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© eBook: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2013

© Printausgabe: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2011

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN eBook: 978-3-8042-3012-5

ISBN Printausgabe: 978-3-8042-1329-6

www.buecher-von-boyens.de

I. Detlef Boysen, Ruth Blaue und ich

Kleine Stadt Meldorf an der Nordsee, es ist Sonnabend, der 19. November 1955, wie immer ist die Schule nach der vierten Stunde vorbei; ich, Quartaner, gehe die paar Schritte zum Vater ins Amt; der ist noch beschäftigt, danach wollen wir nach Hause, ich lese solange die „Dithmarscher Landeszeitung“. Ein Prozess, den ich die ganze Woche gespannt verfolgt habe, ist entschieden: Eine Mörderin ist zu lebenslänglich verurteilt worden. Vater muss nun doch noch bleiben, ich mache mich auf den Heimweg. In der Zingelstraße stürzt sich Detlef Boysen auf mich, er stürzt eigentlich immer so herum: hektisch, erregt; wirre, weiße Haare, ungeschnitten unter der Baskenmütze, wilder Blick, Riesenhornbrille, stinkender Zigarrenstummel im Mund oder in der Hand mit dem halb amputierten Finger, von dem ich den Blick nie losreißen kann. Schreit: „Klaus, hast Du’s schon gelesen? Sie haben unsere Ruth verurteilt! Diese Unmenschen, diese Wahnsinnigen, was kann man bloß tun?“ Ich weiß es nicht, noch bin ich nicht Jurist. Und überhaupt: „U n s e r e Ruth“?

Detlef Boysen, Original-Genie, Rangierarbeiter auf der „Hölle“, der großen DEA-Raffinerie im Nachbarort Hemmingstedt, Kunstförderer, Ausstellungsmacher, Berühmtheit und mein Freund (wie Kinder gerne Originale zu Freunden haben), ist außer sich. Er schäumt. Die wenigen Meldorfer, die in dieser Mittagsstunde, da die Geschäfte schon schließen, noch unterwegs sind, drehen sich um: Ach so, Detlef Boysen …

Er ist Ruth Blaue verfallen, seit er sie 1949, nach ihrem Umzug von Elmshorn nach Dithmarschen, das erste Mal erlebt hat. Was für eine Frau, was für ein Geist, welche Bildung!

Als sie dann angeklagt wird, bietet er sich dem Gericht als Zeuge an; zur Tat kann er nichts sagen, nur, dass er ihr den Mord nie und nimmer zutraut. Das Gericht lässt ihn als Leumundszeugen zu, da es jede Gelegenheit nutzen will, sich von Ruth Blaues Persönlichkeit ein Bild zu machen. Er nennt sie eine Frau, „die so tief pflügt, dass sie unvergesslich“ ist. „Was sie sagt, ist unbedingt wahr.“ Ihre Lebensweisheiten seien für ihn richtunggebend geworden, wie er es auch in seinem Erinnerungsbuch „Was bleibt“ beschrieben hat. Sie sei stets äußerst hilfsbereit, „wenn auch besonders geistiger Art“. Im Gerichtssaal schaut er nach beinahe jedem Satz zur Angeklagten: „Ist’s recht so, Ruth?“ wendet er sich an sie, bis der Vorsitzende ihm dieses Verhalten untersagt.

Er gibt das Bild eines alten Narren, eines Abhängigen: Er ist ihr untertan, und er bleibt es. Sie soll später sagen, Detlef Boysen habe sie nicht interessiert:

„Jede Beeinflussung liegt mir fern, noch lege ich es darauf an, Menschen an mich zu fesseln. Herrn Boysen seinerzeit am allerwenigsten. Die Treue und Freundschaft, die er Horst hielt, freute mich. Was er von mir hielt, war mir nicht bekannt, interessierte mich auch nicht. Seine Rückfrage an mich bei seinen Aussagen entspricht seiner Art.

Jetzt vergesse ich es ihm allerdings nie, dass er als Einziger zu meinen Gunsten zu sprechen versuchte und mir die Jahre der Haft hindurch seine Hilfsbereitschaft bewies.“

Durch Detlef Boysen bekommt Ruth Blaue für mich eine persönliche Kontur. Heftig interessiert allerdings habe ich, der frühreife, neugierige Knabe, mich für sie schon, seit ich von ihrer und Horst Buchholz’ Verhaftung im Sommer 1954 gelesen habe. Viele Quellen stehen mir zur Verfügung. Ich nutze sie eifrig. Der Vater hat die „Dithmarscher Landeszeitung“ abonniert, auch das „Hamburger Abendblatt“. Unsere liebe Putzfrau, Auguste Altenburg, liest die „Bild“-Zeitung, klar, und, vor allem, unerschöpflicher Quell, die mir vom puritanischen Vater streng verbotenen Lesemappen bei Friseur Adam und bei Inspektor Wedderkop, einem Mitarbeiter der Kreisverwaltung, mit dessen Sohn Uwe ich befreundet bin, wo ich mich Nachmittage lang begierig auf die Themen stürzte, die mich eigentlich nichts angehen sollten. In jener Zeit sind es insbesondere Ulla Jacobsson in dem Skandalfilm „Sie tanzte nur einen Sommer“ und, ja, eben Ruth Blaue, diese Geschichte von Abhängigkeit und Tod. Die Presse bedient die Öffentlichkeit.

Die regionale und lokale Presse berichtet weitgehend sachlich über den Fall, über die Verhaftung der mutmaßlichen Täter, den Fortgang der Ermittlungen, wie Polizei und Staatsanwaltschaft kontinuierlich auf Pressekonferenzen darüber informieren. Die „Norddeutsche Rundschau“ bietet unter der Überschrift „Die Mörder wohnten unter uns“ ein bisschen Grusel an. Sie besucht die Witwe Schaar, die Mutter meines kurzzeitigen Klassenkameraden Herbert Schaar, die mit ihren Kindern in dem Haus wohnt, das Horst Buchholz 1948 erworben hatte. Sie jagen der einfachen Frau einen furchtbaren Schrecken ein; denn sie wusste nicht, dass die des Mordes Verdächtigten hier eine Zeit lang gewohnt hatten. Ansonsten hält sich die örtliche Presse mit Effekthascherei und Sensationsmache, vor allem auch ganz überwiegend mit Vorverurteilungen, zurück. Es wird ein kleines Stück Nachkriegsgeschichte dargestellt, über das im Grunde genommen die Zeit schon hinweggegangen ist. Aber bis zum Prozess wird das Interesse des Publikums wachgehalten, immer wieder erscheint der eine oder andere Artikel; denn immerhin: ein unaufgeklärter Mord in nächster Nähe, eine geheimnisvolle Frau, ein blutjunger Fliegeroffizier, ein toter Ehemann, ein hartnäckiger Kommissar: das hat schon etwas von einem großen Kriminalstoff.

Für die Vorverurteilung sind andere Blätter zuständig. Dafür sorgen mit starken Worten erst einmal „Bild“ und „Stern“. Auch das „Hamburger Abendblatt“ emotionalisiert stark, dessen Journalistin, Dr. Hildegard Damrow, weiß, wie es gewesen ist: Das anspruchsvolle Hamburger Publikum braucht, bevor sein gelangweiltes Auge überhaupt aufblitzt, eben ganz anderen Tobak als die biederen Landbewohner. Sie widmet dem Fall eine kleine Serie „Das Geheimnis der Blauen Stube“.

Für „Bild“ ist die Sache schon am 27. August 1954 klar: „Mit Blutschuld beladen“: Da sind sie, lächelnd, verliebt und bieder, als ob sie keiner Fliege etwas zuleide tun könnten, die Mörder von Elmshorn …“ Und genauer: „Das Liebespaar schlug dem mit Schlaftabletten betäubten Ehemann den Schädel ein.“

Am Tage zuvor war schon berichtet worden, „Ehefrau und Geliebter erschlugen Heimkehrer“. Opfer war der „aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Ehemann“. Hier wird das Bild suggeriert, John Blaue, der nie in Gefangenschaft war, sei eine dieser hilflosen Elendsgestalten gewesen, die man von den Aufnahmen aus Friedland kennt: fast verhungerte Männer, wie sie aus den sowjetischen Straflagern kommen, knapp dem Tode entronnen. Mord an einem solchen Menschen wirkt noch perfider. Beim Fund der Leiche hatte sich ein kleines Stück der Verpackung gelöst, man sah ein wenig vom Oberschädel: „Es war ein Seesack, aus dem den Kindern der Schädel eines Toten entgegengrinste.“ „Bild“-Leser mögen es voll derb, sonst wirkt es nicht.

Und der „Stern“? Er ist im Ermittlungsverfahren dabei.

„Kriminaloberkommissar Paukstadt rauchte viel in den nächsten Tagen, und manchmal, spät abends, wenn er immer noch nicht fertig war mit Grübeln, Kombinieren und mit Verwerfen von gefundenen scheinbaren Lösungen, die eben noch vielversprechend ausgesehen hatten, gingen ihm die Zigaretten aus, er fand nur noch leere Packungen im Büro, und auch keiner der Kollegen, die nach Hause gegangen waren, hatte eine Schachtel vergessen, die man jetzt plündern könnte.“

Bei der Festnahme:

„Ich komme wegen ihres Mannes“, sagte Paukstadt ruhig, „ich bin Kriminalbeamter aus Itzehoe.“ Ein Schatten huschte über Ruth Blaues Gesicht, dann war ein Lächeln da mit einem Ausdruck von Hoffnung dabei: „So?“ sagte sie. „Haben sie Nachricht von ihm?“

Paukstadt sah Buchholz an. Er sah in ein Gesicht, das blass geworden war. (Auch das „Hamburger Abendblatt“ wusste Bescheid: „Tiefer Ernst liegt in diesen wenigen Worten des Kommissars. Aber auch eine gewisse Güte, geboren aus dem Mitempfinden für das, was jetzt kommt.“)

„Ich glaube, Herr Buchholz weiß, wie ich zu verstehen bin“, sagte er. „Ich muss sie beide bitten, mit mir zu kommen.“ „Gleich?“, fragte Ruth Blaue. Um ihren Mund war immer noch ein Lächeln, jetzt aber mit befremdetem Erstaunen, aber ihre Stimme war schrill.

„Ja, gleich“, nickte Paukstadt, „bitte kommen Sie, der Wagen wartet unten.“ Buchholz stand als Erster auf. Er sagte kein Wort. Er nahm seine Jacke, die auf der Couch lag.

„Ich verstehe das alles nicht“, sagte Ruth Blaue.

„Natürlich nicht“, antwortete Paukstadt gleichmütig.

Nach der Tat:

„Jetzt ins Schlafzimmer“, sagte Horst Buchholz. Folgsam verließ Ruth Blaue die Bodenkammer. …

„Ist dir kalt?“, fragte Buchholz. Sie antwortete nicht. …

„Wir dürfen nie mehr daran denken“, sagte sie nach einer Weile. …

„Ja.“

„Ob Weinhold was gehört hat“, fragte er nach langer Pause. Ein kurzes Zucken war um ihre Lippen. Sie schüttelte den Kopf.

„Er hat so viele Brote mit Fischpaste gegessen“, sagte sie, und es klang fast, als freute sie sich diebisch über einen gelungenen Streich.

„Und?“

„Ich habe Schlaftabletten zerrieben und sie unter die Paste gemischt.“ …

„Er hat auch davon gegessen.“ Sie sprach den Namen des Getöteten nicht aus.

„Deshalb sind wir ja auch nicht lange beim Tanzen geblieben, er wurde müde.“

Der „Stern“ hat einen Informanten. Die Version der Geständnisse, die die Verabreichung von Schlaftabletten zum Abendbrot beinhaltet, ist nur der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft, dem Ermittlungsrichter und den Verteidigern bekannt. Auch damals schon kämpfen die an mehreren Fronten für ihre Mandanten. Die Justiz bittet „collegialiter“ um künftige Beachtung ihrer Verschwiegenheitspflichten. Andere Zeiten! Alle Hamburger Blätter laben sich ganz besonders daran, dass der blutbefleckte „Herrgottschnitzer vom Schwarzwald“ sich hauptsächlich mit dem Herstellen von Marterln mit dem gekreuzigten Christus und Madonnenfiguren, die das Gesicht Ruth Blaues tragen, beschäftigt. Aber er kann auch anders:

„Seligkeit und Sünde wurden eins für ihn. Er modellierte betörende Akte, formte neben der himmlisch betenden Frau die irdische, liebende, die weit entfernt war von stiller Entsagung.“

Gespielte Abscheu und tiefes Entsetzen, aber auch die notwendige Prise deftigen Voyeurismus bestimmen den Ton, der dem Publikum vorgegeben wird: So soll es das wohl sehen!

Ich bin damals als Schüler also bestens informiert und – fasziniert. Ich warte auf den Prozess.

Der kommt, es ist November 1955. Jetzt ist das Interesse der Herren der veröffentlichten Meinung riesengroß, besonders auch, nachdem es den zweiten Toten gibt: Ruth Blaues Mitangeklagter Horst Buchholz, der sich wenige Tage vor Verhandlungsbeginn das Leben genommen hat. Aus dem ganzen Bundesgebiet reisen die Berichterstatter an, natürlich überwiegen die Lokal- und Regionalzeitungen. In e i n e r journalistischen Bewertung sind sich alle einig: Es handelt sich um einen der „aufsehenerregendsten Mordfälle der Gegenwart“. Hier wird dann der Publikumsgeschmack bedient. Mag der Fall lange zurückliegen, der Prozess aber ist dramatische Gegenwart. Und so ist es konsequent, dass der Gerichtssaal regelmäßig überfüllt ist mit den üblichen sensationsgierigen, empörungsbereiten Rentnern, Arbeitslosen und Hausfrauen, die die Angeklagte anstarren mit der bekannten Mischung aus Lüsternheit und wohligem Abgestoßensein.

Ein Blitzlichtgewitter geht über Ruth Blaue nieder, als sie den Saal betritt. Das wiederholt sich zur Urteilsverkündung. Alles wird registriert: dass sie blass und nicht geschminkt ist am ersten Tag, einen schokoladenfarbenen Mantel trägt, ein hochgeschlossenes schwarzes Wollkleid, schwarze Wildlederpumps, am linken Ringfinger ein schmaler Goldreif mit blauem Stein auffällt. An den anderen Verhandlungstagen trägt sie dann ein schlichtes graues Kostüm. Hin und wieder ordnet sie mit leichter Hand den Haarknoten in ihrem Nacken. Sie muss nicht auf der Anklagebank Platz nehmen, ein bequemer Polstersessel steht ihr bereit, zielsicher geht sie dorthin. Knisternde Spannung breitet sich im Saal aus, als die kreidebleiche, verhärmte, übernächtigt wirkende Angeklagte dann vom Publikum zu betrachten ist. Auf manchen Journalisten wirkt sie einsam und innerlich zerrissen, hilflos wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Die ersten zaghaften Wort bringt sie leise mit leicht lispelnder Stimme hervor.

Dann ändert sich das Bild: Angespannt und hochkonzentriert ist sie, mit fester Stimme schildert sie ihr Leben und ihre Sicht der Tat, beschuldigt als erstes ihren toten Geliebten der Alleintäterschaft. Man findet, ihre Darstellung hätte einem Psychologen Ehre gemacht.

Immer wieder schwelgt die Presse in Bildern ihrer äußeren Erscheinung. Sie kann den Blick nicht von ihr wenden. Mal „ist sie von jener sanften Schönheit, der ein Hauch von Mütterlichkeit anhaftet“, dann wieder ist das Gesicht „eine starre Maske, die fahlgelb über den gefalteten Händen schwebt“. Was fasziniert und abstößt ist, dass sie nie, auch nicht in den kritischsten Augenblicken, die Fassung verliert. Es berührt offenbar ungeheuer, das mitzuerleben. Solche Kraft kann nur aus völliger Unschuld erwachsen, oder sie ist nur noch geschliffener Verstand, der wie ein Automat arbeitet.

Ruth Blaue ist den Prozessbeobachtern unheimlich, besonders auch, dass sie während der Urteilsbegründung „überlegen“ lächelt und dieses Lächeln beibehält, als sie danach „sehr aufgeräumt“ mit ihrem Verteidiger die Formalitäten der Revisionseinlegung bespricht. Über die Frage, ob Ruth Blaue eine „abgefeimte Intrigantin und Mordanstifterin“, eine Mörderin oder eine große Unschuldige ist, kommt die Presse nicht hinweg. Allen Journalisten gemeinsam ist, dass sie aus der Angeklagten letzten Endes nicht „schlau“ werden, ein Gefühl, das sie mit Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht und Gerichtsmedizinern verbindet.

Einen Leckerbissen bietet mir, dem Meldorfer Gelehrtenschüler, die „Dithmarscher Landeszeitung“ am 12. November 1955:

„… – es erinnert an die griechische Tragödie von der Heimkehr des Agamemnon … Buchholz hatte in dieser Tragödie die Rolle des Aegist gespielt, er hatte die tödlichen Axthiebe gegen den Heimkehrer geführt.“

Nach dem Urteil gerät Ruth Blaue bei mir für lange Zeit in Vergessenheit.

1963 dreht Jürgen Roland „Das Haus an der Stör“, den Fernsehkrimi in der Reihe „Stahlnetz“, der mich interessiert und den ich gut gemacht finde: Rudolf Platte als Kommissar hinreißend, Mady Rahl als die Ruth, alle mit veränderten Namen. Der Film spielt zu Teilen in Meldorf. Er wird ein Klassiker des Genres, immer wieder einmal gezeigt.

Als Ruth Blaues Tod der Presse Anfang 1973 noch eine kurze Meldung wert ist, da kommt auch bei mir die Erinnerung an diese eigenartige Frau wieder hoch – zum letzten Mal? Nein. Viel später folgt dann der „Fall Ruth Blaue“ in der Dokumentation „Wenn Frauen morden“ auf „arte“ und „Phoenix“. Hatte sie denn gemordet? Alle Beiträge, auch Rolands Film, bleiben merkwürdig unbestimmt, ringen sich nicht zu einer eindeutigen Stellungnahme durch. Nachdem ich diese Sendungen gesehen habe, erwacht mein Interesse an Ruth Blaue erneut und endgültig. Die Justiz macht mir die Akten zugänglich, der Plan zum Buch entsteht. Weshalb?

Es geht um die mich immer interessierenden zeitlosen Fragen von Verstrickung und Schuld, von Ausweglosigkeit und von menschlicher Tragödie. Und es geht ganz stark um die Frage des Zweifels: Ist Ruth Blaue das Opfer eines Fehlurteils? Dieser Zweifel bleibt beim Menschen und Juristen Klaus Alberts und verstummt nicht mehr. Diese Frage will ich jetzt klären. Dieses Buch verdankt seine Existenz diesem Zweifel.

November 2010: Das Manuskript wird langsam fertig. Den Personen des Dramas bin ich nahegekommen. John Blaue und Horst Buchholz habe ich verstanden. Männer, die aus dem Kriege heimkehren, sich eine Existenz schaffen wollen. Einer ist verheiratet, wie so viele Ehen ist auch seine nicht mehr so, wie sie vorher war. Vielleicht hat die Frau sich entwickelt, vielleicht werden aber auch erst jetzt die Unterschiede so recht deutlich, die immer schon da waren, die der Krieg, die vielen Trennungen übertüncht haben; der Mann kann es nicht sehen, ist fast hilflos, hängt an seiner Frau, nimmt um dieser Verbundenheit willen, dieser Liebe vielleicht, es sogar hin, dass sie sich einem anderen zuwendet. Er bleibt, so schon sein Naturell, optimistisch, wird sich eine Existenz schaffen, dann die Verhältnisse regeln, ein zivilisierter Mensch, der vielleicht die Verachtung, die sie ihm entgegenbringt, nicht einmal bemerkt, er hält die Spannungen aus und hofft. Er ist ein Phantast. Alle mögen ihn, auch Horst Buchholz.

Horst Buchholz, ein verstörter, heimatloser Mensch von 21 Jahren, stößt auf eine ältere Frau, die sich um ihn kümmert, ihm ein Zuhause gibt und, in dem ihr möglichen Maß, vor allem Wärme. Auch wenn er ein eigenständiger Mensch bleibt, sie schafft den Rahmen – nicht wenig in dieser Zeit. Und sie erlaubt ihm eine sexuelle Beziehung, das ist damals viel für einen jungen Mann: von einer reifen, erfahrenen Frau gewählt zu werden. Horst Buchholz könnte zufrieden sein und der Zukunft unbelastet entgegensehen, wäre da nicht d i e S i t u a t i o n. Er kann nicht darüber hinwegsehen, dass es John Blaue gibt, der ihm liegt. Er muss leiden, weil er bestimmte Regeln des Anstands gelernt hat und für sich bejaht. Aber er ist auch an Ruth Blaue gebunden, längst, und das ist stärker als die Regeln des Anstands.

Ruth Blaue fürchtet, ihn zu verlieren. Sie schafft eine Kulisse, in der John Blaue als Bedrohung fungiert, sie als Opfer. Horst Buchholz reagiert wunschgemäß: Zaghafte Versuche der Lösung sind ihm so nicht möglich, er ist doch auch Beschützer der schwachen, gequälten Geliebten.

Aber Ruth Blaue übertreibt. Sie steigert das Maß ihrer Leiden ins Unerträgliche, damit aber auch ins Unerträgliche für Horst Buchholz. Sein Überlebensinstinkt setzt ein, er spürt, dass die Situation ihn zerstört. Er schließt dieses Kapitel für sich ab, die Lösung von Ruth Blaue und den bedrückenden Verhältnissen ist da, er will gehen. Jetzt ist er 22 Jahre alt.

Wie gehe ich mit Ruth Blaue um? Viele haben vor ihr kapituliert, es irgendwann aufgegeben, sie ergründen zu wollen. Ich auch? Was sie so befremdlich, aber auch in gewisser Weise interessant macht: Sie lügt ständig, aber immer anders, völlig unberechenbar, scheinbar ohne System. Was bringt sie dazu, auch dann bei Darstellungen zu bleiben, wenn sie längst widerlegt sind, die unmöglich sind, die niemand bestätigt?

Sie verfolgt sicherlich ein Ziel: Erhaltung und Bekräftigung ihres Selbstbildes. Es gibt aber auch etwas, das sie uninteressant oder sogar abstoßend macht. Ich glaube, für mich sind es die Arroganz und, damit einhergehend, eine ganz bestimmte Art von Resistenz und völlige Uneinsichtigkeit. Sie unterschätzt uns andere, das verärgert und führt eigentlich zur Abwendung. Dann bleibt aber die Frage: Weshalb ist sie so, weshalb ist sie so geworden?

Uneinsichtigkeit und Selbstbehauptungswillen, Durchsetzung des Selbstbildes sind eine Kombination, die nicht selten ist. Wir alle begegnen ihr immer wieder. Hat die Kindheit sie geformt, die Prinzessin, nach deren Pfeife alle tanzen, die die schönsten Kleider trägt, die so süß ist, nach der sich alle Leute auf der Straße umdrehen? Die so besonders ist, an die niemand heranreicht, ein verwöhntes Wunderkind eben? Verhindert das ihr Leben lang jede Distanz zu sich und ihrem Tun? Vieles spricht dafür, dass hier ein Schlüssel zu ihrer Persönlichkeit verborgen ist.

Das würde vieles erklären, fast alles: Wenn Ruth Blaue gemordet hat, haben sich in einem Moment ihres Lebens Herrschsucht und Gewaltbereitschaft in ihr konzentriert und sind explodiert.

Wenn es so war, dann will ich es wissen. Schließlich bin ich Detlef Boysen noch eine Antwort schuldig geblieben – dieser Kauz und Freund hat sie mir hinterlassen, als er sich 1974 das Leben nahm, nur ein Jahr nach dem Tod von Ruth Blaue.

II. Die Prinzessin von Halberstadt

Ruth Blaue hat – wie wir alle – ein reales, durch Fakten belegtes Leben; daneben aber gibt es die Inszenierung und Illuminierung von Leben – die ihres eigenen und die des Lebens derjenigen, die ihr begegnen. Auch die Theateraufführung schafft Realität.

Sie heischt Bewunderung und will Erstaunen erregen. Danach bestimmt sie Akteure und Publikum; gezielt umgibt sie sich dabei mit Menschen, denen sie sich überlegen sieht; Menschen, die sie bewundern, bannt sie an sich. Sie schafft sich ein Milieu, in dem sie Prinzessin, Königin, Herrscherin ist. Sie hat ein festes Ziel für ihr Leben vor Augen.

Am 2. April 1914 kommt Ruth Blaue in Breslau als Tochter des Ehepaares Heine zur Welt; sie ist das älteste von drei Kindern, nach ihr werden noch die Schwester Gerda und der Bruder Wolfgang geboren. Gerda wird sie überleben, Wolfgang stirbt 1944 im Lazarett an seinen in Russland erlittenen Verwundungen.

Der Vater, Karl Heine, ist schon vor dem Ersten Weltkrieg als selbständiger Vertreter für Fleisch- und Wurstwaren tätig. Diesen Beruf übt er bis zu seiner Zurruhesetzung aus, er gehört zum weiteren Kreise der in Halberstadt ansässigen Fabrikantenfamilie Heine, die ein renommiertes Unternehmen in dieser Branche führt. Materiellen Erfolg soll er nicht haben, immer wieder lebt er mit seiner Frau und den Kindern in bedrängten Verhältnissen.

Wegen der Kriegsereignisse zieht die junge Familie im Sommer 1914 zu den Verwandten nach Halberstadt. 1916 wird der Vater eingezogen, er bleibt bis Kriegsende Soldat.

Ruth besucht in Halberstadt die Volksschule, hat gerade mit dem Lyzeum begonnen, als der Vater aus wirtschaftlichen Gründen 1925 nach Hamburg geht, die Familie siedelt sich in Lokstedt an. Dort besucht sie die Mittelschule, macht 1929 die Mittlere Reife; es schließt sich der Besuch einer Hauswirtschaftsschule an, wo sie Schneidern und Weißnähen lernt, von April bis September 1930 besucht sie eine Handelsschule.

Ende des Jahres findet sie eine Anstellung in der Klinik Friedrichsberg, erledigt dort Schreibarbeiten, übt einfachere Labortätigkeiten aus. Danach wechselt sie ins Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und beginnt eine Lehre als Laborantin; nebenher erledigt sie Sekretariatsarbeiten für einen leitenden Institutsmitarbeiter. Mitte 1933 wird sie fristlos entlassen, weil entdeckt worden ist, dass sie zahlreiche Briefe ihres Chefs unterschlagen hat. Ein Strafverfahren wird nicht eingeleitet, sie erfährt eine psychotherapeutische Betreuung.

Während ihrer Tätigkeit in Eppendorf lernt sie den zehn Jahre älteren Assistenzarzt Dr. Wolfgang Trautmann kennen, den sie am 23. August 1933 heiratet. Trautmann beendet am 28. August die eheliche Lebensgemeinschaft, weil er erfährt, dass seine Ehefrau im Zustand der Unzurechnungsunfähigkeit, sie leidet laut psychiatrischem Gutachten an einer periodisch auftretenden Gemütskrankheit, eine Urkundenfälschung begangen hat. Auf seinen Antrag hin erklärt das Landgericht Hamburg am 29. November 1933 die Ehe für nichtig; die Beklagte Ruth Trautmann erhebt keine Einwendungen.

Die Verbindung reißt nach der Nichtigkeitserklärung nicht ab, sondern bleibt intensiv aufrechterhalten, auch in sexueller Hinsicht, während dieser Zeit, im Dezember 1933, erleidet sie eine Fehlgeburt. Sie trägt wesentlich zum Lebensunterhalt Trautmanns bei, die Mittel dazu gewinnt sie aus der Begehung von Straftaten, sie unterschlägt, fälscht Urkunden, betrügt. Von Juni bis August entleiht sie aus einer Bücherei fünfzig bis einhundert Bände, die sie verkauft. Im März 1935 nimmt sie eine Stelle als Kontoristin bei einer Agentur für elektrische Apparate an. Von April bis Juli reicht sie 78 fingierte Aufträge ein und erhält einen Provisionszuschuss in Höhe von 1.078,00 RM. Sie verkauft zwei Staubsauger, die sie an Kunden ausliefern soll.

Im Oktober 1935 wird sie vom Schöffengericht Hamburg zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, ein psychiatrisches Gutachten attestiert ihr verminderte Zurechnungsfähigkeit. Die Verurteilung erfolgt wegen fortgesetzten Betruges in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit fortgesetzter schwerer Urkundenfälschung und fortgesetzter Unterschlagung. Sie verbüßt einen Teil der Gefängnisstrafe, der geringere Teil wird zur Bewährung ausgesetzt. Der Grund für ihre Straftaten wird in der Beziehung zu Dr. Trautmann gesehen, für den sie Geld herbeischaffte.

Als sie das Gefängnis verlässt, ist sie 22 Jahre alt. Ihre Eltern fangen sie auf, besorgen ihr eine kleine Wohnung, im Frühjahr 1936 findet sie eine Anstellung als Stenotypistin und Kontoristin bei einem Makler. Dr. Trautmann sieht sie nicht mehr.

In diesem Jahr lernt sie den Seemann John Blaue kennen, der auf dem Wege zum Offizier in der Handelsschifffahrt ist. Aus dem freundschaftlichen Verhältnis wird eine intime Beziehung, John Blaue gibt die Seefahrt auf und gründet in Hamburg das kleine Fuhrunternehmen „Blaue-Blitz“. Zwei Lastwagen werden angeschafft. Sie packt beim Aufbau energisch mit an, übernimmt neben ihrer eigentlichen beruflichen Tätigkeit organisatorische und kaufmännische Aufgaben im Betrieb. Nachdem das Paar seit 1938 zusammenlebt, wird im Mai 1940 die Ehe geschlossen. Im selben Jahr wird ihr Mann zur Marine eingezogen, an wechselnden Standorten kommandiert er als Oberleutnant zur See ein Vorpostenboot.

Während der Zeit seiner Stationierung in Gotenhafen lebt das Ehepaar in Danzig zusammen, wo Ruth Blaue auch nach der Versetzung ihres Mannes nach Norwegen bleibt. Bis 1942 ist sie dienstverpflichtet bei den Deutschen Werken, ist dort in der Werksbibliothek beschäftigt.

1943 wird sie zur Flak eingezogen, Ausbildung in Hagenow, kommt später als Scheinwerferführerin im Raum Bremen zum Einsatz, wird Ende 1944 aus dem Wehrdienst wegen mehrfacher Nervenzusammenbrüche entlassen. Sie geht zu ihren Eltern nach Elmshorn, wohin diese inzwischen verzogen sind. In ihrem Hause in der Ollnstraße 153 richten sie ihr eine Dachgeschosswohnung ein, in die 1946 auch ihr Mann einziehen soll. Der versieht nach der Kapitulation noch weiter Dienst bei einer Bergungseinheit in Kiel, jetzt in Diensten der Engländer. Das Ehepaar sieht sich häufig.

Ruth Blaue gründet kurz nach Kriegsende eine Leihbücherei, die „Blaue Stube“, der sie bald eine Kunstgewerbehandlung anschließt. Ihre Eltern bieten hin und wieder obdachlosen Soldaten eine Bleibe. Ruth Blaue, deren Mann da noch in Kiel stationiert ist, nimmt einen ehemaligen Luftwaffenangehörigen, den Fliegerleutnant Horst Buchholz, in ihre Wohnung auf; der versucht sich eine Existenz als Holzbildhauer aufzubauen. Er beteiligt sich an ihrem Geschäft, es entsteht Freundschaft zwischen den beiden, dann eine intime Beziehung. Als John Blaue nach Beendigung seines Dienstes für die Besatzungsmacht in die Ollnstraße einzieht, kommt es zu Spannungen, da dem Ehemann das Verhältnis zwischen seiner Frau und dem Untermieter nicht verborgen bleibt. Er toleriert jedoch die Beziehung einstweilen, da er stark mit dem Aufbau einer neuen eigenen Existenz beschäftigt ist. Kurz bevor ihm dieses gelingt, verschwindet er Mitte November 1946 spurlos. 1948 gibt Ruth Blaue eine Vermisstenanzeige auf.

Im Juni 1947 wird in einer Kiesgrube in der Nähe Elmshorns eine stark verweste Männerleiche mit zertrümmertem Schädel gefunden. 1954 wird der Tote als John Blaue identifiziert. Nach umfangreichen Ermittlungen werden seine Frau und Horst Buchholz wegen Mordverdachts festgenommen, gehen in Haft.

Buchholz, der als Bildhauer durchaus erste Erfolge hat, und Ruth Blaue, die ihr Geschäft verkauft hat, verlassen 1948 Elmshorn und siedeln sich in einem von ihm gekauften Haus im gleichnamigen Ort Buchholz bei Burg in Dithmarschen, dann in Schafstedt im selben Landkreis an. Nach der Währungsreform bricht sein Geschäft zusammen, er bezieht Arbeitslosenunterstützung, sie trägt zum Lebensunterhalt durch Wahrsagen, Kartenlegen und Bücherverkäufe bei. Seit Anfang 1947 schon leben sie immer offener als Paar zusammen.

Auf der Suche nach einer tragfähigen Existenz geraten sie nach Süddeutschland, nach Gremmelsbach bei Triberg im Schwarzwald. Buchholz, der nebenher weiterhin skulpturale Schnitzereien herstellt, findet Arbeit in einer Uhrenfabrik als Schnitzer, Ruth Blaue ist in dem Unternehmen als Bürokraft angestellt; dann macht er eine Erfindung, ist auf dem Wege in die Selbständigkeit.

So verläuft Ruth Blaues äußeres, belegtes Leben bis zu ihrer Verhaftung im Sommer 1954.

Zwei Menschen, die Ruth Blaue ihr ganzes Leben kennen, haben über sie berichtet, und zwar im Rahmen von Verhören durch die Polizei, als sie schon des Mordes verdächtigt wird: ihr Vater und die Schwester Gerda.

Karl Heine erzählt uns von einem sehr aufgeweckten Kind, das sich gegenüber seinen Altersgenossen und seinen beiden anderen Kindern überdurchschnittlich begabt gezeigt habe. Es habe wegen guter Leistungen auf der Volksschule eine Klasse übersprungen, Deutsch und Geschichte seien die stärksten Fächer gewesen. Es habe im frühen Alter nie Schwierigkeiten bereitet. Das normale, gute Verhältnis zu seiner Tochter als junger Frau habe sich verändert, als sie im Alter von 18 Jahren den Arzt Dr. Trautmann geheiratet habe. Er habe diesen wegen dessen schlechten Rufs abgelehnt, schließlich aber dem Drängen seiner Tochter nachgegeben. Die Ehe sei dann doch mit seiner Zustimmung geschlossen worden. Er sieht sie da nur noch selten: „Ich hatte mich seit dieser Zeit bereits innerlich von meiner Tochter getrennt.“ Sie hat sich vollkommen verändert, er erkennt sie nicht wieder.

Der Vater erinnert sich:

Nach Verbüßung einer Gefängnisstrafe richtet Ruth sich wieder ein normales Leben ein und findet eine Beschäftigung als Kontoristin. Sie weiß genau, dass sie mehr kann als ihre Kolleginnen, und ist dadurch „in ihrer Art etwas überheblich geworden“. Sonst zeigt sie keinerlei negative Eigenschaften. In dieser Zeit, bevor sie John Blaue kennenlernt, lebt sie sehr für sich und zieht sich nach Arbeitsschluss in ihre kleine Wohnung zurück, liest viel und ist dann für nichts anderes mehr zugänglich. Bei der Auswahl ihrer Lektüre ist sie kritisch und bevorzugt „schwerere problematische Abhandlungen“. Der Vater ist froh, als sie John Blaue begegnet, dessen „frische aufgeschlossene Art“ ihm gefällt. Er kann wieder mit seiner Tochter reden: „Sie war plötzlich ganz anders, stand wieder mit beiden Beinen auf der Erde, und ich konnte mich danach wieder mit meiner Tochter unterhalten.“

Heine schildert Ruth als von Kindheit an „immer überaus beherrscht, keineswegs impulsiv und niemals jähzornig“. Sie wägt alles sorgfältig ab: „Wenn sie etwas unternommen hat, ob privat oder geschäftlich, so dauerte es recht lange, bis sie zu einem Entschluss kam, da sie stets in jeder Hinsicht alles durchdachte. Sie zeichnete sich durch eine stoische Ruhe aus.“

Gerda, die jüngere Schwester, nennt Ruth schon in der Schule „recht erfolgreich“. Sie fährt fort:

„Meine Schwester war in ihrer Kindheit stets im gewissen Sinne eine Einzelgängerin. Sie sonderte sich von uns ab, um viel zu lesen. Gespielt hat sie kaum. Neben wissenschaftlichen Romanen hat sie praktisch alles gelesen, Kriminal-, Liebes- und Abenteuerromane. Aus dem Blickpunkt der jüngeren Schwester war sie stets immer etwas erwachsener und in ihren Anschauungen gereifter als ich. Ich glaube aber, dass sie darin nicht wesentlich von ihren Altersgenossen abwich. Nach meiner Auffassung ist sie Männerbekanntschaften gegenüber sehr zurückhaltend gewesen. Ihr erster richtiger Freund war Dr. Trautmann, den sie dann heiratete. Ich habe nie den Eindruck von ihr gewonnen, dass sie in sittlicher Beziehung etwa hemmungslos war oder übergroßen Lebenshunger zeigte. Allerdings weiß ich in dieser Hinsicht wenig, da sie sich kaum einmal mit mir ausgesprochen hat. Irgendwelche Gefühlsregungen waren ihr fremd, zumindest zeigte sie sie nie nach außen hin. Kleine Eifersuchtsszenen, wie sie unter jungen Mädchen manchmal üblich sind, gab es bei ihr nicht. Sie war immer in ihrer ganzen Art durchaus beherrscht.“

Beide wissen, unter welch schwerem Verdacht ihre Tochter und Schwester steht, beide stehen solidarisch zu ihr. Besonders bei Gerda hat man den Eindruck, liest man den ganzen Text, dass sie sich schützend vor die Schwester stellt, die ins Unglück geraten ist. Beider Aussagen sind geprägt von Wärme für einen für sie nicht einfachen Menschen.

Ruth Blaue selbst hat viel über sich gesprochen und geschrieben. Die Verhöre und die Untersuchungen durch die Gerichtsmediziner Hallermann/Gerchow geben ihr überreichlich Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Später sollen Gespräche mit einer Journalistin hinzukommen. Sie versucht uns ein Bild von sich zu vermitteln, das ihren Vorstellungen von sich selbst entspricht, ein Bild, das sie verinnerlicht hat und das damit zum unverrückbaren Teil ihrer Identität wird. Ihre früheren Erinnerungen hängen mit dem Ersten Weltkrieg zusammen:

Ihr Vater hat schon sehr früh im Krieg in Breslau „Truppen ausgebildet“, so dass ihre ersten Erinnerungen die an „Kasernenhöfe und singende und marschierende Soldaten“ sind.

Dann folgt der Umzug nach Halberstadt. Im „schönen Harzvorland“ erfährt sie in der Fleischwarenfabrik Heine „die erregende Fülle der Tiere, ihr Leben und ihr Sterben“. Noch vor der Einschulung erleidet sie „das direkte Schock-Erleben eines Flugzeugabsturzes, das Herabstürzen von zwanzig brennenden Menschen in die Behaglichkeit des Kaffeegartens“. Sie erlebt es direkt mit. Das Stadtarchiv Halberstadt verzeichnet für den 19.