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Zygmunt Bauman

Leben als Konsum

Aus dem Englischen
von Richard Barth

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

© 2009 by Hamburger Edition

© der Originalausgabe 2007 by Zygmunt Bauman

Redaktion: Paula Bradish

Inhalt

Einleitung
Das bestgehütete Geheimnis der Konsumgesellschaft

1Konsumismus kontra Konsum

Exkurs: Zur Methode der »Idealtypen«

2Eine Gesellschaft von Konsumenten

3Die Kultur des Konsumismus

4Kollateralschäden des Konsumismus

Literatur

Zum Autor

Einleitung
Das bestgehütete Geheimnis
der Konsumgesellschaft

Umgekehrt gibt es vielleicht keine
schlimmere Enteignung, keinen
grausameren Verlust als den,
den die im symbolischen Kampf um
Anerkennung, um Zugang zu einem
sozial anerkannten sozialen Sein,
das heißt, mit einem Wort, um
Menschlichkeit, Besiegten erleiden.1
Pierre Bourdieu

Betrachten wir drei zufällig ausgewählte Fallbeispiele für die sich rasch verändernden Gepflogenheiten unserer zunehmend »verdrahteten«, oder vielmehr drahtlos vernetzten, Gesellschaft.

Erster Fall: Am 2. März 2006 meldete der Guardian, dass »›social networking‹ innerhalb von zwölf Monaten vom neuesten Trend zu dem Trend schlechthin geworden ist«.2 Die Anzahl der Besucher auf der Website MySpace, ein Jahr zuvor der unangefochtene Marktführer unter den neu entwickelten Plattformen für soziale Netzwerke, hatte um das Sechsfache zugenommen, die konkurrierende Website MSN Spaces (mittlerweile Windows Live Spaces) verzeichnete elfmal mehr Treffer als im Vorjahr, und die Site Bebo.com wurde 61-mal häufiger aufgerufen als im Jahr davor.

Wahrlich beeindruckende Zuwachsraten – auch wenn sich der erstaunliche Erfolg von Bebo, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels ein Neuling auf dem Markt, auch als Strohfeuer erweisen könnte: Einem Experten für Internettrends zufolge »werden mindestens 40 Prozent der derzeitigen Top Ten in einem Jahr in der Versenkung verschwunden sein. […] Der Start einer neuen Social-Networking-Site«, erklärt er, »ist wie die Neueröffnung einer Bar«, die nur deshalb die Massen anzieht, weil sie die neueste ist, mit einer nagelneuen oder generalüberholten Einrichtung, »bevor das Interesse ebenso zuverlässig verebbt wie der Kater am Tag danach« und sie ihre Anziehungskraft in einem endlosen Staffellauf an die »Nächstneueste« weiterreicht, den neuesten »heißen Tipp«, das neueste »Stadtgespräch«, den Laden, in dem »jeder, der etwas auf sich hält, gesehen werden muss«.3

Haben sie in einer Schule, einer geographischen oder virtuellen Nachbarschaft erst einmal Fuß gefasst, dann breiten sich »Social-Networking«-Websites mit der Geschwindigkeit einer »hochansteckenden Krankheit« aus. Innerhalb kürzester Zeit sind sie für eine ständig wachsende Zahl junger Männer und Frauen von einer Option unter vielen zur Standard-Anlaufstelle geworden. Offensichtlich haben diejenigen, die elektronische Kontaktbörsen erfunden und vermarktet haben, den richtigen Ton getroffen – beziehungsweise einen blankliegenden, empfindlichen Nerv, der seit langem auf den richtigen Reiz gewartet hat. Und sie brüsten sich zu Recht damit, dass sie ein echtes, weitverbreitetes und dringendes Bedürfnis befriedigen. Und um welches Bedürfnis handelt es sich? »Auf Social-Networking-Plattformen steht der Austausch persönlicher Informationen im Mittelpunkt.« Die Benutzer geben bereitwillig »intime Details aus ihrem Privatleben« preis, stellen »wahrheitsgetreue Informationen« ins Netz und »tauschen Fotos aus«.4 Schätzungen zufolge haben 61 Prozent aller Teenager in Großbritannien im Alter zwischen 13 und 17 Jahren »ein persönliches Profil auf einer Networking-Site« erstellt, mit dessen Hilfe sie »online Kontakte knüpfen« können.5

In Großbritannien, wo die Verbreitung der neuesten elektronischen Hilfsmittel dem Fernen Osten um Cyberjahre hinterherhinkt, können die Nutzer noch darauf vertrauen, dass ihre Entscheidung für diese Netzwerke als Ausdruck ihrer Wahlfreiheit oder gar als Mittel jugendlicher Auflehnung und Selbstbehauptung gilt (eine Annahme, deren Glaubwürdigkeit von den panischen Reaktionen untermauert wird, die ihre nie da gewesene, vom Internet angefachte und im Internet ausgelebte Begeisterung für Selbstdarstellung tagein, tagaus bei ihren sicherheitsbesessenen Lehrern und Eltern auslöst, und von den nervösen Reaktionen von Schulleitern, die Websites wie Bebo.com von ihren Schulservern verbannen). In Südkorea dagegen, wo bereits heute ein Großteil des sozialen Lebens auf elektronischem Wege abgewickelt wird (genauer: wo das soziale Leben sich längst in ein elektronisches Leben oder Cyberlife verwandelt hat und wo der größte Teil des »sozialen Lebens« sich in erster Linie in Gesellschaft eines Computers, iPods oder Handys abspielt und erst in zweiter Linie mit anderen Wesen aus Fleisch und Blut), wissen junge Leute, dass sie nicht den Hauch einer Wahl haben; wo sie leben, ist ein auf elektronischem Weg vermitteltes soziales Leben keine Option mehr, sondern eine Notwendigkeit ohne Alternative. Die wenigen, die es versäumt haben, sich bei Cyworld zu registrieren, dem südkoreanischen Cybermarktführer in Zeiten der »Enthüllungskultur«, erwartet der »soziale Tod«.

Allerdings wäre es ein großer Fehler zu glauben, dass der Drang, sein Inneres nach außen zu kehren, sowie die Bereitschaft, diesem Drang nachzugeben, lediglich Ausdruck einer einzigartigen, generationsspezifischen, altersabhängigen Neigung oder Sucht von Teenagern ist, die von Natur aus ein starkes Interesse daran haben, im »Netz« (ein Begriff, der sowohl im sozialwissenschaftlichen Diskurs als auch im populären Sprachgebrauch zusehends das Wort »Gesellschaft« ablöst) dauerhaft Fuß zu fassen – ohne eine klare Vorstellung davon, wie sie dieses Ziel erreichen können. Der neue Hang zur öffentlichen Beichte lässt sich nicht mit »altersspezifischen« Faktoren erklären – zumindest nicht ausschließlich. Eugène Enriquez hat die Botschaft, die man der wachsenden Flut von Hinweisen aus allen Bereichen der flüchtig-modernen Welt der Konsumenten entnehmen kann, so zusammengefasst: »Wenn man sich vor Augen hält, dass das, was vormals unsichtbar war – jedermanns Intimsphäre und jedermanns Innenleben –, heute in aller Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden soll (vor allem im Fernsehen, aber auch in der Literatur), dann versteht man, dass diejenigen, denen an ihrer Unsichtbarkeit gelegen ist, zurückgewiesen, beiseitegeschoben oder eines Verbrechens verdächtigt werden. Körperliche, soziale und psychische Nacktheit sind heute an der Tagesordnung.«6

Mit tragbaren elektronischen Beichtstühlen ausgestattete Teenager sind nichts anderes als Lehrlinge, die die Kunst erlernen und in ihr unterwiesen werden, in einer »Beichtstuhl-Gesellschaft« zu leben – einer Gesellschaft, die dafür berüchtigt ist, dass sie die Grenze beseitigt, die einst das Private vom Öffentlichen schied, die es zur allgemeinen Tugend und Pflicht erhebt, das Private öffentlich zur Schau zu stellen, und die alles aus dem Bereich der öffentlichen Kommunikation verbannt, was sich nicht auf private Vertraulichkeiten reduzieren lässt, zusammen mit denjenigen, die sich weigern, solche Enthüllungen anzubieten. Wie Jim Gamble, Chef einer staatlichen Behörde zur Überwachung des Internets, gegenüber dem Guardian einräumte: »Es findet sich dort alles, was man auch auf einem Schulhof findet – der einzige Unterschied ist, dass es auf diesem Spielplatz keine Lehrer, keine Polizisten und keine Aufsichten gibt, die ein Auge darauf haben, was passiert.«7

Zweiter Fall: Am gleichen Tag, aber auf einer ganz anderen Seite in einem anderen Ressort, für die ein anderer Redakteur verantwortlich zeichnet, informierte der Guardian seine Leser, dass Unternehmen »Computersysteme verwenden, um Sie effektiver abzuwimmeln, je nach Ihrem Wert für die angerufene Firma«.8 Dank solcher Computersysteme kann man Informationen über Kunden speichern und sie in Kategorien einordnen, von »1« für erstklassige Kunden, deren Anrufe sofort entgegengenommen und zu einem höherrangigen Mitarbeiter durchgestellt werden, bis »3« (»Bodensatz«, wie es im Firmenjargon gemeinhin heißt) für Kunden, die am Ende der Warteschlange landen – und wenn sie schließlich durchgestellt werden, dann zu einem Mitarbeiter am unteren Ende der Hierarchie.

Wie im ersten Fall kann man auch im zweiten kaum der Technik die Schuld an den neuen Praktiken geben. Die neue, ausgeklügelte Software kommt Managern zu Hilfe, die schon vorher mit der dringenden Notwendigkeit konfrontiert waren, die anschwellende Flut der Anrufer zu klassifizieren, um die selektierenden und ausschließenden Praktiken zu beschleunigen, die bereits vorher angewandt wurden, jedoch mit Hilfe primitiver Hilfsmittel – selbstgestrickte, Do-it-yourself- oder Heimindustrieprodukte, die zeitraubend und offensichtlich weniger effektiv waren. Der Sprecher einer Firma, die solche Systeme installiert und betreut, stellt fest: »Die Technik greift lediglich Prozesse auf, die bereits vorhanden sind, und macht sie effizienter«9 – das heißt, sie beschleunigt und automatisiert und erspart damit den Angestellten der Firma die mühselige Arbeit, Informationen zusammenzutragen, Kundenprofile zu studieren, bei jedem Anruf ein Urteil zu fällen und die Verantwortung für die Konsequenzen dieser Entscheidungen zu übernehmen. Ohne die entsprechenden technischen Möglichkeiten müssten sie ihren eigenen Verstand nutzen und auf Kosten der Firma viel Zeit aufwenden, um einzuschätzen, wie gewinnbringend der Anrufer für das Unternehmen voraussichtlich sein wird: Über wie viel Geld oder welchen Kreditrahmen verfügt er, und wie hoch ist seine Bereitschaft, sich davon zu trennen? »Unternehmen müssen die Kunden aussortieren, die am wenigsten einbringen«,10 erklärt ein anderer Manager. Das heißt, Unternehmen brauchen eine Art »negative Überwachung«, eine Umkehrung der Überwachung im Stil des Orwellschen Big Brother oder eines Panoptikums, eine Art Sieb, das in erster Linie dazu dient, die Unerwünschten hinunterzuspülen und die Stammkunden aufzufangen, ein Vorgang, der neu definiert wird als der ultimative Effekt eines gründlichen Reinigungsprozesses. Sie brauchen eine Möglichkeit, die Datenbank mit jenen Informationen zu füttern, die geeignet sind, »fehlerhafte Konsumenten« herauszufiltern – das Unkraut des konsumistischen Gartens, Menschen, denen es an Geld, Kreditkarten und/oder Kauflust mangelt, und die immun sind gegen die Verlockungen der Werbung. Als Ergebnis der negativen Auslese wird nur zahlungskräftigen und kaufwilligen Mitspielern erlaubt, weiterhin am Konsumspiel teilzunehmen.

Dritter Fall: Einige Tage später ließ wieder ein anderer Redakteur auf wieder einer anderen Seite die Leser wissen, dass der britische Innenminister Charles Clarke ein neues, auf einem Punktesystem basierendes Bewerbungsverfahren für Einwanderer angekündigt hatte, das »die Besten und Intelligentesten anlocken«11 sowie natürlich alle anderen abschrecken und abhalten sollte, auch wenn dieser Teil von Clarkes Ankündigung in der Pressemitteilung schwer zu entdecken war, da entweder vollständig weggelassen oder ins Kleingedruckte verbannt. Wen soll das neue Verfahren anlocken? Diejenigen, die am meisten Geld investieren können und über die besten Fähigkeiten verfügen, dieses Geld zu verdienen. »Dadurch können wir sicherstellen«, so der Innenminister, »dass nur jene in unser Land kommen, die über Fähigkeiten verfügen, für die im Vereinigten Königreich ein Bedarf besteht, und dass diejenigen ohne diese Fähigkeiten von einer Bewerbung abgehalten werden.«12 Und wie funktioniert dieses System? Kay zum Beispiel, eine junge Neuseeländerin mit einem Master-Abschluss, aber einem ebenso schlecht angesehenen wie bezahlten Job, hat die 75 Punkte nicht erreicht, die es ihr erlaubt hätten, sich um eine Einwanderungserlaubnis zu bewerben. Sie müsste nun zuerst ein britisches Unternehmen finden, das ihr eine Stelle anbietet, was ihr dann positiv angerechnet werden würde, als Beweis dafür, dass für ihre Fähigkeiten »im Vereinigten Königreich ein Bedarf besteht«.

Charles Clarke würde kaum für sich in Anspruch nehmen, dass er der Erste war, der das Marktgesetz, demzufolge stets das beste Produkt im Regal ausgewählt wird, auf die Auswahl von Menschen übertragen hat. Wie der heutige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, damals noch als Amtskollege des Innenministers, sagte: »Fast alle Demokratien der Welt praktizieren eine selektive Immigration«, woraus er die Forderung ableitete: »Frankreich sollte Einwanderer nach Bedarf auswählen können.«13

Drei Fälle, über die in drei verschiedenen Ressorts der Tageszeitung berichtet wurde, von denen angenommen wird, dass sie aus völlig unterschiedlichen Lebensbereichen stammen, aus Lebensbereichen, die jeweils eigenen Regeln folgen und von unabhängigen Organen überwacht und geleitet werden. Fälle, die auf den ersten Blick vollkommen unterschiedlich sind und die Menschen betreffen, die sich in Herkunft, Alter und Interessen grundlegend voneinander unterscheiden und mit ganz unterschiedlichen Problemen kämpfen. Gibt es, so könnte man fragen, irgendeinen Grund, sie nebeneinanderzustellen und als Angehörige ein und derselben Kategorie zu betrachten? Die Antwort lautet: Ja, es gibt einen Grund, sie miteinander in Verbindung zu bringen, und zwar einen sehr guten Grund, wie man ihn sich besser kaum vorstellen könnte.

Die Schuljungen und -mädchen, die eifrig und begeistert ihre Qualitäten anpreisen, in der Hoffnung, Aufmerksamkeit zu erregen und vielleicht auch die Anerkennung und Akzeptanz zu erlangen, die nötig ist, um sozial »im Rennen« zu bleiben; die interessierten Kunden, die ihre Kaufhistorie aufbessern und ihren Kreditrahmen erweitern müssen, um einen besseren Service zu bekommen; die Bewerber um ein Einwanderungsvisum, die, als Beweis, dass eine Nachfrage für ihre Dienste besteht, mühsam Bonuspunkte sammeln – alle drei Kategorien von Menschen, die auf den ersten Blick so unterschiedlich erscheinen, werden dazu verführt, gedrängt oder gezwungen, eine attraktive und wünschenswerte Ware anzupreisen und alles dafür zu tun und die besten ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um den Marktwert der von ihnen feilgebotenen Güter zu erhöhen. Und die Ware, die sie gehalten werden auf dem Markt anzubieten, zu bewerben und zu verkaufen, sind sie selbst.

Sie sind zugleich Vermarkter von Waren und die Waren, die sie vermarkten. Sie sind gleichzeitig Güter und Marketingagent, Handelsartikel und Handlungsreisende (und jeder Akademiker, so möchte ich hinzufügen, der sich je um eine Stelle als Hochschullehrer oder um Forschungsmittel beworben hat, wird in dieser Erfahrung unschwer das eigene Schicksal wiedererkennen). Welcher Gruppe die Statistiker sie auch zurechnen mögen, sie alle bevölkern ein und denselben sozialen Raum, den man Markt nennt. In welche Kategorie staatliche Archivare oder Enthüllungsjournalisten ihre Beschäftigungen auch einordnen mögen, was sie alle betreiben (sei es aus freien Stücken, aus Notwendigkeit oder, wie zumeist, aus beiden Gründen), ist Marketing. Der Test, den sie bestehen müssen, um die erstrebte soziale Belohnung zu erlangen, erfordert, dass sie sich in Waren verwandeln, das heißt in Produkte, die in der Lage sind, die Aufmerksamkeit von Kunden zu erregen und Nachfrage zu generieren.

Siegfried Kracauer war ein Denker mit der geradezu unheimlichen Fähigkeit, inmitten einer formlosen Masse von Marotten und Modeerscheinungen die kaum sichtbaren und noch unausgeformten Umrisse zukünftiger Trends zu erkennen. Bereits Ende der 1920er Jahre, als die bevorstehende Transformation der Gesellschaft von Produzenten in eine Gesellschaft von Konsumenten nur im Keim vorhanden war oder sich bestenfalls im Anfangsstadium befand, hielt Kracauer fest: »Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, die Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu erhalten. ›Wie werde ich schön?‹ lautet der Titel eines jüngst auf den Markt geworfenen Heftes, dem die Zeitungsreklame nachsagt, daß es Mittel zeige, ›durch die man für den Augenblick und für die Dauer jung und schön aussieht‹.«14

Die im Entstehen begriffenen Gepflogenheiten, die Kracauer in den späten 1920er Jahren als bemerkenswerte Berliner Kuriosität festhielt, breiteten sich aus wie ein Lauffeuer und wurden schließlich überall auf der Welt zur tagtäglichen Routine (oder zumindest zu einem Traum). 80 Jahre später beobachtete Germaine Greer bereits, dass »selbst in den abgelegensten Gebieten im chinesischen Nordwesten Frauen ihre Maoanzüge ablegten, um in Push-up-BHs und figurbetonte Röcke zu schlüpfen, ihre glatten Haare färbten, sich Locken legen ließen und sparten, um sich Kosmetikartikel leisten zu können. Das nannte man dann Liberalisierung.«15

Ein halbes Jahrhundert nachdem Kracauer die neuen Leidenschaften der Berliner Frauen bemerkt und beschrieben hatte, erklärte Jürgen Habermas, die »Kommodifizierung« von Kapital und Arbeit sei die Hauptfunktion, ja die raison d’être des kapitalistischen Staates. Habermas schrieb zu einem Zeitpunkt, als die Gesellschaft von Produzenten dem Ende ihrer Tage entgegenging, und hatte insofern den Vorteil des Zurückblickenden auf seiner Seite. Wenn die Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften auf sich endlos wiederholenden Begegnungen zum Zwecke der Transaktion zwischen dem Kapital in der Rolle des Käufers und Arbeitskräften in der Rolle der Ware beruht, dann muss der Staat dafür sorgen, dass diese Begegnungen regelmäßig stattfinden und erfolgreich verlaufen, das heißt zu An- und Verkaufstransaktionen führen.

Damit dieses Ziel in allen oder zumindest in einer erheblichen Anzahl der Begegnungen erreicht wird, muss das Kapital allerdings in der Lage sein, den aktuellen Preis der Ware zu bezahlen, muss ihn zu zahlen gewillt sein und dazu veranlasst werden, diesen Willen in die Tat umzusetzen – abgesichert durch staatliche Sicherungssysteme gegen die Risiken, die die notorischen Unwägbarkeiten von Warenmärkten mit sich bringen. Zugleich muss dafür gesorgt werden, dass die Arbeitskräfte in einem erstklassigem Zustand sind, in dem es wahrscheinlich ist, dass sie die Aufmerksamkeit potentieller Käufer auf sich ziehen, die sie für gut genug befinden, um zu kaufen, was sie sehen. Ohne die aktive Mitwirkung des Staates war es unwahrscheinlich, dass man erreichen, geschweige denn sicherstellen konnte, dass Arbeitskräfte für kapitalistische Käufer attraktiv sind – ebenso wenig, wie man Kapitalisten dazu bewegen konnte, ihr Geld in Arbeitskräfte zu investieren. Arbeitssuchende mussten gut ernährt und gesund sein, daran gewöhnt, sich diszipliniert zu verhalten, und über die Fähigkeiten verfügen, die die Arbeitsroutinen der von ihnen gesuchten Stellen verlangten.

Den meisten Nationalstaaten, die nach Kräften versuchen, der Aufgabe der Kommodifizierung gerecht zu werden, sind heute von Defiziten an Macht und Ressourcen geplagt – Defiziten, die dadurch entstehen, dass einheimisches Kapital, aufgrund der Globalisierung der Kapital-, Arbeits- und Warenmärkte und der weltweiten Verbreitung von modernen Formen von Produktion und Handel, einem immer härteren Wettbewerb ausgesetzt ist; außerdem liegen die Ursachen dieser Defizite in den rasch ansteigenden Kosten des »Wohlfahrtsstaates«, jenem wichtigsten und vielleicht unverzichtbaren Instrument der Kommodifizierung der Arbeit.

Auf dem Weg von einer Gesellschaft von Produzenten zu einer Gesellschaft von Konsumenten wurden die mit der Kommodifizierung und Rekommodifizierung von Arbeit und Kapital verbundenen Aufgaben einem doppelten Prozess der allmählichen, gründlichen und offensichtlich unumkehrbaren (wenngleich noch nicht abgeschlossenen) Deregulierung und Privatisierung unterzogen.

Die Geschwindigkeit und das zunehmende Tempo dieser Prozesse waren und sind keineswegs gleichförmig. In den meisten (wenn auch nicht allen) Ländern scheinen sie auf dem Gebiet der Arbeit sehr viel radikaler zu sein, als sie es bisher auf dem Gebiet des Kapitals gewesen sind, wo es nach wie vor beinahe die Regel ist, dass neue Vorhaben mit Finanzspritzen vom Staat unterstützt werden, und zwar eher in steigendem als in abnehmendem Umfang. Außerdem wird die Fähigkeit und die Bereitschaft des Kapitals, Arbeitskraft einzukaufen, weiterhin regelmäßig vom Staat angekurbelt, der sich bemüht, die »Arbeitskosten« niedrig zu halten, indem er die Mechanismen für kollektive Tarifverhandlungen und Arbeitsplatzsicherung demontiert und die Handlungsoptionen der Gewerkschaften per Gesetz beschneidet – und allzu oft die Zahlungskraft von Unternehmen stützt, indem er Importe besteuert, Steuererleichterungen auf Exporte gewährt und die Dividenden von Anlegern mit öffentlichen Aufträgen subventioniert. So hat die Regierung Bush erst im Februar 2006 bekräftigt, dass der Staat der amerikanischen Ölindustrie im Lauf der nächsten fünf Jahre sieben Milliarden Dollar an Förderabgaben erlassen wird (eine Summe, die sich nach manchen Schätzungen vervierfachen wird), um deren Ölbohrungen in den staatlichen Gewässern im Golf von Mexiko zu fördern. (»Das ist, als ob man einen Fisch dafür bezahlt, dass er schwimmt«, so die Reaktion eines Abgeordneten im Repräsentantenhaus auf diese Nachricht. »Es ist nicht zu rechtfertigen, dass diese Unternehmen weiter staatlich subventioniert werden, wenn die Öl- und Gaspreise derart hoch sind.«)16

Bisher war die Aufgabe der Rekommodifizierung der Arbeit am stärksten von den Zwillingsprozessen Deregulierung und Privatisierung betroffen. Der Staat hat sich der unmittelbaren Verantwortung für diese Aufgabe im Wesentlichen entledigt, indem er den notwendigen institutionellen Rahmen von Diensten, die unverzichtbar sind, um die Verkäuflichkeit der Arbeitskraft zu erhalten, ganz oder teilweise in Privatfirmen ausgelagert hat (zum Beispiel im Fall von Schulen, Sozialwohnungen, Altersheimen und einer steigenden Zahl von medizinischen Dienstleistungen). Damit wird die eigentliche Aufgabe, die Verkäuflichkeit von Arbeit en masse sicherzustellen, der privaten Sorge der Einzelnen überlassen (etwa, indem die Kosten für den Erwerb bestimmter Fähigkeiten nunmehr aus privaten, individuellen Mitteln getragen werden müssen); ihnen wird von Politikern geraten und von der Werbung eingeredet, dass sie ihren eigenen Verstand und ihre eigenen Ressourcen nutzen sollen, um im Rennen zu bleiben, ihren Marktwert zu erhalten beziehungsweise zu steigern und die Wertschätzung potentieller Käufer zu gewinnen.

Arlie Russell Hochschild hat einige Jahre damit verbracht, die Veränderungen der Arbeitsstrukturen in hochentwickelten Branchen der amerikanischen Wirtschaft aus nächster Nähe (nahezu als Teilnehmerin) zu beobachten, und dabei Trends entdeckt und dokumentiert, die jenen überraschend ähnlich sind, die Luc Boltanski und Eve Chiapello in Europa diagnostiziert und als den »neuen Geist des Kapitalismus« äußerst detailliert beschrieben haben. Als wichtigstes Ergebnis dieser Arbeiten kann man hervorheben, dass Arbeitgeber eine ausgeprägte Präferenz für frei flottierende, ungebundene, flexible und frei verfügbare Generalisten zeigen (die dem Typ »Alleskönner« entsprechen, statt spezialisiert zu sein und eine auf ein bestimmtes Fachgebiet konzentrierte Ausbildung absolviert zu haben). Arlie Hochschild formuliert das so: »Seit 1997 geht in aller Stille ein neuer Begriff in Silicon Valley um, dem Kernland der Computerrevolution in Amerika – Zero Drag, null Reibung. Ursprünglich war damit die reibungsfreie Bewegung von Dingen wie Rollschuhen oder Fahrrädern gemeint. Dann wandte man ihn auf Beschäftigte an, die ohne finanzielle Anreize ganz leicht von einem Job zum nächsten wechselten. Neuerdings bedeutet er soviel wie ungebunden oder ohne Verpflichtungen. So mag der Chef einer dot.com-Firma über einen Angestellten sagen, er sei Zero Drag, und damit meinen, dass dieser Angestellte bereit ist, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, in Notfällen einzuspringen oder jederzeit umzuziehen. Po Bronson, der über die Kultur von Silicon Valley gearbeitet hat, meint: ›Zero drag ist optimal. Eine Zeit lang wurden Stellenbewerber noch im Scherz nach ihrem Drag-Koeffizienten gefragt.‹«17

Wenn man in einiger Entfernung vom Valley wohnt und/oder mit einer Ehefrau oder einem Kind belastet ist, hebt das den »Drag-Koeffizienten« und senkt die Chancen des Bewerbers auf eine Anstellung. Arbeitgeber wünschen sich Angestellte, die eher schwimmen als gehen und eher surfen als schwimmen. Der ideale Angestellte wäre demnach ein Mensch, der keine bestehenden Beziehungen, Verpflichtungen oder emotionalen Bindungen hat und neue scheut; der sich bereitwillig auf jede Aufgabe einlässt, die sich ihm stellt, und willens ist, die eigenen Neigungen ständig anzupassen und neu einzustellen, und der sich in kurzer Abfolge neue Prioritäten zu eigen macht und alte abstreift; ein Mensch, der ein Umfeld gewohnt ist, in dem es unerwünscht und daher unklug ist, sich überhaupt an etwas – an einen Job, eine Fertigkeit oder eine Handlungsroutine – »zu gewöhnen«; und nicht zuletzt ein Mensch, der die Firma klaglos und ohne Rechtsstreit verlässt, wenn er nicht mehr gebraucht wird. Im Übrigen ein Mensch, für den langfristige Perspektiven, in Stein gemeißelte Karrierestufen und jede Art von Stabilität noch abschreckender und furchteinflößender sind als das Fehlen derselben.

Die Kunst der »Rekommodifizierung« der Arbeit in ihrer neuen, aktualisierten Form ist denkbar schlecht dafür geeignet, von der schwerfälligen, für ihre Trägheit berüchtigten, traditionsgebundenen, gegen Veränderungen resistenten und in Routinen verliebten staatlichen Bürokratie gelernt zu werden; und diese Bürokratie ist denkbar ungeeignet, diese Kunst zu kultivieren und sie den Menschen zu vermitteln und einzuschärfen. Es ist besser, diese Aufgabe den Konsumgütermärkten zu überlassen – und genau das geschieht auch –, denn man weiß, dass sie nicht nur bereits Experten darin sind, ihren Kunden auffallend ähnliche Künste beizubringen, sondern auch bei der Ausführung dieser Aufgabe bestens gedeihen. Der tiefste Sinn der Konversion des Staates zum Kult der »Deregulierung« und »Privatisierung« liegt in der Verlagerung der Aufgabe der Rekommodifizierung von Arbeit auf den Markt.

Der Arbeitsmarkt ist nur einer von vielen Warenmärkten, an denen das Leben jedes Individuums notiert ist; der Marktpreis der Arbeit ist nur einer von vielen Marktpreisen, die bei individuellen Lebensentscheidungen berücksichtigt, beobachtet und einkalkuliert werden müssen. Doch auf allen Märkten gelten die gleichen Regeln.

Erstens: Die eigentliche Bestimmung aller feilgebotenen Waren ist, dass sie von Käufern konsumiert werden. Zweitens: Den Wunsch, Güter zum Zweck des Konsums zu erwerben, werden Käufer dann und nur dann verspüren, wenn deren Konsum die Befriedigung ihrer Bedürfnisse verspricht. Drittens: Der Preis, den ein interessierter Konsument auf der Suche nach Befriedigung für die angebotenen Waren zu zahlen bereit ist, hängt von der Glaubhaftigkeit dieses Versprechens und der Intensität dieser Bedürfnisse ab.

Begegnungen zwischen möglichen Konsumenten und ihren möglichen Konsumobjekten werden in zunehmendem Maße die Grundbausteine jenes eigentümlichen Geflechts zwischenmenschlicher Beziehungen, das man kurz als »Konsumgesellschaft« bezeichnet. Genauer gesagt: Das existenzielle Umfeld, das man »Konsumgesellschaft« nennt, zeichnet sich dadurch aus, dass es alle zwischenmenschlichen Beziehungen nach dem Muster und Vorbild der Beziehungen zwischen Konsumenten und ihren Konsumobjekten umgestaltet. Diese erstaunliche Leistung beruht auf der Besetzung und Kolonisierung des Raums, der sich zwischen menschlichen Individuen erstreckt, durch Konsumgütermärkte; jenes Raums, in dem die Fäden gesponnen werden, die Menschen miteinander verbinden, und in dem die Zäune gebaut werden, die sie trennen.

In völliger Verzerrung und Perversion des eigentlichen Kerns der konsumistischen Revolution wird die Konsumgesellschaft meist so dargestellt, als stünden in ihrem Zentrum Beziehungen zwischen dem Konsumenten, dem der Status des cartesianischen Subjekts zugewiesen wird, und der Ware, der die Rolle des cartesianischen Objekts zukommt – obgleich das Gravitationszentrum der Begegnung von Subjekt und Objekt in derartigen Darstellungen eine entscheidende Verschiebung erfährt, vom Bereich der Kontemplation in den Bereich des Handelns. Wenn es um das Handeln geht, sieht sich das denkende (wahrnehmende, prüfende, vergleichende, kalkulierende, Bedeutung zuschreibende, verständlich machende) cartesianische Subjekt – genau wie beim Akt der Kontemplation – mit einer Vielzahl räumlicher Objekte (der Wahrnehmung, der Prüfung, des Vergleichens, der Kalkulation, der Bedeutungszuschreibung, des Verstehens) konfrontiert, aber jetzt kommt noch die Aufgabe hinzu, mit ihnen umzugehen: sie zu bewegen, sich anzueignen, zu benutzen, wegzuwerfen.

Zugegebenermaßen wird das Ausmaß von Souveränität, das dem Subjekt in Beschreibungen des Handelns von Konsumenten gemeinhin zugewiesen wird, immer wieder in Frage gestellt und in Zweifel gezogen. Wie Don Slater sehr richtig festgestellt hat, changiert das Bild des Konsumenten, das in gelehrten Abhandlungen über das Konsumleben gezeichnet wird, zwischen den Extremen »Übertölpelte beziehungsweise Tölpel der Kultur« und »Helden der Moderne«.18 Dem ersten Extrem zufolge sind Konsumenten alles andere als souverän Handelnde. Stattdessen werden sie dargestellt als von falschen Versprechungen getäuscht, verleitet, verführt, gedrängt und auf andere Weise fremdgesteuert von offenen oder verdeckten, in jedem Fall aber äußeren Einflüssen. Das andere Extrem der vermeintlichen Bilder des Konsumenten umfasst alle Tugenden, mit denen die Moderne sich so gerne schmückt, wie Rationalität, stabile Autonomie, die Fähigkeit, sich selbst zu definieren, und ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Derartige Porträts zeigen den Träger eines »heroischen Willens und jener Intelligenz, die Natur und Gesellschaft umgestalten und beide der Herrschaft der persönlich und frei gewählten Wünsche des Individuums unterwerfen konnte.«19

Das Entscheidende ist jedoch, dass die Konsumenten in beiden Versionen – ob man sie nun als vom Werberummel Übertölpelte darstellt oder als heroische Praktiker des sich selbst vorantreibenden Drangs nach Herrschaft – als von der Gesamtheit aller möglichen Konsumobjekte abgeschnitten und getrennt von ihnen betrachtet werden. In den meisten Beschreibungen bleibt die Welt, die von der Konsumgesellschaft geformt und aufrechterhalten wird, fein säuberlich getrennt in Dinge, die zur Wahl stehen, und jene, die auswählen; in Waren und deren Konsumenten: in Dinge, die konsumiert werden, und Menschen, die konsumieren. In Wirklichkeit jedoch ist die Konsumgesellschaft das, was sie ist, weil von alledem überhaupt keine Rede sein kann; was sie von anderen Gesellschaftsformen unterscheidet, ist gerade das Verwischen und letztlich die Beseitigung der oben genannten Unterscheidungen.

In der Konsumgesellschaft kann niemand ein Subjekt werden, ohne sich zuerst in eine Ware zu verwandeln, und niemand kann sich seines Subjektseins sicher sein, ohne ständig jene Fähigkeiten zu regenerieren, wiederzubeleben und aufzufrischen, die von einer käuflichen Ware erwartet und eingefordert werden. Die »Subjektivität« des Subjekts und der Großteil dessen, was diese Subjektivität dem Subjekt zu erreichen ermöglicht, ist fokussiert auf das nicht enden wollende Bemühen, selbst eine verkäufliche Ware zu werden und zu bleiben. Das wichtigste Kennzeichen der Konsumgesellschaft – so sorgfältig verborgen und verheimlicht es auch ist – ist die Verwandlung von Konsumenten in Waren; genauer: ihrer Auflösung in der Warenflut, in der, um den wohl meistzitierten der höchst zitierwürdigen Gedanken Georg Simmels zu zitieren, »die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird«, sodass sie »in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung« erscheinen. »Sie schwimmen alle mit gleichem spezifischem Gewicht in dem fortwährend bewegten Geldstrom.«20 Die Aufgabe der Konsumenten und das Hauptmotiv, das sie dazu bringt, unablässig dem Konsum zu frönen, ist folglich die Aufgabe, sich aus der grauen und langweiligen Unsichtbarkeit und Nichtigkeit emporzustemmen, damit sie sich von der Masse der »mit gleichem spezifischen Gewicht schwimmenden«21 Objekte unterscheiden und so die Aufmerksamkeit von (blasierten!) Konsumenten auf sich ziehen …

Für ihr erstes Album erhielt Corinne Bailey Rae, eine 27-jährige Sängerin, die 2005 von einem EMI-Manager unter Vertrag genommen wurde, nach nur vier Monaten eine Platin-Schallplatte.22 Ein erstaunlicher Vorgang, eine Chance von eins zu einer Million oder Hunderten von Millionen – nach einem kurzen Auftritt in einer Indie-Band und einem Job als Garderobenfrau in einem Soul-Club ein kometenhafter Aufstieg zum Star. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht größer, vielleicht sogar kleiner, als die, den Lotto-Jackpot zu gewinnen (aber halten wir fest, dass weiterhin Millionen von Menschen Woche für Woche Lottoscheine kaufen). »Meine Mutter ist Grundschullehrerin«, sagte Corinne einem Interviewer, »und wenn sie die Kinder fragt, was sie werden wollen, wenn sie groß sind, sagen sie: ›Berühmt.‹ Und auf die Frage, warum, sagen sie: ›Weiß nicht, ich will einfach berühmt werden.‹«23

»Berühmt zu sein« heißt in diesen Träumen nicht mehr (aber auch nicht weniger!), als auf den Titelseiten von Tausenden von Zeitschriften und auf Millionen von Bildschirmen gezeigt zu werden, im Gespräch zu sein, gesehen, wahrgenommen und damit, vermutlich, von vielen begehrt zu werden – genau wie die Schuhe, Röcke oder Accessoires, die derzeit in Hochglanzmagazinen und auf den Fernsehbildschirmen prangen und damit im Gespräch sind, gesehen werden, wahrgenommen, begehrt … »Das Leben ist mehr als Medienrummel«, so Germaine Greer, »aber nicht viel mehr. Im Informationszeitalter bedeutet Unsichtbarkeit mehr oder weniger den Tod.«24 Was für lebende Organismen der Stoffwechsel ist, das ist für Waren, und damit auch für Konsumenten, die ständige, unaufhaltsame Rekommodifizierung.

Hinter dem Traum vom Berühmtsein verbirgt sich ein anderer Traum, der Traum, sich nicht mehr in der grauen, farb- und gesichtslosen Masse der Waren aufzulösen und darin aufgelöst zu bleiben, der Traum, sich in eine beachtenswerte, beachtete und begehrte Ware zu verwandeln, eine Ware, über die man spricht und die sich von der Masse der Waren abhebt, eine Ware, die man unmöglich übersehen, verlachen, entlassen kann. In einer Gesellschaft von Konsumenten ist die Verwandlung in eine begehrenswerte und begehrte Ware der Stoff, aus dem die Träume und Märchen sind.

Karl Marx, der zu einer Zeit schrieb, als die Gesellschaft von Produzenten aufblühte, tadelte zeitgenössische Ökonomen, weil sie dem »Fetischcharakter der Ware« verfallen seien; sie hätten die Angewohnheit, zwischenmenschliche Interaktion zu übersehen oder sie absichtlich oder gewohnheitsmäßig hinter dem Warenverkehr zu verstecken, als ob die Waren von sich aus und ohne Vermittlung durch Menschen miteinander in Beziehung treten würden. Die Entdeckung, dass das Kaufen und Verkaufen von Arbeitskraft der Kern der »Produktionsverhältnisse« sei, die sich hinter dem Phänomen der »Warenzirkulation« verberge, argumentierte Marx, sei ebenso schockierend wie revolutionär: ein erster Schritt, die entmenschlichte Realität der kapitalistischen Ausbeutung wieder mit menschlicher Substanz zu füllen.

Etwas später sollte Karl Polanyi ein weiteres Loch in die vom Warenfetischismus gesponnene Illusion reißen: Ja, sagte er, Arbeitskraft werde ge- und verkauft, als ob sie eine Ware sei wie jede andere, aber nein, betonte er, Arbeitskraft sei keine Ware wie jede andere und könne es auch nicht sein. Der Eindruck, dass Arbeit nichts anderes sei als eine Ware, könne nur eine grobe Verzerrung der Realität sein, da »Arbeitskraft« nicht unabhängig von den Trägern derselben ge- und verkauft werden könne.25 Im Gegensatz zu anderen Waren können Käufer ihre Einkäufe nicht »mit nach Hause nehmen«. Was sie erstanden haben, wird nicht ihr alleiniges und uneingeschränktes Eigentum, und sie können es nicht nach Belieben utere et abutere (ge- oder missbrauchen), wie sie es mit ihren anderen Einkäufen tun können. Die auf den ersten Blick »rein geschäftliche« Transaktion (man denke an die Klage von Thomas Carlyle im frühen 19. Jahrhundert über die »Zeiten, wo Barzahlung das einzige Band zwischen Mensch und Menschen ist«26) verbindet die Träger und Käufer von Arbeitskraft unvermeidlich durch gegenseitige Verpflichtungen und gegenseitige Abhängigkeit. Auf dem Arbeitsmarkt gebiert jede geschäftliche Transaktion eine menschliche Beziehung; jeder Arbeitsvertrag ist eine weitere Widerlegung des Warenfetischismus, und auf jede Transaktion folgen bald Beweise ihrer Falschheit sowie der Täuschung oder Selbsttäuschung, die mit ihr einhergehen.

Wenn es das Schicksal des Warenfetischismus war, den menschlichen, allzu menschlichen Kern der Gesellschaft von Produzenten zu verbergen, so ist jetzt der Subjektivitätsfetischismus dazu bestimmt, die kommodifizierte, allzu kommodifizierte Realität der Gesellschaft von Konsumenten zu verschleiern.

»Subjektivität« ist in einer Gesellschaft von Konsumenten, genau wie »Ware« in einer Gesellschaft von Produzenten (um das treffende Konzept von Bruno Latour zu verwenden) ein Faitiche,27 ein ganz und gar menschliches Produkt, das in den Rang einer übermenschlichen Autorität erhoben wird, indem man seinen menschlichen, allzu menschlichen Ursprung ebenso vergisst wie die Abfolge menschlicher Handlungen, die zu seiner Entstehung geführt haben und die die conditio sine qua non dieser Entstehung war. Im Fall der Ware in der Gesellschaft von Produzenten war es der Akt des Kaufens und Verkaufens der Arbeitskraft, der dem Produkt »Arbeit« einen Marktwert verlieh und es damit zu einer Ware machte – wobei dieser Prozess des Zur-Ware-Werdens durch das Aufkommen einer autonomen Interaktion von Waren verdeckt wird. Im Fall der Subjektivität in der Gesellschaft von Konsumenten ist es das Kaufen und Verkaufen von symbolischen Zeichen zur Konstruktion von Identität, das in der Erscheinungsform des Endprodukts beseitigt wird. Diese Konstruktion von Identität ist der angeblich öffentliche Ausdrucks des »Selbst«, der in Wirklichkeit das »Simulacrum« Jean Baudrillards ist,28 bei dem »Repräsentation« an die Stelle dessen tritt, was vermeintlich repräsentiert wird.

Die »Subjektivität« von Konsumenten basiert auf Kaufentscheidungen – Entscheidungen, die vom Subjekt und von möglichen Käufern des Subjektes getroffen werden; ihre Beschreibung nimmt die Form einer Einkaufsliste an. Was wir für die Materialisierung der inneren Wahrheit des Selbst halten, ist in Wahrheit eine Idealisierung der materiellen – verdinglichten – Spuren von Konsumentscheidungen.

Eine der immer zahlreicher werdenden Internet-Partnervermittlungen (parship.co.uk) hat vor einiger Zeit eine Umfrage durchgeführt, der zufolge im Jahr 2005 zwei Drittel aller Singles, die eine Partnervermittlung in Anspruch nahmen, das Internet nutzten. Die »Internet-Dating«-Branche in Großbritannien machte im betreffenden Jahr 17 Millionen Euro Umsatz, und diese Zahl hat sich seitdem vermutlich vervielfacht.29 Innerhalb von sechs Monaten vor Veröffentlichung der Umfrageergebnisse nahm der Anteil der Singles, die überzeugt waren, im Internet den richtigen Partner zu finden, von 35 auf 50 Prozent zu – und die Tendenz ist weiter steigend. Die Autorin eines im Internetmagazin spiked erschienenen Essays kommentierte derartige Ergebnisse folgendermaßen: »Es spiegelt einen fundamentalen Wandel in der Art und Weise wider, wie Menschen ermuntert werden, persönliche Beziehungen zu sehen und ihr Privatleben zu organisieren: Intimität wird öffentlich ausgelebt und ist vertraglichen Normen unterworfen, die man sonst mit dem Kauf eines Autos, eines Hauses oder eines Urlaubs assoziiert.«30 Die Autorin stimmt mit einem anderen von spiked veröffentlichten Kommentar in der Ansicht überein, dass interessierte Nutzer sich dem Internet als der »sichereren, kontrollierbareren Option«31 zuwenden. Sie können so »das Risiko und die Unberechenbarkeit von persönlichen Begegnungen« vermeiden. »Die Angst vor der Einsamkeit treibt die Menschen an ihren Computer, während die Angst vor Fremden sie vor Begegnungen im wirklichen Leben zurückschrecken lässt.«32 Doch diese Sicherheit hat ihren Preis. Jonathan Keane beschreibt das »schleichende Gefühl von Unbehagen und Missbrauch«, das Menschen befällt – sosehr sie sich auch dagegen wehren mögen –, die von einer Website zur nächsten blättern, so wie sie früher die Seiten von Katalogen umgeblättert haben.33

Menschen, die die Dienste von Internetagenturen in Anspruch nehmen, sind unverkennbar von der Benutzerfreundlichkeit des Konsumgütermarkts verwöhnt, der verspricht, dass jede Entscheidung sicher und jede Transaktion einmalig und ohne Verpflichtungen ist, ein Akt »ohne verdeckte Kosten«, »ohne weitere finanzielle Forderungen«, »ohne Bedingungen« und »ohne weitere Anrufe«. Der Nebeneffekt (in Verwendung eines derzeit sehr beliebten Ausdrucks könnte man auch sagen, der »Kollateralschaden«) eines derart verwöhnten Daseins – das Risiken minimiert, Verantwortung radikal reduziert oder abgibt und von einer a priori neutralisierten Subjektivität der Protagonisten geprägt ist – ist allerdings, wie sich gezeigt hat, ein erheblicher Verlust sozialer Fähigkeiten.

In Gesellschaft von menschlichen Wesen aus Fleisch und Blut fühlen sich die in den Praktiken des Konsumgütermarkts bestens geschulten Stammkunden von Internet-Partnervermittlungen unwohl. Jene Art von Ware, mit der sie gelernt haben, soziale Interaktionen einzugehen, kann man berühren, hat aber selbst keine Hände, um zu berühren; sie lässt sich mustern, ohne den Blick zu erwidern oder eine Erwiderung ihres Blickes zu erwarten, und erspart somit dem Betrachter, sich prüfenden Blicken auszusetzen, während sie selbst sich bereitwillig vom Kunden mustern lässt; man kann sie genauestens studieren, ohne ihren prüfenden Blick in die eigenen Augen, jenen Fenstern zu den tiefsten Geheimnissen der Seele, fürchten zu müssen. Ein Großteil der Anziehungskraft von Internetagenturen beruht darauf, dass sie die ersehnten menschlichen Partner als die Art von Ware präsentieren, der gut vorgebildete Konsumenten zu begegnen gewohnt sind und mit der sie umgehen können. Je erfahrener und »reifer« ihre Kunden werden, desto überraschter, verwirrter und verlegener sind sie, wenn sie sich »von Angesicht zu Angesicht« begegnen und feststellen, dass Blicke erwidert werden müssen, und dass in diesen »Transaktionen« sie, die Subjekte, zugleich Objekte sind.

In Geschäften sind den Waren Antworten auf alle Fragen beigefügt, die ein interessierter Kunde stellen könnte, bevor er sich zum Kauf entscheidet, aber sie selbst bleiben höflich und stumm und stellen keine Fragen, vor allem keine peinlichen. Waren geben alle ihre Geheimnisse preis und mehr – ohne auf Gegenseitigkeit zu bestehen. Sie verbleiben in der Rolle des cartesianischen »Objekts« – völlig willfähriger, gehorsamer Dinge, die das omnipotente Subjekt berühren, formen und nach Belieben benutzen kann. Durch ihre Willfährigkeit erheben sie den Käufer in den vornehmen, schmeichelhaften und dem