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IGNAZ HOLD

IN HAUCH VON TOD UND THYMIAN

Buch

Was ist mehr wert: Ein voller Geldtransporter oder ein echter Cézanne? Für keines von beiden lohnt es sich zu sterben. Trotzdem nehmen vier Freunde das Risiko auf sich und wollen ein Bild des Provencemalers rauben. Kann der Coup gelingen? Jedenfalls bleiben Leichen zurück. Commissaire Papperin und sein Team müssen sich mit den verschrobenen Weltanschauungen des verarmten französischen Landadels auseinandersetzen. Gleichzeitig führen sie ihre Ermittlungen in das Milieu des Prekariats, der frustrierten, arbeits- und hoffnungslosen Welt der Kleinkriminellen in den Vororten der Arbeiterstädte des Midi.

Autor

Ignaz Hold ist ein Pseudonym. Der Auto, ein reiselustiger Wissenschaftler, hat seit einem Vierteljahrhundert in der Provence eine zweite Heimat gefunden und kennt diesen Fleck Europas wie seine Westentasche. Er erholt sich, wann immer sein Beruf es ihm erlaubt, vom Stress des Universitätsalltags in seinem Haus in der Haute Provence. Dorthin, in die ländliche Idylle eines provenzalischen Dorfes, zieht er sich zurück, um zu schreiben. Neben nüchternen Fachbüchern entstehen dort seine Provencekrimis, in denen er den ganzen provenzalischen Mikrokosmos mit all seinen Problemen, Charakteren und landschaftlichen Reizen einfängt und in spannende Krimis einfließen lässt.

Ignaz Hold

EIN HAUCH VON TOD UND THYMIAN

Commissaire Papperins vierter Fall

Ein Provencekrimi

ambiente-krimis

 

 

Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden und orientieren sich nicht an lebenden oder toten Vorbildern oder Geschehnissen. Etwaige Ähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Prolog

Kein Windhauch regt sich. Die Mittagssonne brennt unbarmherzig auf die einsame Landschaft nieder. Weder die Pinien mit ihren luftigen Nadelkronen, noch die zahlreichen Steineichen mit ihren kleinen, graugrünen Blättern können verhindern, dass die vom wolkenlosen Himmel herabstürzende Hitze die hüfthohe Macchie und den roten Erdboden aufheizt.

Ein Wildschwein auf der Suche nach Nahrung schleicht durch das Unterholz. Außer strohtrockenen und stacheligen Sträuchern ist nichts Fressbares zu finden. Steinhart ist der Boden. Kein Pilz kann diese knochentrockene Erdkruste durchstoßen. Von Trüffeln, der Wildschweine Leibspeise, keine Spur. Die wird es erst wieder im Winter geben, jetzt ist es viel zu heiß. Die Bache trottet weiter. Der scharfe Duft der herbes de provence dringt in ihre Nase. Ihr Geruchsorgan wittert ein weiteres Aroma. Nur ganz schwach nimmt sie es neben dem würzigen, alles überdeckenden Thymianduft wahr. Sie folgt ihrer Nase, durchdringt ein dichtes Gebüsch. Am Rand des Dickichts bleibt sie abrupt stehen. Mitten in der Lichtung steht ein Auto. Der neuartige Geruch wird stärker, erreicht aber bei weitem nicht die Intensität des Thymians. Neugier und Hunger treiben sie an. Sie nähert sich vorsichtig dem Auto, umrundet es.

Dahinter, inmitten der buschigen Thymiansträucher liegt ein Mensch. Das Wildschwein zuckt zurück, will fliehen. Doch der Mensch bewegt sich nicht, deshalb wagt es sich näher heran. Er ist tot. Dunkelrot klafft am Kopf eine blutverkrustete Verletzung. Die Bache beschnuppert die Wunde, stupst die Leiche mit ihrer harten, spitzen Schnauze mehrmals an und lässt dann von ihr ab. Ein anderer, angenehmerer Duft als der Verwesungsgeruch zieht ihr in die Nase. Er kommt aus dem Auto: Bananen! Das Wildschwein mit dem struppigen schwarzen Fell hat den Plastikbeutel mit Obst entdeckt, der auf dem Rücksitz des verlassenen Autos liegt. Es zerrt ihn aus dem Wagen und verschwindet damit in Windeseile im dichten Gestrüpp.

Die Leiche bleibt unbeachtet zurück, inmitten von buschigen Thymiansträuchern, deren würziger Duft den einsetzenden Verwesungsgeruch noch überdeckt. Außer dem ohrenbetäubenden Kreischen der Zikaden, die sich in Myriaden in den Eichen und Pinien verstecken, ist kein Geräusch zu hören. Die brüllende Mittagssonne brennt gnadenlos auf die Waldlichtung herab und beleuchtet mit ihren gleißenden Strahlen das emsige Treiben der Ameisen und Käfer, die die Leiche bevölkern.

Teil I

Kapitel 1

Lockruf des Geldes

Mittwoch, 4. August

Im Centre Commercial von Brignoles herrschte immer noch Hochbetrieb, obwohl es schon langsam Abend wurde, und die Öffnungszeiten des großen Supermarché sich dem Ende zu neigten. Die Angestellten im Fastfood-Restaurant neben dem Haupteingang des Einkaufszentrums hatten alle Hände voll zu tun, um gerade freigewordene Tische abzuräumen, bevor die nächsten Gäste, von der Selbstbedienungstheke kommend, mit vollbeladenen Tabletts zu den wenigen freien Plätzen drängten.

Es war Hochsommer. Draußen, am Parkplatz vor dem Lokal herrschte brütende Hitze. Die Luft stand still, kein Windhauch regte sich. Die Sonne war zwar schon ein Stück zum Horizont hinab gesunken und spiegelte sich vielfach in den Scheiben der riesigen Glasfront des Gebäudes. Ihre Strahlen brannten nach wie vor unbarmherzig auf die zahllosen Autos nieder und brachten die Luft in den Wageninneren zum Kochen.

Ganz vorne neben der sich automatisch öffnenden und schließenden Glastür saßen zwei Männer an einem schmalen Zweiertischchen. Jedes Mal, wenn neue Kunden das Schnellrestaurant betraten, und die Schiebetüren weit auseinander glitten, umhüllte ein Hitzeschwall die beiden, bis sich nach dem Schließen die angenehme Kühle des klimatisierten Raumes wieder um sie verbreitete.

Sie beobachteten gelangweilt das hektische Treiben im Restaurant. Der eine, ein gedrungenes Kraftpaket, dessen Brustmuskeln sein schwarzes, eng anliegendes T-Shirt bei jeder Bewegung zu beachtlichen Wölbungen formten, nahm einen großen Schluck aus seinem mit Bier gefüllten Pappbecher. Dann beugte er sich über die vor ihm liegende Zeitung – L’Équipe, Frankreichs meistgelesenes Sportjournal. Der Zeigefinger seiner rechten Hand fuhr die zahlreichen und mit kleinen Zahlen bedruckten Tabellen entlang. Schließlich stoppte er. Verärgert kratzte er sich mit der linken an seinem kahlgeschorenen Kopf.

„Schon wieder nichts! Immer muss der Falsche siegen.“

„Was’n los, Luc?“, fragte sein Gegenüber und zog die Zeitung näher zu sich. „Hat dein Gaul wieder nicht gewonnen?“

Suchend glitten seine Augen über die aufgeschlagene SPORT HIPPIQUE-Seite des Blattes. Die unzähligen Namen und Zahlen sagten ihm eigentlich nichts, denn er hatte mit Pferderennen nichts am Hut. Der Zeigefinger seines Freundes lag auf einer Tabelle mitten im Blatt. Es handelte sich um die Ergebnisse des großen Trabrennens Grand National du Trot in Marseille-Borély vom Vortag.

„Vierter ist er geworden, und ich hab auf Sieg gesetzt – merde, merde!“

„Ach, ärgere dich nicht. Das nächste Mal gewinnst du wieder. Komm, trinken wir noch eins.“

Er stand auf, nahm seinen Pappbecher und wartete bis sein Freund ausgetrunken hatte. Dann ging er zur Theke. Im Vorbeigehen drückte er die beiden Becher durch die chromglänzende Klappe in den großen Abfallcontainer. Kurz darauf kam er mit zwei neuen voll frisch gezapftem Bier zurück zu Luc an den kleinen Tisch am Eingang.

Merci, Maurice – santé!“, prostete der seinem Freund zu.

Eine gute Weile schwiegen beide vor sich hin. Plötzlich knalle Luc seinen Becher auf die Tischplatte, so dass das Bier überschwappte.

„Ist schon scheiße mit dem Geld. Nie reicht es. Und mit dem da“, dabei deutete er auf die Rennergebnisse, „zahlt man auch mehr drauf als man gewinnt.“

„Du hast gut reden. Du hast wenigstens einen Job. Lagerist in einem Transportunternehmen. Da kriegst du doch ordentlich Gehalt. Was soll ich da sagen? Die aide sociale, die reicht hinten und vorne nicht.“

Sie versanken wieder in Schweigen. Die Aussichten zu Geld zu kommen waren nicht gerade rosig. Es stimmte schon, der Jüngere von ihnen, Luc Percier, hatte einen Job und konnte auch kräftig zupacken. Aber um in die höheren Gehaltsstufen zu gelangen, musste man mehr bieten als Muskeln. Und selbst wenn – sein schlechter Abschluss am Collège, der Mittelschule von Vitrolles, qualifizierte ihn auch nicht gerade zu Höherem. Dazu kamen seine Vorstrafe und der kurze Sonderurlaub im Knast, die einen weiteren Aufstieg auf der sozialen Leiter unmöglich machten.

Seinem Freund Maurice Gaullefrond ging es eigentlich viel besser. Er hatte eine ordentliche Ausbildung, Lycée und Studium an der staatlichen Universität von Aix-Marseille. Das allerdings hatte er ohne Abschluss abgebrochen. Deshalb und wegen seiner Fächerkombination – Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften – wäre er auch mit einem Masterdiplom am Arbeitsmarkt chancenlos gewesen. Früher, als Student, hatte er noch große Pläne gehabt. Er sah sich als Direktor eines der berühmten Museen an der Côte d’Azur, oder als Intendant des Grand Theâtre de Provence in Aix oder des Theâtre National de Marseille. Doch das waren alles Luftschlösser geblieben. Keiner von seinen großen Träumen war wahr geworden. Er hatte sein Studium verbummelt, das ausschweifende studentische Nachtleben hingebungsvoll genossen, bis man ihn schließlich nach fast zwanzig Semestern von der Uni verwiesen hatte. Seither lebte er von der Sozialhilfe. Ab und zu konnte er sich mit kleineren Gelegenheitsjobs etwas dazuverdienen, etwa als Fremdenführer bei besonderen kulturellen Anlässen. Kürzlich durfte er Touristen durch eine Sonderausstellung im Musée Granet in Aix führen. Aber die Chancen, eine Daueranstellung als Fremdenführer zu bekommen, waren gleich Null – bei seiner Vorgeschichte. Außerdem war er mit seinen siebenundvierzig Jahren viel zu teuer, im Vergleich mit den jungen Bewerbern um solche Stellen.

Freunde waren Maurice und Luc geworden, weil sie im selben Wohnblock am Rande von Brignoles wohnten. Vor allem aber wegen ihrer Begeisterung für das Pétanquespiel, der provenzalischen Variante des Boulesports.

Weil sein Kumpel nach wie vor in die Sportzeitung vertieft war, nahm sich Maurice ein auf dem Nebentisch liegen gebliebenes Exemplar der regionalen Tageszeitung Var Matin und begann lustlos darin zu blättern. Plötzlich lachte er auf:

„He, Luc. Schau mal, das ist toll!“

Er schob die Zeitung zu seinem Freund hinüber und deutete auf einen Artikel.

„Da gibt es Leute, die können die GPS-Daten von einem Navi aus der Ferne so umprogrammieren, dass das Auto ganz woanders hingeleitet wird als der Fahrer will.“

„Na und? Was habe ich davon?“

„Da könntest du einen LKW von deinem Unternehmen, der irgendwas Wertvolles geladen hat, zu einem geheimen Ort dirigieren, wo man ihn dann ausrauben kann.“

„Blödsinn, das klappt nicht. Die in der Zentrale sehen doch am Computer genau, wo unsere LKW sind.“

Non! Da steht, das kann man so programmieren, dass die Kontrolleure in der Zentrale glauben, der sei auf dem richtigen Weg, obwohl er ganz woanders ist.“

„Mmmh, glaub ich nicht!“

„Doch, irgend so Wissenschaftler im INRTR haben das hinbekommen.“

„INRTR, was ist das?“

Maurice suchte im Zeitungsartikel, ob die Abkürzung irgendwo ausgeschrieben stand.

Institut National de Recherche Télématique Routière. Die Technik kommt wohl aus Amerika. Spoofing nennen die das.“

„Das hilft mir jetzt auch nicht. Weil, das kann ich nicht, das Programmieren. Und du auch nicht.“

„Stimmt auch wieder. Trotzdem, wäre toll wenn man sowas könnte!“

Die beiden vertieften sich wieder in ihre Zeitungen.

***

Die Angestellten des Restaurants begannen damit, die Stühle auf die Tische zu stellen. Reinigungspersonal wischte den braun gefliesten Boden mit überbreiten Wischmops. Luc und Maurice saßen noch immer an ihrem Platz neben der Türe und schauten den Arbeiten zu. Eine Bewegung vor dem Fenster und Motorengeräusch lenkten ihre Aufmerksamkeit nach draußen. Ein grauer Lieferwagen war vorgefahren und hielt direkt vor dem Eingangsportal zum Supermarkt, wo an sich ein striktes Halteverbot galt. Trans-Sécur stand in dicken schwarzen Buchstaben auf der fensterlosen Seitenwand des gepanzerten Fahrzeugs. Eine schmale Türe wurde geöffnet und sofort wieder geschlossen, nachdem ein kräftiger Mann in schwarzer Uniform ausgestiegen war. Mit demonstrativ sichtbarer Pistole im Holster ging er in den Supermarkt.

„Der holt jetzt die Tageseinnahmen ab“, murmelte Luc. „Wieviel das wohl ist?“

Maurice Gaullefrond fasste dies als Aufforderung auf, das überschlagsmäßig zu schätzen.

„Die haben zwanzig Kassen, aber die sind meistens nur zur Hälfte besetzt. Und vor jeder steht eine Schlange von ein paar Leuten. Sagen wir mal, so eine Kassiererin braucht drei Minuten für einen Kunden, dann sind das von acht bis zwanzig Uhr …“

„Mehr!“, unterbrach ihn Luc. „Viel mehr, weil die quatschen doch mit jedem Kunden mindestens nochmal so lange.“

„Na gut, dann fünf Minuten. Das sind dann zwölf Stunden durch fünf Minuten, äh … Moment, das hab ich gleich!“ Er wischte mit dem Zeigefinger den Taschenrechner auf seinem Smartphone herbei.

„12 mal 60 durch 5 Minuten … da schafft eine Kasse 144 Kunden am Tag. Zehn Kassen machen 1.440 Kunden. Wenn jeder für 50 Euro einkauft, dann sind das …“ Er tippte wieder in sein Smartphone. „72.000 Euro.“

„Die kaufen doch viel mehr. Du siehst doch, wie voll die Einkaufswagen sind, die sie vor sich herschieben.“

„Meinetwegen! Dann kaufen sie halt für 100 € ein. Das gibt dann fast 150.000 € Tageseinnahmen.“

„Der fährt doch nicht nur zu einem Kunden. Der kassiert doch mindesten bei zehn Supermärkten ab. Dann sind da eineinhalb Millionen in dem Auto drin. So einen Karren müsste man knacken! Dann hätten wir ausgesorgt.“

Inzwischen war der Geldbote mit einem silbern blitzenden Metallkoffer aus dem Supermarkt zurückgekommen. Die Tür zum Transporter öffnete sich, eine Hand reckte sich heraus, übernahm den Geldkoffer und zog ihn ins Innere des gepanzerten Wagens. Nur einen Augenblick später war auch der Kofferträger darin verschwunden, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.

„Jetzt fährt er zum nächsten und kassiert dort wieder so einen Batzen Knete.“ Sehnsüchtig blickte Luc dem zwischen den schier endlosen Reihen parkender Autos verschwindenden Geldtransporter nach.

„Gib nochmal die Zeitung her!“

Kapitel 2

Kunstinteresse könnte nicht unterschiedlicher sein

Sonntag, 8. August

Die Mittagssonne brannte in den gepflasterten Innenhof der Ancien Moulin à Huile Frédéric Papperin.

Commissaire Jean-Luc Papperin saß auf der Steinbank unter der riesigen, Schatten spendenden Platane und genoss sein freies Wochenende. Das erste Mal seit Wochen hatte er so richtig ausschlafen und sich nach einem schnellen Frühstück seinem Hobby, dem Kochen, widmen können. Das alles war völlig überraschend gekommen. Sein Kommissariat in Aix en Provence musste während der vergangenen vierzehn Tage auf Hochtouren arbeiten. Sie hatten zwei Raubüberfälle auf Juweliere zu lösen, und die Ermittlungen schienen sich in einer Sackgasse festgefahren zu haben. Tagelang hatten sie nach den beiden Tätern gefahndet, aber keinerlei brauchbare Hinweise finden können. Die beiden Banditen waren jeweils zur Mittagszeit, kurz bevor die Schmuckhändler ihre Geschäfte für die Mittagspause zusperrten, mit einem Motorrad vorgefahren und in den Laden gestürmt. Während einer der Räuber die anwesenden Personen mit einer Schusswaffe in Schach hielt, konnte der andere in aller Ruhe die Vitrinen mit den wertvollen Schmuckstücken ausräumen. Das Ganze wäre ein übliches Szenario gewesen, das in Marseille und in neuerer Zeit leider auch in Aix immer wieder vorkam, wenn nicht – beim zweiten Überfall – ein Angestellter besonders mutig sein und dem Bewaffneten die Pistole aus der Hand schlagen wollte. Reflexartig hatte dieser abgedrückt. Das Projektil hatte die Aorta des Verkäufers zerfetzt, wie sich später bei der Obduktion herausstellte. Die beiden Verbrecher waren mit der Beute auf dem Motorrad geflüchtet. Die sofort gerufene Rettung war zu spät gekommen. Der Notarzt hatte nur noch den Tod des Mannes feststellen können. Er war verblutet. Alle im Laden anwesenden Personen – der Inhaber und zwei weitere seiner Angestellten sowie zwei Kunden – waren derart unter Schock gestanden, dass es zu lange gedauert hatte, bis sich jemand um den Verletzten zu kümmern begann.

Alles hatte danach ausgesehen, dass auch das bevorstehende Wochenende der Ermittlungsarbeit zum Opfer fallen würde, bis sich, völlig überraschend, einer der Täter bei der Polizei gemeldet hatte. Der Mord sei nicht geplant gewesen, betonte er in seinem Geständnis. Und dass sich sein Kumpel jetzt auch noch damit rühmte, das könne er nicht ertragen, nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Deswegen wolle er aussagen und bitte um Behandlung nach der Kronzeugenregelung. Der gesamte Fall konnte noch am Samstag abgeschlossen, der zweite Täter, der den Todesschuss abgegeben hatte, verhaftet, und die Akte am Abend dem Ermittlungsrichter übergeben werden. So kam es, dass Papperin und alle Mitarbeiter seines Kommissariats plötzlich einen freien Sonntag vor sich hatten.

Wegen dieser unerwarteten Entwicklung war man in der Ölmühle vom Aufkreuzen des Kommissars total überrascht gewesen. Odile Papperin, Jean-Lucs Mutter, hatte nichts Besonderes eingekauft, und schon gar nichts, was den kulinarischen Ansprüchen ihres Sohnes entsprochen hätte. Aber Cabanosque war ein kleines Dorf, und Odile mit fast allen Einwohnern befreundet. Ein Anruf bei Cyril Bastin, dem poissonnier des Ortes, und die Schilderung des überraschenden Auftauchens von Jean-Luc hatten genügt, und dieser war in seinen Fischladen gefahren, hatte einen großen Steinbutt hergerichtet, ausgenommen und ihn persönlich seiner guten Kundin und Freundin Odile in die Ölmühle gebracht.

Jetzt konnte Jean-Luc in seinem Hobby voll aufgehen. Kochen entspannte ihn, half ihm zu vergessen, was sein Beruf ihm manchmal zumutete: Verstümmelte Leichen, entführte Kinder, missbrauchte Frauen. Es war fast, als trete er bei dieser Tätigkeit einen Schritt zurück vom Abgrund des Verbrechens, mit dem er sonst Tag für Tag konfrontiert wurde.

Er schnitt die Seitenflossen des flachen Fisches ab, wusch und beträufelte ihn mit Olivenöl aus der eigenen Ölmühle und streute dann ganz wenig Salz darauf und etwas von dem Thymian, der überall im Garten und in allen Mauernischen wucherte. Auf weitere Gewürze verzichtete er, damit der feine Eigengeschmack des Fisches nicht überdeckt wurde. Als Beilagen bereitete er das zu, was die Vorratskammer hergab: Kartoffeln, in Spalten geschnitten und in Olivenöl gewendet, mit Salz und etwas Pfeffer gewürzt. Mit frischen Rosmarinnadeln aus dem Garten bestreut, kamen sie als erstes in den Herd, da ihre Backzeit am längsten dauerte. Kurze Zeit später schob er den Fisch neben die Rosmarinkartoffeln in den Grillofen. Als Gemüse gab es eine einfache provenzalische Ratatouille: Paprika, Courgettes, Auberginen, mit Schalotten und viel Knoblauch in Olivenöl in der Pfanne gegart.

Jean-Luc Papperin lehnte sich zufrieden zurück, wohlig gesättigt von dem hervorragenden Essen, das er, Odile und Antoine, ihr Angestellter und – wie Papperin vermutete – heimlicher Liebhaber, im Freien am Marmortisch unter der großen Platane genossen hatten, und müde von dem eiskalten Rosé aus dem Weingut Grand Jas bei Entrecasteaux.

„Machst du noch einen Kaffee, maman? Un espresso? S’il te plaît!“, bettelte er.

Während sie auf die kleinen Tassen mit dem starken schwarzen Getränk warteten, zündete sich Antoine eine Gauloises an, und Papperin vertiefte sich in den Var-Matin, zu dessen Lektüre er in den letzten Tagen vor lauter Stress nicht gekommen war.

„Hör mal, maman, in Château Barbaresque soll es demnächst eine exklusive Sonderausstellung ‚Les peintres du Midi‘ geben. Da sollen Bilder von berühmten Künstlern, die in der Provence gemalt haben, zu sehen sein. Darunter einige aus Privatsammlungen, die bisher noch nie in der Öffentlichkeit gezeigt wurden. Von Ende September bis Januar geht das. Da will ich unbedingt hin. Interessiert dich das auch? Und weiß du, wo der Ort liegt?“

„Nein, kenne ich nicht. Keine Ahnung, wo das ist. Aber es klingt sehr interessant.“

Während Odile Papperin nickte, dachte sich Jean-Luc, das könnte auch etwas für Nia sein, seine im fernen Paris arbeitende Freundin. Seit ihrem traumatischen Erlebnis letztes Jahr auf der Insel Porquerolles, bei dem Nia fast erschossen worden wäre, hatten sie sich nicht allzu oft gesehen, meistens, wenn er zu dienstlichen Konferenzen in die Zentrale der police judiciaire nach Paris kommen musste. Und natürlich im Urlaub. Diese Begegnungen waren immer sehr intensiv und herzlich gewesen, aber viel zu selten. Nia litt, so glaubte Jean-Luc, sehr unter einem inneren Zwiespalt. Einerseits war sie seiner Brigadierin Jeannine Dalmasso überaus dankbar – hatte diese ihr doch das Leben gerettet, als sie schneller geschossen hatte als der Drogenhändler. Andererseits schienen in ihr immer wieder Eifersucht zu nagen und der Zweifel, ob die Affäre zwischen Jean-Luc und Jeannine wirklich beendet war. Aber das war Vergangenheit. Wie konnte er Nia davon überzeugen? Wenn sie doch nur zu ihm in die Provence ziehen würde! Er wünschte sich so, dass alles wieder wie früher würde, als sie ein unzertrennliches Paar waren.

Papperin beschloss, Nia am Abend anzurufen und sie zu bitten, zur Eröffnung zu kommen, um mit ihm diese Ausstellung zu besuchen.

***

Die beiden Türme des Château Gramellons am östlichen Ausläufer der Montagne du Luberon leuchteten hellrosa in der tiefstehenden Abendsonne. Vicomte und Vicomtesse de Gramellons saßen sich an den Schmalseiten des langen Esstisches im Speisesaal des Schlosses gegenüber und aßen schweigend ihre Vorspeise, eine cremige Kürbissuppe mit einem Inselchen crème fraîche darauf, verziert mit einem grünen Basilikumblatt. Außer einem gelegentlichen, leisen Klacken, wenn ein Löffel den Teller berührte, war kein Geräusch zu hören. Erst als Vicomtesse de Gramellons die silberne Glocke ergriff, die neben ihrem Teller stand, und sie sanft hin und her schwenkte, erfüllte ein freundlicher, heller Klang den hohen Raum. Er stand in starkem Kontrast zu der Düsternis des Saales mit seiner tiefblauen Seidentapete, deren verblasstes Goldmuster die schwermütige Atmosphäre ebenso wenig auflockern konnte, wie die fein ziselierten Schnitzereien an den massigen, aus dunklem Holz gefertigten Möbeln. Auf das Klingeln erschien eine junge Frau in schwarzem Rock, schwarzer Bluse und einem weißen Spitzenhäubchen im blondgefärbten Haar. Mit einer laschen Handbewegung deutete der Vicomte an, dass abgedeckt werden solle.

„Gerne, monsieur le Comte!“

Die Frau, die offensichtlich die Funktion eines Dienstmädchens hatte, nahm die Teller in der devoten Manier einer Untergebenen und trug sie aus dem Raum. Nachdem sie die schwere Doppelflügeltür hinter sich geschlossen hatte, wandte sich der Vicomte an seine Frau:

„Mein Cousin, der Comte de Barbaresque hat mir geschrieben und angefragt, ob ich unseren Cézanne zu seiner Sonderausstellung auf das Château Barbaresque schicken möchte. Soll ich? Was meinst du dazu?“

„Woher weiß der von unserem Cézanne? Das sollte doch eigentlich geheim bleiben. Allein schon wegen der fehlenden Alarmvorrichtungen hier im Château. Wenn das Gott und die Welt wissen, können wir uns vor Dieben, Einbrechern und Bittstellern nicht mehr retten.“

Der Vicomte versuchte das zu erklären. Wahrscheinlich habe er bei einem Treffen mit seinem Verwandten einmal aus Versehen verlauten lassen, dass sie einen Cézanne besäßen. Ein Gemälde, das der Künstler persönlich seinem Großvater geschenkt hatte, als er einen längeren Aufenthalt auf diesem Schloss verbracht hatte.

„Musstest du wieder mal angeben, prahlen, mit dem einzig Wertvollen, das wir besitzen! Du hättest besser nichts gesagt. Außerdem hat er es nicht deinem, sondern meinem Großvater geschenkt.“

Eine Weile saßen sich die beiden schweigend gegenüber. Das Dienstmädchen servierte den Hauptgang. Anschließend, beim Dessert, ergriff der Vicomte wieder das Wort.

„Möchtest du meine Meinung hören?“

Als seine Frau nickte, fuhr er fort:

„Ich habe mir das gut überlegt. Wenn sich in der Fachwelt herumspricht, dass wir ein bisher unbekanntes Unikat, ein Originalgemälde des Künstlers besitzen, dann wird das Interesse der Kunsthändler und Sammler geweckt. Und wenn wir uns dann konsequent weigern, es zu verkaufen, wird sein Wert immer weiter steigen – kürzlich wurde ein Bild von Cézanne für etwas mehr als zwanzig Millionen Dollar versteigert. Damit könnten wir unsere Schulden tilgen, das Haus hier renovieren und ein sorgenfreies Leben führen.“

„Niemals! Niemals werde ich das Bild hergeben. Du weißt, es gehört mir, mir alleine und ich hänge daran. Es gehört hierher, auf das Schloss, und hier wird es immer bleiben. Es ist ein herrliches Gefühl, solch einen Schatz zu besitzen und niemand weiß davon. Nein, es wird nicht verkauft! Basta!“

„Aber chérie, denk doch an unsere prekäre finanzielle Lage!“

Kapitel 3

Ein Komplize wird gesucht

Donnerstag, 12. August

Im Städtchen Pertuis an der Durance herrschte Hochbetrieb. Man bereitete sich auf die regionalen Pétanquemeisterschaften vor, die von Freitag bis Sonntag auf dem riesigen Bouleplatz am Stadtrand stattfinden sollten. Die Begeisterung für diesen in Südfrankreich so beliebten Sport hatte alle Bevölkerungsschichten in der Stadt und in der ganzen Region gepackt. Von überall her aus der Provence kamen Pétanquespieler mit ihren Freunden und Familien angereist.

Auch Luc und Maurice waren dort. Sie wollten sich das Spektakel nicht entgehen lassen. Nicht dass sie an den Wettkämpfen beteiligt wären – dazu war ihre Wurftechnik bei weitem nicht professionell genug. Sie wollten nur zuschauen und, wo immer sich dies ergab, mit Gleichgesinnten das eine oder andere Spielchen bestreiten. Selbstverständlich hatte jeder seine drei Kugeln in einem länglichen, schmuddeligen Leinentäschchen dabei. Angereist waren sie in Lucs betagtem Peugeotkombi. Da sie sich weder ein Hotelzimmer noch ein chambre d’hôtes leisten konnten, hatten sie vor, am Ufer der Durance im Auto zu übernachten. Die Ladefläche des Kombi war zum Glück groß genug.

***

Die beiden Freunde schlenderten durch die verwinkelte Altstadt und gelangten schließlich auf einen kleinen, von mehreren Platanen beschatteten Platz, auf dem ein paar bunt aus Männern und Frauen zusammengewürfelte Mannschaften sich dem Pétanquespiel widmeten. Die roten Plastikstühle und -tische einer Bar direkt neben dem Bouleplatz zogen sie magisch an.

Une bière et une cigarette?“, fragte Maurice, und da Luc nichts dagegen hatte, wählten sie einen Tisch ganz vorne am Ende der Terrasse, wo sie die Spieler am besten beobachten konnten. Sie bestellten ihr Bier und begleiteten die Würfe der Wettkämpfer mit fachmännischen Kommentaren.

„He Luc, was machst du hier? Salut!“

Eine Frauenstimme lenkte die Aufmerksamkeit von den Pétanquespielern ab.

„Paulette?“, wunderte sich Luc. „Salut! Ich dachte du arbeitest oben im Vaucluse. Was tust du hier?“, gab er die an ihn gestellte Frage zurück und fügte hinzu:

„Wir wollen die Pétanquemeisterschaft anschauen.“

Maurice musterte die vor ihnen stehende Frau. Sie hatte eine tolle Figur, aber die zu grell geschminkten Lippen gaben ihrem Gesicht einen leicht vulgären Zug.

„Genau das will ich auch“, antwortete sie. Dann zu Maurice gewandt: „Und du schau mich nicht so geil an. Wer bist du überhaupt?“

Obwohl Höflichkeit in seinen Kreisen keine große Rolle spielte, merkte Luc, dass er die beiden wohl miteinander bekannt machen sollte.

„Das ist mein Freund Maurice, wir wohnen im selben Haus in Brignoles. Und das“, wandte er sich an Maurice, „das ist meine Schwester Paulette. Magst du auch ein Bier?“ Die Frage galt wieder seiner Schwester. Als diese nickte, rief er quer über die Terrasse:

Garçon, un demi s’il te plaît!

Das unerwartete Zusammentreffen ließ sie vorübergehend das Interesse an den Pétanquespielern vergessen. Die Geschwister hatten in den letzten Jahren den Kontakt schleifen lassen. Sie hatten sich kaum gesehen, und Luc telefonierte nicht gern. Jetzt musste erstmal die Neugierde befriedigt werden: Was jeder in dieser Zeit so getrieben hatte, ob man noch dieselbe Arbeit hatte, und was sich sonst alles geändert hatte. All das war jetzt wichtiger. Paulette, die ihr Bierglas mit wenigen Zügen geleert hatte und dem Kellner mit einer eindeutigen Geste klarmachte, dass sie noch eines wollte, berichtete zuerst. Sie habe jetzt eine Stelle als Dienstmädchen im Schloss eines Vicomte und seiner Frau. Ziemlich einsam am Rande des Luberon. Die nächste größere Stadt sei Manosque, fast eine Stunde weg. Für die Zeit der Spiele hier habe sie von ihren Arbeitgebern aber frei bekommen. Allerdings sei es nicht einfach gewesen, denen das abzuringen. Schließlich hätten sie zugestimmt. Natürlich nur unter der Bedingung, dass sie für die paar Tage keinen Lohn bekomme.

„Die sind fürchterlich geizig und dabei sind sie stinkreich, wohnen in einem tollen Schloss mit lauter wertvollen Sachen drin, Möbel, Gemälde und so Zeug.“

„Hm, die richtig Reichen sind alle geizig“, entgegnete ihr Bruder.

„Sonst wären sie ja nicht so reich“, ergänzte Maurice und fragte dann, durchaus interessiert:

„Wie sind die so, die adligen Reichen? Ich meine nicht das, was man so in der Zeitung liest, sondern im täglichen Umgang?“

„Der Alte würde mich gerne bumsen, aber die Vicomtesse lässt ihm keine Chance. Die hat ihn schwer unter Kontrolle. Ab und zu begrapscht er meinen Busen oder meinem Hintern, wenn sie nicht hinschaut. Aber mehr ist nicht drin. Fast tut er mir leid.“

Das georderte Bier wurde gebracht. Eine Weile herrschte Schweigen, da die drei sich auf eine spannende Partie konzentrierten, die direkt vor ihrem Platz stattfand. Vier Männer spielten eine doublette – eine Partie zwei gegen zwei. Ein sehr alter mit weißem, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haar und einem locker im Wind flatternden weißen Kaftan hatte gerade eine Kugel ganz nahe an den cochonnet, die kleine rote Zielkugel rollen lassen und blickte stolz in die Runde. Sein wesentlich jüngerer Partner freute sich riesig über den gelungenen Wurf und gratulierte dem glücklichen Werfer überschwänglich. Sein Outfit hob sich deutlich von dem der beiden anderen jüngeren Spieler ab. Mit seinen Designerjeans und dem saloppen, aber sauberen und modischen T-Shirt, seinem schwarzen Dreitagebart und den nur wenige Millimeter kurzen Haarstoppeln auf seinem Kopf wirkte er wie ein Großstadtyuppie. Beim gegnerischen Team schien es sich um Arbeiter oder Handwerker zu handeln. Zumindest ihre Kleidung legte das nahe; schmutzige blaue Overallhosen, verschwitzte T-Shirts und staubige ziemlich ausgelatschte Schnürstiefel.

Gerade hatte der bärtige Rothaarige von ihnen mit gezieltem direktem Wurf versucht, eine gegnerische Kugel vom cochonnet wegzuschießen. Doch der Schuss war danebengegangen.

Idiot! Une raspaille, pas un tir au fer!“, ereiferte sich Luc lautstark.

„Mach’s doch besser!“, brüllte der enttäuschte Werfer zurück. Luc sprang auf und lief aufs Spielfeld.

„Da!“ Dabei deutete er auf einen Punkt auf dem Sandplatz. „Da hättest du sie hinsetzen sollen, dann wäre er genau hier neben die Rote gerollt!“

„Wenn du so super bist, dann spiel doch mit!“

„Mach ich gerne, aber mein Kumpel muss auch mitmachen!“ Dabei deutete er auf den vor seinem Bier sitzenden Maurice.

Mit diesem letzten Fehlwurf war das Spiel zu Ende gegangen.

„Ich muss jetzt leider gehen, meine Alte macht mir sonst die Hölle heiß!“, entschuldigte sich einer der vier Kombattanten, der alte Weißhaarige. „Sie will heute unbedingt nach Aix zum Einkaufen und in der Großstadt traut sie sich nicht fahren.“

„Wenn du gehst, Jaques, sind wir nur noch zu dritt“, maulte einer der anderen pétanqueurs enttäuscht. „Und zu fünft geht es nicht!“, meinte er mit einem Blick auf Luc und Maurice.

„Dann spielen wir eben keine doublette, sondern eine triplette. Wir drei gegen die drei Neuen da – drei gegen drei statt zwei gegen zwei. Kann deine Frau nicht mitmachen?“, fragte der Rotbärtige. „Dann sind wir sechs.“

„Meinst du mich?“ Luc deutete auf sich und dann auf Paulette. „Das ist meine Schwester, nicht meine Frau. Klar kann sie mitspielen, oder?“ Lucs fragender Blick zu Paulette wurde durch ein erfreutes Nicken beantwortet.

„Ja, dann aber jeder nur mit zwei Kugeln, sonst ist es gegen die Regeln“, belehrte sie der Alte. „Aber jetzt muss ich wirklich gehen.“

Mit einer bedauernden Geste seiner beiden Arme verließ er den Platz.

Unter dem dichten Laubdach der Schatten und Kühle spendenden Platanen wurden schnell die Mannschaften gebildet – die drei bisherigen Spieler gegen die drei neuen. Dann gaben Luc und Maurice jeder eine ihrer drei Kugeln an Paulette, und das Spiel drei gegen drei mit zwölf Kugeln konnte regelkonform beginnen. Es wurde ein spannendes Match mit Revanche und Revanche für die Revanche und so fort. Schließlich, nach acht Spielen und dem Stand von fünf zu drei, setzten sich die sechs zu einem kühlen Bier auf die Terrasse der Bar. Eine Zeit lang debattierten sie noch über die geglückten und weniger gelungenen Würfe, bis sie sich schließlich anderen Themen zuwandten. Die beiden mit den Overalls waren tatsächlich Bauarbeiter auf einer Baustelle in der Nähe, wo eine Ferienhausanlage aus dem Boden gestampft wurde. Der etwas aus dem Rahmen fallende Dritte hieß Frank Renaud und arbeitete als Internetprogrammierer und Softwareingenieur bei einem Unternehmen in Manosque.

Einer der beiden Bauarbeiter schaute auf seine Armbanduhr. Erschrocken wandte er sich an seinen Kumpel:

„He Pascal, weißt du, wie spät es schon ist? Fast Vier! Der chef d’équipe wird uns den Marsch blasen, weil wir die Mittagspause so überzogen haben. Da brauchen wir eine gute Ausrede.“

„Quatsch! Unser Polier? Der merkt das doch gar nicht. Wetten, dass er selber noch auf irgendeinem Platz hier spielt. So pétanqueverrückt wie er ist.“

„Trotzdem sollten wir jetzt gehen.“

Sie schlugen jedem der Zurückbleibenden kameradschaftlich auf die Schulter, dann eilten die beiden Arbeiter auf ihre Baustelle.

„Und du, Frank? Musst du auch wieder malochen?“

Mit grimmigem Gesichtsausdruck und heruntergezogenen Mundwinkeln schüttelte dieser kurz den Kopf.

Non! Ich habe mir für heute Nachmittag und morgen freigenommen. Mein Boss war zwar nicht glücklich darüber. Aber was soll er dagegen machen? Jetzt sieht er mal, wie sein Laden läuft, wenn ich nicht da bin.“

„Er könnte dich doch einfach rausschmeißen?“

„Dann müsste er sich einen Neuen suchen. Und bis der eingearbeitet ist, das dauert. Dazu ist er viel zu faul. Außerdem kann ich zu viel, was sonst niemand beherrscht in dem Verein. Aber du hast Recht, mittelfristig will ich mir einen neuen Job suchen. Nur hier auf dem Land ist das nicht so einfach. Da müsste ich nach Paris, oder wenigstens nach Lyon oder Grenoble – aber ich kann hier nicht weg.“

„Familie? Deine Frau?“, fragte Maurice neugierig.

„Das geht dich nichts an!“, fuhr ihm Frank über den Mund.

„Okay, okay, schon gut. Will ich gar nicht wissen!“

„Sag mal, wo schlaft ihr eigentlich?“, unterbrach Paulette die entstandene peinliche Pause.

„Im Auto am Fluss. Was anderes können wir uns nicht leisten.“

Sie dachte einige Zeit nach, schließlich meinte sie:

„Ich wohne bei Clémence, einer Freundin. Die hat eine super Wohnung, mitten im Zentrum. In einem uralten Haus, nicht sehr komfortabel, aber viele Zimmer. Die hat sicher eines frei für euch. Ich ruf sie gleich an.“

Das Telefonat ergab, dass die beiden Freunde nicht in freier Wildbahn im Auto zu nächtigen brauchten, dass sie allerdings eine Luftmatratze mitbringen müssten, da sich in dem Zimmer nur ein Bett befand.

„Wollen wir uns morgen wieder zu einer Partie treffen? Mir hat das heute super gefallen.“ Frank Renaud blickte die drei fragend an.

„Gerne, wann? Um zehn? Oder hast du was anderes vor, Paulette?“ fragte Luc. Als diese Zustimmung signalisierte, bestimmte der Informatiker:

„Also dann morgen um zehn hier. Dann spielen wir eine doublette. Wir zwei gegen die beiden da?“ Es war mehr ein Befehl, denn eine Frage, mit dem er die Frau als seine Partnerin bestimmte. Ganz offensichtlich hatte er mehr als pétanquesportliches Interesse an ihr.

***

Nach einem schnellen Abendessen im MacDo, bei dem Luc alles bezahlt hatte – er sah sich verpflichtet, ihre neue Zimmerwirtin zu Hamburger mit Frites und einer Cola einzuladen, Maurice hatte erwartungsgemäß kein Geld dabei gehabt – hatten sie sich in die Wohnung von Paulettes Freundin zurückgezogen und saßen debattierend um den Tisch in der geräumigen Küche in der zweiten Etage des Altbaus. Aus einem Fünf-Liter-Bidon, einem quaderförmigen Karton, aus dessen Kunststoffsack im Inneren durch ein rotes Plastikventil einfacher roter Landwein gezapft werden konnte, füllten sie immer wieder ihre Gläser nach. Bald schon musste Clémence die Gruppe verlassen. Sie war Kellnerin in einer Bar und hatte Spätdienst.

Maurice, der sich gerade wieder über die Rotweinquelle gebeugt hatte, war so in Gedanken versunken, dass er sein Glas bis zum Überlaufen vollgeschenkt hatte.

„Sag mal, Luc – denkst du das gleiche wie ich?“

„Nee, wieso? Was denkst du?“

„Na ja, der Frank, der ist doch Informatiker, Softwareprogrammierer. Der müsste das doch können … das mit dem Navi.“

„Du meinst das aus der Zeitung, letzten Mittwoch in Brignoles? Hmm, weiß nicht, vielleicht?“

„Glaubst du, wir sollten ihn fragen?“

„Fragen kostet nichts.“

Die beiden blickten nachdenklich vor sich hin. Maurice versuchte den verschütteten Wein mit seinen Turnschuhen gleichmäßig auf dem Kachelboden zu verreiben. Die Pfütze trocknete sehr schnell, denn die sechseckigen, ockerfarbenen terre-cuite-Bodenfliesen saugten sich voll und nahmen dadurch eine noch dunklere Farbe an. Luc rieb mit seinem Zeigefinger über den Rand seines Weinglases, bis es einen zarten, hellen Ton von sich gab. Schließlich durchbrach Paulette das wortlose Schweigen:

„Leute, je ne comprends riens, ich versteh nur Bahnhof. Wen wollt ihr was fragen, mit welchem Navi?“

Luc und Maurice wechselten einen langen Blick. Sollten sie Paulette einweihen? Mit einem fast unmerklichen Wimpernzucken gab Maurice seinem Freund zu verstehen, dass er nichts dagegen einzuwenden hätte.

„Weißt du, das ist so … da kann man, wenn man weiß wie es geht, das Navi eines Autos so manipulieren, dass …“

Und nun erzählte er von dem Zeitungsartikel, von dem Geldtransporter und den Summen, die da zu holen wären, und davon, dass sie das alleine nicht stemmen könnten, weil sie sich mit diesem Informatikzeug nicht genügend auskennen würden.

„Das Praktische, die Handarbeit sozusagen, das könnten wir zwei machen, Maurice und ich. Nur die Kopfarbeit, das Theoretische, ich meine diese Elektroniksachen, dazu brauchen wir jemanden, der das kann.“

„Und da denkt ihr an Frank?“

Nach kurzem Zögern fügte sie mit zweifelnder Miene hinzu:

„Wieso meint ihr, dass er mitmacht? Der hat es doch gar nicht nötig – er hat einen Job und so wie er aussieht, verdient er auch sehr gut. Ich glaube nicht, dass der sich auf was Kriminelles einlässt!“

„Aber er hat doch erzählt, dass er unzufrieden mit seiner Stelle ist“, entgegnete Maurice.

„Deswegen wird er noch lange nicht kriminell“, war sich Paulette sicher.

Eine Weile schauten die beiden Freunde Lucs Schwester erstaunt an. Dieser Einwand machte sie nachdenklich. So hatten sie das alles nicht gesehen. Aber natürlich, Frank ging es gut, er hatte überhaupt keinen Grund, seine gesicherte Existenz wegen ihres noch kaum durchdachten Projekts aufs Spiel zu setzen. Frustriert ging Luc zum Weinkanister und schenkte sein Glas voll. Auf dem Weg zurück zum Tisch musterte er Paulette und Maurice. Diese starrten nachdenklich auf die grobe Holzmaserung der Tischplatte. Mit stumpfem Blick ließ Maurice den Roten in seinem Weinglas kreisen und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. Schließlich gab sich Paulette einen Ruck und schaute die Beiden mitleidig an:

„Aus der Traum! Es war doch eh nur ein Luftschloss. Ich geh jetzt schlafen.“ Sie stand auf und wandte sich zur Türe.

„Stopp!“ Lucs Ruf ließ sie haltmachen.

Du, du bringst ihn dazu mitzumachen. Der steht auf dich. Das war doch deutlich zu sehen. Du bist der Lockvogel! Wenn du dich ein bisschen scharf anziehst morgen und dich an ihn anwanzt, dann sehen wir schon, ob es funktioniert.“

„Außerdem“, warf Maurice ein, dessen Blick wieder zu glänzen begann, „… außerdem ist das mit seinem Job gar nicht so toll. Er hat doch selbst gesagt, dass er seinen Chef nicht ausstehen kann und dass er lieber was anderes machen würde.“

„Er kriegt aber nichts, weil er nicht weg will, hier aus der Gegend.“ In Lucs Augen blitzte jetzt Begeisterung auf.

Paulette stemmte die Hände in die Hüften und reckte ihren beachtlichen Busen aufreizend vor.

„Ich soll mit ihm vögeln, damit ihr das Geld kassiert? Nee, Kumpels, so läuft das nicht!“

„Natürlich nicht! Ich bescheiße doch meine eigene Schwester nicht. Wir teilen alles, jeder kriegt ein Viertel.“

Maurice, der logischer Denkende der beiden Freunde warf ein:

„Das ist jetzt aber etwas voreilig, weil …“

Er hielt an und blickte Luc nachdenklich an.

„Wir wissen doch noch gar nicht, ob der das überhaupt kann – das mit dem GPS und dem Navi-Manipulieren. Das müssen wir als erstes rausbekommen.“

Freitag, 13. August

Der nächste Vormittag stand wieder voll im Zeichen des Pétanquespiels. Sie trafen sich mit Frank Renaud in derselben kleinen Bar, in der sie schon am Vortag zusammen gesessen hatten. Noch sagte keiner der Drei etwas von ihrem Plan. Sie unterhielten sich über belanglose Dinge.

„Kommt, trinkt aus, machen wir ein Spiel!“ Luc erhob sich und schlug seine Boulekugeln auffordernd aneinander.

„Spielen wir zwei zusammen?“ Paulette hakte sich bei Frank ein, zog ihn hoch und hinter sich her auf den Platz. Die folgenden Stunden konzentrierten sie sich voll auf das Pétanquematch. Die beiden Teams waren etwa gleich gut. Mal führten die einen, mal die anderen. Nach jedem gelungenen Wurf brach die erfolgreiche Partei in lauten Jubel aus. Paulette war besonders geschickt im tir au fer, dem direkten Wegschießen von gegnerischen Kugeln. Wie fast alle Provenzalen beherrschten sie die Spielregeln und die verschiedenen Wurftechniken. Jedes Mal, wenn ihr ein Wurf gelungen war, und ihre an Stelle der fortkatapultierten Kugel von Luc oder Maurice nahe beim roten cochonnet liegen blieb, versuchte Frank sie zu umarmen und ihr einen Begeisterungskuss auf die Lippen zu drücken. Doch immer entzog sie sich ihm geschickt.

***

Der Pétanquetag endete so, wie er begonnen hatte – in der Bar mit den roten Stühlen auf der Terrasse. Nur langsam kühlten die von den spannenden Spielen erhitzten Gemüter ab. Etliche eiskalte Heineken waren bereits durch die durstigen Kehlen geflossen, als Frank der Bedienung zurief:

„He, Chef! Jetzt brauch ich was Stärkeres.“

Der Kellner näherte sich langsam, stellte im Vorbeigehen noch Gläser und prallvolle Aschenbecher von einigen freigewordenen Tischen auf sein Tablett und wischte die Tischplatten mit einem nicht gerade sehr hygienisch aussehenden feuchten Lappen kurz ab.

„Na endlich!“, seufzte Frank, als der serveur an ihrem Tisch ankam.

Un Cognac, s’il te plaît!“, bestellte er, um dann, nach einem fragenden Blick auf die anderen, und nachdem alle drei zustimmend genickt hatten, die Bestellung zu korrigieren:

Quatre! Quatre Cognacs!

Et quatre demis!“, ergänzte Luc die Order um vier weitere Bier.

Die angenehme Kühle der Nacht hatte die Tageshitze abgelöst. Die riesigen Platanen rauschten leise im sanften Wind. Dieses stille Geraschel wurde überlagert vom auf- und abschwellenden Geräuschpegel der mehr oder weniger lauten Unterhaltungen an den anderen Tischen. Hinzu kam die behaglich-magische Stimmung, die die Kette bunter Glühlampen verbreitete, welche die Markise über der Terrasse säumte.

Wie es an solchen Abenden nun einmal ist, war das nicht die letzte Bestellung, nicht das letzte Bier und auch nicht der letzte Cognac. Mitternacht war schon lange vorbei, als Frank, bei einem zufälligen Blick auf seine Uhr, erschrocken feststellte:

Merde! Schon so spät – äh … früh! Ich muss ja noch zurück nach Manosque. Ich glaube, ich mach mich jetzt auf den Weg. Schade, es war gerade so schön!“ Dabei legte er einen Arm um Paulettes nackte Schulter.

„Autofahren würde ich an deiner Stelle jetzt aber nicht mehr – une bière, un cognac, une bière, un cognac … et cetera et cetera. Die flics sollen heute besonders scharf sein – wegen der Pétanquemeisterschaft. Die lauern bestimmt auf der D973 um Alk-Kontrollen zu machen.“

„Dann fahre ich eben über die A51. Auf der Autobahn halten die doch niemanden an.“

„Aber an den Zahlstellen! Da stehen sie mit ihren Teströhrchen.“

„Und? Was soll ich dann machen? Hier unter einer der Platanen schlafen?“

Luc nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, dabei schaute er seine Schwester fragend an.

„Sag mal, deine Freundin Clémence hat doch sicher nichts dagegen, wenn heute noch einer mehr in ihrer Wohnung übernachtet, oder?“

„Das ist ihr völlig egal“, meinte Paulette. Sie gähnte langanhaltend. „Ach Gott, bin ich müde. Kommt, wir gehen! Zahlst du, Frank?“

Zu viert untergehakt schlenderten sie laut singend und lachend durch die zu so später Stunde verlassenen Gassen der Altstadt. Das Aufsperren der Haustüre, das Hinauftorkeln in die zweite Etage über die enge und gewundene Steintreppe, das Öffnen der Wohnungstüre, die sich mit einem durchdringenden Knarzen gegen die frühmorgendliche Störung zu wehren schien, all das erfolgte unter lautem Palavern, Witzereißen und Gelächter. Etwas Ernüchterung trat erst ein, als Maurice feststellte:

„He Frank, du musst auf dem Boden schlafen. Wir haben kein Bett für dich. Und meine Isomatte brauch ich selber.“

Noch ehe sich Ratlosigkeit ausbreiten konnte, fasste Paulette Frank um die Taille und zog ihn zu ihrer Zimmertür.

„Kein Problem. Du schläfst einfach bei mir. Mein Bett ist breit genug für zwei.“

Mit einem kaum merklichen Augenzwinkern zu ihrem Bruder schob sie den überraschten Frank in ihr Zimmer und ließ die Türe mit lautem Knall ins Schloss fallen.

Samstag, 14. August

Beim gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen war die Stimmung anfangs etwas beklommen. Paulette und Clémence schnitten zwei Baguettes vom Vortag der Länge nach auf und schoben sie in den Backherd. Dann – während die drei Männer vor ihrem ersten Glas Roten stumm am Tisch saßen – füllte Clémence die cafetière mit Espressopulver, schraubte sie zu und stellte sie auf den Gasherd. Es gab keine große Auswahl. Außer einem Rest Salzbutter, einem ein halbleeren Glas Nutella und einem originalverpackten, noch ungeöffneten Plastikbecher mit miel de romarin hatten sie nichts in der engen dunklen Speisekammer gefunden, was sich für ein Frühstück geeignet hätte. Dazu gab es die goldbraun getoasteten Baguettestreifen.

„Und? Wie war die Nacht?“

Mit grinsendem Gesicht blickte Luc seine Schwester an. Seine dreiste, neugierige Frage ließ Frank schamvoll erröten, während Paulette genauso direkt antwortete:

„Na super! Oder Frank?“

Die Röte in Franks Gesicht vertiefte sich noch weiter. Doch dann gab er sich einen Ruck, lehnte sich zurück und neigte sich mit angriffslustig verschränkten Armen zu Luc hinüber.

Formidable! Ist doch klar. Oder hast du Zweifel an meinen Qualitäten?“