laugstien

Hamburger Edition

Die Übersetzung wurde durch das Ministère français chargé
de la Culture, Centre national du livre und vom
Deutschen Übersetzungsfonds gefördert.

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-906-5

© der deutschen Ausgabe 2010 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-215-8

© der Originalausgabe 2008 by Édition du Seuil
Titel der Originalausgabe: »La légitimité démocratique«

Redaktion: Sigrid Weber
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Fotografie: © ullsteinbild - Becher&Bredel
Herstellung: Jan und Elke Enns
Satz aus Stempel-Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Einleitung
Die Dezentrierung der Demokratien

I Das System der doppelten Legitimität

Die Fiktionen der Einsetzungslegitimität

Die Legitimität der Identifizierung mit der Allgemeinheit

Der große Umbruch

II Die Legitimität der Unparteilichkeit

Die unabhängigen Behörden: Geschichte und Probleme

Die Demokratie der Unparteilichkeit

Ist Unparteilichkeit eine Politik?

III Die Legitimität der Reflexivität

Reflexive Demokratie

Die Institutionen der Reflexivität

Warum es wichtig ist, nicht gewählt zu sein

IV Die Legitimität der Nähe

Die Achtung der Besonderheit

Die Politik der Präsenz

Die Demokratie der Interaktion

Schluss
Die Demokratie der Aneignung

Fußnoten

Bibliografie

Zum Autor

Einleitung
Die Dezentrierung der Demokratien

Die Bestätigung der Regierenden durch das Volk gilt uns als das Hauptmerkmal einer Demokratie. Dass alle legitime Macht vom Volk ausgeht, ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Niemand würde dies in Frage stellen oder auch nur hinterfragen. »Die Souveränität ist unteilbar«, resümierte im 19. Jahrhundert ein großer französischer Republikaner. »Wir müssen uns entscheiden zwischen dem Wahl- und dem Erbprinzip. Die Herrschaft muss sich durch den freien Willensausdruck aller legitimieren oder durch den angeblichen Willen Gottes. Das Volk oder der Papst! Ihr habt die Wahl.«1 Die Antwort auf diese Frage bedurfte keiner Argumentation. So ist es bis heute geblieben. In der Aussage steckt allerdings eine wichtige Extrapolation: die praktische Gleichsetzung des Gemeinwillens mit dem Mehrheitsentscheid. Darüber wurde aber kaum diskutiert. Auch die Tatsache, dass das Mehrheitsvotum der Macht ihre Legitimität verleiht, wurde allgemein als ein Verfahren anerkannt, das dem Wesen der Demokratie entspricht. Eine so definierte Legitimität hat sich zunächst ganz natürlich als Bruch mit einer alten Welt durchgesetzt, in der Minderheiten die Gesetze diktierten. Man musste sich nur auf die »große« oder »überwältigende Mehrheit« berufen, um gegenüber dem eindeutig partikularen Willen despotischer oder aristokratischer Regime die Rechte der Menge einzufordern. Es ging vor allem um die Betonung des Unterschieds zwischen dem Ursprung der Macht und den Grundlagen politischer Verantwortlichkeit. Vor diesem Hintergrund wurde dann das Mehrheitsprinzip in seinem engeren, prozeduralen Sinn anerkannt. »Das Gesetz der Mehrheit«, heißt es in klassischer Formulierung, »ist eine jener einfachen Ideen, die sofort verständlich sind; es ist dadurch gekennzeichnet, dass es niemanden begünstigt und alle Wähler auf eine Stufe stellt.«2

Die Gründungsfiktionen

Der Übergang von der Feier des Volkes oder der Nation (als Einheit) zum Mehrheitsprinzip ist aber nicht selbstverständlich, weil es sich dabei um zwei verschiedene Ebenen handelt. Auf der einen geht es um die allgemeine – wenn man so will philosophische – Affirmation eines politischen Subjekts, auf der anderen um die Einführung eines pragmatischen Wahlverfahrens. In der demokratischen Wahl wird also ein Prinzip der Rechtfertigung mit einer Methode der Entscheidungsfindung vermischt. Dass diese beiden Elemente immer unhinterfragt gleichgesetzt wurden, verdeckte ihren latenten Widerspruch. Denn sie sind nicht derselben Natur. Als Verfahren leuchtet der Mehrheitsgedanke durchaus ein, nicht aber soziologisch. In diesem Falle bekommt er zwangsläufig eine arithmetische Dimension: Er bezeichnet immer nur einen – und sei es auch den überwiegenden – Teil des Volkes. Die Rechtfertigung der Macht durch die Wahlurnen hat sich aber implizit stets auf die Idee eines allgemeinen Willens und damit eines Volkes bezogen, das für die Gesellschaft als Ganzes steht. Diese soziologische Sicht wurde kontinuierlich durch das moralische Gleichheitspostulat und durch die juristische Forderung untermauert, die Rechte aller und den besonderen Wert jedes Mitglieds der Gesellschaft zu achten. Was der Demokratie von Anfang an zugrunde lag, ist also das Ideal der Einstimmigkeit: Demokratisch ist ganz allgemein das, was Ausdruck der Allgemeinheit ist. Man hat aber so getan, als ob die Mehrzahl für die Gesamtheit stünde, als ob dies eine annehmbare Form sei, einem weitaus höheren Anspruch zu genügen. Zu dieser ersten Gleichsetzung gesellt sich eine zweite: die Gleichsetzung der Art einer Regierung mit den Bedingungen ihrer Einsetzung. Der Teil steht für das Ganze, und der Moment der Wahlen steht für die Dauer des Mandats: Auf diesen zwei Grundannahmen wurde die Legitimität der Demokratie begründet.

Das Problem ist, dass sich diese doppelte Gründungsfiktion zunehmend als Ausdruck einer untragbaren Unwahrheit offenbarte. So traten schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich das allgemeine (männliche) Wahlrecht in Europa gerade durchzusetzen begann, überall Anzeichen einer ersten Desillusionierung auf. Das von den Liberalen anfangs so gefürchtete Gespenst einer Herrschaft der Massen wurde bald von der ernüchterten Feststellung verdrängt, dass die neuen politischen Systeme aus der Enge ihres Tagesgeschäfts kaum herauskamen. Begriffe wie »Volk« und »Nation«, die nicht aufgehört hatten, die Erwartungen und Phantasien zu beflügeln, verloren sich nun in den Winkelzügen parteipolitischer Agitation und Klientelpolitik. Das Parteiensystem, dessen Existenz und Funktion keiner der frühen Demokratietheoretiker vorhergesehen hatte, etablierte sich in dieser Zeit als das eigentliche Kernstück des politischen Lebens, begleitet von der Herrschaft persönlicher Rivalitäten und Cliquen. Das Parlament wiederum, seit jeher Inbegriff für den Geist und die Gestalt des repräsentativen Regierungssystems, verlor seine zentrale Bedeutung und sah sich einem Funktionswandel ausgesetzt. Die ursprüngliche Idee eines Forums der öffentlichen Meinung, auf dem man seine Stimme in der Diskussion über das Gemeinwohl erhebt, wurde zu einem System von Absprachen im Dienste partikularer Interessen. Die Wahlen mobilisierten zwar weiterhin die gesellschaftlichen Kräfte und brachten brennende Fragen zur Sprache. Sie waren aber nicht mehr jene Feier der Staatsbürgerschaft, die den ursprünglichen Horizont des allgemeinen Wahlrechts bestimmt hatte. In diesem gesamten Zeitraum der Jahre 1890–1920, in dem eine Flut von Schriften die »Krise der Demokratie« beschwor, büßte die Vorstellung, dass das Mehrheitswahlsystem dem gesellschaftlichen Nutzen dient, jede Glaubwürdigkeit ein. Die parlamentarische Welt schien eher von der Logik der Partikularismen als von den Bedürfnissen der Allgemeinheit beherrscht. Das Prinzip der politischen Ämterwahl stellte zwar nach wie vor einen unhintergehbaren Verfahrenshorizont dar. Man glaubte aber nicht mehr daran, dass sich seine Tugenden von selbst entfalten.

Die doppelte Legitimität: Entstehung und Verfall eines Systems

Angesichts dieser als tiefe Verunsicherung erlebten Entwicklung versuchte man in den Jahren 1890–1920, in die auch der Erste Weltkrieg fiel, den ursprünglichen Inhalt des demokratischen Ideals wiederzufinden. Es werden bekanntlich die extremsten Wege erkundet, die zeitweilig sogar den Totalitarismus zum Ideal des Gemeinwohls erheben. Auf dezentere Weise sollte in diesem Brodeln aber auch das entstehen, was die demokratischen Systeme von Grund auf verändert hat: eine wirkliche administrative Gewalt. Tatsächlich bildet sich in dieser Periode überall ein stärkerer und organisierterer Staat heraus. Wichtig ist, dass sich seine Entwicklung untrennbar mit der Erneuerung seiner Prinzipien verband. Der »Verwaltungsapparat« als solcher sollte eine Kraft darstellen, die mit der Realisierung des Gemeinwohls gleichgesetzt wurde. Der öffentliche Dienst in Frankreich und die rationelle Administration in den Vereinigten Staaten fungierten als die zwei Hauptmodelle, um dieses Ziel zu verwirklichen. Einerseits die Vision eines Korporatismus des Allgemeinen, der die Beamten strukturell zur Identifikation mit ihrer Aufgabe anhielt, zum »Interesse an interesseloser Pflichterfüllung«, andererseits der Versuch, die Allgemeinheit in den Tugenden der wissenschaftlichen Verwaltung zu finden. Wiederbelebt und in die demokratische Welt integriert wurden damit die alten Ideale der rationalen Regierung und der positiven Politik, die von der Aufklärung bis hin zu Comte gefordert hatten, das Gemeinwohl unabhängig von den Parteiinteressen zu realisieren.

Es ging darum, das problematische Projekt des einheitlichen Willensausdrucks durch eine realistischere und objektivere Form der Herstellung gesellschaftlicher Allgemeinheit zu korrigieren. Dieses Unternehmen begann damals zumindest partiell Gestalt anzunehmen. Ohne dass die Dinge je vollständig auf den Begriff gebracht wurden, beruhten die demokratischen Systeme mehr und mehr auf zwei Säulen: allgemeinen Wahlen und öffentlichem Dienst. Letzterer war nicht mehr nur bloßer Transmissionsriemen politischer Macht, sondern erlangte eine auf Kompetenz beruhende Autonomie. Der durch das Stimmrecht anerkannten Gleichheit des Willensausdrucks entsprach damit das Prinzip einer Gleichheit des Zugangs zu öffentlichen Ämtern. Zwei parallele »Prüfungen« dienten simultan der Ernennung derer, die man als die Vertreter – oder Interpreten – der Allgemeinheit bezeichnen konnte: die politische Wahl und der Wettbewerb (das Examen). Die Wahl als »subjektive« Auswahl, geleitet vom System der Meinungen und Interessen, der Wettbewerb als »objektive« Auslese der Fähigsten. Im Falle Frankreichs verknüpften diese zwei Dimensionen des »Allerheiligsten« von allgemeinen Wahlen und öffentlichem Dienst ihre jeweiligen Werte explizit in der republikanischen Ideologie. Die »Jakobiner der Exzellenz« aus der Verwaltungsspitze verkörperten sie ebenso wie die Volksvertreter. Neben der Legitimität der Einsetzung – der Anerkennung durch das Wählervotum – trat damit eine zweite Auffassung demokratischer Legitimität auf den Plan: die der Identifikation mit der Allgemeinheit. Sie trug entscheidend dazu bei, die geschwächte elektorale Legitimität zu kompensieren. Die beiden Hauptformen der Konzeption von Legitimität gingen auf diese Weise eine Verbindung ein: die Legitimität durch gesellschaftliche Anerkennung einer Regierungsgewalt und die Legitimität durch Identifikation mit Normen oder Werten. Diese zwei sich überkreuzenden Formen von Legitimität – die prozedurale und die substantielle – verliehen den demokratischen Systemen seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein gewisses Fundament. In den 1980er Jahren begann sich dieses Blatt zu wenden.

Die Legitimation durch die Wahlurnen ging erstens zurück, weil sich die Funktion der Wahlen relativierte und entsakralisierte. Im »klassischen« Zeitalter des repräsentativen Systems galt sie als unbestrittenes Mandat dafür, die Regierungsgewalt anschließend »frei« auszuüben. Man ging davon aus, dass die künftige Politik bereits in der Wahlentscheidung enthalten war, einfach deshalb, weil man diese in einem überschaubaren Rahmen traf, strukturiert durch disziplinierte Organisationen mit klar definierten Programmen und eindeutig ausgewiesenen Fronten. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die Wahlen haben inzwischen eine begrenztere Funktion: Sie stehen nur noch für eine bestimmte Form, die Regierenden zu berufen, und legitimieren nicht mehr a priori die später betriebene Politik. Andererseits verändert sich die Bedeutung des Mehrheitsbegriffs. Er mag zwar rechtlich, politisch und parlamentarisch wohldefiniert sein, ist es aber weit weniger in soziologischer Hinsicht. Das Interesse der Mehrzahl lässt sich nicht mehr einfach mit dem der Mehrheit gleichsetzen. Das »Volk« versteht sich nicht mehr als homogene Masse, sondern erlebt sich in der Abfolge besonderer Geschichten, der Summierung spezifischer Situationen. Die heutigen Gesellschaften definieren sich zunehmend über den Begriff der Minderheit. Die Minderheit ist nicht mehr der »kleinere Teil« (der sich dem »größeren Teil« fügt); sie wird zu einer der vielfältig gebrochenen Widerspiegelungen gesellschaftlicher Totalität. Mittlerweile stellt die Gesellschaft sich in Form einer ungeheuren Vielfalt von Minderheitssituationen dar. »Volk« wird damit auch zum Plural von »Minderheit«.

Die administrative Gewalt wiederum wurde stark delegitimiert. Die neoliberale Rhetorik trug ihren Teil dazu bei, indem sie die staatliche Autorität schwächte und den Markt zum neuen Stifter des Gemeinwohls erhob. Das heißt konkret, dass die neuen Organisationsformen des öffentlichen Dienstes (das New Public Management) vor allem Methoden einführten, die das klassische Bild des Beamten als berufener Diener des Gemeinwohls entwertet haben. Das hohe Beamtentum war von dieser Entwicklung am stärksten betroffen, weil es in einer offeneren und unübersichtlicheren Welt keine zukunftsweisende Kraft mehr zu verkörpern scheint (und aufgrund der sich vergrößernden Einkommensschere im Verhältnis zum privaten Sektor auch unter einer massiven Abwanderung der Eliten aus dem Verwaltungsdienst leidet). Zudem ist die Anerkennung einer Technokratie, die sich mit den Tugenden von Rationalität und Unparteilichkeit schmückt, in einer aufgeklärten, informierten Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich. Der alte Stil der »fürsorglichen« Politik, die über einer für unmündig gehaltenen Gesellschaft schwebt, wird wirtschaftlich so ineffektiv wie soziologisch inakzeptabel. So wurde die administrative Gewalt der moralischen und professionellen Elemente beraubt, mit denen sie sich einst durchgesetzt hatte. Ihr Legitimitätsverlust gesellt sich also zu dem der elektoral-repräsentativen Sphäre hinzu.

Die neue Ära der Legitimität

Die Erosion des alten Systems doppelter Legitimität und die Veränderungen, die sie seit den 1980er Jahren sowohl hervorgerufen wie auch begleitet haben, hinterließen kein bloßes Vakuum. Es gab zwar ein spürbares Gefühl des Verlusts oder sogar Zerfalls, aber auch so etwas wie eine stillschweigende Umstrukturierung. Zunächst traten neue Erwartungen seitens der Bürger auf. Der Wunsch nach einem Staat, der dem Gemeinwohl dient, hat sich in einer ganz neuen Sprache und neuen Orientierungen ausgedrückt. Begriffe wie Unparteilichkeit, Pluralität, Mitgefühl oder Bürgernähe brachten ein neues Verständnis demokratischer Allgemeinheit und damit der Motive und Formen von Legitimität zum Ausdruck. Parallel dazu erlebten Institutionen wie die unabhängigen Behörden oder die Verfassungsgerichte einen beträchtlichen Zuwachs, auch an Funktionen. Eine andere Form des Regierens scheint sich schließlich in der zunehmenden Bedeutung des Bildes und der Kommunikation abzuzeichnen. All das umreißt eine stark kontrastierende Landschaft, die es in ihrer Konsistenz und Entwicklung zu erfassen gilt. Wir müssen sie also beschreiben und darüber hinaus versuchen, die Begriffe herauszuarbeiten, die diese aufkommenden Strukturen verständlich machen, und mehr noch die neuen Demokratieformen darstellen, in deren Richtung sie sich entwickeln könnten. Bei allem Bemühen um eine Beschreibung der Erfahrungen und Diskurse, bei aller Aufmerksamkeit für ihre Ungereimtheiten, Fragwürdigkeiten oder sogar Gefahren gilt es also die Idealtypen zu konstruieren, mit denen der adäquate Umgang mit diesen neuen Strukturen vorstellbar wird. Nichts scheint bereits entschieden zu sein. Noch mischen sich die Umrisse neuer Möglichkeiten mit dem Aufbrechen bedrohlicher Pathologien.

Die Wende der 1980er Jahre ist vor allem durch eine latente Reformulierung der Termini gekennzeichnet, in denen der demokratische Imperativ des Ausdrucks gesellschaftlicher Allgemeinheit begriffen wird. Um diese Entwicklung einschätzen zu können, müssen wir von den bislang herrschenden Auffassungen dieser Allgemeinheit ausgehen. Im allgemeinen Wahlrecht wird sie kumulativ definiert: Der allgemeine Wille kommt durch die Masse der Staatsbürger und Wähler zum Ausdruck. Der öffentliche Dienst wiederum bezieht sich auf die Vorstellung einer objektiven Allgemeinheit: Die öffentliche Vernunft oder das Gemeinwohl fällt hier in gewisser Weise mit den Strukturen des republikanischen Staates zusammen. In beiden Varianten kann die Allgemeinheit angemessen und positiv verkörpert werden. Dem spürbaren Niedergang dieser zwei Konzepte entsprechend lassen sich drei andere, indirektere Formen ausmachen, dem Ziel der Konstitution einer Macht gesellschaftlicher Allgemeinheit näherzukommen:

– Die Herstellung der Allgemeinheit durch Transzendenz gegenüber Partikularitäten, durch überlegte und organisierte Distanz gegenüber den in einer bestimmten Frage involvierten Parteien. Sie definiert eine Macht, die sich als Leerstelle begreift. Die Allgemeinheit einer Institution wird in diesem Falle dadurch konstituiert, dass niemand sie vereinnahmen kann. Hier handelt es sich um eine negative Allgemeinheit. Sie ist sowohl durch eine Struktur bedingt, auf der sie beruht (ihre Unabhängigkeit), wie auch durch ein Verhalten (Aufrechterhaltung von Ausgewogenheit oder Distanz). Sie definiert die Stellung von Institutionen als Aufsichts- oder Regulierungsbehörden und unterscheidet diese in erster Linie von einer gewählten Regierungsgewalt.

– Die Herstellung der Allgemeinheit durch Pluralisierung der Ausdrucksformen gesellschaftlicher Souveränität. Sie soll mehr Demokratie schaffen, indem sie deren Themen und Formen komplexer macht. Es geht vor allem um eine Korrektur der Defizite, die aus der Gleichsetzung der gewählten Mehrheit mit dem Willen der Gesellschaft als Ganzes entspringen. Hier handelt es sich um eine differenzierende Allgemeinheit. Ein Verfassungsgericht lässt sich als Teil eines solchen Unternehmens begreifen, weil es anhand der Verfassungsordnung – des Ausdrucks dessen, was man das »Ideal-Volk« (peuple-principe) nennen könnte – die Mehrheitsentscheidungen überprüft.

– Die Herstellung der Allgemeinheit durch Berücksichtigung der Vielfalt an Situationen, durch Anerkennung aller gesellschaftlichen Besonderheiten. Sie vollzieht sich durch ein radikales Eintauchen in die Welt der Partikularität und ist davon geprägt, dass sie sich um die konkreten Individuen kümmert. Diese Art von Allgemeinheit ist mit einem bestimmten Verhalten verbunden. Sie ergibt sich aus einer Politik, die niemanden vergisst und sich für die Probleme aller interessiert. Sie verbindet sich mit einer Regierungskunst, die zu einer nomokratischen Auffassung im Gegensatz steht. Konträr zur Konstitution des Sozialen durch ein juristisches Gleichheitsprinzip, das zu allen Besonderheiten auf Distanz geht, ist die Allgemeinheit in diesem Falle durch die Absicht bestimmt, der Gesamtheit aller bestehenden Situationen gerecht zu werden, und zwar durch ein breites Spektrum der Aufmerksamkeit. Man könnte von einem »Absteigen zur Allgemeinheit« (descente en généralité) sprechen.3 Es ist eine Allgemeinheit der Achtung der Besonderheit.

Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Formen der Herstellung von Allgemeinheit ein Verständnis des gesellschaftlichen Ganzen, das dieses weder zahlenmäßig (basierend auf dem Ideal der Einstimmigkeit) noch monistisch (in Bezug auf ein gesellschaftliches Interesse im Sinne einer festen Eigenschaft eines Kollektivs oder einer Struktur) begreift. Sie gehen aus einer viel »dynamischeren« Auffassung von Verallgemeinerungsoperationen hervor und entsprechen gewissermaßen den drei möglichen Strategien, ein Universum in seiner Totalität zu erkunden: es mit dem Fernrohr zu betrachten, es unter dem Mikroskop zu zerlegen, es kreuz und quer zu durchlaufen. Die Allgemeinheit stellt in dieser Sicht einen regulativen Fluchtpunkt dar. Sie ist nicht mehr substantieller Natur, wie die Begriffe des Gemeinwillens und des Gemeinwohls dies suggerieren.

Damit zeichnen sich drei neue Formen von Legitimität ab, jede von ihnen verbunden mit der Herstellung einer der von uns beschriebenen Auffassungen von Allgemeinheit: die Legitimität der Unparteilichkeit (mit der Herstellung negativer Allgemeinheit), die Legitimität der Reflexivität (mit der Allgemeinheit der Differenzierung) und die Legitimität der Nähe (die der Allgemeinheit der Achtung der Besonderheit entspricht). Diese Revolution der Legitimität ist Teil einer globalen Tendenz zur Dezentrierung der Demokratien. Tatsächlich setzt sich auf diesem Gebiet der bereits im staatsbürgerlichen Leben beobachtete Bedeutungsverlust der Wahlen fort. In meinem Buch »La Contredémocratie« habe ich das Aufkommen neuer Formen des politischen Engagements beschrieben, die sich darin äußern, dass die Figuren des Wächter-Volks, des Veto-Volks und des Richter-Volks eine neue Vitalität als Kontrapunkt zu der eines verdrosseneren Wähler-Volks entwickeln.4 Das demokratische Leben geht damit immer mehr über die elektoral-repräsentative Sphäre hinaus. Es gibt inzwischen auch andere Formen, sowohl alternativ wie auch komplementär zur Legitimation durch die Wahlurnen, als demokratisch legitim anerkannt zu werden.

Im Gegensatz zur Einsetzungs- und Identifikationslegitimität, die man untrennbar mit dem Wesen bestimmter Machtinstanzen verband (indem die Wahl oder der Wettbewerb den jeweiligen Siegern eine Stellung verlieh), werden die neuen Formen durch Qualitäten konstituiert. Diese Legitimität ist nichts Festes. Sie bleibt prekär, muss sich immer bewähren, hängt stets von der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Handelns und Verhaltens der Institutionen ab. Das ist ein entscheidender Punkt: Er bringt die Tatsache zum Ausdruck, dass diese neuen Formen aus dem Rahmen der herkömmlichen Unterscheidung von Legitimität aufgrund gesellschaftlicher Anerkennung und Legitimität als normgemäßem Handeln herausfallen. Tatsächlich bringen die Legitimitäten der Unparteilichkeit, der Reflexivität und der Nähe beide Dimensionen zusammen; es handelt sich also um Mischformen. Sie ergeben sich zwar aus Eigenschaften der Institutionen, daraus, dass sie Werte und Prinzipien verkörpern können, hängen aber auch davon ab, wie sie gesellschaftlich wahrgenommen werden. Wir können deshalb annehmen, dass ihre Entwicklung die Demokratien in eine neue Ära eintreten lässt. Das entstehende System von Legitimität überwindet den traditionellen Gegensatz zwischen den Hütern der staatlichen »Allgemeinheit«, denen es eher um das Grundsätzliche geht, und den Verfechtern einer »wirklichen Demokratie«, die vor allem das gesellschaftliche Engagement interessiert.

Sie erweitern damit auch die klassischen Typologien, die auf dem bloßen Gegensatz von Input-Legitimität (Grundlagen) und Output-Legitimität (Ergebnissen) beruhen.5 Diese Unterscheidung hat durchaus ihren Wert. Sie macht bewusst, dass die Einschätzung des Regierungshandelns in das Urteil der Bürger mit eingeht (und dass nichtgewählte Instanzen als legitim gelten können, wenn sie zum Gemeinwohl beitragen).6 Unser Gedanke reicht aber weiter, weil es um die besondere Legitimität der Institutionen geht. Wir können uns deshalb auch nicht mit einer prozeduralistischen Auffassung begnügen, wie sie Habermas entwickelt. Auch ihm geht es darum, substantialistische Demokratiebegriffe zu überwinden, indem er den allgemeinen Willen als eine Diskursvielfalt betrachtet.7 Er verbleibt aber gleichwohl in einer monistischen Auffassung der Volkssouveränität, die er nur aus einem festen Gesellschaftskörper in eine diffuse Kommunikationssphäre verlagert. Aus unserer Sicht ergibt sich die Neudefinition der Legitimität aus einer Dekonstruktion und Redistribution der Vorstellung gesellschaftlicher Allgemeinheit, durch die sich deren Formen radikal pluralisieren. Sie zeigt, dass es verschiedene Weisen gibt, »im Namen der Gesellschaft« zu handeln und zu sprechen und diese zu vertreten. Die drei neuen Legitimitäten wirken deshalb komplementär zusammen, um das Demokratieideal in seiner anspruchsvollsten Form zu definieren.

Dieser Wandel ist umso entscheidender, als die Frage der Legitimität in der heutigen Welt größere Bedeutung erlangt hat. Mit dem Rückzug der Ideologien und Utopien, deren Inhalte der Politik eine »äußerliche« Konsistenz geben konnten, muss diese ihre Rechtfertigung zunehmend in sich selbst finden. Legitimität ist wie Vertrauen eine »unsichtbare« Institution. Sie macht es möglich, dass sich die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten fest etabliert. Bedeutet Legitimität im allgemeinsten Sinne nur die Reduktion von Zwang, so kommt ihrer demokratischen Version die vornehmere Funktion zu, zwischen Staat und Gesellschaft konstruktive Beziehungen herzustellen. Sie kann dem Gestalt verleihen, was das Wesen der Demokratie ausmacht: der gesellschaftlichen Aneignung des Staates. Demokratische Legitimität bringt seitens der Bürger eine Bewegung der Zustimmung hervor, die sich untrennbar mit dem Gefühl von Selbstwert verbindet. Sie bedingt die Wirksamkeit ihres öffentlichen Engagements und bestimmt zugleich ihr Verständnis von der demokratischen Qualität ihres Landes. In dieser Hinsicht ist sie tatsächlich eine »unsichtbare« Institution und ein »empfindlicher Parameter« sowohl für die politischen Erwartungen der Gesellschaft als auch für die Art und Weise, wie sie diese erfüllt. Eine umfassendere und anspruchsvollere Definition von Legitimität trägt deshalb strukturell zu einer Vertiefung der Demokratie bei.

Eine noch unbestimmte Revolution

Die ersten von uns beschriebenen Formen von Legitimität sind gegenwärtig vor allem mit zwei Typen von Institutionen verbunden: den unabhängigen Aufsichts- und Regulierungsbehörden und den Verfassungsgerichten. Erstere können aufgrund der Art ihrer Entstehung und Zusammensetzung von einer Legitimität der Unparteilichkeit profitieren. Sie wurden entweder von der legislativen Gewalt zur Kontrolle und Einschränkung einer als zu parteilich bewerteten Exekutivgewalt geschaffen oder von der Exekutive selbst eingesetzt, um zur Stärkung ihrer Glaubwürdigkeit bestimmte Kompetenzen abzugeben oder sich von Aufgaben zu entlasten, für die sie sich nicht zuständig fühlte. Die Verfassungsgerichte wiederum sollen die Gesetzgebung kontrollieren, indem sie den Mehrheitswillen auf die Allgemeinheit verpflichten. Ihre Legitimität ist mit dem reflexiven Charakter ihres Eingreifens verbunden.

Der Aufstieg dieser zwei Arten von Institutionen führt zu einer beträchtlichen Modifikation der Bedingungen normativer Produktion und exekutiver Machtausübung, wie sie einst von den großen Persönlichkeiten der Amerikanischen und Französischen Revolution konzipiert worden waren. Von der klassischen Demokratietheorie wurden sie nur am Rande erörtert. Die ihr Gebiet nach allen Seiten ausdehnenden unabhängigen Behörden und Verfassungsgerichte revolutionieren damit das klassische Repertoire der Begriffe, in denen sich die Demokratiefrage stellt. Hier findet eine Verschiebung statt, die man gar nicht genug würdigen kann. Es ist nämlich erstaunlich, wie wenig sich die Theorie der demokratischen Institutionen in den letzten zwei Jahrhunderten verändert hat.8

Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre spielten sich die Untersuchungen und Kontroversen in einer fast unveränderten Begrifflichkeit ab. Jeder Historiker, der sich mit den großen neuzeitlichen Revolutionen beschäftigt, kann das bestätigen. Die Fragen von repräsentativer Regierung, direkter Demokratie, Gewaltenteilung, Funktion der öffentlichen Meinung oder Menschenrechten wurden während dieser gesamten Periode in nahezu gleichlautender Terminologie gestellt. Auch das politische Vokabular entwickelte sich kaum weiter. Der in den 1960er Jahren geprägte Begriff der »Selbstverwaltung« wurde als einer der ganz wenigen wirklich bedeutsamen Neologismen eingeführt. Doch nur, um relativ schnell wieder zu verschwinden und so darauf zu verweisen, dass er auf seine Weise eine Wende markierte, der er als Erster zum Opfer fiel. Die neue Grammatik der demokratischen Institutionen, in die sich die unabhängigen Behörden wie auch die Verfassungsgerichte einschreiben, stellt einen Bruch mit diesem früheren Universum dar. Da dieser aber nicht theoretisch erfasst wurde (er hatte keinen Sieyès oder Madison), wurde er in seinem Ausmaß nicht richtig wahrgenommen. Der Wandel hat sich aus den Umständen ergeben, als Reaktion auf latente Bürgererwartungen und unmittelbare Erfordernisse der öffentlichen Verwaltung.

Wichtig ist die Tatsache, dass diese Institutionen, da man sie nicht als originäre politische Formen verstanden hat, ihren endgültigen Platz in der demokratischen Ordnung noch nicht gefunden haben. Gleichzeitig gehorchen die Voraussetzungen ihrer Entwicklung keiner einheitlichen Logik. Noch können sie sowohl zu einer weiteren Vertiefung des Demokratiegedankens wie auch zur bloßen Stärkung eines ängstlichen Liberalismus führen. Die Funktion der Verfassungsgerichte kann sich zum Beispiel in die traditionelle Perspektive einer zunehmenden Macht des Rechts einordnen, die den Ausdruck der Volkssouveränität kontrollieren und einschränken soll. Der zugrundeliegende Gegensatz von government by will und government by constitution gibt nur einen alten liberalen Topos wieder.9 Die Frage einer Einschränkung der Mehrheitsmacht folgt damit implizit der alten Kritik an der »Tyrannei der Mehrheit«, mit der im 19. Jahrhundert die Gegner des allgemeinen Wahlrechts argumentiert hatten. Doch die Entwicklung dieser Gerichte lässt sich auch als ein Instrument ansehen, den Handlungsspielraum der Regierenden zu begrenzen und damit die Kontrolle der Gesellschaft über ihre Repräsentanten auszuweiten. Eine Verfassung, erklärte in diesem Geiste ein bedeutender Publizist des 19. Jahrhunderts, ist »die Garantie, die das Volk gegen diejenigen geltend macht, die seine Geschäfte führen, damit sie das ihnen übertragene Mandat nicht missbrauchen«.10 Auch die unabhängigen Regulierungs- und Aufsichtsbehörden lassen sich in diesen zwei gegensätzlichen Perspektiven begreifen.

Wie wir sehen, ist auf diesen Gebieten noch nichts entschieden. Es ist deshalb wichtig, die Voraussetzungen des Problems sorgfältig auszuloten, damit sich das demokratische Potential dieser Institutionen nutzen lässt und diese so gestaltet werden, dass sie die Allgemeinheit im öffentlichen Leben stärker zur Geltung bringen. Dann werden sieindirekt die gleichen positiven Wirkungen hervorbringen, die man sich von den Verfahren direkter Demokratie erhoffte. Auf dieser Basis könnte ein neuer Kontinent auftauchen, der Kontinent der indirekten Demokratie, der die Unzulänglichkeiten der repräsentativen Wählerdemokratie korrigiert und kompensiert.

Die dritte neue Form, die wir erwähnten, die Legitimität der Nähe, ist mit keinem bestimmten Typ von Institutionen verbunden. Sie bezieht sich auf ein Ensemble gesellschaftlicher Erwartungen, die das Verhalten der Regierenden betreffen. Eine zweite neue Dimension des demokratischen Universums kommt damit zum Vorschein: die Herausbildung einer demokratischen Regierungskunst. Historisch hatte sich das Nachdenken über Demokratie auf die Definition von Regeln und Institutionen beschränkt, die für ein System der Volkssouveränität konstitutiv sind (Gewaltenteilung, Formen der Repräsentation, Partizipation usw.). Die Politik wurde damit nur über die zwei Kategorien von System und Entscheidung (die Ebene der durchgeführten »Politiken«) begriffen. Die Erwartungen und Erfordernisse der Gesellschaft erweitern nun diese Auffassung um die Kategorie der Regierungskunst. Zahlreiche Umfragen11 haben deutlich gemacht, dass die Bürger auf das Verhalten der Regierenden genauso, wenn nicht noch stärker achten wie auf die von ihnen getroffenen Entscheidungen. Angezeigt wurde diese Entwicklung durch die Verwendung eines neuen Vokabulars, das das gewünschte Verhältnis von Staat und Gesellschaft beschreibt. Zu den klassischen Termini für das Repräsentationsverhältnis gesellten sich Begriffe wie Aufmerksamkeit, Aufgeschlossenheit, Fairness, Mitgefühl, Anerkennung, Respekt oder Präsenz. Auch Begriffe wie »Bürgerbeteiligung« und »Bürgernähe«, die wegen ihres Bezugs zum traditionellen politischen Vokabular spontaner verwendet werden, haben sich weit verbreitet. Doch auch hier liegen die Dinge nicht eindeutig. Hinter denselben Worten können sich staatsbürgerliche Bedürfnisse verbergen, die der Demokratie ein neues Feld eröffnen, aber auch rhetorische Kunstgriffe der Regierenden und raffinierte Manipulationstechniken der Meinungsbildung.

Dieses Buch soll den theoretischen Rahmen entwerfen, der es erlaubt, das demokratische Potential dieser noch embryonalen und oft ambivalenten Institutionen und Praktiken einzuschätzen. Das kann nur durch die Konstruktion der Idealtypen gelingen, denen die neuen Formen von Allgemeinheit und Legitimität entsprechen. Auf diese Weise können wir erkennen, unter welchen Bedingungen sie ins Reaktionäre umschlagen können und wie sich ihr Beitrag zur Stärkung des demokratischen Lebens besser gewährleisten lässt.

Der neue demokratische Dualismus

»Der Begriff des Staates vereinfacht sich«, schrieb Tocqueville angesichts der neuen demokratischen Welt, die er heraufziehen sah. »Die bloße Zahl macht Recht und Gesetz. Die ganze Politik reduziert sich auf eine arithmetische Frage.«12 Heute ließe sich genau das Gegenteil sagen. Die Demokratie verkompliziert sich. Diese Entwicklung kommt in einem doppelten Dualismus zum Ausdruck: dem Dualismus zwischen den gewählten Vertretungsinstitutionen und den Institutionen der indirekten Demokratie (grundlegend für die Demokratie als Staatsform) und dem zwischen der Sphäre der Verfahren oder Verhaltensweisen und der Sphäre der Entscheidungen (der die Demokratie als Regierungsform prägt). Diese zwei Dualismen überlagern den Gegensatz zwischen der Wählerdemokratie und der Gegen-Demokratie (contre-démocratie)13, die wiederum die Sphäre der staatsbürgerlichen Aktivität organisiert. Zusammen bilden sie die heutige neue Ordnung der Demokratie.

Die Institutionen der repräsentativen Wählerdemokratie stehen zunächst in Zusammenhang mit denen der indirekten Demokratie. Durch ihre Artikulation lässt sich der Mehrheitswille mit dem Einstimmigkeitsideal in einer Art Spannungsverhältnis versöhnen, das ihre jeweiligen Forderungen respektiert. Damit können sich zwei Paare von widersprüchlichen Forderungen verbinden, in denen sich dieser Grundkonflikt der Demokratie artikuliert:

Der Widerspruch zwischen der Anerkennung der Legitimität des Konflikts und dem Streben nach Konsens. Demokratie ist ein pluralistisches System, das den Gegensatz der Interessen und Meinungen akzeptiert und auf dieser Basis den politischen Wettbewerb organisiert. Sie institutionalisiert den Konflikt und dessen Austragung. Deshalb kann es keine Demokratie ohne schmerzhafte Entscheidungen zur Auflösung der Interessenkonflikte geben. Politik machen in der Demokratie heißt, sein Lager zu wählen, Partei zu ergreifen. In Gesellschaften, die durch soziale Gegensätze und unsichere Zukunftsaussichten bestimmt sind, ist das eine wichtige Dimension. Es gibt aber auch keine Demokratie ohne Gemeinsamkeit, ohne die Anerkennung gemeinsamer Werte, die die Konflikte nicht zum Bürgerkrieg ausarten lassen.14 Daher rührt die Notwendigkeit, die Institutionen von Konflikt und Konsens voneinander zu unterscheiden, um jede dieser Dimensionen zu respektieren. Hier die parteiliche, subjektive Welt der elektoral-repräsentativen Sphäre, dort die objektive Welt der Institutionen indirekter Demokratie. Wir müssen die Besonderheit Letzterer anerkennen, wenn wir beiden Polen des demokratischen Gegensatzes gerecht werden wollen. Das führt gleichzeitig zur Überwindung dessen, was historisch als die ständige Versuchung auftritt, durch Hypostasierung des Konsensprinzips die Legitimität der Konflikte zu leugnen (was die Illusionen und Entgleisungen in der Geschichte des demokratischen Systems immer wieder gefördert hat).

Der Widerspruch zwischen einem realistischen Entscheidungsprinzip (der Mehrheit) und einem notwendigerweise anspruchsvolleren Rechtfertigungsprinzip (Einstimmigkeit). Es gibt keine Demokratie ohne die Möglichkeit, zu entscheiden, zu handeln, ohne die Notwendigkeit von Kompromissen und Alternativen. Es gibt aber auch keine Demokratie ohne Institutionen, die den Sinn für das Gemeinwohl wachhalten und zumindest partiell zu seiner autonomen Realisierung beitragen. Das demokratische Leben impliziert also ein Trennungs- und Spannungsverhältnis zwischen den Institutionen der Mehrheitsentscheidung und denjenigen, die dem konsensorientierten Rechtfertigungsprinzip verpflichtet sind.

Die Organisation dieser Dualität impliziert letzten Endes die volle Anerkennung der Tatsache, dass die Demokratie auf einer notwendigen Fiktion beruht, der Gleichsetzung der Mehrheit mit der Einstimmigkeit. Aber sie expliziert diese Fiktion und ersetzt sie durch ein geregeltes Nebeneinander ihrer beiden konstitutiven Bestandteile. Das Problem ist allerdings, dass diese Fiktion nie als solche anerkannt wurde. Bei juristischen Fiktionen ist das normalerweise nicht der Fall. Auf diesem Gebiet ist man sich über deren Natur und deren Sinn durchaus im Klaren. Juristische Methoden, bei denen so getan wird, »als ob«, sollen nicht irgendetwas kaschieren. Sie sollen die Dinge nur greifbarer machen, ihre Widersprüchlichkeit oder Komplexität reduzieren, um sie leichter regeln zu können. Juristische Fiktionen bieten insofern, wie ganz richtig bemerkt wurde, »die Möglichkeit, die Realität zu bewältigen, indem man demonstrativ mit ihr bricht«.15 Sie sind eindeutig an ihre Funktionalität gebunden und spiegeln keinen veränderten Sachverhalt vor. Die demokratische Gründungsfiktion wurde aber nicht in dieser Weise verstanden und auch nie klar expliziert: Man hat sie kaschiert und verleugnet. Das war notwendig, um die demokratische Idee in einen substantialistischen Horizont einzuordnen, die Majorität also gedanklich und politisch einer konsensförmigen Ordnung zu assimilieren, die man sich damals nicht anders vorstellen konnte. Die Anerkennung des Dualismus führt aus dieser Sackgasse heraus. Er lässt die beiden Pole der demokratischen Idee sichtbar werden und verlangt ständig nach Auflösung der impliziten Fiktionen, die deren Sinn verwischen oder ihre Organisation verzerren. Man muss die Regierung der Mehrheit ganz nüchtern als eine empirische Konvention begreifen, die stets höheren Rechtfertigungszwängen unterliegt. Sie beruht auf dem, was man als unvollkommene Legitimität bezeichnen könnte, bedarf also der Festigung durch andere Formen demokratischer Legitimation.

Neben diesem Dualismus der Institutionen hat sich noch ein weiterer Dualismus entwickelt, der die Demokratie als Form des Regierens betrifft. Die Frage der Regierung als ausführender Gewalt blieb in der politischen Theorie lange ein Randgegenstand. Die Regierung wurde betrachtet, als hätte sie keine eigene Konsistenz: Sie verschwand praktisch hinter den Entscheidungen, in denen sich ihr Handeln manifestierte. Die zentrale Bedeutung, die der gesetzgebenden Gewalt im demokratischen Denken beigelegt wird, hat diese Vernachlässigung lange gerechtfertigt. So verhält es sich seit der Französischen Revolution, wo man die legitime Macht der Allgemeinheit, mit der sich das Gesetz identifiziert, schroff der suspekten Macht der Verwaltung partikularer Interessen entgegenhielt, die das Wesen der Exekutive ausmacht. Der relativen Autonomie des Regierungshandelns wurde nur ganz langsam Rechnung getragen, so stark waren die Denkbarrieren.16 Die exekutive Gewalt wurde aber nur hinsichtlich der Inhalte ihres Handelns und Entscheidens betrachtet. Das riesige Gebiet der Politikanalyse zeugt von der Permanenz dieses Ansatzes in der heutigen Politikwissenschaft.

Heute kommt eine weitere Dimension der exekutiven Gewalt zum Vorschein: das Verhalten der Regierenden. Sie hat sich, ohne als solche theoretisch erfasst worden zu sein, im Bewusstsein der Bürger sehr stark bemerkbar gemacht. Daraus ergibt sich der neue Gegensatz zwischen einer Entscheidungsdemokratie (die sich in die im eigentlichen Sinne politische Dynamik der allgemeinen Wahlen einfügt) und einer Verhaltensdemokratie (die auf die Forderung nach Achtung sämtlicher Bürger verweist).

Die zwei neu auftauchenden Kontinente in der demokratischen Welt bilden wiederum einen Zusammenhang. Wir erwarten nämlich, dass sie auf unterschiedlichen Wegen zu einer demokratischeren Gesellschaft beitragen. Sie können der Tatsache Ausdruck verleihen, dass das demokratische Projekt sowohl in der Begründung einer Gesellschaft gleicher Individuen wie auch in der Einführung eines politischen Systems kollektiver Souveränität besteht. Sie entsprechen auf diese Weise der doppelten aktuellen Forderung nach verstärkter Individualisierung (mit einer genaueren Beachtung der individuellen Besonderheiten) und nach Entwicklung des Gemeinsinns (durch das Zurückdrängen des Gewichts von partikularen Interessen in der Tätigkeit der Institutionen).

I
Das System der doppelten
Legitimität

Die Fiktionen der Einsetzungslegitimität

Wenn es heute selbstverständlich erscheint, durch einen Anteil an Wählerstimmen die Tatsache zum Ausdruck zu bringen, dass »die Stimme der Mehrzahl für alle gilt« (Rousseau), verbirgt sich dahinter eine entscheidende Grundannahme: die Idee einer politischen Legitimität, die erst dann vollständig verwirklicht ist und ihrem Begriff entspricht, wenn aufseiten der Bürger einmütige Zustimmung herrscht. Nur dann kann die politische Macht beanspruchen, vollständig in der Gesellschaft verankert zu sein. Da die Demokratie den Einzelnen als Träger unveräußerlicher Rechte betrachtet, ist die Zustimmung aller die einzige unanfechtbare Garantie für die Achtung der Person. Dieser »individualistische« Einstimmigkeitsbegriff ist das Prinzip des Rechtsstaats. Die Institutionen von Rechtsstaat und allgemeinen Wahlen, die sich idealiter überlagern, definieren deshalb gemeinsam das demokratische System. Die für das Demokratieideal konstitutive Einstimmigkeitsforderung hat sich aber nicht auf dieses Postulat beschränkt. In einer eher anthropologischen Auffassung von Übereinstimmung wird die Gesellschaft selbst als ein korporatives Ganzes begriffen. Erst diese holistische Auffassung des individualistischrechtsförmigen Einstimmigkeitspostulats verleiht der elektoralen Legitimation der Regierenden ihren Sinn – eine ganzheitliche Sicht, die Einstimmigkeit zum inneren (moralischen, gesellschaftlichen und politischen) Wert erhebt. Die demokratischen Systeme haben das Mehrheitsprinzip als eine praktische Notwendigkeit eingeführt, weil die arithmetische Einstimmigkeit in der Praxis nicht zu verwirklichen war. Sie blieben aber gleichzeitig in der klassischen politischen Welt einer substantiellen Übereinstimmung gefangen. Nur ist diese nicht mehr im Sinne einer einfachen Äquivalenz zu begreifen. Der Mehrheitsbegriff hat eine arithmetische Bedeutung und entspricht keinem anthropologischen Sachverhalt. Das führt zu einem unterschwelligen Widerspruch, der am Verständnis von elektoraler Legitimität nagt. Ein kurzes Eintauchen in die klassische Welt der Einstimmigkeit kann das Problem deutlich machen.

Der klassische Horizont der Einstimmigkeit

In der Antike galt eine vereinte und befriedete Gesellschaft als politisches Ideal. Homonoia, die Göttin der Eintracht, wurde in den griechischen Stadtstaaten verehrt, in der lateinischen Welt errichtete man den Concordia Tempel.17 Politische Teilhabe bedeutet in diesen Welten zunächst, als Mitglied einer Gemeinschaft aufzutreten, indem man Zugehörigkeit bekundet und sich als Teil von Institutionen darstellt. Das ist in Rom der Sinn der bekannten Formel SPQR – Senatus populusque romanus. Sie bedeutet, dass Volk und Senat eins sind, was aber nichts mit einem Mandat oder Abgeordnetenstatus zu tun hat. »Repräsentation« gibt es nur unter der Voraussetzung einer Identifikation. Man kann also nur an einem Ganzen, einer Totalität partizipieren und deshalb keine Politik betreiben, die eine Spaltung zum Ausdruck bringt. Daher rührt die zentrale Bedeutung der Akklamation. In den Akklamationen des Volkes manifestiert sich in Rom das Ideal des Konsensus, der in den Städten wie im gesamten Reich herrschen soll. So besiegeln sie auf kommunaler Ebene häufig die Verabschiedung der Dekrete zu Ehren von Notabeln und Euergeten.18 Zahlreiche Inschriften zeugen von der postulatio populi, dem Willen des Volkes, und die Formel postulante populo findet sich in vielen Incipitzeilen. Oft fanden diese »Einstimmigkeitsrituale« im Theater oder Amphitheater statt. Und die Menge und die Notabeln spielten in diesem Stück ihre jeweilige Rolle. Sah jene sich geschätzt und anerkannt, indem sie sich bekunden sollte, so bedurften diese zu ihrer Legitimation der Zustimmungsrufe.19 In einer emotionalen Form wurde damit eine informelle Ökonomie des Politischen in Szene gesetzt, ein symbolischer Austausch (auf der Ebene von Anerkennungs- und Ehrenbezeugungen) wie auch ein materieller (auf der Ebene verteilter Zuwendungen), der durch die Zustimmungsrufe feierlich besiegelt wurde. Die Zustimmung (oder, im Ausnahmefall, die Ablehnung) konnte aber in diesem Rahmen nie partiell, sondern immer nur pauschal erfolgen. Die Billigung des Volkes sollte allenfalls einen Aushandlungsprozess besiegeln, dessen Ergebnisse nie formell festgehalten wurden, nur instinktiv in den Köpfen präsent waren. In der Terminologie der heutigen politischen Soziologie herrschte damals ein »Scheinkonsens«.20 Die »Wahl«, wenn man diesen Begriff weiter verwenden will, sollte also keinen Einschnitt markieren, keinen neuen Politikzyklus einleiten, sie sollte nur einen Zustand bekräftigen und das gute Funktionieren des Gemeinwesens bezeugen.

Solche »Einstimmigkeitsrituale« gab es auch andernorts, besonders in der germanischen und gallischen Welt. Zutiefst beeindruckt hatten sie Caesar und Tacitus, die im »Gallischen Krieg« und in der »Germania« ausführlich darauf eingehen. Beide beschrieben jene Versammlungen bewaffneter Männer, die ihre Zustimmung zu einem Vorschlag ihrer Stammesfürsten lautstark durch das Schwenken ihrer Speere zum Ausdruck brachten und umgekehrt durch Murren einen Vorschlag verwarfen, der ihnen missfiel.21 Auch hier ist es die versammelte Menge als solche, die zustimmt. Es ging in dieser Welt nie darum, die Stimmen zu zählen. Die Volksversammlung ist in diesem Falle nur eine Form, den Zusammenhalt der Gruppe zu prüfen und zu bekräftigen, zugleich eine Feier der Einheit zwischen dem Fürsten und dem Volk (die germanischen Begriffe für »König« gehen auf kin, »Volk«, und auch auf das Wort zur Bezeichnung des Stammes zurück). Darüber hinaus wird diese Einheit religiös gefestigt. Dem Stammesführer werden übernatürliche Kräfte zugeschrieben, die die Gemeinschaft mit ihren Göttern verbindet.22 Dadurch bekamen die Kriegerversammlungen eine sakrale Bedeutung, die mit ihrer »politischen« Dimension untrennbar verbunden war. Die Priester spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie eröffneten die Beratung und übten als Hüter des Stammesfriedens eine gewisse Zwangsgewalt über die Gruppe aus. Wurde die Übereinstimmung durch offenen Dissens getrübt, deutete man dies sofort als böses Vorzeichen, als bedrohliche Störung der sozialen Ordnung, die es schnellstens zu beseitigen galt.

In diese antike Kultur der Einstimmigkeits-Partizipation ordnete sich auch die Kirche der ersten Jahrhunderte ein. Die frühchristlichen Gemeinden wollten das verwirklichen, was ihnen im kommunalen Leben der damaligen Zeit als noch unentwickeltes Ideal erschien.23allgemeinen Wahl24unanimitas