Wolfgang Schiffer

Die Befragung des Otto B.

BÜCKT SICH EINER raus, hebt sich einer rein, kriecht sich wieder raus, schiebt sich einer rein, kommt auch wieder raus, geht einer rein, schnell, tut sich wieder raus, langsam, ebenfalls rein, ebenfalls raus, rein: Otto B. ist drin

2. Kapitel

BEFRAGT, WELCHE Berufspläne er nach Bestehen des Abiturs gehegt habe, erklärt Otto B., aufgrund der negativen Erfahrungen, die er bis dahin während seiner Ausbildung habe machen müssen, seien ihm diesbezügliche Vorstellungen nur zögernd gekommen, ja, ein konkretes Berufsziel habe er sogar energisch von sich gewiesen. Natürlich sei sein Erkenntnisdrang jedoch noch nicht erschöpft gewesen, und so habe er sich nach und nach eingestehen müssen, an einer Wissenserweiterung auf den Gebieten der Philosophie und der Literatur interessiert zu sein. Mit der Einschreibung an der philosophischen Fakultät in der seinem Heimatort nächstgelegenen Universitätsstadt sei er aber auf den heftigsten Widerstand seines immer ungeduldiger werdenden Vaters gestoßen, der zwar mehrere Fehler seiner vorherigen Erziehung eingestanden, sich aber nicht von der Vorstellung getrennt habe, in seinem Sohn das an finanzieller Sicherheit verwirklichen zu müssen, was ihm selbst aufgrund der Zeiten versagt geblieben sei. Aus diesem Grunde habe er ihn bei der örtlichen Sparkasse zu einem Bankkaufmann ausbilden lassen wollen; die notwendigen Gespräche mit dem Sparkassenleiter, einem Sportkameraden des Vaters aus dessen Zeit in einer Turnerriege, seien schon geführt gewesen, so dass seine (Otto B.s) Weigerung einen harten Schlag für das vermeintliche Familienoberhaupt gebildet habe. Er (Otto B.) jedoch sei durch nichts, weder durch Drohungen noch durch Bitten, von seinem einmal gefassten und schon angegangenen Entschluss abzubringen gewesen, woraufhin der Vater ihm jegliche moralische und finanzielle Unterstützung versagt habe. Gelegentliche Äußerungen, seinem Ziel in dem Falle auch ohne elterliche Beihilfe nachzueifern, hätten ein diesbezügliches striktes Verbot zur Folge gehabt; selbst die seit dem letzten Vorschul­jahr nicht mehr stattgefunden habenden Einsperrungen seien wieder vorgekommen. Doch auch dies habe ihn nicht lange abhalten können, da der Vater wenige Zeit später aus bis heute ungeklärter Ursache verstorben sei.

Ob sich denn niemand Gedanken über das sicherlich denkwürdige Ableben des Vaters gemacht habe. Gewiss, dies sei der Fall gewesen: Ein Priester, der am Tage der Beerdigung den Trauergästen während des Leichen­schmauses in einem der orts­bekannten Cafés einen Kondolenz­besuch abgestattet habe, sei der Überzeugung gewesen, den Tod auf das unchristliche, da pan­­the­istische Leben des Verstorbenen zurückführen zu müssen; Worte wie Verdammnis und Satan hätten den Betrübten jedoch einen dermaßen großen Schrecken versetzt, dass sie allesamt übereingekommen seien, die von dem Priester benannte Todesursache als unglaubwürdig zurückzuweisen. Doch angeregt durch die Reden eben dieses Priesters und durch mehrere digestive Schnäpse, seien nun unter den Anverwandten selbst lautstarke Diskussionen um den Tod des Ausihrermittegerissenen ausgebrochen, wobei sich gezeigt habe, dass die Verwandten väterlicherseits geneigt gewesen seien, als Grund für das frühzeitige Ableben eine natürliche Ursache, wie Herzschlag, Hirnschlag und ähnliches, anzunehmen; die Verwandten mütterlicherseits jedoch hätten eher an etwas weniger Natürliches, wie durch Laster und Ausschweifungen Hervorgerufenes geglaubt (immerhin sei der Verstorbene ja zum zweiten Mal verheiratet gewesen, so die jüngste Schwester der Mutter), die Nachbarn und alle übrigen außerhalb der Familienverbände lebenden Bekannten endlich seien gegenüber allen gefallenen Erklärungen voller Zweifel geblieben und beharrlich bei der Vorstellung verweilt, etwas gänzlich Unnatürlichem, wie der Hauptspaltung vermittels eines Beiles oder der Giftmischerei, die Folge des Todes zuschreiben zu müssen. Und nur hierauf sei es zurückzuführen, dass noch mehrere Wochen lang ein Gerücht von der geheimnisvollen Ermordung des Leonhard B. im Wohnort des ehemals Lebenden selbst und in den angrenzenden Nachbarorten Verbreitung gefunden habe; erst die Schwester, die dem Verstorbenen in seinen letzten Monaten stets zur Seite gewesen sei, habe es vermocht, all dem Gerede ein Ende zu setzen, indem sie im Anzeigenteil der Lokalpresse eine längere Erklärung abgegeben habe, die nach Meinung des Otto B. nur auf eine Verwechslung des pantheistischen Glaubens, in dem der Vater sie vergebens zu unterrichten bestrebt gewesen sei, mit einer Religionsart, die die Seelenwanderung zu einem ihrer wichtigsten Bestandteile mache, zurückgeführt werden müsse: Dem allmächtigen, pantheistischen Gott sei durch Frevlerhände an der Kreuzung der Wanderwege A 2/X eine Birke genommen worden, und er habe seinen treuen Diener Leonhard dazu ausersehen, ihm diese zu ersetzen; und tatsächlich ziere seit dem Tage des Erscheinens jener Anzeige ein junges Birkenstämmchen, über welches Otto B. allerdings aus berufenem Munde gehört habe, es sei von der Schwester selbst eingepflanzt gewesen, die besagte Kreuzung, und nicht wenige, die ähnlichen Religionsverkettungen anheimgefallen seien, täten tagtäglich an dieser Stelle durch Niederlegung von Blumen und Kränzen ihre Glaubensbezeugung kund.

Ermahnt, sich angesichts der ernsten Lage, in der er sich befinde, wenn schon nicht auf nur Milderndes, so doch zumindest auf Reales in seiner Berichterstattung zu beschränken, sucht Otto B. sichtbar nach einer Ausrede und kann dann wohl doch nicht lügen: Wenn man ihm schon Unsinnsfragen stelle (Anmerkung des Protokollanten: Der Befragte antwortet in diesem Zusammenhang das Wort: Scheißfragen), so müsse man wenigstens zulassen, dass er Unsinnssätze antworte (Anmerkung des Protokollanten: Der Befragte gebraucht in diesem Zusammenhang das Wort: Scheißsätze). Zudem sage er seines Erachtens nur die Wahrheit, so wahr ihm irgendein Gott helfe. (Anmerkung des Protokollanten: Da der Befragte weiterhin erklärt, eine angedrohte Ordnungsstrafe nicht als Strafe zu empfinden, sondern als Beweis der Unfähigkeit zu werten, verzichtet G. auf die angedrohte Ordnungsstrafe, da diese ihren Sinn verfehlen würde.)

Befragt, ob er nunmehr gewillt sei, seine Ausführungen fortzusetzen, oder im weiteren Verlauf schweigen wolle, legt Otto B. dar, dass er schon darauf bestehe, von dem Recht, sich zu erklären, Gebrauch zu machen.

Eine Pause von zweistündiger Dauer wird angeordnet.

P., nachdem er sich den angeblich neuesten und ihm tatsächlich noch unbekannten Witz über einen Inhaftierten von einem der den Otto B. hinausführenden Beamten angehört und kameradschaftlich verpflichtet, aber dennoch ein wenig wohlwollend gelacht hat, verlässt nach der routinemäßigen Überprüfung des an diesem Tage bislang Niedergeschriebenen und nach der gleichzeitigen Neuordnung der verschiedenen Kopierstifte, deren er sich, wie schon sein vor Jahren verstorbener Vater, der die gleiche Stellung bei den Verantwortlichen innehatte, beim Schreiben bedient, den Saal und verriegelt gewissenhaft die Tür. Anschließend eilt er zu einem dem Gebäude nahe gelegenen Café, das er wegen der grünberankten Nischen, der gedämpften Beleuchtung und der in seiner Mitte kreisförmig angelegten und mit roten Backsteinen abgesicherten Pflanzungen von Zimmergewächsen, wie Gummibaum, Philodendron und so weiter, der in ihrer Kargheit eher steril und wegen des ständig lauten Stimmgewirres schon als aufdringlich zu bezeichnenden Cafeteria vorzieht, wobei ihm auf dem Wege Regen die aufgrund des frühlingshaften Vortages angelegte sommerliche Kleidung durchnässt, und er bittet, dort angekommen, um zwei mit Schinken unterlegte Spiegeleier auf Brot und eine Tasse Kaffee. Während er wenig später den Dotter des zweiten Eies zerschneidet, kommt ihm der gehörte Gefangenenwitz nochmals in den Sinn, und erst nun kann er herzhaft darüber lachen, so dass mehrere weitere Cafébesucher ihn verwundert anschauen. Als er dies bemerkt, sieht er sich zu einem unvermittelten Abbruch seines Gelächters verpflichtet. Währenddessen geht ein Bankier auf einen Sprung in seine Bank, ein Fabrikant telefoniert mit einem seiner Auslieferungslager, ein Kaufhausdirektor betritt seine Büroräume, und ein Stadtabgeordneter kehrt in einem Feinschmeckerrestaurant ein. Ihnen allen widerfährt nichts Ungewöhnliches, Berichtenswertes; nur der Fabrikant notiert sich die Adresse einer jungen Frau, deren Ehemann bei ihm seit sechs Jahren in der Warenannahme und –ausgabe als Packer beschäftigt ist und in den frühen Stunden des Vormittags in einer Presse, die der Bündelung schon benutzten Verpackungsmaterials dient, zwei Finger seiner rechten Hand verloren hat.

Der Polizist schleppt sich ermüdet, jedoch verbissen, dem nunmehr sich dahinschleppenden Flüchtling nach. Irgendeine Aufmerksamkeit wird beiden nicht mehr gezollt ...