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Autor: Jeremy Roe

Übersetzerinnen: Geraldine Plaz und Isabelle Weiss

Redaktion der deutschen Ausgabe: Klaus H. Carl

 

Gestaltung:

Baseline Co. Ltd.

61A-63A Vo Van Tan Street

4. Etage

Distrikt 3, Ho Chi Minh City

Vietnam

 

© Parkstone Press International, New York

© Confidential Concepts, worldwide, USA

© Catédra Gaudí fotos pp. 16, 21, 31, 60, 109, 110, 113, 140

© Eduard Solé foto p.70

© Luis Gueilburt foto p.111

Casa Milà, La Pedrera (Barcelona). Dank an die Fundació Caixa Catalunya.

François Devos für alle Fotografien

Vielen Dank an den Gaudi-Club

 

Alle Rechte vorbehalten

 

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ISBN: 978-1-78310-673-8

Jeremy Roe

 

 

 

ANTONI

GAUDÍ

 

 

 

 

 

 

INHALT

 

Gaudí eine Annäherung

Das Leben von Antoni Gaudí

Gaudís Kindheit

Architekturstudium in Barcelona

Gaudí Charakter und Denkweise

Architektur und katalanische Identität

Religion und Spiritualität

Gaudís Tod und Barcelonas Anerkennung für ihn

Gaudís Barcelona

Gaudí und die Architektur seiner Zeit

Modernisme

Barcelona: Entstehung einer modernen Stadt

Theorien der Architektur und die Suche nach einem modernen Stil

Architektur und Ideologie

Gaudí und die Ideale der industriellen Zeit

Die Zelebrierung der Werte Kataloniens und der Modernität

Die Erhaltung vergangener Werte und Praktiken in der modernen Ära

Geschäfte und Straßenlampen: Gaudís städtische Projekte

Verwandlung des Wohnraums

Casa Vicens

El Capricho

Casa de Botines

Casa Calvet

Bellesguard

Häuser für zwei Freunde und einen Maler

Casa Battló

Casa Milà (La Pedrera)

Gaudís sakrale Architektur

Frühe Studien und Retabeln

Erste sakrale Entwürfe

Eine neue Fassade für die Kathedrale von Barcelona

Zwei Retabeln

Zeichen kirchlicher Autorität: der Bischofspalast in Astorga

Ein kontemplativer Stil: Die Klosterschule der Theresianerinnen

Die katholischen Missionen in Tanger

Zwei Projekte für seine Heimatstadt

Skulpturengruppe in Montserrat

Renovierung und Tradition auf Mallorca

Unvollendete Werke

Die kreative Begegnung von Gaudí und Güell

Das erste Projekt: ein Drachen für ein Landhaus

Der Palacio Güell

Die Krypta der Colonia Güell

Der Park Güell

Die Sagrada Familia

Die Grundsteinlegung

Gaudís Vision

Die Geburtsfassade

Die Arbeit an der Sagrada Familia nach Gaudí

Im Schatten der Kathedrale: die Schule der Sagrada Familia

Biographie

Index

1. Park Güell, Trencadis-Mosaik auf der Bank.

 

 

Gaudí – eine Annäherung

 

 

Die wahre Bedeutung von Gaudís Architektur erschließt sich uns nur, wenn wir die verschiedenen Faktoren berücksichtigen, die sein Denken beeinflussten. Sein Familienhintergrund, seine Kindheit, sein Geburtsort und die Schulen, die er besuchte, der historische Kontext im Katalonien und Spanien seiner Zeit, seine Freunde und Bekannten – all dies bildet den Rahmen für die außergewöhnliche und eigenwillige Architektur von Antoni Gaudí i Cornet. Seine Persönlichkeit jedoch ist nur schwer fassbar. Dies hat mehrere Gründe.

Zum einen war er von seinem Wesen her schüchtern und zurückhaltend und hinterließ nur ganz wenige Dokumente, die uns einen Einblick in seinen Charakter gewähren. Er hütete seine Privatsphäre wie ein Heiligtum; deshalb wagt aus Gründen des Respekts auch der Historiker nicht, darin einzudringen und kann daher folglich auch keine Schlüsse ziehen. Diesen Mangel an “Beweisen” kompensieren die zahlreichen über Gaudí zirkulierenden Geschichten und Legenden. Es sind Erfindungen ohne jeglichen biographischen Wert, auch wenn sie auf die Öffentlichkeit einen großen Reiz ausüben, deren Hunger nach Einzelheiten - unabhängig von deren Wahrheitsgehalt - über das Leben berühmter Persönlichkeiten unstillbar ist. Unbedingt berücksichtigt werden muss auch Gaudís familiärer Hintergrund. Das Handwerk, das sowohl seine beiden Großväter als auch sein Vater praktizierten, übte auf den jungen Gaudí einen bleibenden Einfluss aus. Über mehr als fünf Generationen hinweg waren die Gaudís Kupferschmiede oder stellten als Böttcher die Fässer zum Destillieren des Alkohols aus den Trauben im Gebiet des Camp de Tarragona her.

Die dreidimensionalen Aspekte der gebogenen Formen dieser Fässer aus gehämmerten Kupferplatten prägten die Wahrnehmung des jungen Gaudí. Wie er selbst sagte, lernte er auf diese Weise, Körper im dreidimensionalen Raum und nicht als geometrische Formen auf einer Ebene zu sehen. Diese Visionen aus seiner Kindheit und aus der Werkstatt seines Vaters mit den bunt schillernden, plastischen Formen lebten in seiner Architektur weiter. Erzogen in einer christlichen Handwerkerfamilie, besuchte er die Piaristenschule in Reus, wo er eine breite humanistische Ausbildung genoss, die zweifellos eine wichtige Rolle bei der Ausprägung seines Charakters spielte. Hier entwickelte er seine Freundschaft zu Eduard Toda Güell, der in ihm das Interesse am Kloster von Poblet und an der katalanischen Geschichte weckte.

Die Stadt Reus war Mitte des 19. Jahrhunderts ein Zentrum politischer, radikaler und republikanischer Bewegungen. Obwohl Gaudí niemals den Wunsch hegte, sich aktiv an der Politik zu beteiligen (oder in der Tat an irgendetwas anderem als seiner ureigenen Art der Architektur), so ist doch offensichtlich, dass die starken Emotionen seiner Umgebung auf ihn abfärbten und er an den ernsthaften Schwierigkeiten, in denen sich das damalige Katalonien befand, teilnahm.

Seine Zeit als Student fiel in den letzten (dritten) der Carlistenkriege, und auch wenn er selbst nie aktiv an den Kämpfen teilnahm, so war er doch die ganze Zeit über mobilisiert. Als er später, während seines Architekturstudiums, in Barcelona durch seine Mitarbeit am Entwurf für die Cooperativa Mataronense, die erste kooperative Fabrik Spaniens, seine Solidarität mit der Arbeiterklasse unter Beweis stellte, setzte er damit einige der Ideen aus seiner Schulzeit in Reus in die Praxis um.

Reus und das unweit davon gelegene Dorf Riudoms, in dem er viele Sommer in einem kleinen, seinem Vater gehörenden Haus verbrachte, übten nicht nur durch den Charakter ihrer Bewohner, sondern auch durch die landschaftlichen und klimatischen Gegebenheiten einen starken Einfluss auf Gaudí aus. Die steinige, trockene, sich durch ein besonderes Licht auszeichnende Landschaft, in der Mandel- und Haselnussbäume, Johannisbrot- und Olivenbäume, Kiefern, Reben und Zypressen gedeihen und den Kulturlandschaften des italienischen Lazio oder des griechischen Peloponnes vergleichbar ist, eine Mittelmeerlandschaft par excellence, war für Gaudís Naturbetrachtungen ein idealer Ort.

Denn hier scheint die Sonne mit einer ungewöhnlichen Leuchtkraft, ihre Strahlen treffen die Erde in einem Winkel von 45 Grad und erzeugen ein wunderbares Licht. Hier, in dem von der Mittelmeersonne beschienenen Camp de Tarragona, offenbarte sich Gaudí die Wirklichkeit in all ihrer Schönheit und Wahrheit. Er selbst sah sich als einen getreuen Beobachter der Dinge in ihrem natürlichen Zustand. Seine ungeheure Phantasie wurde von seiner Fähigkeit genährt, die Wirklichkeit der Natur zu assimilieren, so, wie sie sich in der Sonne dieser wunderbaren Region enthüllte. Obwohl, wie wir wissen, selbst jene Sonne im Camp de Tarragona für uns alle und nicht nur für Gaudí, den Künstler, scheint, offenbart sie uns nicht das, was sie ihm offenbarte.

Damit kommen wir zu einem zweiten Faktor, Gaudís Beobachtungsgabe. Nicht zuletzt verdankte er sie wohl dem Umstand, dass er ein kränkelndes, an rheumatischem Fieber leidendes Kind war, so dass er an den Spielen der übrigen Kinder nicht teilnehmen konnte. Isoliert und auf sich allein gestellt, verbrachte er viele Stunden damit, die Natur um sich herum zu beobachten. Dabei entdeckte er, dass es unter den in der Natur vorkommenden unendlich vielen Formen einige gibt, die sich hervorragend als Strukturen, andere hingegen, die sich als Dekoration eignen. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass Struktur und Schmuck in Pflanzen, Gestein und in der Tierwelt sich nicht gegenseitig ausschließen und dass die Natur strukturelle Formen hervorbringt, die sowohl vom statischen als auch vom ästhetischen Gesichtspunkt her vollkommen sind, auch wenn sie auf Funktionalität beruhen. Die Struktur eines Baumes und das Skelett eines Säugetiers haben keinen anderen Sinn als den Gesetzen der Schwerkraft - und damit den Gesetzen der Mechanik - zu genügen. Der Duft und die Schönheit einer Blume sind nichts weiter als der Mechanismus, um Insekten anzulocken und auf diese Weise die Fortpflanzung der Gattung zu sichern. Mit anderen Worten: Die Natur schafft wunderbar verzierte Gebilde ohne die geringste Absicht, Kunstwerke zu schaffen.

An dieser Stelle drängt sich noch eine weitere Überlegung in Bezug auf Gaudís Entwicklung als Architekt auf. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass seine Vorstellung von Struktur durch die gehämmerten Kupferplatten in der Werkstatt seines Vaters geprägt worden war. Die Tatsache, dass unter seinen Vorfahren weder Maurer noch Architekten waren, hatte zur Folge, dass er von der Bürde der in Architektenfamilien dominierenden, über 3000 Jahre alten Architekturtradition unbelastet war. Im Verlauf ihrer Geschichte hat die Baukunst zahlreiche Wandlungen durchgemacht, viele sehr unterschiedliche Stile haben einander abgelöst.

Dennoch gründet die Architektur der Architekten seit den frühen Ägyptern bis zum heutigen Tag auf einfacher Geometrie, bestehend aus Linien, zweidimensionalen Figuren und regelmäßigen Polyedern, die mit Kreisen, Kugeln und Ellipsen kombiniert werden. Dieser Architektur lagen stets Pläne zu Grunde, Pläne die immer mit einfachen Instrumenten wie Zirkel und Zeichendreieck erstellt wurden, nach denen die Maurer dann arbeiteten.

Gaudí hingegen war sich bewusst, dass die Natur nicht von Zeichnungen ausgeht und für ihre wunderbar verzierten Strukturen auch keine Instrumente verwendet. Außerdem greift die Natur, die ja alle Formen der Geometrie abdeckt, nur in den seltensten Fällen auf die einfachste, in der Architektur aller Zeitalter jedoch häufigste Form zurück.

Ohne jegliche architektonische Voreingenommenheit und mit großer Bescheidenheit gelangte Gaudí zu der Ansicht, dass es nichts Logischeres gibt als das, was die Natur hervorbringt, die ja schließlich über Millionen von Jahren experimentierte, bis sie den Gipfel der Vollkommenheit erreichte. Er setzte alles daran, eine für architektonische Konstruktionen einsetzbare Geometrie zu entdecken, die ihren Ursprung in der Natur- und Pflanzenwelt hat. Dabei bezog er sowohl Flächen- als auch Volumengeometrie in seine Forschungen ein, doch um seinen Gedankengängen besser folgen zu können, werden wir uns diesen beiden gesondert zuwenden.

Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass der Bogen als eine Entwicklung des Sturzes, angeordnet als Gewölbeformstein, schon in den frühen asiatischen Kulturen und auch von den Etruskern verwendet und später von den Römern übernommen wurde. Die Bögen der antiken Baukunst waren im Grunde Halbkreis- oder Segment-, elliptische oder Korbbögen. Wenn in der Natur ein Bogen spontan entsteht, etwa in einem Fels durch Winderosion oder Steinsturz, hat er weder eine Halbkreis- noch eine andere Form, wie sie die Architekten mit ihrem Zirkel zeichnen.

Nein, die natürlichen Bögen sind parabolische oder Kettenlinienbogen. Merkwürdigerweise wurde der Kettenlinienbogen, der spiegelbildlich dem Verlauf einer frei von zwei Punkten hängenden Kette folgt und über ausgezeichnete, bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts bekannte mechanische Eigenschaften verfügt, kaum jemals von Architekten eingesetzt. Beeinflusst von jahrhundertealter, sich an den mit dem Zirkel gezeichneten Formen ausrichtender Tradition, konnten sie dieser Bogenart nichts abgewinnen, sondern fanden sie eher hässlich.

Gaudí jedoch hielt diesen spontan in der Natur auftretenden Bogen für mechanisch optimal; nach seinem Empfinden musste er auch der schönste sein, da er in funktioneller Hinsicht perfekt und außerdem der einfachste war. Einfach allerdings nur als natürliches Gebilde, nicht für den Zeichner mit seinen Instrumenten.

In den Pferdeställen der Finca Güell (1884), dem Wasserfall der Casa Vicens (1883) und im Waschraum der Cooperative Mataronense (1883) machte Gaudí mit größter Souveränität und höchster Eleganz von dieser Bogenform Gebrauch und griff auch in späteren Gebäuden wie Bellesguard (1900), der Casa Batlló (1904) und La Pedrera (1906) wieder darauf zurück.

Was die Volumengeometrie anbetrifft, so konstatierte er in der Natur immer wieder das Auftreten von gekrümmten Regelflächen, die allein durch Scharen von Geraden gebildet wurden.

Alle natürlichen, aus Fasern bestehende Formen, etwa ein Knochen, ein Schilfrohr oder die Sehnen eines Muskels, bilden, wenn man sie verdreht oder biegt und die Fasern selbst gerade bleiben, so genannte gekrümmte Regelflächen. Ein zu Boden fallendes Bündel von Stäben bildet ebenfalls eine solche gekrümmte Regelfläche, die man auch bei den aus mit Tierhäuten überspannten Stangen bestehenden Wigwams der nordamerikanischen Indianer findet. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden gekrümmte Regelflächen zum Gegenstand geometrischer Studien (vor allem durch Gaspard Monge), und damals entstanden auch die Bezeichnungen Konoid, Helikoid, Hyperboloid und hyperbolisches Paraboloid. Die Namen mögen schwierig sein, doch als geometrischen Formen sind sie einfach zu verstehen und zu erzeugen.

So wird ein hyperbolisches Paraboloid aus zwei Geraden auf verschiedenen Ebenen gebildet, wobei eine dritte Linie kontinuierlich diesen entlang verschoben wird, die so im Raum eine gebogene, ganz aus Geraden bestehende Figur erzeugt. Hyperbolische Paraboloide findet man in der Natur bei Bergpässen oder beispielsweise zwischen den Fingern der menschlichen Hand. Auch der bereits erwähnte indianische Wigwam ist ein Hyperboloid – genau so wie der menschliche Oberschenkelknochen. Die Sprösslinge am Stängel einer Pflanze dagegen bilden ebenso eine helikoide Form wie die Rinde des Eukalyptusbaums. Durch Gerade gebildete Geometrie lässt sich in allen Bereichen der Natur (Fauna, Flora, Mineralreich) finden, und ihre Formen sind von der Struktur her vollkommen.

Außer der Natur schöpfte Gaudí noch aus einer anderen Quelle. In Katalonien gibt es eine althergebrachte, auch heute noch beliebte Bautechnik. Dabei werden Flachziegel so gelegt, dass die größte Fläche sichtbar ist (Ziegelreihen werden also nicht hochkant verlegt). Dieses Verfahren, das mit Putz- oder Gipsmörtel oder Zement eine oder zwei Ziegelschichten vermauert, wird für Böden, Trennwände und Wände, aber auch für gekrümmte, räumliche Flächen bildende Gewölbe eingesetzt, und hat im Katalanischen den Namen voltes de maó de pla (dt.: katalanisches Gewölbe). Für die Konstruktion dieser Gewölbe benutzen die Maurer im Allgemeinen flexible Holzschablonen, geben sich manchmal jedoch auch mit zwei Linien und einer Schnur zufrieden. Beispiele sieht man in vielen hohen Treppenhäusern und an Decken.

Gaudís Überlegung ging dahin, mit zwei Linien auf unterschiedlichen Ebenen anzufangen und die einzelnen Reihen des Gewölbes entlang der von einer zur anderen laufenden Schnur zu konstruieren, um auf diese Weise das perfekte hyperbolische Paraboloid zu erhalten.

So fand er in dieser traditionellen katalanischen Bauweise die Gelegenheit, gekrümmte, den in der Natur vorgefundenen sehr ähnlichen, Regelflächen zu erzeugen: gefällig für das Auge und mit herausragenden Tragfähigkeiten. Er schuf dieselben glänzenden, gekrümmten Formen, die sein Vater durch Behämmern von Kupfer zustande gebracht hatte, nur dass er Ziegelsteine benutzte und diese dann mit Fayence-, Keramik- oder Glasscherben (trencadís) belegte, um ihnen einen schillernden Effekt zu verleihen. Seine Architektur entstammte der Werkstatt eines Kupferschmieds und wurde bereichert durch seine geniale Beobachtung gekrümmter Regelflächen in der Natur sowie durch die bestechend einfache katalanische Gewölbetechnik. Seine Architektur hat nichts zu tun mit der ausgefeilten, repetitiven, in der euklidischen Geometrie verankerten traditionellen Baukunst.

Diese Architektur der Architekten kam tatsächlich zu einem Stillstand, als man anfing, sie von einer historischen Perspektive aus zu studieren, wobei dieses Interesse dann zum Historizismus führte und durch die Einführung von Abhandlungen zur Architektur nur noch komplizierter wurde. Die Gesamtheit dieser Entwicklungen hat eine Wissenschaft der Wissenschaft hervorgebracht: Die Architektur ist überladen mit Theorien und philosophischen Konzepten, die sie weiter und weiter von der Wirklichkeit entfernt. Gaudí hingegen änderte die bis dahin geltende Geometrie, indem er Kugeln, Prismen und Würfel durch Konoide, Helikoide und Hyperboloide ersetzte und sie mit natürlichen Elementen wie Blumen, Felsen und Wasser schmückte. Er änderte die Grundlage der Architektur (die Geometrie) und damit das Selbstverständnis der Architektur.

Die Ergebnisse waren spektakulär, von vielen bewundert, aber von den wenigsten verstanden. Dies erklärt, weshalb Gaudís Stil so oft als verwirrend, chaotisch, surrealistisch oder gar entartet beschrieben wird. Wer diese Meinung vertritt, ist sich nicht bewusst, dass Gaudís Architektur auf der Geometrie der Natur und nicht auf den traditionellen Konstruktionsmethoden beruht. Es ist offensichtlich, dass Gaudí nie zuvor in Bauwerken verwendete Formen benutzte und dass er die unendliche Vielfalt der Elemente, die sein Repertoire ausmachten, niemals wiederholte.

Was jedoch am meisten überrascht, ist, dass ihm dies unter Verwendung der gewöhnlichsten, herkömmlichen Baumethoden gelang. Er nutzte keine modernen Errungenschaften des Baugewerbes, auch keinen Stahlbeton, keine großen Stahlgerüste oder neuen Werkstoffe, obwohl es mit solchen neuen Materialien ein Leichtes gewesen wäre, innovative Formen zu produzieren. Jedoch mit Hilfe altmodischer Techniken etwas gänzlich Neues zu schaffen – das ist das Zeichen wahrer Genialität. Diese so kompliziert scheinende Architektur, die in Wirklichkeit jedoch so einfach ist wie die Natur, diese Meisterin der Logik, entstand in den Händen von Gaudí wie eine Plastik aus gekrümmten Regelflächen, perfekt in der Struktur und gleichzeitig lebendig, organisch und pulsierend.

Wer die Kapelle der Colònia Güell in Santa Coloma de Cervelló (1908-15) betritt, wird von dem Gefühl übermannt, von einer lebendigen, atmenden Struktur umgeben zu sein, der eine Art muskulöser Spannung innewohnt und deren Wände wie eine Haut anmuten, die ihre Wärme dem unter ihrer Oberfläche fließenden Blut verdankt. Gaudí, der im Gebiet des Camp de Tarragona aufwuchs und dessen Gebäude sich größtenteils in Barcelona befinden, brachte sein vom Mittelmeer und von Katalonien beeinflusstes Wesen zum Ausdruck, indem er der Welt zeigte, dass es einen anderen Weg, eine andere Geometrie mit einer stärker im Einklang mit der Natur stehenden Architektur gibt.

Es ist eine Architektur, die so logisch, klar und durchscheinend ist wie das Licht dieser Region, eine Architektur, die nicht abstrakt, sondern im Gegenteil sehr konkret ist, die nichts erfindet, sondern zu den Ursprüngen zurückkehrt, wie er einmal selbst so treffend formulierte: “Originalität bedeutet, zu den Ursprüngen zurückzukehren.”

Gaudí sah diese Ursprünge nicht nur in den natürlichen Dingen dieser Welt, er erfüllte und bereicherte sie auch mit den religiösen Gefühlen, im Sinne des Heiligen Franziskus von Assisi, der die Natur liebte, weil sie das Werk des Schöpfers ist.

Prof. Dr. Arch. Juan Bassegoda Nonell, Hon. FAIA

Inhaber des Gaudí-Lehrstuhls, Barcelona

Übers. Isabelle Weiss

2. Porträt von Gaudí.

 

 

Das Leben von Antoni Gaudí

 

 

Das Leben von Antoni Gaudí (1852-1926) lässt sich am besten durch eine konzentrierte Betrachtung seines Werkes erzählen und analysieren. Die Pläne, Entwürfe und Gebäude legen in einer Weise Zeugnis ab über seinen Charakter, seine Interessen und seine bemerkenswerte Kreativität, die im Gegensatz dazu durch die Erforschung seiner Kindheit, seines täglichen Lebens und seiner Arbeitsgewohnheiten nur spärlich beleuchtet werden. Hinzu kommt, dass Gaudí kein akademischer Denker war, der seine Gedanken und Ideen durch Unterrichten oder Verfassen schriftlicher Arbeiten für die Nachwelt erhalten wollte. Sein Arbeitsansatz war eher praktischer als theoretischer Natur. Und wie um zu verhindern, seine Gedankenwelt weiter zu erhellen, fiel ein Großteil des Gaudí-Archivs dem Spanischen Bürgerkrieg zum Opfer. Am 29. Juli 1936, im ersten Jahr des Spanischen Bürgerkrieges, wurde in der Sagrada Familia eingebrochen.

Die in der Krypta aufbewahrten Entwürfe, Dokumente und architektonischen Modelle wurden zerstört. Deshalb bleibt uns ein tiefer gehendes Verständnis des Menschen Gaudí, seines Charakters und seiner Denkweise für immer verwehrt. Dieser Mangel an Dokumenten schränkt die Möglichkeiten einer gründlichen biografischen Studie ein und hat zu einer Vielzahl spekulativer Interpretationsversuche geführt. Heute hat Gaudí einen fast mythischen Status – so wie seine Gebäude Kultcharakter haben. Während seine Arbeiten nach wie vor die andachtsvolle Bewunderung Tausender von Touristen hervorrufen, gibt es hinsichtlich seines Lebens ganz unterschiedliche Reaktionen. Als Ergänzung zur wissenschaftlichen Untersuchung von Joan Bassegoda i Nonnell oder der kürzlich veröffentlichten biografischen Studie von Gijs van Hensenberg hat aber auch das Leben Gaudís zur Legendenbildung und zu fantasiereichen Betrachtungen beigetragen.

Auf andere Art wiederum feierte das berühmte Opernhaus von Barcelona, el Liceu, den Architekten mit der Erstaufführung der Oper Antoni Gaudí von Joan Guinjoan im Jahre 2004. Dieser Prozess, Kultur zu zelebrieren, hat durch die Kampagne Associació Pro Beataifició d’Antoni Gaudí, den Architekten heilig zu sprechen, eine metaphysische Dimension angenommen. Die nicht enden wollenden Feiern sowie die Deutungen der Person Gaudí durch verschiedene Gruppierungen weisen darauf hin, dass in unserem Zeitalter der Postmoderne der asketische, von Inspiration durchdrungene, unermüdlich Schaffende für das breite Publikum nach wie vor eine der wichtigsten kreativen Persönlichkeiten ist. Gaudí bleibt weiterhin eine rätselhafte Figur, und die Versuche einer Interpretation sagen uns in der Regel mehr über den Interpretierenden als über Gaudí, wie sich in den folgenden Zitaten zeigt.

In seinem Essay Die erschreckende, genießbare Schönheit der modernen Architektur berichtet Salvador Dalí von einem Austausch mit dem Architekten Le Corbusier. Dalí meinte “…das letzte große Genie der Architektur war Gaudí, dessen Name auf katalanisch ‚genieße’ bedeutet”. Er bemerkte zwar, dass Le Corbusiers Gesichtsausdruck Ablehnung signalisierte, fuhr aber in seiner Argumentation fort; “...der Genuss und die Sehnsucht, die für den Katholizismus und die mediterrane Gotik charakteristisch sind, wurden von Gaudí neu erschaffen und in einen Freudentaumel versetzt.” Die Wahrnehmung der Person Gaudís und seiner Architektur, mit der der Surrealist den rationalen, modernistischen Architekten konfrontierte, zeigt einen immer wiederkehrenden Aspekt in der Geschichtsschreibung zu Gaudí. Es handelt sich dabei um die Bestrebung, Gaudí aus der klassischen Geschichte der Architektur herauszulösen und ihn als ein visionäres Genie darzustellen. Darüber hinaus will Dalí mit seinen Ausführungen Gaudí als Vorläufer des Surrealismus einordnen und ihn als einen Propheten oder Vorboten der Ästhetik und der Ideen der avantgardistischen Bewegung des Modernismus sehen. Während der fromme Katholik und gewissenhafte Architekt Gaudí vermutlich viele der Kunstwerke und Schriften Dalís verurteilt hätte, den hier zitierten Äußerungen hätte er sicherlich nicht widersprochen. Es muss jedoch festgehalten werden, dass man Gefahr läuft, Gaudís intellektuellen Standpunkt und seine traditionelle Religiosität zu vernebeln, wenn man ihn als einen Proto-Surrealisten darstellt.

Aus der Sicht der Geschichtsschreibung impliziert Dalís Aussage ein tieferes Verständnis für Gaudís fortdauernde Attraktivität, die in das frühe 21. Jahrhundert hineinreicht. Vielleicht könnte man argumentieren, dass die häufige Neuzuordnung und “Neuerfindung” vergangener Stile in der modernen Kunst, der Mode und dem modernen Design die Attraktivität von Gaudís künstlerischen Neuanordnungen – von Dalí “...als Freudentaumel der Gotik” bezeichnet – Vorschub geleistet hat. Es ist notwendig, an dieser Stelle zu erwähnen, dass Le Corbusier Gaudí in keiner Weise ablehnend gegenüberstand, denn aus dem Jahre 1927 stammt dieses folgende, von ihm überlieferte Zitat:

“Was ich in Barcelona gesehen habe, war die Arbeit eines Mannes von außergewöhnlicher Kraft, mit einem starken Glauben und technischen Fähigkeiten ausgestattet. ... Gaudí ist der Baumeister von 1900, der professionell mit Stein, Eisen und Mauerwerk arbeitet. Sein Ruhm wird in der heutigen Zeit in seinem eigenen Land anerkannt. Gaudí war ein großer Künstler. Nur diejenigen, die die empfindsamen Herzen der Menschen berühren, werden fortdauern und Bestand haben.”

Wie sich später noch zeigen wird, hätte Gaudí wohl eher Le Corbusier als Dalí zugestimmt. Le Corbusiers Kritik deutet auf einen unterschiedlichen Ansatz in der Analyse von Gaudís Werk hin. Er nimmt es im speziellen Kontext der Architekturgeschichte unter die Lupe.

Im Verlauf dieses Textes wird die Analyse der Bauwerke Gaudís versuchen, ein Gleichgewicht zwischen der ausgewogenen architektonischen Analyse Le Corbusiers und der Diskussion sich wandelnder kritischer Reaktionen, beispielsweise die von Dalí geäußerte, auf Gaudís Arbeit herzustellen. Die Grundlage für diesen Ansatz bildet eine differenzierte Auseinandersetzung zum tieferen Verständnis von Gaudís Leben. Seine Interessen und die seine Arbeit maßgeblich beeinflussende Gesellschaft von Barcelona müssen in Augenschein genommen und thematisiert werden. Aber an dieser Stelle muss auch betont werden, dass durch das Fehlen anderer Informationen das zugänglichste Vermächtnis dieses Künstlers seine Gebäude sind.

3. Tempel der Sagrada Familia, Neue Türme der Fassade der Geburt.

 

 

Gaudís Kindheit

 

Gaudí wurde nicht in Barcelona, der Stadt mit der ausschlaggebenden kulturellen Dynamik für seine Architektur, geboren, sondern in der kleinen katalanischen Stadt Reus. Biografen Gaudís haben in den Erfahrungen seiner Kindheit in der Provinz die Ursprünge für seine spätere Kreativität gesehen, eine Annahme, die auch durch Gaudí selbst mehrfach bestätigt wurde. Der Glaube an die Erblichkeit künstlerischen Talents untermauert Gaudís Versicherung, seine “Fähigkeit der räumlichen Wahrnehmung” von Kupferschmieden in der dritten Generation väterlicherseits und von einem Seefahrer mütterlicherseits geerbt zu haben. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Aussage Gaudís wissen wir mit Bestimmtheit, dass sein Familienleben behaglich und stabil war. Als einziger Schatten lastet über seiner Kindheit eine Zeit schwerer Erkrankung, deren psychische Auswirkungen auf die Fantasie und die spirituellen Überzeugungen des kleinen Kindes sich nur schwer ermessen lassen. Die Tatsache, dass Gaudí diese Krankheit überlebt hat, könnte jedoch als ein frühes Anzeichen für eine stabile Konstitution und einen unnachgiebigen Willen interpretiert werden.

Mit großer Gewissheit kann davon ausgegangen werden, dass Gaudí in dieser Lebensphase an vier für seine spätere Karriere ausschlaggebende Faktoren herangeführt wurde: an sein Interesse an der Architektur, insbesondere der Architektur der Gotik; an die katalanische Kultur und Geschichte; an die katholische Doktrin und Frömmigkeit und nicht zuletzt an die Formen und Farben seiner natürlichen Umgebung. In vielerlei Hinsicht diente die Architektur als Medium zur Erforschung und Reflexion der drei letztgenannten Phänomene.

Neben den Spuren des mittelalterlichen Kulturerbes der Stadt Reus verfügten auch die benachbarten Städte und die umgebende Landschaft über eine Reihe wichtiger, besuchenswerter Gebäude, so beispielsweise die berühmte Pilgerkirche von Montserrat und Tarragonas imposante Kathedrale. Gaudís Wahrnehmung dieser Orte wurde maßgeblich von seinem Wissen beeinflusst, dass sie nicht so sehr Kulturerbe Spaniens, sondern vielmehr Kulturerbe der Region Katalonien und deren Hauptstadt Barcelona waren. Katalonien war einst Teil des unabhängigen, erst im 15. Jahrhundert zur Bildung des modernen spanischen Staates, wie wir ihn heute kennen, mit dem Königreich Kastilien vereinigten Königreiches von Aragon.

Der Balanceakt zwischen nationaler Einheit und regionaler Autonomie besteht bis zum heutigen Tag. Daraus hat sich in Katalonien ein starkes Gefühl nationaler Identität mit Barcelona als Zentrum entwickelt. Die Tatsache, dass viele der von Gaudí besuchten Gebäude religiöse Bauwerke waren, erinnert an die Sonderrolle, die die Religion bei der Entstehung der katalanischen Identität ebenso wie in der Geschichte anderer spanischer Regionen spielte. Als Erwachsener war Gaudí sowohl Anhänger eines trotzigen katalanischen Nationalismus als auch eines frommen Engagements innerhalb der katholischen Kirche. Während seiner Kindheit und Jugend lagen jedoch diese ernsthaften Belange noch in weiter Ferne.