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GÉRARD MEJER

DER TOD SCHLÜRFT AUSTERN

 

 

Autor:

Gérard Mejer ist das Pseudonym für eine Gruppe von Autoren, die die Eindrücke von ihren Reisen in Frankreich nicht in Form eines Tagebuchs oder eines Reiseromans, sondern als Kurzkrimis niedergeschrieben haben.

Gérard Mejer

DER TOD SCHLÜRFT AUSTERN

Eine mörderische Rundreise durch die Bretagne in zehn spannenden Kurzgeschichten

ambiente-krimis

 

 

 

 

Personen und Handlungen in den folgenden zehn Kurzgeschichten sind frei erfunden und orientieren sich nicht an lebenden oder toten Vorbildern oder Geschehnissen. Etwaige Ähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Austerngemetzel

Tatort: Cancale

Die Saison hatte gerade angefangen. Langsam trudelten die ersten Touristen ein und bezogen die kleinen Pensionen am Hafen. Die Restaurants polierten ihre Terrassen auf Hochglanz, schrieben die Menus auf große Tafeln und stellten diese auf den Gehsteig. Der Sommer war in diesem Jahr früh gekommen, hatte den Sand in den kleinen Buchten rund um Cancale erwärmt und Fröhlichkeit in die Gesichter der Menschen gezaubert.

Yanis spazierte die Hafenpromenade entlang und blickte über die schier endlosen Austernbänke. In der Luft lag ein schwerer, salziger Geruch nach Ozean und nach Fisch. Kleine Wölkchen türmten sich am Horizont auf und verflossen mit dem Blau des Meeres. Es würde ein schöner Tag werden. Yanis erwartete seine ersten Kunden in wenigen Minuten, eine Touristengruppe aus Holland. Er würde sie in den Anhänger seines Traktors verfrachten, ihnen erst die Stadt zeigen und sie dann hinaus in den Austernpark fahren. Seit zwei Jahren war dies seine Haupteinnahmequelle, die überdies auch noch Spaß machte. Als Höhepunkt bekam jeder am Ende von Denis, seinem Freund, der ein Austernzüchter war, eine kleine Kostprobe: Er züchtete die einfachen, aber schmackhaften huîtres creuses, die er Yanis‘ Touristen mit etwas Zitrone und billigem Weißwein aus Plastikbechern offerierte.

Yanis hörte Stimmen, die sich ihm näherten. Er drehte sich um und erkannte eine Gruppe Menschen, die einem gelben Regenschirm folgte, der voranspazierte. Unverkennbar die holländischen Touristen. Er winkte ihnen zu und ließ sie in einem Kreis um sich herum aufstellen. Dem gelben Regenschirm, der sich als Bernd vorstellte, schüttelte er die Hand. Nachdem er ihnen erzählt hatte, was sie in den nächsten zwei Stunden erwartete, führte er sie zu seinem alten Traktor, half den Damen galant auf den Anhänger und schwang sich selbst ins Führerhäuschen. Mit einem lauten Knattern startete der Motor und die Fahrt ging los.

***

„Die Larven heften sich an die Tonziegel an, die Sie hier sehen, meine Damen und Herren. Wenn die Muscheln groß genug sind, werden sie mehrmals verpflanzt und kommen zum weiteren Wachstum in verschiedene Becken.“

„Und wann wird geerntet?“, warf ein dürrer Holländer mit schlechtem Französisch ein.

„Nach ungefähr vier Jahren. Sie müssen eine Mindestgröße vorweisen.“

Der Traktor mit der Gruppe im Anhänger tuckerte über den schlammigen Boden durch den großen Austernpark. Die Touristen schossen massenweise Fotos, lachten und stellten Fragen.

„Gleich werde ich Ihnen Denis vorstellen. Er ist einer der vielen Männer, die sich mit Austernzucht ihren Lebensunterhalt verdienen. Er wird Sie an seiner Arbeit teilhaben lassen, und danach gibt es eine kleine Verköstigung.“

Die Gruppe klatschte begeistert. Plötzlich ruckelte der Traktor und der Motor starb ab. Die Menschen auf dem Anhänger wurden durcheinander geworfen. Yanis startete den Motor neu und versuchte Gas zu geben, aber irgendetwas blockierte. Er hob entschuldigend die Hände.

„Da klemmt etwas unter dem Vorderreifen. Einen Moment, ich bin gleich wieder da.“

Er sprang aus dem Führerhäuschen und landete mit seinen Gummistiefeln auf dem schlickigen Boden. Dann umrundete er den Traktor, bis er vor dem rechten Reifen stand. Er ging in die Knie und sah, dass der in einer Kuhle versunken war.

Merde!“, fluchte er und begann den nassen Sand und den Schlick mit den bloßen Händen beiseite zu schieben. Auf einmal spürte er etwas Hartes. Er grub weiter, bohrte mit den Fingern im feuchten Boden und ertastete etwas Längliches. Yanis schrak zusammen und ließ sich auf den Hintern fallen. Er hatte eine Hand ausgegraben. Die Touristen beugten neugierig ihre Köpfe über die Seitenwand des Anhängers. Wie in Trance rappelte sich Yanis wieder auf und grub weiter. Nach kurzer Zeit hatte er den ganzen Arm freigelegt, dann den Oberkörper. Er nahm nichts um sich herum wahr, er grub und buddelte und scharrte, als ginge es um sein Leben. Schließlich tauchte der Kopf aus dem Schlick auf. Das Gesicht war von Sand und Schlamm bedeckt. Ein kleiner Einsiedlerkrebs kroch aus einem Nasenloch und verschwand schnell im Schlick. Yanis strich vorsichtig über das Gesicht und legte es frei. Dann stockte sein Atem. Er kannte es, auch wenn es bei ihrem letzten Treffen gelacht hatte, mit roten Wangen und leuchtenden Augen. Es war Jeanne, die Tochter seines besten Freundes Denis. Er stieß einen Schluchzer aus.

Kameras blitzten auf, so viel Action hätte sich die Reisegruppe niemals erwartet. Die Möwen kreischten laut, und irgendwo im Hafen hörte man einen Hund bellen.

***

Commissaire Larigole atmete tief ein. Die Luft war herrlich. Salzig, geschwängert von Fischgeruch und Algen. Er spürte, wie sie sich in seinen Lungen ausbreitete, und empfand es als Reinigung. Vor Jahren war er mit seiner Exfrau einmal in Cancale gewesen. Sie hatten Austern gegessen und waren spazieren gegangen. In seiner Erinnerung war es ein friedliches, kleines Küstenstädtchen. Aber nicht heute. Heute heulten Sirenen, der ganze Hafen stand voller Polizeiautos. Gerade eben kämpfte sich der schwarze Leichenwagen der Gerichtsmedizin durch. Nicht minder betriebsam ging es weiter draußen auf den Austernbänken zu. Polizisten durchstreiften in Gummistiefeln die Austernzucht und suchten nach Spuren.

Was wusste er bisher? Kommissar Larigole zog sein kleines Notizbuch hervor. Zwar war ihm bewusst, dass seine Kollegen inzwischen hochmoderne i-Pads benutzten, die ihre Daten sogleich weiterverarbeiteten, doch er brauchte so etwas nicht. Seine Exfrau pflegte stets zu sagen, er sei einer vom alten Schlag. Larigole war sich nicht sicher, ob er das als Kompliment verstehen sollte, aber er nahm es einfach so hin. An der Hafenmauer stand sein Assistent Laurent und wartete auf ihn.

„Chef, hier bin ich! Ich habe eine Menge Neuigkeiten!“ Dabei hielt er zwei dampfende Kaffeebecher in die Höhe. Larigole lächelte. Laurent verstand die nicht stillbare Gier seines Chefs nach Kaffee und sorgte stets dafür, dass es Nachschub gab. Schnell eilte Larigole zu ihm und griff sich einen der Becher.

„Also!“ Laurent nippte kurz an seinem Kaffee und begann dann zu erzählen.

„Die Tote heißt Jeanne Moulin. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt und stammt aus dem Ort. Ihr Vater ist ein bekannter Austernzüchter, Denis Moulin. Sie war eigentlich nur auf Besuch hier. Studiert seit einigen Jahren in Paris. Mutter gibt es keine mehr. Ist wohl verstorben.“

Er legte eine Pause ein, während der er einen weiteren Schluck nahm. „Den Vater habe ich dir schon herholen lassen. Er wartet dort vorne.“

Er zeigte auf eine kleine Gruppe Menschen, die vor einer Bar standen und aufgeregt diskutierten.

„Gefunden wurde die Leiche von Yanis Lac. Er ist so eine Art Touristenführer. Hat gerade eine Horde Holländer mit seinem Traktor spazieren gefahren, als er die Tote entdeckte. Die Holländer stehen alle unter Schock. Sie wurden in der Pension von Madame Lagarde untergebracht und warten dort auf die Befragung.“

Larigole nickte. Er würde sich zuerst Denis Moulin vornehmen. Zielstrebig marschierte er auf die Menschenansammlung zu und bahnte sich einen Weg zum Vater des Opfers.

„Monsieur Moulin, ich bin commissaire Larigole. Mein herzliches Beileid zu Ihrem Verlust. Dürfte ich Ihnen einige Fragen stellen?“

Aus der Gruppe löste sich ein blasser, dünner Mann. Er trug wasserdichte Latzhosen, Gummistiefel und einen Strohhut. Geistesabwesend griff er nach der Hand, die Larigole ihm zum Gruß hinstreckte, und folgte ihm zu einer Bank. Als sie saßen, holte der Kommissar tief Luft. Solche Befragungen waren nie leicht.

„Monsieur Moulin, wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen?“

Der Austernzüchter sog hörbar Luft ein. Seine Hände, die er auf die Knie gelegt hatte, zitterten.

„Das war gestern Abend. Sie wollte mit ihren Freundinnen aus Kindheitstagen nach Saint Maló in irgendeine Bar fahren.“

„Wann war das?“

Denis Moulin rieb sich die Augen. „Vielleicht acht Uhr? Oder etwas später. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, aber kurz nachdem sie ging, fing das Fußballspiel an. Anpfiff war um halb neun. Es muss also irgendwann zwischen acht und halb neun gewesen sein.“

Larigole setzte sich aufrecht hin und starrte auf die Austernbänke hinaus.

„Hatte Jeanne Feinde? Einen Exfreund, der die Trennung nicht akzeptierte? Konkurrenz im Studium?“

Moulin schüttelte den Kopf.

„Sie war überall beliebt. Ein echter Sonnenschein. Und immer hilfsbereit. Vor vier Jahren wurde sie sogar zur Miss Cancale gewählt.“

Er kramte in seiner Tasche und zog schließlich einen Geldbeutel hervor. Dem entnahm er eine faltige, verblichene Fotografie. Sie zeigte ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren und strahlenden Augen. Es trug ein kleines Krönchen und hielt ein Plakat hoch, auf dem Miss Cancale 2011 stand. Larigole musste unwillkürlich schmunzeln. In jedem noch so kleinen Städtchen wurden heutzutage Misswahlen veranstaltet. Er gab das Bild zurück.

„Monsieur Moulin, wer könnte Ihre Tochter getötet haben?“ Der Kommissar blickte ihm in die Augen und erkannte plötzlich, dass anstelle der Trauer Wut und Hass in das Gesicht des Vaters getreten waren.

„Marcus Defour. Er betreibt eine Austernzucht. Wir sind Feinde. Erst kürzlich hat er mir damit gedroht, dass er Unheil über meine Familie bringen werde.“

Larigole machte sich schnell eine Notiz. Diesen Defour würde er genauer unter die Lupe nehmen.

„Vielen Dank, Monsieur Moulin. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung.“ Der Kommissar stand auf, winkte seinem Assistenten zu und verließ den Hafen. Er brauchte mehr Informationen: über Moulin, Defour und die anderen Austernzüchter. Aber vor allem brauchte er ein Glas Wein.

***

„Émile, du alte Fischhaut. Was verschlägt dich nach Cancale!“

Der Wirt ließ sein Geschirrtuch fallen und lief mit ausgebreiteten Armen auf Larigole zu. Der erwiderte die herzliche Umarmung.

„Beruflich, lieber Franc, beruflich. Wie ich sehe, läuft dein Laden immer noch gut?“

Die kleine Brasserie, die sein Jugendfreund Franc in Cancale betrieb, war bis auf den letzten Platz belegt, obwohl es noch nicht einmal Mittag war. Franc hakte sich bei ihm unter und führte ihn zu einer Schwingtür, aus der gerade eine dunkelhaarige Frau trat.

„Chantal, Liebling, schau doch, wer uns besucht.“

Schon wieder wurde der Kommissar umarmt und geherzt, diesmal von der Ehefrau seines Freundes. Dann klopfte ihm Franc auf den Rücken.

„Du hast hoffentlich Zeit, Émile. Chantal, bring uns doch bitte eine Flasche Sancerre und zwei Dutzend huîtres plates auf die Dachterrasse.“

Sie stiegen die steilen Stufen hinauf zu Francs ganzem Stolz, einer weitläufigen Dachterrasse, die einen atemberaubenden Blick über die Bucht von Cancale gewährte. Zwischen Topfpalmen stand ein eleganter Glastisch, um den sich einige Korbstühle reihten. Die beiden ließen sich nieder, da vernahmen sie schon Geklapper auf der Treppe und Chantal erschien mit einem großen Tablett, das sie vor die beiden Männer auf den Tisch stellte.

„Lasst es euch gut gehen!“, wünschte sie ihnen und verschwand wieder. Franc verteilte alles auf dem Tisch, schenkte beiden ein Glas Wein ein und schnappte sich eine Auster. Genussvoll träufelte er eine rötliche Flüssigkeit darauf: Weinessig mit kleingehackten Schalotten. Dann schlürfte er das Schalentier geräuschvoll, ließ es für einen Augenblick in seinem Mund umherwandern und verschluckte es dann. Fasziniert hatte der Kommissar dieses Ritual beobachtet. Er nahm sich ebenfalls eine Auster und tat es seinem Freund gleich.

„Hervorragend. Aber was macht die huîtres plates so besonders? Sie sind schließlich um so vieles teurer als die huîtres creuses?“, fragte er Franc interessiert. Der hatte gerade seine zweite Auster im Mund, verdrehte dabei leidenschaftlich die Augen, schluckte und begann dann zu erklären.

„Diese hier haben einfach einen feineren Geschmack als die creuses. Inzwischen zahlt man bis zu dreimal so viel dafür.

Der Kommissar musste gestehen, dass er keinen großen Unterschied schmeckte. Er mochte beide Arten, die bauchigen creuses, und die runden, flachen plates. Feinschmecker hin oder her. Schweigend aßen die beiden Freunde weiter, bis keine einzige Auster mehr übrig war. Zufrieden wischte sich Franc mit einer Serviette den Mund ab, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas und lehnte sich im Stuhl zurück.

„Nun, mein lieber Émile, was führt dich denn zu mir?“

Larigole nickte verlegen. Es war lange her, dass er einfach so vorbeigeschaut hatte. Er nahm sich vor, dass nun öfters zu tun.

„Du hast sicher mitbekommen, dass heute Morgen draußen im Austernpark von Moulin eine Leiche gefunden wurde. Es handelt sich dabei um Moulins Tochter Jeanne.“

Franc bejahte. In einem so kleinen Ort wie Cancale funktionierten die Buschtrommeln einwandfrei.

„Was kannst du mir über die Familie erzählen?“

Franc zog ein silbernes Etui aus der Hosentasche und bot seinem Freund ein Zigarillo an. Als beide vor sich hin pafften, antwortete er.

„Die Moulins sind einfache Leute. Denis Frau starb vor einigen Jahren an Krebs. Seitdem ist Jeanne sein ein und alles. Es war ein riesiger Schock für ihn, als sie nach Paris zum Studieren ging. Aber sie kam jeden Monat nach Hause und kümmerte sich um ihren alten Herrn und die Austernzucht.“

„Wie ist dieser Denis?“

Franc zog kräftig an seinem Zigarillo.

„Ein netter Kerl. Ehrlich. Er hat mir manchmal ausgeholfen, wenn mein eigentlicher Lieferant, Marcus Defour, ausfiel!“

Der Kommissar horchte auf. Den Namen hatte er heute schon einmal gehört. Er blätterte in seinem Notizbuch und fand ihn bald.

„Defour soll Moulins größter Konkurrent und Feind sein. Weißt du etwas über diese Fehde?“

Franc lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Keiner der beiden, weder Moulin, noch Defour, sind besonders groß im Geschäft. Sie besitzen verhältnismäßig kleine Austernfarmen und können vom Gewinn gerade so leben. Es wäre daher lächerlich von Konkurrenz zu sprechen. Allerdings gärt ein alter Streit zwischen den beiden. Defour wird nachgesagt, ein Verhältnis mit Moulins Frau gehabt zu haben. Ein Jahr nachdem die Gerüchte aufkamen, wurde Jeanne geboren. Du verstehst also, warum Moulin nicht gut auf ihn zu sprechen ist.“

Larigole nickte nachdenklich. Handelte es sich hier um ein Familiendrama? War Denis Moulin vielleicht gar nicht Jeannes leiblicher Vater?

„Lass uns davon ausgehen, dass Defour der leibliche Vater der Toten war und Denis wusste das. Hat er das jemals Jeanne spüren lassen?“

Entschieden schüttelte Franc den Kopf.

„Er hat sie geliebt, egal von wem sie war. Aber wie gesagt, Émile, es waren Gerüchte damals. Keiner hatte Beweise.“

„Hast du Jeanne in den letzten Tagen gesehen?“

Franc nickte.

„Sie hatte Semesterferien und kam vorbei, um zu fragen, ob sie bei uns etwas kellnern dürfte. Aber Chantal hat ihr gesagt, dass wir momentan voll besetzt sind. Früher hat sie manchmal ausgeholfen, ein fleißiges Mädchen.“

„Wirkte sie irgendwie verändert auf dich? Vielleicht ängstlich? Verstört?“

„Nein. Sie war wie immer. Sie hatte vor, den Sommer über zu bleiben, hat sie meiner Frau erzählt. Ich habe sie danach einmal auf der Straße beim Einkaufen gesehen. Mehr kann ich dir leider nicht dazu sagen.“

Sie vernahmen wieder Schritte auf der Treppe, und Chantal trat erneut zu ihnen heran. In der Hand hielt sie eine überdimensional große Platte.

„Unser Koch hat es sich nicht nehmen lassen, euch ein plateau de fruits de mer zu machen.“

Sie zwinkerte Franc verschwörerisch zu. Hingebungsvoll ließ Larigole seinen Blick über die Platte wandern. Er entdecke Kammmuscheln, einen halbierten Hummer, Langusten und gratinierte Austern. Etwas verborgen lugten Venusmuscheln, Garnelen und Meeresschnecken hervor. Umrandet wurde die Platte von zwölf Seeigeln, deren fruchtiges orangenes Fleisch ihn anlächelte. Chantal strich ihrem Mann liebevoll übers Haar und verschwand.

„Ihr seid immer noch so verliebt wie am ersten Tag, oder?“

Franc nickte lächelnd.

„Sie ist wie ein guter Bordeaux. Je älter sie wird, desto besser wird sie.“

Die beiden Männer lachten und machten sich über das Essen her. Larigole griff zunächst zu einem Seeigel und löffelte sein weiches Inneres. Dann schnappte er sich eine Meeresschnecke und kämpfte ihr Fleisch mit einem Spieß heraus. Franc bestrich währenddessen etwas Graubrot mit gesalzener Butter und reichte ihm eine Scheibe. Das Klingeln seines Handys riss den Kommissar aus seiner genießerischen Trance. Er meldete sich und lauschte der aufgeregten Stimme seines Assistenten. Als er das Telefonat beendet hatte, hob er bedauernd die Schultern.

„Es tut mir so leid, mein lieber Franc, aber die Pflicht ruft. Ich muss sofort in die Gerichtsmedizin. Aber ich kann dir sagen: Ich habe unser Austerngemetzel hier oben sehr genossen.“

Mit diesen Worten schnappte er sich eine mit Knoblauch und Öl gratinierte Auster und spießte sie auf eine Gabel. Dann erhob er sich und streckte Franc seine Hand hin.

„Hab Dank für dieses tolle Essen. Richte Chantal meine Grüße aus, ich werde mich bald melden und dann kommt ihr mich in Saint Maló besuchen. Ich kann zwar nicht so gut kochen, aber wir haben einen tollen Marokkaner. Dort bekommt man das beste Couscous der ganzen Bretagne.“

Mit diesen Worten verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg zum Auto. Die Gerichtmedizin und Jeanne Moulins Leiche warteten auf ihn.

***

„Sie war schwanger, Chef!“

Larigole starrte Laurent überrascht an.

„Schwanger? Haben wir irgendeine Ahnung von wem?“

Der Gerichtsmediziner, ein großgewachsener Mann mit einem hervorstehenden Bauch, meldete sich zu Wort.

„Für einen DNA-Test bräuchte ich irgendwas zum Vergleichen!“ Der Kommissar blickte ihn genervt an.

„Was haben Sie noch entdeckt, docteur?“

„Nun ja …“, der Arzt umrundete den Seziertisch, blieb am Kopfende stehen und faltete die Hände, so als ob er vor einer Horde Studenten im Hörsaal stünde.

„Sie war ungefähr in der achten Woche.“

„Und woran ist sie gestorben?“, fragte Larigole ungeduldig.

„Sie wurde erwürgt. An ihrem Hals lassen sich eindeutig Strangulationsmale ausmachen. Den Todeszeitpunkt würde ich ungefähr um Mitternacht ansetzen, vielleicht etwas später.“

„Sonst noch etwas? Abwehrspuren? Blutergüsse?“

Der Gerichtsmediziner schüttelte den Kopf.

„Ihre Fingernägel waren ganz kurz abgebissen. Ich konnte nichts darunter entdecken. Ansonsten war ihr Körper unversehrt, bis auf Schleifspuren, die ich an ihrer Rückseite entdeckt habe.“

Der Kommissar drehte sich zu seinem Assistenten um.

„Das heißt, dass sie vermutlich nicht am Fundort gestorben ist.“

„Und dann“, spann der weiter, „stellt sich die Frage, warum sie genau in der Austernbank ihres Vaters abgelegt wurde.“

Ein Schweigen folgte seinen Worten.

„Besprechung in einer Stunde in meinem Büro mit allen Beteiligten!“, beschloss der Kommissar schließlich und eilte aus dem Sezierraum.

***

Sie hatten sich am großen Konferenztisch versammelt. Neben Larigole und seinem Assistenten Laurent waren noch sieben Streifenpolizisten anwesend, die Befragungen durchgeführt hatten, sowie zwei Männer von der Spurensicherung. Der Kommissar stand vor einer großen Leinwand, mit einem dicken Filzstift bewaffnet, und wartete auf erste Ergebnisse.

„Wer hat die Touristengruppe befragt?“

Ein dicklicher Polizist mit hochrotem Kopf hob die Hand und begann zu berichten.

„Die standen alle total unter Schock. Wirklich Brauchbares konnten die nicht sagen, allerdings haben wir deren Kameras konfisziert und dadurch super Tatortfotos. Der Gruppenleiter, ein gewisser Yanis“, der Polizist blätterte in seinem Notizbuch auf der Suche nach dem Nachnamen, gab dann aber auf und fuhr fort:

„Also dieser Yanis sagte aus, dass er dreimal in der Woche diese Tour mit seinem Traktor fährt. Er scheint ein Freund der Familie Moulin zu sein und ist schwer getroffen.“

Der Kommissar machte sich Notizen, dann sah er auf und fragte:

„Was haben die Freundinnen ausgesagt, mit denen Jeanne in jener Nacht unterwegs war?“

Ein anderer Uniformierter meldete sich zu Wort.

„Jeanne war mit zwei Begleiterinnen in einer Bar in Saint Maló. Eigentlich wollten sie in einen Club weiterziehen, aber Jeanne hat sich, nachdem sie einen Anruf bekommen hatte, schnell verabschiedet und ist gegen elf Uhr gefahren.“

Larigole sprang auf.

„Überprüfen Sie sofort die Anruflisten. Wir müssen herausbekommen, wer der letzte Anrufer war. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er auch ihr Mörder!“

„Schon geschehen, Chef!“, versetzte ihm Laurent einen Dämpfer.

„Der Anruf kam von einem nicht registrierten Prepaid-Handy. Der Besitzer kann nicht ermittelt werden.“

Merde!“

Larigole ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

„Was wissen wir also: Jeanne Moulin war schwanger. Haben ihre Freundinnen von einem Mann in ihrem Leben erzählt?“

Kopfschütteln.

„Gut. Sie hatte also anscheinend keinen festen Partner. Fragen Sie in den Dorfkneipen rum, ob jemand sie mit einem Mann gesehen hat. Und du“, er zeigte auf seinen Assistenten, „versuchst Kommilitonen in Paris ausfindig zu machen. Vielleicht hat sie sich dort jemandem anvertraut. Ich nehme mir jetzt diesen Defour vor.“

***

Marcus Defour lebte in einem kleinen Häuschen etwas außerhalb von Cancale. Als Larigole aus seinem Auto ausstieg, bellte ein Hund. Nur Sekunden später kam dieser mit einer raketenähnlichen Geschwindigkeit aus einem Schuppen geschossen, so dass der Kommissar panisch wieder in seinem Auto Schutz suchte. Es war ein Kampfhund, doch er konnte ihn keiner eindeutigen Rasse zuordnen. Sein sehniger, muskulöser Körper zeichnete sich deutlich unter dem dünnen, weißen Fell ab. Dann ertönte ein lauter Pfiff und das Monster zog sich in den Schuppen zurück. Larigole sah, dass die Haustür auf stand und ein Mann herausgetreten war. Er mochte um die sechzig sein, trug dunkle Jeans und ein langes Leinenhemd, das vorne offenstand. In seinem Mundwinkel hing eine halbgerauchte Zigarette. Der Kommissar stieg zum zweiten Mal aus dem Auto und näherte sich ihm.

„Monsieur Defour? Ich bin Commissaire Larigole und bin hier, um mit Ihnen über Jeanne Moulin zu sprechen.“

Der Alte brummte etwas und verschwand im Haus. Larigole folgte ihm. Drinnen war es düster und kühl. Defour war in die Küche geschlürft, wo er sich an einem Tisch mit Wachstuchdecke niedergelassen hatte. Vor ihm stand eine große Flasche mit billigem Calvados.

„Ich weiß, dass es eine jahrzehntelange Fehde zwischen Ihnen und der Familie Moulin gibt. Warum?“

Der Alte schwieg und starrte auf die Tischdecke. Ab und an glomm seine Zigarette auf, und kurz darauf stießen Rauchwolken aus den Nasenlöchern.

„Monsieur Defour, wussten Sie, dass Jeanne wieder in der Stadt war?“

Er nickte unmerklich und griff nach der Flasche. Irgendwo im Raum tickte eine Uhr, der Kühlschrank summte, und es roch nach verdorbenem Fisch. Larigole merkte, wie ihm übel wurde.

„Monsieur Moulin ist der Meinung, dass Sie ein Motiv hatten, seine Tochter zu töten. Hass. Hat er Recht?“

Defour schwieg.

„Monsieur Defour, wo waren Sie gestern Nacht gegen Mitternacht?“

Schweigen.

Seufzend erhob sich Larigole. Er wusste, es würde nicht reichen, um ihn festzunehmen. Noch nicht. Er wandte sich zur Tür und war fast schon aus dem Zimmer, als er Defours knorrige Stimme vernahm:

„Ich gönne es dem alten Moulin. Jetzt ist er auch allein. Endlich!“

Angeekelt von so viel Hass eilte der Kommissar aus dem Haus.

***

Es war bereits Abend, als Larigole in sein Büro zurückkam. Laurent saß am Schreibtisch und arbeitete an einem Protokoll.

„Haben wir schon etwas bei den Kommilitonen aus Paris erreicht?“, fragte er, als er eintrat.

Kopfschütteln.

Mit müden Augen blickte ihn sein Assistent an und nahm einen Schluck Kaffee.

„Ich habe mit Dutzenden gesprochen. Niemand wusste etwas. Jeanne muss wohl sehr verschlossen gewesen sein. Jetzt habe ich noch einen Namen auf der Liste, eine gewisse Justine Cavalle. Aber ich habe bisher nur ihren Anrufbeantworter erreicht. Ich habe sie gebeten zurück zu rufen, ich sitze sicher noch bis Mitternacht an diesem Protokoll.“

Larigole bewunderte zwar den Enthusiasmus seines Mitarbeiters, verspürte selber aber eine bleierne Müdigkeit, so dass ihn nichts im Büro hielt.

„Ich fahre kurz heim und haue mich aufs  Ohr. Sollte es Neuigkeiten geben, bin ich immer am Handy erreichbar. Ansonsten treffen wir uns morgen hier um 7:30 Uhr. Au revoir et bonne nuit!

***

Im Traum sah er tausende Austern, die auf ihn zu krochen. Schmatzend öffneten und schlossen sich ihre Schalen. Es fehlten nur noch wenige Meter und sie würden bei ihm sein. Er hatte Angst. Sein nackter Körper lag ausgestreckt auf einer Austernbank, die keinen Anfang und kein Ende hatte. Er sah nur den Horizont, ein Flimmern, sonst nichts. Die Austern waren inzwischen näher gekommen, die erste berührte sein Gesicht, die Schalen klappten wie eine Zange zu und verschluckten ein Stück seines Ohres.

Mit einem lauten Schrei fuhr Larigole hoch. Es war stockdunkel, aber er registrierte erleichtert, dass er nicht auf einer Austernbank, sondern in seinem eigenen Bett lag. Durch das offene Fenster wehte eine leichte Brise herein, und der Mond stand rund und gelb am Himmel. Entfernt hörte er das Meer rauschen. Er schlüpfte aus dem Bett, ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Seit seine Frau letztes Jahr ausgezogen war, gab es nichts Essbares mehr in seinem Kühlschrank, dafür umso mehr Alkohol. Er wusste, dass sich etwas in seinem Leben ändern musste.

„Aber nicht heute Nacht!“, hörte er sich sagen. In diesem Moment klingelte sein Telefon.

Salut Chef, ich weiß, es ist spät, aber Sie haben gesagt, ich kann immer anrufen.“

Larigole blickte auf die Uhr. Es war kurz nach zwei.

„Justine Cavalle hat sich gerade gemeldet. Sie war richtig schockiert, als sie von Jeannes Tod hörte. Die beiden teilten sich nicht nur ein Zimmer im Studentenwohnheim, sondern waren wohl richtig gute Freunde.“

Eine kurze Pause trat ein.

„Und?“, bohrte der Kommissar weiter.

„Auf jeden Fall wusste Justine von der Schwangerschaft. Sie hat mir erzählt, der Vater sei ein Mann aus Jeannes Heimatort Cancale. Allerdings hätte Jeanne immer ein ziemliches Geheimnis um ihn gemacht und nie seinen Namen verraten.“

„Seltsam“, warf Larigole ein. „Seiner besten Freundin erzählt man in diesem Alter doch alles!“

„Sollte man meinen“, bestätigte sein Assistent.

„Aber irgendetwas scheint mit ihrem Freund nicht gestimmt zu haben. Sie durfte ihn wohl nie zu Hause anrufen, und die beiden haben meist nur mitten in der Nacht telefoniert. Auf jeden Fall hat Jeanne ihrer Freundin einmal ein Foto von ihm gezeigt. Zwar meinte Justine, man hätte darauf kaum etwas erkannt, weil es eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus irgendeiner Zeitung war, die bei einem Straßenfest gemacht wurde, aber sie hat den Artikel in Jeannes Sachen gefunden und eingescannt. Ich habe ihr Ihre Emailadresse gegeben. Das Foto ist sicher schon angekommen.“

Ohne ein Wort des Dankes legte Larigole auf und eilte in sein Arbeitszimmer. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, die der Computer benötigte, um hochzufahren. Als er endlich soweit war, rief er ohne Umschweife seine Emails auf und tatsächlich: Als erstes las er den Namen ‚Justine Cavalle‘. Unruhe kroch in ihm hoch. Der Mann auf dem Bild musste nicht zwangsweise der Mörder sein, aber unter normalen Umständen hätte er sich bei der Polizei melden müssen. Larigole klickte auf den Anhang und wartete, während das Bild sich hoch lud. Es war tatsächlich eine schlechte, undeutliche Aufnahme, die viele Menschen im Hafen zeigte. Aber einen Kopf hatte Justine eingekreist. Dem Kommissar stockte der Atem.

***

„Du hattest eine Affäre mit ihr, gib es endlich zu!“ Larigole schlug mit der flachen Hand auf den Plastiktisch, der im Vernehmungsraum stand. Er schwitzte. Draußen ging gerade die Sonne auf, aber hier drin war es düster und kühl.

„Und wenn“, entgegnete Franc trotzig.

„Das macht mich noch lange nicht zu ihrem Mörder!“

Der Kommissar ließ sich auf einen Stuhl fallen.

„Gerade durchsuchen meine Leute dein Haus. Bete, dass sie nichts finden, Franc.“

Ein kurzes Schweigen entstand, während dem sich die beiden Freunde wortlos musterten. Draußen lief jemand den Gang entlang. Absätze klackerten über den Linoleumboden. Aber in dem quadratischen Vernehmungsraum herrschte eisiges Schweigen. Larigoles Handy klingelte. Mit angespannter Miene lauschte er seinem Anrufer. Als er auflegte, war er bleich geworden.

„Sie haben das Prepaid-Handy gefunden, mit dem du Jeanne Moulin um elf Uhr in der Mordnacht angerufen hast, Franc. Und Chantal kann dir kein Alibi geben. Sie hat ausgesagt, dass sie in besagter Nacht bei ihrer kranken Schwester in Rennes war. Willst du mir jetzt sagen, was in jener Nacht passiert ist?“

Franc hatte den Kopf gesenkt. Seine Hände lagen ineinander verschlungen vor ihm auf dem Tisch. Als er wieder aufblickte, zitterte seine Unterlippe.

„Wir haben unsere Affäre vor ungefähr sieben Monaten begonnen. Sie war zu Besuch aus Paris und hat bei uns im Restaurant ausgeholfen. Wir waren die beiden letzten im Laden, eins ergab das andere, du weißt schon. Es war nichts Besonderes, aber jedes Mal, wenn sie bei uns arbeitete, blieb ich bis zuletzt und verbrachte dann die Nacht mit ihr. Chantal war damals oft in Rennes, ihrer Schwester ging es gesundheitlich nicht gut. Es war so einfach!“

Er hob die Hände in einer entschuldigenden Geste, aber Larigole winkte ab.

„Erzähl weiter!“

„Als sie wieder nach Paris musste, war ich heilfroh. Versteh mich nicht falsch, sie war eine schöne, intelligente Frau, aber sie entwickelte eine Anhänglichkeit, die mich zunehmend störte. Danach trafen wir uns gelegentlich heimlich, wenn sie bei ihrem Vater war. Als sie vor kurzem für die Semesterferien heim kam, war sie verändert. Ich fragte sie, was geschehen sei, und irgendwann rückte sie mit der Sprache heraus. Sie war schwanger. So dumm. Wir leben im 21. Jahrhundert. Konnte sie nicht aufpassen?“

Larigole verbiss sich seinen boshaften Kommentar. Er erkannte seinen alten Freund nicht wieder.

„Als ich ihr sagte, dass ich keine Kinder wolle, drehte sie völlig durch. Sie drohte mir damit, es Chantal zu sagen. Das konnte ich nicht zulassen, Émile. Chantal und ich lieben uns. Wir sind seit dreißig Jahren verheiratet, kennen uns seit wir Kinder sind. Chantal hätte das nie verkraftet. Und ich wollte und konnte sie nicht verlieren.“

Larigole beugte sich über den Tisch und schaute Franc fest in die Augen.

„Und dann hast du Jeanne einfach erwürgt, um dir dein einfaches und glückliches Leben zu erhalten.“

Franc nickte unmerklich und senkte den Kopf.

„Warum hast du ihre Leiche auf die Austernbank ihres Vaters gelegt?“

„Ich hatte gehofft, dass der Verdacht damit auf Defour fiele. Er war seit jeher Moulins Feind, hatte ihm im Suff schon oft gedroht.“

Larigole drückte auf einen roten Knopf. Die Tür ging auf und zwei Polizisten traten ein.

„Meine Herren, verhaften Sie diesen Mann wegen des Mordes an Jeanne Moulin!“

***

Die Sonne sank und tauchte die Austernbänke von Cancale in ein orangefarbenes Licht. Larigole stand am Hafen und blickte aufs Meer.

„Wussten Sie, dass die Austern mehrmals umgepflanzt werden müssen, bevor man sie ernten kann? Sie dürfen nicht an einem Ort aufwachsen, die armen Kleinen.“

Neben ihm stand der alte Yanis. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel stecken und paffte gemütlich vor sich hin.

„Ich kann mich kaum noch retten vor Touristen. Alle wollen zur Austernbank des Todes. Ich hätte nie gedacht, dass eine Leiche so das Geschäft ankurbelt!“ Er schenkte Larigole ein letztes zahnloses Grinsen, horchte auf und drehte sich lächelnd zu einer Gruppe Japaner um, die gerade den Hafen entlang auf ihn zu spazierten.

„Kundschaft!“, rief er gut gelaunt und warf seine Kippe ins Hafenbecken.

Schreckensinsel

Tatort: Île d‘Ouessant

Rose drehte sich auf den Bauch und winkelte die Beine an. Es war ein atemberaubender Herbsttag. Die Sonne stand am wolkenlosen Himmel, das Meer lag ruhig und friedlich unter ihr, und die Blätter der Bäume im Stadtpark hatten einen goldenen Glanz angenommen. Es schien, als würde die Welt sich ein letztes Mal gegen den drohenden Winter aufbäumen, ihm die Stirn bieten, bevor er mit seinen eiskalten Stürmen über das Land hereinbrechen würde. Rose lächelte. Es blieb ihr noch eine Woche, bevor sie mit ihrem Mann Lenny zurück nach Brighton musste. Noch eine Woche, in der sie ihre Flitterwochen genießen konnten, bei stundenlangen Spaziergängen am Strand, bei Cocktails und Wein in den kleinen bretonischen Bars und, wenn die Nacht schon fortgeschritten war, in ihrem Bett. Nur sie beide. Rose hatte ihren Mann erst im letzten Jahr kennengelernt. Vom ersten Moment an war sie wie verzaubert gewesen. Ein halbes Jahr darauf hatte er ihr einen Antrag gemacht. Nun saßen sie hier in Brest, nachdem sie drei Wochen lang durch die Bretagne getingelt waren. Er hatte sich das Reiseziel ausgewählt. Wegen all der Piraten und Seeräubergeschichten, hatte er ihr lachend erzählt. Es war ihr egal gewesen, wohin die Reise ging. Sie hätte sich mit ihm auch für einen Monat in einem Zelt in Brighton an den Strand gelegt. Hauptsache, sie waren zusammen.

Sie hörte, wie er die Dusche abdrehte. Kurz darauf vernahm sie das Summen des Rasierapparats. Es war Zeit aufzustehen. Heute würden sie ihre Honeymoon-Suite in einem der besten Hotels der Stadt verlassen, um einige Tage auf der Île d’Ouessant zu verbringen, einer kleinen Insel, die zwei Schiffsstunden von Brest entfernt lag. Rose hatte viel über das Eiland gelesen. Es bestand aus Schiefer und Granit und lag in einer stürmischen und gefährlichen Seefahrtzone. Viele Schiffe waren dort bereits gesunken. Die Insel selber war klein und baumlos. Die karge Landschaft wurde vor allem von Schafen bewohnt. Und einigen Einwohnern, die ihr Geld mit Touristen wie Rose und Lenny verdienten.

Das frischgebackene Ehepaar hatte sich ein Zimmer in einem Chambre d‘hôtes gebucht, das, so stand es zumindest auf der Homepage, abseits aller Touristenpfade lag und absolute Ruhe und Abgeschiedenheit versprach. Ihr Schiff sollte in zwei Stunden ablegen. Sie mussten sich beeilen. Die Badezimmertür öffnete sich, und Lenny trat heraus. Um die Hüften hatte er ein weißes Handtuch gebunden, die blonden Haare standen ihm nass vom Kopf ab. Er lächelte sie an und griff in seinen Koffer.

„Was meinst du, Liebling. Brauche ich heute eher Shorts oder lange Hosen und einen Wollpulli?“

Er ließ seinen Blick zum Panoramafenster gleiten und stellte zufrieden fest, dass der Himmel strahlend blau war. Es würde ein fantastischer Tag werden.

***

Das Schiff tutete laut, als es sich dem kleinen Fährhafen im Osten der Île d’Ouessant näherte. Rose kuschelte sich in Lennys Arm und betrachtete das Eiland, das sich langsam auf sie zubewegte. Auf dem Quai stand eine kleine Gruppe Menschen, umgeben von Koffern und Taschen. Rose empfand Mitleid für sie. Sie mussten jetzt abreisen, wieder zurück in die harte Wirklichkeit des Alltags, während vor ihr noch eine wunderbare Woche lag. Sie verließen das Schiff über den Steg. Die meisten Passagiere stürmten auf einen kleinen Bus zu, der sie nach Lampaul, dem Sitz der Verwaltung und der einzigen größeren Ansiedlung auf der Insel, bringen sollte. Fragend blickte Lenny sich um.

„Wollte die Frau vom Hotel uns nicht am Fährsteg abholen?“

Rose nickte.

„Sicherlich hat sie sich nur etwas verspätet“, erwiderte sie und tätschelte ihrem Mann beruhigend den Arm.

„Vielleicht können wir auch einfach den Bus nehmen, Schatz. Ich habe keine Lust hier mit allem Gepäck zu warten, außerdem ist es viel kälter als in Brest.“

Rose schüttelte den Kopf. Auch sie fror seit sie das Schiff verlassen hatten. Über die Insel fegte ein kalter Wind, der das Meer mit sich trug, so dass Rose das Gefühl hatte, tausende kleine Salzkristalle würden auf ihrer Haut kleben. Sie entfaltete eine handliche Landkarte und zeigte sie Lenny.