Text: Gerry Souter

Übersetzer: Dr. Martin Goch

Redaktion der deutschen Ausgabe: Klaus H. Carl

 

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ISBN: 978-1-78310-666-0

Gerry Souter

 

 

 

Amerikanische

Realistische

Malerei

 

 

 

 

 

INHALT

 

 

 

EINLEITUNG

EASTMAN JOHNSON (1824 BIS 1906)

WINSLOW HOMER (1836 BIS 1910)

THOMAS EAKINS (1844 BIS 1916)

WILLIAM MICHAEL HARNETT (1848 BIS 1892)

FREDERIC REMINGTON (1861 BIS 1909)

ROBERT HENRI (1865 BIS 1929) UND DIE „ASCHENEIMER-KÜNSTLER“

Robert Henri

Everett Shinn

George Luks

William Glackens

John Sloan

George Bellows

Resümee für die „Ascheneimer-Künstler“

EDWARD HOPPER (1882 BIS 1967)

THOMAS HART BENTON (1889 BIS 1975)

GRANT WOOD (1891 BIS 1942)

CHARLES BURCHFIELD (1893 BIS 1967)

ANDREW WYETH (1917 BIS 2009)

BIBLIOGRAPHIE

Monographien

Periodika

INDEX

ANMERKUNGEN

 

Frederic Remington, Bootshaus in Ingleneuk,

c. 1903-1907. Öl auf Holz, 30,5 x 45,7 cm.

Frederic Remington Art Museum, Ogdensburg, New York.

 

 

EINLEITUNG

 

 

Das Konzept des „Realismus” in der Kunst rein theoretisch umfassend zu definieren, ist ein fast aussichtsloses Unterfangen. Man könnte genau so gut versuchen, „Tanz” zu definieren, ohne sich ein Ballett, Tapdance, Jazz oder Volkstänze anzusehen. In der Kunst gibt es durchaus Schulen wie den Kubismus, den Futurismus, den Impressionismus, den Fauvismus, den Expressionismus und noch viele weitere mehr oder weniger bedeutende ismen. Jede dieser Schulen hat spezifische Charakteristika und Stilmerkmale. Ihre Anhänger sind durch die Resultate ihrer Identifikation mit dem jeweiligen kreativen Ansatz definiert. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen ismen und dem Realismus besteht jedoch in den Kategorien Zeit, Ort und Denkweise.

Ein „realistischer” Maler ist der Erbe eines Vermächtnisses, das bis zu den frühesten, das Leben unserer primitivsten Vorfahren darstellenden Höhlenmalereien zurückreicht. Sie malten gigantische Elche, Mammuts, Höhlenbären und ihre eigenen Gefährten. Diese ersten „Künstler” sahen durch die Luft fliegende Speere, den eleganten Hals der Antilope und den Buckel des Büffels und malten exakt das, was sie sahen, Lebewesen in der Bewegung oder im Ruhezustand, mit Hilfe von mit tierischem Fett oder Talg vermischter farbiger Erde. Niemand weiß genau, ob die Resultate rein „journalistischer” Natur waren oder den Bildern magische Bedeutung für eine erfolgreiche Jagd zukam. Die Interpretation der Wirklichkeit führte dann durch die Jahrhunderte von stilisierter Propaganda an den Wänden von Tempeln und Grabmalen bis hin zum Epos des Teppichs von Bayeux mit seiner ausführlichen Beschreibung der normannischen Invasion Englands. Der Glaube wurde gleichzeitig durch Abbildungen von Geschichten aus der Bibel, dem Koran, der Bhagavad-Gita und den Schriften des Konfuzius unterstützt.

Die realistische Malerei brachte später eine elitäre Klasse von Künstlern hervor, die ganz bestimmte Effekte und Techniken und geheime Verfahren der Konservierung von Farben beherrschten und insofern Alchemisten ähneln, die der durch ihre Augen wahrgenommenen Realität ewiges Leben und Szenen aus ihrer Vorstellungskraft Wirklichkeit verleihen konnten. Meister dieser Technik wurden von der Gesellschaft hoch geschätzt und begannen, ihre Position durch Orden, Akademien und Gesellschaften zu verfestigen, deren Mitgliedschaft als Ziel, besondere Leistung und fast heilige Verpflichtung galt. Auf der anderen Seite verliehen die Werke ihren jeweiligen Besitzern oder Auftraggebern eine Aura der Frömmigkeit, des anspruchsvollen Geschmacks und der gesellschaftlichen Verantwortung.

Es gab natürlich auch Unzufriedene: David, Dürer, da Vinci, Goya, Rembrandt, Delacroix, Caravaggio Künstler, deren Pinsel, Nadeln und Kreide von ihren Leidenschaften bestimmt wurden und die illustrierten, dass es beim Realismus um mehr als bloße Technik geht. Als die amerikanischen Kolonien der Neuen Welt sich nach der Revolution, der Expansion nach Westen, dem Krieg des Jahres 1812 und den Grenzkriegen mit Mexiko schließlich ein wenig beruhigten, begannen eine neue einheimische Kunst und die Kunst Europas, in neue Regionen vorzustoßen. Diese Entwicklung fiel praktisch mit der Geburt der Fotografie in den 1840er Jahren zusammen. Die Möglichkeit, reflektiertes Licht in den unterschiedlichsten Schattierungen mit Hilfe von Silberhalogenidkristallen einzufangen und mit Hyposulfit zu konservieren, sorgte für eine nicht mehr umkehrbare Demokratisierung der Darstellung der Wirklichkeit und hielt der Natur mit Hilfe eines simplen Klicks den Spiegel vor.

 

William Metcalf, Hafen von Gloucester, 1895.

Öl auf Leinwand, 66,4 x 74,3 cm.

Mead Art Museum, Amherst College, Amherst,

Massachusetts, gestiftet von George D. Pratt.

 

 

Und was machten „wahre Künstler” mit diesem neuen Medium? Nun, sie zwängten es natürlich in die Konventionen der Malerei und beeilten sich, Orden, Akademien und Gesellschaften zu gründen, um Regeln für „wirklich künstlerische” Fotografie zu formulieren. Die Technik und Mechanik der Fotografie stammten aus Europa, aber ihre Kommerzialisierung, ihr künstlerischer Anspruch und ihr großes kreatives Potenzial haben ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten, in der Nation der Einwanderer, die den Drang, den status quo in Frage zu stellen, ererbt hatten und in ihren Genen weiterreichten. Der europäische akademische Realismus geriet gegenüber dem französischen Impressionismus des 19. Jahrhunderts ins Hintertreffen und ging in die übertriebene Theatralik und die unterschiedlichen geographischen Schulen Amerikas über. Die durch die Fotografie mögliche wirklichkeitsgetreue Übersetzung von Licht und Schatten in reproduzierbare Bilder eröffnete den Künstlern die Möglichkeit, ihre Vorstellungskraft zu erkunden. Sie konnten alle Elemente – Farbe, Linie, Perspektive, räumliche Anordnung, Hinzufügung oder Reduktion – manipulieren und die jeweilige Szene auf diese Weise zu ihrer Realität machen. Der Realismus als eine monolithische, klar geregelte Schule zersplitterte in unzählige Nuancen der Interpretation.

Die Gegend, in der man malte, konnte einen zu einem regionalen Künstler machen. Was man malte, konnte für das Etikett eines Genre-Realisten sorgen, wen man malte, den Künstler zu einem Porträt-Realisten abstempeln – u. U. auch zu einem regionalen Porträt-Realisten, wenn man Indianer im Westen oder Kapitäne an der Ostküste porträtierte. Es gab Realisten, deren Arbeiten gewisse Ähnlichkeiten mit den französischen Realisten aufwiesen, und akademische Realisten, die die altmodische Mechanik der Salons der Alten Welt auf Szenen des amerikanischen Lebens anwandten. Einige Realisten ritten erfolgreich auf der Grenze zwischen kommerziellen Illustrationen und der hohen Kunst. Andere transponierten realistische Objekte in die Welt des Surrealismus oder trieben den Realismus derart auf die Spitze, dass sie fast die Fotografie herausforderten.

 

John Sloan, Hafen von Gloucester, 1916.

Öl auf Leinwand, 66 x 81,3 cm.

Syracuse University Art Collection, Syracuse, New York.

 

 

All die hier genannten Ausprägungen weisen wiederum derart viele Nuancen auf, dass das Konzept eines „Amerikanischen Realismus” kaum noch zu halten ist. Was bleibt, sind amerikanische realistische Künstler, die sich mit dem amerikanischen Leben auseinandersetzen. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen hängen von der Filterung ihrer Wahrnehmung durch ihren Intellekt, ihren Fähigkeiten, ihrer Ausbildung, regionalen und ethnischen Einflüssen ab. Wenn es eine Verbindung gibt, so besteht diese in der Tradition der realistischen Kunst in den USA, die das breite Spektrum von Winslow Homers poetischen Aquarellen der 1860er Jahre bis hin zu den beeindruckenden, exakten Details eines Andrew Wyeth und dem melancholischen Licht der Gemälde Edward Hoppers in den 1950er und 1960er Jahren umfasst.

Dieses Buch präsentiert eine Auswahl amerikanischer realistischer Maler aus mehr als hundert Jahren. Die Darstellung beginnt mit der Auseinandersetzung einiger Künstler mit europäischen Einflüssen und ihrem Versuch, das amerikanische Leben im 19. Jahrhundert einzufangen. Sie endet mit der heutigen Generation realistischer Maler, die sich in einer Art friedlicher Koexistenz mit dem amerikanischen Modernismus befinden und diese neue Freiheit in die aktuellen Inkarnationen ihrer Kunst einfließen lassen. Die Bandbreite der hier vorgestellten Talente ist außergewöhnlich, verkörpert die umfassendste Interpretation des Begriffs des Amerikanischen Realismus und ermöglicht ein tiefes Verständnis der erstaunlichen Vielfalt der realistischen Stilrichtungen.

 

Eastman Johnson, Frau in weißem Kleid, c. 1895.

Öl auf Pappe, 56,8 x 35,6 cm. Fine Arts Museum

of San Francisco, San Francisco, Kalifornien,

gestiftet von Mr. und Mrs. John D. Rockefeller III.

 

 

EASTMAN JOHNSON
(1824 BIS 1906)

 

 

In den 1840er Jahren befanden sich die Vereinigten Staaten immer noch in einer rasanten Entwicklung. Die Bevölkerung war gegenüber der vorigen Dekade um 33 Prozent auf knapp über 17 Millionen gestiegen, wobei in vier Staaten jeweils mehr als eine Million Menschen lebten, in New York, Pennsylvania, Ohio und Virginia. Texas schloss sich 1845 den USA an und die ersten Wagentrecks fuhren über die Santa Fe- und die Oregon-Route Richtung Westen. Im Dezember desselben Jahres informierte Präsident James K. Polk den Kongress, dass die „… offenkundige Bestimmung“ der Nation darin bestehe, nach Westen zu expandieren und die Monroe-Doktrin energisch aufrecht zu erhalten.

Diese großen Ereignisse wurden mit der brandneuen Errungenschaft von Samuel F. B. Morses Telegrafie, die mit einer am 24. Mai 1844 von Washington, D.C., nach Baltimore übersandten Nachricht gerade erst ihre Feuertaufe bestanden hatte, über das ganze Land verbreitet. Die Nachricht lautete sinngemäß „Gottes Wille geschehe.“ Mehr oder weniger gleichzeitig bemühte sich in einem Atelier in Boston der 20jährige Eastman Johnson, die Kunst der Stein-Lithografie zu erlernen, ein Handwerk innerhalb der Druckindustrie. Sein Vater hatte ihn in eine entsprechende Werkstatt in die Lehre geschickt, damit er einen praktischen Beruf erlerne.

Der junge Johnson war 1824 in Lovell, einer kleinen Stadt in der Nähe der Westgrenze des Staates Maine, als letztes von acht Kindern von Mary Kimball Chandler und Phillip Carrigan Johnson geboren worden. Während die Familie zunächst nach Fryeburg, einem ehemaligen Vorposten an der Grenze zur Wildnis, und dann nach Augusta, in die am Kennebec liegende Hauptstadt von Maine, zog, erklomm der Patriarch Johnson die Erfolgsleiter. Er stieg von einem erfolgreichen Geschäftsmann zum Außenminister von Maine auf, machte anschließend noch weiter Karriere und brachte es als Verantwortlicher für den Bau und die Ausstattung der Marine schließlich zu beträchtlichem Einfluss in Washington. Vor diesem Hintergrund fiel es natürlich nicht schwer, eine Lehrstelle für Eastman zu finden. Seine zeichnerische Begabung und gute Beobachtungsgabe taten ein Übriges.

Eastman ging 1845 mit 21 Jahren nach Washington, wo er sich als Porträtmaler einen Namen machte und so berühmte Zeitgenossen wie den Redner und Außenministers Daniel Webster (1782 bis 1852) und Dolly Madison, die Ehefrau des Präsidenten James Madison, malte. Im folgenden Jahr wechselte Eastman nach Boston, wo ihm sein in der Lithografie erlernter subtiler Umgang mit Farbton und Linie bald Aufträge für Porträts wie jenes des jugendlichen Charles Sumner (1811 bis 1874) einbrachten, das auf Veranlassung des Dramatikers Henry Wadsworth Longfellow (1807 bis 1882) entstand.

Der berühmte Dichter bat Eastman dann ebenfalls um Zeichnungen von Familienmitgliedern und seiner berühmten Freunde, darunter der Autor Nathaniel Hawthorne (1804 bis 1864), Anne Longfellow Pierce (1810 bis 1901), Charles Longfellow (1844 bis 1893), deren gemeinsamem zweiten Sohn Ernest Longfellow (1845 bis 1921), Mary Longfellow Greenleaf (1816 bis 1902) und Cornelius Conway Felton (1807 bis 1862), der wenig später Präsident der Universität Harvard wurde. Diese Aufträge gaben Eastmans Karriere einen wahren Schub. Nach drei Jahren in Boston hielt er es jedoch für erforderlich, sich mehr mit der hohen Kunst zu befassen. Es dauerte jedoch noch bis 1848, bis er sein erstes Ölgemälde malte, ein Porträt seiner Großmutter.

Im Folgejahr überquerte Johnson den Atlantik, um sich an der Düsseldorfer Kunstakademie einzuschreiben, einer einflussreichen realistischen Schule des 19. Jahrhunderts. Dort arbeitete er im Atelier des amerikanischen Auswanderers Emanuel Gottlieb Leutze (1816 bis 1868). Viele der Studenten dieser für ihre realistischen Landschaftsallegorien und historischen Bilder bekannten Akademie waren kurz vor Johnsons Eintreffen in politische und soziale Proteste verwickelt gewesen und hatten auf Barrikaden gestanden. Die deutsche Revolution der Jahre 1848/49 zwang Friedrich Wilhelm IV. (1795 bis 1861), eine einheitliche Verfassung für ganz Preußen zu erlassen. Eastman allerdings kümmerte sich vor allem um die Malerei und schloss sich einer Reihe amerikanischer Künstler in dieser Akademie an, die zur damaligen Zeit durchaus einflussreicher als vergleichbare Einrichtungen in Paris war. Die Maler James M. Hart (1828 bis 1901), William Morris Hunt (1824 bis 1879), George Caleb Bingham (1811 bis 1879), William S. Haseltine (1835 bis 1900), Worthington Whittredge (1820 bis 1910) und Richard Caton Woodville (1856 bis 1926) sammelten ebenso wie Albert Bierstadt (1830 bis 1902), der Maler leuchtender Landschaften des amerikanischen Westens, auf diese Weise allesamt Erfahrungen in Düsseldorf,.

Während die Akademie durchaus wertvollen technischen Unterricht bot, fühlte sich Johnson durch ihre Pädagogik gleichzeitig eingeengt. Er packte deshalb 1852 seine Malutensilien ein und begab sich auf eine Reise durch Italien und Frankreich, an deren Ende er in Den Haag eintraf. Dort studierte er die niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts, vor allem Rembrandt und seine meisterliche Handhabung des Lichts und der Komposition. Am Ende seiner Studien war Johnson zu der Überzeugung gelangt, dass sich die realistische Kunst nicht zwangsläufig in populären Allegorien, bloßer Sentimentalität oder der gezwungen wirkenden Darstellung historischer Ereignisse erschöpfen musste. Gemälde konnten auch einfache oder komplexe Geschichten ohne vorgetäuschte Emotionen oder ausufernde Fantasie erzählen. Die direkte Beobachtung vor Ort und Skizzen nach dem Leben konnten das amerikanische Leben darstellen. Ausgerüstet mit Rembrandts Methoden der Visualisierung, dem rigorosen Technik-Curriculum der deutschen Technik und seiner eigenen, narrativen Sensibilität verbrachte Eastman Johnson dann noch zwei Monate im Atelier des akademischen Malers Thomas Couture (1850 bis 1879) in Paris, bevor er 1855 wieder in die Vereinigten Staaten aufbrach.

In der Zwischenzeit hatte sich die Kunstszene in den USA erheblich verändert. Daguerreotypie-Salons waren wie Pilze aus dem Boden geschossen, vor allem in Washington. Die modischen Fotoporträts in ihren aufwändigen Rahmen waren als Geschenke der letzte Schrei. Leider blickten den Betrachter aber nur sehr ernste Gesichter an, weil die Belichtungszeit drei Minuten betrug und die Köpfe der Porträtierten aus eben diesem Grunde sogar fixiert wurden. Nichtsdestoweniger war der Markt für gemalte Porträts völlig zusammengebrochen. Sein außergewöhnlich guter Ruf verschaffte Johnson jedoch in Cincinnati und Washington nach wie vor Porträtaufträge und ermöglichte ihm so auch in New York die Einrichtung eines eigenen Ateliers.

Eine weitere wichtige Neuerung bestand in der Veränderung der Einstellung der Amerikaner zur Kunst und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Während in den 1840er Jahren noch europäische Vorbilder als der Inbegriff des guten Geschmacks und der künstlerischen Sensibilität gegolten hatten, wandten sich die Amerikaner nun in gewisser Weise nach innen und suchten in Kunst und Literatur nach ihrer eigenen Identität. Das amerikanische Panorama weitete sich, und die Kunstkäufer wollten nunmehr Bilder aus dem exotischen amerikanischen Westen. Menschen, die mittlerweile in Großstädten wohnten, sehnten sich nach idealisierten Darstellungen des bukolischen Farmlebens, nach Bildern des einfachen Lebens im tiefen Süden und sogar der in den großen Ebenen wohnenden Indianer.

 

Eastman Johnson, Die Familie Hatch, c. 1870-1871.

Öl auf Leinwand, 121,9 x 186,4 cm. The Metropolitan

Museum of Art, New York, New York,

gestiftet von Frederic H. Hatch.

 

Eastman Johnson, Leben im Süden, 1859.

Öl auf Leinwand, 91,4 x 114,9 cm.

Robert L. Stuart Collection, New York

Historical Society, New York, New York.

 

Eastman Johnson, Maisschälen, 1890.

Öl auf Leinwand, 67,3 x 76,8 cm.

Everson Museum of Art, Syracuse,

New York, gestiftet von Andrew D. White.

 

Eastman Johnson, Preiselbeerpflücker, c. 1879.

Öl auf Pappe, 57,1 x 67,9 cm. Privatsammlung.

 

 

Johnsons Glück bestand nun darin, dass seine Schwester Sarah den William Henry Newton heiratete, der seiner Braut seine Immobilieninvestitionen im oberen Mittelwesten zeigte. Johnsons Bruder Reuben war ebenfalls in Richtung Norden nach Superior, Wisconsin, gezogen, wo er ein Sägewerk eröffnet hatte. Die Tatsache, dass in jenen entfernten Gegenden bereits Verwandte wohnten, motivierte Johnson, mit Hilfe seiner Einkünfte aus der Porträtmalerei und einer Anleihe bei seinem Vater in die Wildnis zu ziehen und dort in Land zu investieren. Er verbrachte die Sommer der Jahre 1856 und 1857 malend in der Gegend des Lake Superior und in einer Hütte, die er an der Pokegema Bay errichtete.

Er sicherte sich außerdem die Hilfe eines sowohl über afro-amerikanische als auch indianische Wurzeln des Stammes der Ojibwe verfügenden Führers namens Stephen Boonga und baute mit ihm ein Kanu, mit dem er zu vorgelagerten Inseln und zu den Städten Duluth und Superior paddelte. In Grand Portage machte Johnson Bekanntschaft mit den Ojibwe-Indianern und fertigte eine Reihe von Skizzen in Kohle und Öl an.[1]

Im Jahr 1859 bediente Johnson sich seiner in Düsseldorf erlernten Fähigkeiten und kreierte sein erstes amerikanisches Genrebild, Leben im Süden (auch: Alte Heimat Kentucky). Bei genauem Hinsehen war dieses Gemälde nicht allzu innovativ. Es besteht im Wesentlichen aus einer Ansammlung von Porträts, die in eine Geschichte andeutenden Gruppen um eine malerisch verfallene Scheune und Sklavenunterkunft angeordnet sind. Das Bild ist insgesamt ein wenig kitschig, aber die Abbildung des umeinander werbenden Paares, der Sklavenkinder und ihrer zahlreichen Familienmitglieder – und sogar der weißen Frau, die die Szene durch ein Loch im Zaun beobachtet – ist durch eine erdverbundene Aufrichtigkeit gekennzeichnet. Wieviel Süße dem Bild aber auch immer eigen ist, es gefiel den Südstaatlern, die es als eine idyllische Abbildung ihrer Welt deuteten, und gleichzeitig auch den Menschen im Norden, die das gesamte Übel der Sklaverei in das Gemälde hineinlasen. Auch wenn das Bild voller überzogener Emotionen war, so handelte es sich eindeutig um amerikanische Emotionen. Es war in jedem Falle gut genug, Johnson die Wahl in die National Design Academy von New York zu sichern.

Johnson ging mit seinem Skizzenheft auch in den Bürgerkrieg und folgte der Unionsarmee in einer an heutige Kriegsfotografen erinnernden Weise. Das bekannteste Ergebnis dieser fünf Jahre währenden Zeit war sein Ölgemälde Der verwundete Trommeljunge.

Während der folgenden 20 Jahre wurde Eastman Johnson zu einem regionalen realistischen Maler und beschränkte sich auf die Ostküste, wo er seine bedeutendsten Bilder schuf. Er pflegte eine gewisse Routine der Rückkehr in die Gegend seiner Kindheit in Fryeburg, Maine, und besuchte im Sommer regelmäßig Nantucket. Im Jahr 1869 heiratete er Elizabeth Buckley, 1870 wurde seine Tochter Ethel Eastman Johnson geboren. Viele seiner schönsten Bilder zeigen seine Frau und sein Kind in häuslicher Umgebung.

Johnson erkannte im Osten etwas, das ihn befriedigte, und so sind all seine Genrebilder dieser Zeit durch eine deutlich wahrnehmbare Zufriedenheit gekennzeichnet. Wenn er während der 1860er Jahre nicht gerade der Potomac-Armee auf dem Fuß folgte, reiste er nach Neuengland. Nachdem er die Zerstörungen durch den Krieg aus nächster Nähe gesehen hatte, muss der gemütliche altmodische Charakter seiner Heimat wie eine Art Erholung gewirkt haben. Da im Krieg so viele junge Männer Uniform trugen und viele aus den Schlachten nicht zurückkehrten, blieben ihm nur die Alten, die Frauen und junge Menschen als Thema. Wo in seinen Bildern keine Menschen zu sehen sind, weisen die von ihnen hinterlassenen Werkzeuge und Behausungen deutliche Spuren des Gebrauchs und eines gewissen Zerfalls auf. Den Häusern mangelt es an ein wenig Farbe, es fehlen ein paar Steine in der Wand, die Feuerstelle ist verrußt oder ein Korbstuhl benötigt eine Reparatur.

Eines seiner erfolgreichsten Genrebilder war das 1861 in der National Academy of Design in New York ausgestellte Maisschälen. Die Ausstellung eröffnete nur drei Wochen vor dem Bombardement von Fort Sumter und dem Beginn des Bürgerkrieges. Nicht weniger als 200 000 New Yorker kamen zum Union Square, um das Anliegen der Union zu unterstützen. Johnson bekannte sich in seinem Gemälde ebenfalls zur Union. Auf der Scheunentür sind die Worte „Lincoln and Hamlin” zu lesen, die auf Abraham Lincolns (1809 bis 1865) erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur und auf seinen Mitstreiter Hannibal Hamlin (1809 bis 1891) verweisen. Neuengland hatte sich in den Wahlen sehr deutlich für die Republikaner ausgesprochen, und Johnsons Bild war gleichzeitig ein subtiles politisches Plakat und ein Beispiel für gute Kunst.

Johnson sah niemals die Notwendigkeit, sich auf die historischen Puritaner in Kniehosen oder auf alte Kutschen auf der Straße zurückzuziehen. Außer im Fall seines Gemäldes Alte Postkutsche skizzierte er zunächst einzelne Bildteile, die er dann in seinem Atelier zusammenfügte. Dieses Bild zeigt das Wrack einer Postkutsche ohne Achsen und Räder, das gerade von der lokalen Vegetation und der Witterung zurückerobert wird. Aber selbst diese traurige Erinnerung an die Vergangenheit wird durch die Rufe und Schreie der spielenden Kinder gewissermaßen ins Leben zurückgeholt. Die einen Jungen traben und galoppieren auf der Stelle, während andere imaginäre Peitschen knallen lassen und die Mädchen aus den Fenstern heraus die Landschaft betrachten. All diese Geschehnisse am Straßenrand finden unter der Sonne des späten Nachmittags statt und wirken so ungezwungen und natürlich, dass es unvorstellbar ist, dass dieser eingefangene Augenblick im Atelier aus verschiedenen Bestandteilen in Johnsons Vorstellungskraft zusammengesetzt worden sein könnte.

All diese ländliche Romantik passte exakt zu dem wachsenden Bestreben der Menschen während und nach dem Bürgerkrieg, zu ihren Wurzeln zurückzukehren und die in der vagen Erinnerung so unkomplizierten alten Tage wieder zum Leben zu erwecken. Kunst, Bücher, Theaterstücke – überall wurde die „gute alte Zeit“ vor der Industriellen Revolution glorifiziert ohne überfüllte Städte, schwarzen Qualm ausstoßende Dampflokomotiven und mit dem Gestank von hunderten Plumpsklos an einem heißen Sommertag. Aber auch das in die Lampen zischende Kohlengas in den übervollen Wohnungen und der unleidige Geruch von Menschen, die nach viktorianischer Manier mehrere Kleiderschichten übereinander trugen und mit Düften den Geruch ihrer ungewaschenen Körper zu übertünchen versuchten, gehörten zu den Sehnsüchten. Die Bilder versprachen demgegenüber offene Landschaften, weite Räume, dichte Wälder und sich windende Bäche, den warmen, trockenen Geruch von Heu in einem Futtersilo und das plätschernde Rumpeln einer Wassermühle.

Johnson nutzte seine Studien von Rembrandts Umgang mit dem Licht in Stichen und Ölgemälden und machte seine Bilder, vor allem jenen von Innenräumen, zu fein herausgearbeiteten Ansichten. Er kreierte Stimmungen und hauchte den rauen Lebensweisen aller Bevölkerungsschichten der damaligen amerikanischen Gesellschaft Leben ein. Er verlieh dabei selbst den profansten Motiven Charme und Eleganz.

Buffalo Bill brachte seine Wild West-Schau auch in amerikanische Städte, nachdem er durch die Hauptstädte Europas getourt war und vor gekrönten Häuptern gespielt hatte. Seine Aufführung von Kämpfen zwischen Cowboys und Indianern und die Fähigkeiten seiner Reiter, Scharfschützen und Lassoschwinger verloren jedoch umso mehr an Relevanz, je mehr der alte Westen zu verschwinden begann. Das Land war zwar noch da, aber Eisenbahnen, der Telegraf und Unmengen Siedler hatten sein Gesicht verändert. Was früher Neuigkeiten gewesen waren, etwa Custers (1839 bis 1876) letzter Kampf, die Schlacht von Wounded Knee (1890) oder der Land- und Goldrausch, wurde nun zur bloßen Nostalgie.

Auch die Genremalerei büßte ihre Popularität ein. Johnson bestritt sein Einkommen wieder mit Porträts, aber er bediente sich, wie die alten Männer um den Ofen im Gemischtwarenladen, bei seinen Erinnerungen. Er wollte z. B. unbedingt in einem großen Gemälde die Produktion von Ahornzucker darstellen. Er fertigte im Verlauf der Jahre eine ganze Reihe von Studien dieser für die Ostküste typischen Szene an, vollendete das Bild jedoch nie, weil das Interesse an dieser Form der Nostalgie nachgelassen hatte. Sein ausgezeichneter Ruf als Porträtmaler blieb aber bestehen, und er konnte sich über einen Mangel an Aufträgen nicht beklagen. Er blieb bis in sein achtes Lebensjahrzehnt hinein aktiv und dokumentierte sowohl seine Zeit als auch die Bilder in seinem Gedächtnis.

Henry Theodore Tuckerman (1813 bis 1871), ein Kritiker aus Boston, hob Johnsons Fähigkeit hervor, „… das Maine der Vergangenheit […] seltenes Material, das immer seltener und weniger malerisch wird, während die Eisenbahn die Kleidung, die Sprache und sogar Gesichter auf eine monotone Einförmigkeit reduziert“ einzufangen.[2]

Um 1880 konzentrierte Johnson sich immer mehr auf die Porträtmalerei, während sich Amerika immer schneller veränderte und die Industrie sowie die neuen Transport- und Kommunikationsmittel seine krustigen und staubigen Erinnerungen an das alte Maine immer weniger relevant machten. Es gab nur noch wenige Künstler, deren Laufbahn vor dem Bürgerkrieg begonnen hatte, und er blieb der populärste dieser immer kleiner werdenden Gruppe. Eastman Johnson galt bis zu seinem Tod im Alter von 82 Jahren am 5. April 1906 als ein Pionier eines Realismus, der das amerikanische Leben mit der Technik der Alten Welt, allerdings deutlich gefiltert durch die scharfe Wahrnehmung eines wahren Ostküsten-Yankee, illustrierte.

 

Eastman Johnson, Ritt in die Freiheit – Die geflohenen Sklaven,

c. 1862. Öl auf Pappe, 55,8 x 66,4 cm. The Brooklyn Museum,

Brooklyn, New York, gestiftet von Miss Gwendolyn O. L. Conkling.

 

Winslow Homer, Gefangene von der Front, 1866.

Öl auf Leinwand, 61 x 96,5 cm.

The Metropolitan Museum of Art, New York,

New York, gestiftet von Mrs. Frank B. Porter.

 

 

WINSLOW HOMER
(1836 BIS 1910)

 

 

Fast eine Generation nach Eastman Johnson führte Winslow Homer, ebenfalls in erster Linie ein Autodidakt, Johnsons Porträt des amerikanischen Lebens weiter und fügte ihm eine besondere Vorliebe für das Meer hinzu. Homer wurde am 24. Februar 1836 in Boston, Massachusetts als Sohn von Henrietta Benson und Charles Savage Homer geboren. Henrietta war in Cambridge, Massachusetts, aufgewachsen und hatte dort auch die Aquarellmalerei erlernt. Sie war eine aktive Amateurkünstlerin und stellte in den 1870er Jahren sogar gemeinsam mit ihrem Sohn in der Boston Art Association aus.[3] So war seine Mutter Winslows erste Lehrerin.

Noch größeren Einfluss auf seine frühe Ausbildung übte allerdings der legendäre romantische Maler Washington Allston (1779 bis 1843) aus Boston aus. Obwohl er zwei Reisen nach Europa unternommen hatte und sich mit verschiedenen Salonmalern, darunter der Brite Benjamin West (1738 bis 1820), befasst hatte, wurde Allston zu einer der führenden Figuren der amerikanischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts. Er interessierte sich vor allem für Landschaften, konzentrierte sich dabei allerdings mehr auf Gefühl und Stimmung als auf die Beobachtung der jeweiligen Szene. Er war außerdem ein sehr aktiver Autor und brachte Romane, Theaterstücke und Schriften über die Kunst hervor. Seiner Kunsttheorie zufolge wurden die in einem Bild zu sehenden „primären Themen“ von unterschwelligen „sekundären Themen“ gestützt, die die Stimmung unterstrichen und von der göttlichen Offenbarung inspirierte religiöse Untertöne transportierten.

Obwohl Allston starb, als Winslow Homer gerade sieben Jahre alt war, war der große Mann in der Region Boston-Cambridge, in der er gemalt und geschrieben hatte, noch allgegenwärtig. Poetische Tribute, Ausstellungen seiner Werke und von Richard Henry Dana Jr. (1815 bis 1882), dem Autor von Zwei Jahre vor dem Mast, herausgegebene Veröffentlichungen seiner Vorlesungen sorgten für einen regelrechten Allston-Kult. Homer war umringt von Anhängern Allstons und konnte das Werk und die Philosophie dieses Künstlers gar nicht ignorieren. Homers Zeitgenossen und engen Freunde, die um Allstons Einfluss wussten, behaupteten, die „primären Themen“ und die „sekundären Themen“ in Homers Werk erkennen und das „Geheimnis“ des Erfolgs seiner Bilder verstehen zu können. Um einen Eindruck von Allstons romantischen Vorstellungen zu bekommen, wird eines seiner Gedichte wiedergegeben:

 

Kunst

Oh Kunst, großes Geschenk des Himmels! Wie oft verleumdet,

Wenn scheinbar gepriesen! Für die meisten ein Handwerk,

Das mit toten, strengen Regeln die zerstreuten Stücke

Des angesammelten Wissens zusammenfügt; auf diese Weise

Sogar von einigen verkannt, die Dich beschwören; nicht aber

Von ihm – dem edlen Toskaner –, der vom Menschen

Ungesehene Formen, auf der Erde unbekannte Formen gebar,

Die heute lebendige Wesen sind; er fühlte das Leuchten

Deiner offenbarenden Berührung, die die unsichtbare Idee

Ans Licht brachte; und er wusste,

Allein durch sein tiefes Gespür, dass ihre Form wahr war:

Es war das auf das Leben antwortende Leben – höchste Wahrheit!

Und auf diese Weise sah, durch Elishas Glauben, der hebräische Jüngling

Die dünne blaue Luft zu feurigen Wagen werden.

 

Washington Allston,

Lectures & Poems (Vorlesungen & Gedichte), 1850.

 

Im Jahr 1855 trat Homer im Alter von 19 Jahren als Lehrling in die Lithografiewerkstatt von John Henry Bufford ein, der in New York bei George Endicott und Nathaniel Currier (der schon bald eine Partnerschaft mit James Merritt Ives begründen sollte) studiert hatte, um praktische Anwendungsmöglichkeiten für seine Kunst zu finden.

Homer verbrachte zwei Jahre bei Bufford und machte sich dann als freischaffender Illustrator selbstständig. Er arbeitete vor allem für Ballous Pictorial und Harpers Weekly. Er richtete sich ein Atelier im 10th Street Studio Building in New York City ein. Dieses Ateliergebäude an der 51 West 10th Street zwischen 5th und 6th Avenue war ein regelrechter Kaninchenbau aus Künstlerateliers um eine zentrale Galerie mit einer Kuppel. Künstler aus allen Ecken des Landes kamen hierher und suchten sich in der Nähe eine Unterkunft. Dies sind die Ursprünge der späteren Reputation von Greenwich Village als lebendiges Künstlerviertel.

 

Winslow Homer, Es frischt auf, c. 1873-1876.

Öl auf Leinwand, 61,5 x 97 cm.

National Gallery of Art, Washington, D.C.,

gestiftet von der W. L. und May T. Mellon Foundation.

 

 

Homer arbeitete mehrere Jahre lang recht regelmäßig für Harpers Weekly, wo seine vor Ort angefertigten Skizzen für den Druck in Holzblöcke geschnitten wurden. Außerdem kopierte Homer Bilder aus England, damit sie anschließend für die Illustrierung von Geschichten benutzt werden konnten. Und dann kam die größte Geschichte, die er jemals illustrieren sollte, als am 12. April 1861 Artilleriegeschosse in Fort Sumter krachten und der Amerikanische Bürgerkrieg begann.

Homer besuchte zu diesem Zeitpunkt gerade Kurse an der National Academy of Design, wo er unter Frédéric Rondel (1826 bis 1892) studierte, einem gerade angestellten Landschaftsmaler. Die Leute von Harpers Weekly drückten Homer Skizzenhefte in die Hand und schickten ihn los, um sich 1861 der Unionsarmee am Potomac anzuschließen. Homer folgte den Truppen auf dem Fuß und wurde Zeuge der verpfuschten Aktionen von Major General George B. McClellan (1826 bis 1885). Er zeichnete bei dieser Gelegenheit ihre Lager, die Wachposten, die zwischen den Schlachten Karten spielenden Soldaten und arbeitete Schulter an Schulter mit Fotografen, die mit ihren großen Glasplattenkameras keine Bilder von Truppen in Aktion aufnehmen konnten. Ihre Abzüge mussten sogar in Stahlstiche transformiert werden, um in Zeitungen oder in Harpers gedruckt werden zu können. Die meisten seiner Skizzen unterschieden sich erheblich von der heroischen Arbeit Eastman Johnsons, etwa in Der verwundete Trommeljunge. Homer schien sich mehr für die ruhigen Momente zwischen den Kämpfen zu interessieren. So zeigt Trautes Heim, Glück allein beispielsweise zwei Soldaten der Nordstaaten, während sie im Lager über einem Feuer Wasser erhitzen. Diese intimen Szenen kamen bei den Lesern von Harpers Weekly sehr gut an, die so sehen konnten, wie es ihren Jungs ging, wenn sie nicht kämpften oder marschierten. Aufgrund der immens hohen Verluste auf den Schlachtfeldern wirkten diese Szenen der Kameradschaft offensichtlich tröstlich.

 

Winslow Homer, Das Notsignal, 1890.

Öl auf Leinwand, 62 x 98 cm.

Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid.

 

 

Während viele von Homers Zeichnungen lediglich Kopien der steifen Kompositionen der Fotografen darstellten, gelangen ihm auch einzigartige, journalistische Bilder wie Scharfschütze auf Wachposten. Dieses Bild zeigt einen Scharfschützen der Union, wie er mit seiner Büchse mit Hilfe eines langen Teleskopvisiers zielt. Diese neue Technologie ermöglichte den Scharfschützen, auf lange Distanzen Offiziere des Gegners zu erschießen, Artillerieeinheiten in Schrecken zu versetzen und auf diese Weise die Moral des Gegners zu zerstören. Der Begriff sharpshooter rührte dabei von einem besonderen Sharps-Hinterlader her, der mit einem Teleskopvisier kombiniert zu einer tödlichen und gefürchteten Waffe wurde. Wenn Scharfschützen in Gefangenschaft gerieten, wurden sie häufig als gottlose, kaltblütige Mörder erschossen. Nach dem Krieg machte Homer aus dieser und noch einer weiteren Zeichnung, Gefangene von der Front, in seinem Atelier jeweils Gemälde, die ihm eine volle Mitgliedschaft in der Akademie einbrachten.

Im Jahr 1867 reiste Homer nach Paris, wo Gefangene von der Front in der amerikanischen Abteilung der Pariser Weltausstellung ausgestellt wurde. Wie schon in der britischen Weltausstellung des Jahres 1851 war die Kunst hier gegenüber Attraktionen wie Dampfmaschinen, Eisenbahnen und massengefertigten Konsumgütern sowie exotischen Waren und Kulturen aus fernen Ländern nur von untergeordnetem Interesse. Die Amerikaner brachten einen Indianerstamm und ihre Zelte über den Atlantik und sorgten so für einen der großen Anziehungspunkte der Schau. Ausgeschlossen von der Ausstellung waren indes die „jungen Naturalisten“ Paul Cézanne (1839 bis 1906), Edgar Degas (1834 bis 1917), Claude Monet (1840 bis 1926) und Pierre-August Renoir (1841 bis 1919), die deshalb ihre eigene Ausstellung organisierten. Der in der Weltausstellung der Kunst gewidmete Saal war nur klein, so dass die Bilder in Reihen bis an die Decke gehängt werden mussten. Dennoch konnte Homer hier einen guten Querschnitt der europäischen Kunst von Impressionisten bis hin zu ergrauten Akademikern sehen, die immer noch klassizistische Allegorien malten. Die London Times schrieb:

Im Ausstellungspalast wollte man neben Landschaftsbildern von Rousseau oder Français vor allem exotische Kunst oder Historienbilder im akademischen, klassizistischen Stil sehen. Am Ende hingen vor allem Werke der Kommissionsmitglieder, darunter Gérôme, Dupré, Bouguereau, Millet, Daubigny, Huet und Corot, an den Wänden, die im Gegensatz etwa zu Courbet jeweils mit zwischen acht und 14 Bildern vertreten waren. Genrebilder waren besonders beliebt und reichlich vertreten. Obwohl eigentlich nur Werke ausgestellt werden sollten, die nach dem 1. Januar 1855 vollendet worden waren, war die Ausstellung am Ende faktisch eine Retrospektive etablierter Künstler. Die Kunst war in dieser schmucklosen, übervollen und unschönen Präsentation nur ein Produkt unter vielen, nicht mehr als ein „nettes Accessoire“, wie es Charles Blanc, selbst ein Kommissionsmitglied, 1867 in der Zeitung Le Temps ausdrückte.[4]

 

Die New York Times schrieb anlässlich der Vorschau der Ausstellung:

Die besten amerikanischen Werke aus den besten Privatgalerien und Ateliers sind ihr (der US-Regierung) voller Enthusiasmus zur Verfügung gestellt worden. Aus diesem Grunde wird an Stelle der Erzeugnisse unfähiger Hände eine Sammlung von höchster Qualität ausgestellt werden.[5]

 

Während Homers Gemälde Gefangene von der Front eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Gustave Courbets (1819 bis 1877) Die Begegnung mit einer Gruppe im Vordergrund vor dem eckigen Horizont und der Aktivität im Hintergrund aufweist, bewunderten die Pariser es vor allem aufgrund der stilistischen Gemeinsamkeiten mit dem süßlichen, allegorischen Akademiker Jean-Léon Gérôme (1824 bis 1904).

Homer blieb gemeinsam mit Albert Kelsey (1870 bis 1950), mit dem er sich eine Wohnung teilte, noch ein Jahr in Paris. Die beiden waren enge Freunde und ließen ein Foto von sich aufnehmen, das die Konventionen der damaligen Hochzeitsfotografie verspottete. Kelsey stand hinter dem sitzenden Homer und legte eine Hand auf dessen Schulter. Auf die Rückseite des Fotos schrieb Kelsey „Damion und Pythias“, eine Anspielung auf mythologische griechische Liebende. Diese Beziehung und eine spätere Skizze des nackt auf einer Riesenschildkröte sitzenden Kelsey, kombiniert mit Homers vor allem von Männern bestimmtem Lebensstil, lässt eine entweder asexuelle oder homosexuelle Ader vermuten. Viele seiner Zeitgenossen bemerkten, dass er in der Gesellschaft von Frauen „schmerzlich schüchtern“ war, was angesichts seiner kongregationalistischen Erziehung und seiner dominanten Mutter allerdings nicht unbedingt überraschend war.

Auf der anderen Seite hielten Homers männliche Freunde ihn für einen echten Kerl und Kumpel, der bis in die Morgenstunden hinein seine Zeit rauchend und trinkend in Cafés verbrachte und Liebesaffären jedenfalls vorgab. Er demonstrierte seine Liebe zur Natur und zu Farmern, Jägern und Seeleuten und seine enge Verbundenheit mit den während des Krieges gezeichneten Soldaten. Wenn er aber Frauen zeigte, waren diese stark, unabhängig und mit sich selbst zufrieden, wie etwa die beiden Frauen Arm in Arm beim Sonnenuntergang in Promenade am Strand. In Werken wie Zur Hilfe zeigte er auch, wie Frauen ein schlimmes Schicksal ereilen kann. Hier sieht man, wie zwei Frauen in einer öden Landschaft von einem Mann mit einer Seilschlinge verfolgt werden. All das schöne goldene Wetter ist ein Stich aus dem Jahr 1869, der die Distanz und die zusammengebrochene Kommunikation zwischen Paaren illustriert. Homer hatte offensichtlich wenig Vertrauen in die Ehe.

 

Winslow Homer, Felsenküste und Möwen, 1869.

Öl auf Leinwand, 41,3 x 71,4 cm.

Museum of Fine Arts, Boston, Massachusetts,

Nachlass von Grenville H. Norcross.

 

Winslow Homer, Sommersturm, 1904.

Öl auf Leinwand, 61,6 x 76,9 cm.

The Sterling and Francine Clark Art Institute,

Williamstown, Massachusetts.

 

Winslow Homer, Beobachtung der Brecher, 1891.

Öl auf Leinwand, 76,2 x 101,6 cm.

Gilcrease Museum, Tulsa, Oklahoma.

 

Winslow Homer, Mondlicht, 1874.

Wasserfarbe und Gouache auf Papier, 35,6 x 50,8 cm.

The Arkell Museum, Denver, Colorado.

 

 

In den 1870er Jahren wurde der Verdacht der Homosexualität durch eine Romanze Homers mit der jungen Amateurmalerin Helena de Kay (1846 bis 1916) allerdings zerstreut. Die Beziehung begann kurz nach seiner Rückkehr von seinem zweijährigen Parisaufenthalt. Helena war eine Studentin der Womens Art School an der Cooper Union in New York. Homer lernte sie vermutlich durch ihren Bruder Charles kennen, der während seines Parisaufenthalts sein Atelier nutzte. Es ist nicht bekannt, wann Winslow und Helena sich begegneten. Homer malte Der Reitweg aber auf jeden Fall 1868, und die Ähnlichkeit zwischen der Reiterin und Helena ist sehr auffällig und wurde von mehreren Freunden festgestellt.

Es sind sieben Briefe Homers an Helena erhalten. Diese lassen auf mehr als ein vorübergehendes Interesse oder eine lediglich platonische Freundschaft schließen:

Miss Helena, wenn Ihr eine große Zeichnung auf Holz sehen möchtet und am Montag oder Dienstag in mein Atelier kommen möchtet, werde ich Euch sehen können. Könnt Ihr nicht einige Entwürfe machen und mich sie für Euch Harpers senden lassen, sie nehmen gerne etwas Frisches. Und ich werde mich darum kümmern, dass Ihr sie ordentlich auf den Block zeichnet.

 

Leider funktionierte der „Kommt und seht meinen Holzblock“-Trick nicht und Miss Helena hatte Bedenken. Anschließend schlich sich eine sehnsuchtsvolle Note in Winslows Briefe: „Teure Miss Helena, Ihr wisst, dass Ihr mir mitteilen solltet, wann Euch mein Besuch in Eurem Atelier angenehm wäre. Da ich nichts von Euch gehört habe, fürchte ich, dass Ihr Euch anders entschieden habt.“ Später wurde seine Note geradezu flehentlich: „Meine Arbeit wird diesen Winter entweder gut oder schlecht sein. Die gute Arbeit wird davon abhängen, dass Ihr mich – mindestens – einmal im Monat besucht. Frage ich zu viel? Auf immer Euer, Winslow Homer.”[6]

Die Dame wollte jedoch nichts mit ihm zu tun haben, und so schloss sich die Tür für zukünftige Liebeleien. Homer zog sich in die verrufene Gruppe der besten Illustratoren New Yorks, den Tile Club, zurück und gab sich wieder den Freuden männlicher Kameradschaft hin. Die Mitglieder des Clubs trafen sich regelmäßig, um über Kunst zu diskutieren, Gedanken auszutauschen und Malausflüge zu planen. Zu den Mitgliedern zählten so bekannte Namen wie William Merritt Chase (1849 bis 1916), Augustus Saint Gaudens (1848 bis 1907) und Arthur Quartley (1839 bis 1886). Homer trug hier den Spitznamen „der begriffsstutzige Barde“.

Unter Umständen veranlasst durch den Erfolg Eastman Johnsons malte Winslow Homer in den 1870er Jahren eine Reihe von Genrebildern über das Alltagsleben der einfachen Menschen. Er verlieh den simpelsten Verrichtungen Anmut. Angesichts seiner herausragenden Fähigkeiten machte diese Wahl wenig erhabener Bildmotive sowohl seine Anhänger als auch seine Kritiker ratlos. Sein 1872 entstandenes Gemälde Lass die Peitsche knallen wurde 1876 im Rahmen der Ausstellung zum hundertjährigen Bestehen der USA in Philadelphia, Pennsylvania, ausgestellt. Das Bild zeigt eine Reihe schäbig gekleideter Jungen beim wilden Spiel auf einem Feld. Hinter ihnen sind eine ebenfalls schäbige Scheune sowie ein diagonaler Horizont aus zwei sich kreuzenden Bergen zu sehen, der die über die gesamte Breite des Gemäldes rennenden Jungen kleiner wirken lässt. Der Autor und Sozialkritiker Henry James (1843 bis 1916) schrieb über Homer: „Wir geben offen zu, dass wir seine Themen verabscheuen […] Er hat den am wenigsten malerischen Bereich der Landschaft und der Zivilisation ausgewählt; er hat ihn resolut so behandelt, als sei er malerisch […] und, um seine Hartnäckigkeit zu belohnen, ist es ihm auch noch unbestreitbar gelungen.“

Ebenfalls in den 1870er Jahren begann Homer ernsthaft mit der Aquarellmalerei. Von nun an ging er kaum noch ohne seine Wasserfarben und die passenden Pinsel ins Freie. Er malte die Spiele und nachdenklichen Momente von Kindern und jungen Frauen und perfektionierte seine Aquarelltechnik, quasi in Vorbereitung auf seine späteren Meisterwerke in diesem Genre.

Die modernen Techniken der Röntgenuntersuchung, der Fluoreszenzspektrometrie, der Infrarotspektrofotometrie und des Raman-Lasermikroskops haben es einem Team des Chicago Art Institute ermöglicht, das Geheimnis von Homers scheinbar ungeplantem Ansatz in der Aquarellmalerei zu entschlüsseln. Das Medium erlaubt, nachdem die Farbe auf das Papier aufgetragen worden ist, eigentlich kaum noch Veränderungen, aber Homer plante seine Bilder sehr sorgfältig und malte alles mit Bleistift vor. Und nachdem die Farbe auf dem Papier war, benutzte er Sandpapier, um dunstige Himmel und Nebeleffekte zu erzeugen. Ein scharfes Messer diente dazu, Pigmente abzukratzen, um die Intensität zu reduzieren, und ein feuchter Pinsel auf bereits getrockneten Farbpigmenten erzeugte Schaum auf Wellen und Gischt an der Küste.

 

Winslow Homer, Zwei Figuren am Meer, 1882.

Öl auf Leinwand, 50,2 x 88,9 cm.

Denver Art Museum, Denver, Colorado.

 

 

Homer hatte keine Hemmungen, Veränderungen in Kompositionen vorzunehmen, um die Geschichte interessanter zu machen. In dem Gemälde Nach dem Tornado, das einen inmitten der Überreste seines kleinen Bootes am Strand liegenden Mann zeigt, sah Homers Konzeption ursprünglich vor, dass einer der ausgestreckten Arme des Mannes gen Himmel weisen sollte. Röntgenuntersuchungen belegen, dass er diese ursprüngliche Idee übermalte, den Arm auf den Sand legte und es so dem Betrachter überließ zu entscheiden, ob der Mann noch lebt.[8]