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Titel

 

Für Nicolas, Lysann und Jasper

- 1 -

Am äußeren Rand des Stoppelfelds tauchte plötzlich ein Mensch auf. Zunächst nur als kleiner, schwarzer Punkt, der aber rasch an Kontur und Größe gewann.

Walter Wagenknecht stand am Küchenfenster, hatte gerade sein Frühstücksgedeck in den Geschirrspüler geräumt und seinen Platz am Tisch mit einem feuchten Tuch nachgewischt, obwohl er weder gekleckert, noch gekrümelt hatte.

Angewohnheiten, die die Jahrzehnte überdauert hatten.

Über dieses Feld ist noch nie etwas Gutes gekommen, dachte er. Und daran war etwas Wahres.

Walter streckte die Hand nach seinen Zigaretten aus, die in verlockender Reichweite lagen. Er führte die Bewegung nicht zu Ende. Seine Finger verharrten über der Schachtel.

Wer den Weg über das Feld nahm, der würde nicht sofort wieder gehen, der verfolgte ein bestimmtes Ziel. So war es irgendwie schon immer gewesen.

Der Mensch da draußen wurde zu einem Mann, wurde zu einem Mann in dunkler Kleidung, wurde zu einem Mann in mittleren Jahren, der seine schwarze Lederjacke lässig an einem Finger über der rechten Schulter trug.

Etwas in seinem dunklen Haar spiegelte sich in der Vormittagssonne. Eine Brille mit getönten Gläsern.

Ein paar hundert Meter hinter ihm rollte der Verkehr auf der B199, nach Flensburg in die eine und nach Kappeln in die andere Richtung. Walter verschwendete keinen Blick darauf.

Der Mann trug weinrote Cowboystiefel, die die Stoppeln des Weizenfeldes wie Streichhölzer umknickten. Walter nahm das Geräusch in seinem Innern wahr, obwohl er es hier drinnen nicht hören konnte.

Etwas kam auf ihn zu. Nicht nur dieser Mann. Mit ihm kamen Ereignisse. Walter Wagenknecht wusste es. Wer sich so zielstrebig bewegte, der war sich seiner Sache sicher.

Eine Zigarette? Er könnte einen dieser Glimmstängel schaffen, bevor der Fremde das Haus und die Mühle, die daneben wie ein steinerner Wächter thronte, erreicht hatte.

Nein.

Walter Wagenknecht hatte beide Hände auf der abgewetzten Arbeitsfläche abgestützt und blickte stur durch das Sprossenfenster nach draußen.

Der Mann mit der Sonnenbrille im Haar war jetzt ein gutes Stück näher gekommen. Fast schien es, als würde er Walter direkt in die Augen blicken. Vielleicht war das sogar der Fall.

Die Stiefel des Fremden wirbelten Staub auf, den der leichte Wind hinter ihm auseinanderfächerte. Es hatte seit fast zwei Wochen nicht mehr geregnet.

Walter schaltete das kleine, altmodische Radio auf der Eckbank aus, ohne seine Position großartig zu verändern, und vor allem ohne den Blick abzuwenden. Jetzt war alles still, und er bildete sich ein, die Schritte des Mannes nun tatsächlich hören zu können.

Der Fremde tat einen großen Schritt über den schmalen Entwässerungsgraben am Feldrand hinweg und befand sich auf dem Platz vor der Mühle.

Walter sah, wie er kurz stehenblieb, das breite Kreuz durchgedrückt und zu den Flügeln der Demeter hinaufsehend, die sie vor zwei Jahren instand gesetzt hatten.

Der Mühlenbesitzer hinter dem angestaubten Küchenfenster schloss die Augen und atmete tief durch. Er spürte, wie sein Herz ruhig und gleichmäßig schlug. Das hatte es nicht immer getan. Vor allem nicht in der Nacht, wenn er in Schweiß gebadet aus seinen Träumen aufgeschreckt war, den Mund weit aufgerissen zu einem Schrei, der niemals über seine Lippen gekommen war. Jedes Mal hatte er es zuvor fertig gebracht, in seine rechte Faust zu beißen, wo er am Morgen noch die Abdrücke seiner Schneidezähne vorfand. Er hatte nicht gewollt, dass sie zu ihm kamen. Niemand sollte je erfahren, was er mit sich trug, jeden Tag, jede Nacht, jeden verdammten Augenblick.

Niemand sollte es je erfahren.

Die Türklingel riss ihn erbarmungslos aus seinen Gedanken, katapultierte ihn mit einem Schlag zurück in das Hier und Jetzt. Er öffnete die Augen. Der breite Hofplatz vor der Mühle war leer.

Als Walter Wagenknecht in den Hausflur trat, zeichneten sich hinter der Glastür die Umrisse einer Gestalt ab.

Er legte die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter.

Auf den weinroten Lederstiefeln lag eine dicke Schicht Staub. Die schwarze Jeans des Mannes saß eng, hauteng. Ein breiter Gürtel mit silberner Schnalle, darüber ein Bauchansatz, der durch das karierte Hemd nicht unbedingt kaschiert werden konnte.

Das bunte Tuch, das durch ein Bulletie gehalten wurde, konnte nicht ganz die sonnengebräunte, aber faltige Haut des Besuchers verdecken. Die Lippen des glattrasierten Fremden formten sich zu einem Lächeln.

Walter dachte daran, dass der Kerl vermutlich eine dieser Zahncremes benutzte, bei denen die Hersteller eine Farbe versprachen, die noch heller als das weißeste Weiß glänzte. Oder sie waren genauso künstlich wie das Grinsen ihres Besitzers.

„Walter? Walter Wagenknecht?“

Der Mühlenbesitzer nickte. „Wenn Sie die Mühle besichtigen wollen, die ist derzeit wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.“ Walter hatte diese Karte gezogen, obwohl er insgeheim wusste, dass der Fremde einiges im Sinn haben mochte, das ziemlich Letzte würde allerdings eine Besichtigung sein.

„Mein Name ist Harald Grabauer“, sagte der Mann vor der Tür. Offenbar schien er abzuwarten, ob Walter dieser Name etwas sagen würde, was nicht der Fall war.

„Ich bin gekommen, um mit Ihnen über eine geschäftliche Angelegenheit zu sprechen.“

Walter nickte. Ihm fiel nichts ein, was er darauf hätte entgegnen können. Er trat einen Schritt beiseite und beobachtete, wie die staubigen Cowboystiefel über seine Haustürschwelle traten. Ein Schritt, der nicht mehr rückgängig zu machen war.

Sie betraten die Küche, in der die Wagenknechts schon immer wichtige Gespräche geführt und noch wichtigere Entscheidungen getroffen hatten. Die Renovierung der Mühle und der Umbau zu einem Restaurant waren die jüngsten aus einer langen Reihe von Entscheidungen, die hier gefällt worden waren. Nicht alle waren an die Öffentlichkeit geraten, was in mancher Hinsicht gut gewesen war.

Walter hatte die Küche in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Grund auf renoviert. Und dennoch, wenn er manchmal, so wie heute Morgen, in der Küche saß, hörte er noch immer die Stimmen von damals. Es gab Stimmen, die tuschelten und solche, die sich lautstark Gehör verschafft hatten. Walter hatte über die Jahre herausgefunden, dass die leisen vermutlich die böseren gewesen waren, auf jeden Fall hatten sie am Ende Recht behalten.

„Wenn Sie sich setzen wollen?“

Grabauer wollte. Er zog sich einen Stuhl heran und sah den Hausherrn erwartungsvoll an.

Walter setzte sich auf seinen Platz auf der Eckbank. Von hier aus konnte er gleichzeitig aus dem Fenster sehen, wenn ihm danach war, oder den Raum überblicken. Schon als Kind war dies sein Platz gewesen. Der an seiner Rechten war lange Zeit leer gewesen. Wie ein schneller Blitz durchzuckte Walter die Erinnerung an seinen Vater, der im Krieg in Norwegen stationiert gewesen war. Bis eines Tages …

„Ich würde gerne gleich zur Sache kommen“, nahm Grabauer das Gespräch auf. Er fuhr mit den Händen, an denen dicke Finger saßen, über die Tischplatte, als würde er ein Leinentuch glattstreichen.

„Ich höre“, gab Walter zurück. Er sah sein Gegenüber an. Seine Tochter Hannah hatte ihm oft gesagt, er solle von den Menschen nichts erwarten, dann wäre die Enttäuschung hinterher umso geringer. Walter glaubte nicht, dass diese These immer zutraf. Von diesem Mann erwartete er einiges und er wusste insgeheim, dass es genauso eintreffen würde.

Grabauer langte in seine Hemdtasche und faltete ein Blatt auseinander, das er mit sich herumgetragen hatte. Er legte es auf den Tisch, mit der Rückseite nach oben. Grabauer lächelte, als er wieder aufblickte und den Mühlenbesitzer ansah.

So lächeln Sieger, dachte Walter. Er erwiderte den Blick seines Besuchers und vermied es, auf das Papier in der Mitte des Küchentischs zu sehen.

„Haben Sie sich jemals gefragt, wo Ihr Vater hingegangen ist?“, platzte Grabauer heraus.

Walter Wagenknecht blinzelte.

„Ich meine nach dem Krieg, als er seine alte Stellung bei der Bahn wiederbekommen hatte? Die Zeit, in der er oft tagelang nicht zu Hause war. Haben Sie sich nie gefragt, wo er da gewesen ist?“

„Mein Vater war uns keine Rechenschaft schuldig“, gab Walter leise zurück. „Weder meiner Mutter noch mir.“

Grabauer lächelte. Unentwegt weiße Zähne. „Es hat Sie nie interessiert? Auch Ihre Mutter nicht?“

„Wir haben niemals Fragen gestellt. Es bestand keine Notwendigkeit dazu.“ Monoton kamen die Worte über die Lippen des Mühlenbesitzers. Spröde und wie auswendig gelernt.

„Vielleicht kann ich diese Wissenslücke ja schließen, nach so langer Zeit.“ Grabauer blickte sich verstohlen um, als suche er nach etwas zu trinken.

Walter Wagenknecht hatte entschieden, dass dieser Gast nichts bekommen würde. „Ich höre Ihnen immer noch zu.“

Grabauer nickte energisch. „Gut. Ich werde Ihnen sagen, wo er war. In Flensburg, am Burgplatz 5, gab es zu der Zeit eine kleine Dachgeschosswohnung. Darin wohnte eine junge Frau, die aus Süddeutschland hier hoch in den Norden gekommen war. Sie wohnte allein. Sie war allein. Ihr Name war Maria. Sie hat Ihren Vater am Bahnhof kennengelernt. Oft, so oft hat sie die Geschichte erzählt, wie er einen Kaffee getrunken hat, während seiner Pause. Wie sie am Zeitungsstand ins Gespräch gekommen und wie aus einem Kaffee zwei geworden sind. Dazu haben sie geraucht, die Selbstgedrehten, die Ihr Vater immer in einem kleinen silbernen Etui bei sich hatte.“

Walter Blick streifte den Küchenschrank. Er hätte Grabauer sagen können, dass sich das Zigarettenetui, etwas angelaufen, eingedellt und sichtbar in die Jahre gekommen, aber immer noch erkennbar genau das Etui, in der rechten äußeren Schublade befand. Grabauer hätte die Hand danach ausstrecken können.

Stattdessen hörte Walter weiter geduldig zu.

„Die beiden trafen sich regelmäßig. Und ich kann Ihnen versichern, dass es nicht nur bei Zigaretten und Kaffee blieb. Ihre Treffen hatten Folgen.“ Grabauer lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, ein etwa sechzigjähriger Mann, der sich für sein Alter viel zu jung kleidete. Er hatte die Ellenbogen auf den Stuhllehnen abgestützt und deutete mit seinen breiten Händen auf sich, als wolle er sich Luft zufächeln. „Ich meine mich, falls Ihnen das entgangen sein sollte.“

Walter erblickte sein Päckchen Zigaretten wieder. Dieses Mal befand es sich in so weiter Ferne. Er hätte gerne geraucht, aber der Kerl, der ihm gegenübersaß, könnte es als Schwäche auffassen, wenn er jetzt aufstand, um sich eine anzuzünden, womöglich noch mit leicht zitternden Händen, die er jetzt versuchte, in seinem Schoss zusammenzufalten.

Walter fragte sich insgeheim, wann der andere das Papier auf dem Tisch erneut ins Spiel bringen würde.

Jetzt.

Grabauer streckte tatsächlich die Hand danach aus, drehte es um und schob es dem Mühlenbesitzer zu. „Eine Kopie.“

Walter betrachtete das Blatt ruhig, beinahe teilnahmslos, die Hände noch immer ineinander gefaltet. Langsam löste er sich aus dieser Position und langte nach seiner Lesebrille, die auf der Ablage der Eckbank lag, auf seinem Block mit den Sudoku-Rätseln, in die er sich über die letzten Jahre reingefuchst hatte.

Eine Geburtsurkunde.

Walter überflog die Daten, las den Namen seines Vaters, las weiter von einer Maria Grabauer, die im gleichen Jahr wie sein alter Herr geboren war, nur an einem ganz anderen Ende Deutschlands.

„Sie kommen nach all den Jahren, um mir zu sagen, dass Sie mein Halbbruder sind“, sagte Walter, der die Brille wieder abnahm und sie in die Brusttasche seines Hemds steckte.

Grabauer senkte den Kopf ein wenig und lächelte milde. „Nein. Ich meine, das geht zwar aus dem Papier zwangsläufig hervor, aber ich weiß nicht wie es Ihnen geht. Ich jedenfalls lege keinen Wert auf verwandtschaftliche Beziehungen.“

„Warum sind Sie dann gekommen?“

Grabauer beugte sich vor. Sein Blick war mit einem Mal hellwach und direkt auf den Mühlenbesitzer gerichtet.

„Ihr Vater hat sich breitschlagen lassen, auf meiner Geburtsurkunde zu erscheinen. Glück für mich, kann ich heute sagen. Meine Mutter hat es nie leicht gehabt, wissen Sie? Erst recht nicht nach meiner Geburt. Eine junge Mutter ohne Mann, und das zu der Zeit. Sie hat sich mit Näharbeiten gerade so über Wasser halten können. Die verdammte Nähmaschine hat sie auf Vorschuss bekommen und musste sie abarbeiten. Wenn Sie mich heute fragen, was das prägendste Geräusch meiner Kindheit war, dann würde ich Ihnen antworten: Das Geratter der Nähmaschine. Egal ob Tag oder Nacht, meine Mutter saß immer davor. Und Ihr Vater?“ Grabauer lachte und legte eine kurze Pause ein. Er blickte ziellos aus dem Fenster, als müsse er sich die Bilder wieder in Erinnerung rufen.

Walter folgte seinem Blick. An genau der Stelle, zwischen den beiden Fenstern, war damals der Teller mit dem Grünkohl gelandet. Noch Monate später war dort ein dunkler Fleck zu sehen gewesen. Mitunter war es Walter, als würde er noch immer unter den zahlreichen Farbschichten hindurchschimmern. Manche Flecke blieben ein Leben lang.

„Ihr Vater ist immer dann wieder gegangen, wenn es ihm zu unbequem wurde. Geld? Geld hat er kaum je welches dagelassen, obwohl er sicher ausreichend davon hatte. Die Mühle hat damals genug abgeworfen, dazu noch seine Arbeit bei der Bahn. Uns hat er davon jedenfalls nichts spüren lassen.“

„In Ordnung“, sagte Walter und beugte sich jetzt ebenfalls vor, so dass sie nur noch die Längsseite des Küchentischs voneinander trennte. „Sie sind nicht gekommen, um mir das allein zu sagen. Kommen wir zu dem Punkt, weswegen Sie wirklich hier sind.“

Grabauer deutete mit dem Zeigefinger auf sein Gegenüber: Gut, dass du mich daran erinnerst. Ich hätte es sonst beinahe vergessen, mein Alter.

„Ich bin heute gekommen, um mir das zu holen, was uns Ihr Vater all die Jahre bis zu seinem Tod schuldig geblieben ist. Mein Erbe.“

„Diesem Papier nach war es auch Ihr Vater“, räumte Walter ein.

„Wie ich schon sagte: Ich lege auf diese Verwandtschaft keinen Wert. Ich könnte Ihnen sagen, wofür ich diesen Kerl halte, aber das erspare ich mir besser. Ich will kein böses Blut, sondern nur das, was mir zusteht.“

„Und was, denken Sie, steht Ihnen zu?“

Grabauer legte beide Hände auf die Tischplatte und presste seine Lippen fest aufeinander. „Eine halbe Million.“

Walter Wagenknecht lächelte flüchtig. Sein Gehör hatte die Worte vernommen, aber wirklich angekommen waren sie bei ihm nicht. Es war eine Zahl, die im Raum schwebte, nichts weiter. Diese ganze Situation wirkte bizarr, wie aus einer der Vorabendserien, die er manchmal schaute, oftmals begleitet von einem Kopfschütteln und stillen Vorwürfen gegen das hochbezahlte Team der Drehbuchautoren.

„Sie sagen nichts dazu?“, hakte Grabauer nach.

„Was erwarten Sie von mir?“

„Dass Sie dazu Stellung nehmen, verdammt.“ Grabauer sah sich demonstrativ in der Küche um und deutete auch nach draußen. „Dieser ganze Besitz, inklusive der Mühle und des Baulands da draußen, dürfte locker das Vierfache wert sein. Also? Was sagen Sie zu meinem Angebot?“

Walter blickte auf den Küchentisch und schob das Stück Papier, das so viel wert sein sollte, demonstrativ zurück. „Ich sage dazu, dass es ziemlich plötzlich kommt, und Sie doch sicher von mir jetzt keine Entscheidung verlangen.“

Grabauer steckte das Papier wieder ein, ohne den Blick von seinem Halbbruder zu wenden. „Die Entscheidung ist längst gefallen, mein Lieber. Sie werden zahlen, so oder so. Machen Sie sich gerne rechtskundig. Aber ich will kein Unmensch sein. Ich gebe Ihnen zwei Tage Zeit. Dann werde ich wieder hier sein.“ Grabauer unterstrich seine Worte mit einer energischen Bewegung seines Zeigefingers.

„Ich weiß nicht, wie Sie sich das vorstellen“, gab Walter zurück, „wir haben das Ersparte in die Umbaumaßnahmen der Mühle gesteckt. Über den Rest läuft ein Finanzierungskredit. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht mal einen Bruchteil der Summe locker machen.“

„Das ist allein Ihr Problem“, antwortete Grabauer kalt. „Das Grundstück hat seinen Wert. Mitten in einem Luftkurort in Angeln, hm? Dazu noch in einem beliebten Ausflugsort, einem Museumsdorf. Von den Fördergeldern des Landes wollen wir gar nicht erst sprechen.“

„Es ist mir egal, was Sie reden“, machte Walter deutlich, „Sie werden diese Summe nicht bekommen. Weder jetzt noch irgendwann.“

Grabauer erhob sich von seinem Stuhl, baute sich drohend über dem Küchentisch auf. „Das werden wir ja sehen.“ Das Gesicht des Mannes schien für einen Moment vor Zorn zu glühen, dann jedoch veränderten sich seine Züge. Die alte Selbstsicherheit kehrte zurück. Aber da lag noch etwas anderes in seinem Blick, etwas, das Walter Sorgen bereitete.

„Ihr Vater hat geplaudert“, sagte Grabauer plötzlich gefährlich leise. Dann begann er zu lachen. Zunächst zaghaft, dann immer intensiver. „Regelrecht ausgeheult hat er sich bei meiner Mutter. Sie hat es mir erst auf ihrem Sterbebett erzählt. Ich weiß, was da drüben in der Mühle passiert ist.“

Walter atmete tief ein und hielt unwillkürlich die Luft an. Die Welt um ihn herum schien zu verschwimmen, wurde für einen Moment schwarz-weiß und bekam gezackte Ränder, so wie die Postkarten, die sie nach dem Krieg manchmal von entfernten Verwandten erhalten hatten, Großmutter, Mutter und er. Walters Hände, feucht geworden, zitterten leicht. Er schloss die Augen für einen Moment, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Zu spät. Der Besucher musste längst registriert haben, was mit ihm los war.

Als Walter die Augen wieder aufschlug, stand Grabauer noch genauso da wie zuvor. „Ich denke, Sie wissen, was ich meine. Und ich denke, Sie wissen auch, warum Sie zahlen werden. Zahlen müssen.“

„Wo kann ich Sie erreichen?“, presste Walter hervor. Jetzt war es seine Kehle, die sich unendlich ausgedörrt anfühlte.

„Ich werde wiederkommen“, sagte Grabauer, drehte sich um und verschwand grußlos.

Walter hörte die Haustür gehen. Kurz darauf Schritte auf dem Hofplatz. Er sah nicht hin.

Er wusste, was damals passiert ist. Es war nicht so, dass Vater nur etwas angedeutet hatte. Grabauer kannte die ganze Geschichte.

Jetzt sah Walter doch nach draußen, sah den Cowboy in seiner Staubwolke über das verfluchte Feld verschwinden. Es war ein Satz, der in dem Mühlenbesitzer nachhallte und zu einem unerträglichen Echo wurde: Ich werde wiederkommen.

- 2 -

„Sybille, du wirst es nicht glauben, was gerade passiert ist.“

Walter Wagenknecht war in das Wohnzimmer hinübergegangen und hatte die Tür fest hinter sich verschlossen. Zwischen ihm und seiner Frau war es nicht immer einfach gewesen. Walter war ohnehin ein schwieriger Mensch, nicht leicht zu handhaben und schon gar nicht für eine Frau, die einen eigenen Willen hatte. Aber zugehört hatte sie ihm zumindest immer. Über all die Jahre war sie seine erste Anlaufstation gewesen, wenn ihn etwas beschäftigte. Nur diese eine Sache, die hatte er selbst ihr bisher nicht erzählt.

„Es ist jemand hier gewesen, und ich fürchte, er wird uns noch großen Ärger machen.“

Sybille, im Wohnzimmer, lächelte ihn an. Wie immer, wenn er hierher kam, zu ihr hereinkam.

Unmittelbar vor ihr blieb er stehen. „Ich spreche dieses Mal von wirklich großem Ärger, Sybille. Von einem echten Problem sozusagen. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht, wie wir es aus der Welt schaffen können.“

Er sah auf sie herab, nahm ihr Foto in die Hand und strich mit seinen Fingern behutsam über den Rahmen. „Sag mir, was ich tun soll.“

Sybille lächelte, sah ihn mit ihren fröhlichen blauen Augen an. Der Wind hatte ihr an jenem Tag vor fünfzig Jahren das Haar zerzaust, als sie an der Steilküste der Ostsee gestanden hatte, draußen, am äußersten Zipfel von Holnis. Aber sie hatte gelacht, als er das Foto mit seiner ersten Kamera geschossen hatte. Und dieses Bild hatte er von allen immer am liebsten gehabt. Es stammte aus einer Zeit, die glücklich war, die ihn vieles hatte vergessen lassen. Beinahe vergessen.

Aber die Jahre hatten ihn gelehrt, dass Gespenster die unangenehme Angewohnheit hatten, zurückzukehren und das, wann immer sie wollten.

Sybille antwortete nicht.

Sie hatte ein bösartiger Tumor geholt, der unerkannt in ihrem Kopf herangewachsen war und sich dann mit furchtbarer Wucht gemeldet hatte, als alles bereits zu spät gewesen war. Die Renovierung des Hauses, die Instandsetzung der Mühle, das alles hatte sie nicht mehr miterleben dürfen. Sie war in einer Ruine gestorben, in ihrem Zimmer neben der Küche, in der der Grünkohlfleck von damals durch die Wandfarbe schimmerte.

Sie hätte gewollt, dass er die Kinder anruft. Vermutlich hätte sie es sogar bereits getan. Er selbst hingegen zögerte. Warum?

Behutsam, unendlich vorsichtig, stellte er das Foto wieder zurück an seinen Platz auf der Anrichte, neben das von Volker und Hannah, als sie noch Kinder waren und auf der Wiese vor der Mühle spielten.

Er musste sie anrufen. Es gab keine andere Möglichkeit. Was auch immer es jetzt zu tun gab, er würde es nicht allein erledigen können. In wenigen Jahren würden sie seinen Achtzigsten feiern. Wenn er wollte, dass das Beisammensein hier stattfand, war die Zeit gekommen, zu handeln.

„Danke, meine Schöne“, sagte er, als er sich von dem Bild abwandte, in Richtung des Hausflurs, wo das Telefon auf einer alten Holztruhe stand. Auf dem Weg dorthin kam ihm ein Gedanke. Er wusste nicht, was ihn ausgelöst hatte. Plötzlich war dieses Bild vor seinem inneren Auge aufgetaucht, wie eine Projektion auf seiner Netzhaut.

Walter stieg die Treppe ins obere Geschoss hinauf, wo sein Schlafzimmer lag, neben den ehemaligen Kinderzimmern, die nun größtenteils mit Gerümpel und unnützem Zeug vollgestellt waren.

Dahinter führte eine kleine Leiter zum Dachboden hinauf, wo das wirklich alte unnütze Zeug lagerte, das vermutlich schon mit einer daumendicken Staubschicht behaftet war.

Walter vermochte nicht zu sagen, wann er das letzte Mal hier oben gewesen war. Er konnte nicht ganz ausschließen, dass es möglicherweise noch zu Zeiten gewesen war, in denen Sybille noch gelebt hatte.

Er klaubte den kleinen Schlüssel vom oberen Türrahmen und steckte ihn ins Schloss. Die Tür ließ sich leise knarrend öffnen.

Walter trat über die einfache Holzschwelle und knipste im Vorbeigehen das Licht an. Eine Lampe hatten sie hier nie installiert. Es baumelte noch immer eine nackte Glühbirne in einer einfachen Fassung von der Decke.

Er sah sich um, tastete zuerst mit seinen Blicken, dann mit seinen Händen über die einfachen Holzregale, die er vor einer halben Ewigkeit selbst zusammengezimmert hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er das richtige Fach gefunden hatte. Er zog einen zerknautschten Karton hervor, setzte sich platt auf den Fußboden und öffnete ihn.

Unter einer dicken Schicht aus Holzwolle kam ein Spielzeug zum Vorschein. Eine einfache Holzeisenbahn und zwei offene Waggons. Die grüne Farbe der Lok war zu großen Teilen abgeblättert, eine Folge der Jahre, die dieses Spielzeug schon auf dem Buckel hatte, aber auch der intensiven Nutzung. Walter packte die Lok mit beiden Händen und sah auf sie herunter. Für einen Moment war er wieder fünf Jahre alt, sah die Welt aus den Augen eines Kindes. Eine Welt, die irgendwo da draußen gerade in Trümmer zerfiel. Aber seine eigene, die war noch in Ordnung gewesen. Und die Lok mit ihren beiden Waggons war das Symbol einer glücklichen Kindheit, die gerade mal sechs Jahre dauern durfte.

Danach war alles anders geworden.

Mühsam rappelte er sich wieder auf, klemmte sich den Zug unter den Arm und verließ damit den Dachboden.

Er ging hinunter in den Flur, griff zum Telefon und führte zwei sehr kurze Gespräche.

Danach betrat er die Küche, in der die Holzeisenbahn auf dem Küchentisch stand. Walter brühte sich eine Tasse Kaffee von Hand auf, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich an den Tisch. Er legte seine Hände auf die Holzeisenbahn und schloss langsam die Augen.

„Vor uns liegt eine lange Reise“, flüsterte er.

- 3 -

Volker war der Erste. Von Gelting aus hatte er den kürzesten Weg gehabt.

„Ich bin zwei Stunden eher aus der Firma raus. Ich weiß gar nicht, wie du dir das vorstellst. Die Zeit kann ich morgen wieder dranhängen.“

Der rotblonde Vierzigjährige lief im Wohnzimmer auf und ab. Seine Tasse Kaffee hatte er bisher nicht angerührt.

Nicht weiter schlimm, dachte Walter Wagenknecht. Die Zeit würde kommen, wo er ihn nötig haben würde.

„Und das ausgerechnet, wo ich Martina versprochen hatte, sie zu der Ausstellung zu begleiten.“ Volker Wagenknecht war vor dem Bild seiner Mutter stehengeblieben und nagte nervös an seinem Daumennagel.

„Kunst?“, fragte sein Vater.

Der Jüngere drehte den Kopf. „Hm? Was?“

„Die Ausstellung.“

„Pferde.“

„Ah“, machte Walter. „Wie geht es deiner Freundin?“

Volker schüttelte lächelnd den Kopf. „Interessiert es dich wirklich?“

„Ich hätte sonst kaum danach gefragt, aber lassen wir das. Ich glaube, draußen ist gerade ein Wagen vorgefahren.“

„Das wird Hannah sein“, sagte Volker und machte sich bereits auf den Weg durch den Hausflur zur Tür. „Wurde auch Zeit.“

„Ich habe ihr gesagt, sie soll nicht zu schnell fahren“, rief Walter vom Wohnzimmer her.

„Ich weiß, das sagst du jedes Mal.“ Volker war an der Tür, noch bevor seine Schwester klingeln konnte. „Hallo Schwesterherz. Was macht die Elbphilharmonie?“

Hannah rang sich ein kurzes Lächeln ab, während sie in ihrem offenen Sommermantel, wie immer etwas hektisch und ungeschickt in den Flur rauschte. „Sie steht noch. Hallo, Volker. Wo ist Papa?“

„Im Wohnzimmer, schlürft seinen Kaffee.“

Sie nahm ihn kurz beiseite, noch ehe sie Anstalten machte, ihren Mantel abzulegen. „Hat er dir gesagt, was eigentlich los ist?“

Volker warf einen raschen Blick zur Wohnzimmertür, dann schüttelte er den Kopf. „Keine Silbe. Ich habe ihn gefragt, ob er krank ist, aber er wollte nicht antworten.“

Hannah fasste ihren Bruder am Oberarm. „Du denkst doch nicht, dass er uns irgendeine Krankheit verheimlich hat?“ In ihrem Blick lag echte Besorgnis.

„Keine Ahnung. Er sagt einem ja nichts. Aber entsprechend dringend wird es wohl sein, wenn er uns beide hier antanzen lässt. Machen wir uns auf was gefasst.“

Die schlanke, adrette Frau schälte sich aus ihrem Mantel und strich sich ihr langes Haar zurück. Sie drängte sich an ihrem Bruder vorbei und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

Walter Wagenknecht, vor dem Fenster stehend, drehte sich um. Sein Gesicht strahlte, als er seine Arme ausbreitete. „Hannah, wie schön, dich zu sehen.“

Die junge Frau umarmte ihren Vater und musterte ihn verstohlen, scannte ihn auf mögliche Anzeichen einer Krankheit oder eines anderen Leidens.

Walter Wagenknecht hob beschwichtigend die Hände, nachdem sie ihre Umarmung gelöst hatten. „Keine Sorge, mir fehlt nichts. Jaja, sieh mich nicht so an, ich habe eure Unterhaltung im Flur sehr wohl gehört.“

Hannah lächelte. „Wir machen uns eben Sorgen, auch wenn es für dich nicht immer so aussieht.“

„Ich freue mich, dass ihr so schnell kommen konntet“, sagte Walter, nachdem auch sein Sohn das Wohnzimmer wieder betreten hatte.

„Ja“, seufzte Volker, „ich hätte eigentlich noch die Finanzierungsunterlagen für zwei Neuwagen vorbereiten müssen. Die Käufer kommen gleich morgen Früh.“

„Ich schätze, sie werden es überleben, ein paar Minuten zu warten“, sagte der Alte ernst.

Hannah spürte den Unterton in der Stimme ihres Vaters. Sie trat zu ihm hinüber und nahm ihn bei der Hand. „Sag mal, was ist denn eigentlich los? Du warst am Telefon so geheimnisvoll. Was ist so wichtig, dass du uns beide hierherbestellt hast?“

„Kommt mit in die Küche“, antwortete ihr Vater, „ich muss euch etwas zeigen.“

Nebenan stand eine Thermoskanne mit Kaffee und ein Teller mit Keksen. Auf dem Küchentisch befand sich die Holzeisenbahn. Der alte Mann hatte die beiden Waggons, einer rot, der andere blau, an die Lok gekoppelt. Die Watte, die aus dem Schornstein quoll, hatte er liebevoll zurechtgezupft, so dass sie nun beinahe wie echter Rauch aussah.

„Setzt euch bitte. Setzt euch doch“, forderte Walter seine beiden Kinder auf.

Volker deutete auf das alte Spielzeug, das er heute zum ersten Mal in seinem Leben sah. „Was soll das? War in Langballig wieder Flohmarkt?“

Walter Wagenknecht antwortete nicht darauf, sondern setzte sich als Letzter auf seinen Platz, der sich gegenüber von seinen Kindern befand.

Er erzählte ihnen die Geschichte eines Cowboys in weinroten Lederstiefeln, der in Wirklichkeit Walters Halbbruder und somit so etwas Ähnliches wie ihr Onkel war. Ja, die Geburtsurkunde habe auf ihn einen echten Eindruck gemacht. Ja, es gehe ihm wirklich gut. Walter ließ kein Detail aus. Keine Beobachtung, die er am späten Vormittag gemacht hatte, ebenso wenig wie seine Empfindungen und Befürchtungen. Nur das Geheimnis, von dem Grabauer gesprochen hatte, behielt Walter für sich. Noch zumindest.

Als er geendet hatte, starrten ihn seine Kinder mit fragendem Blick an. Für einen Moment herrschte eisiges Schweigen. Bei weitem nicht so entsetzlich wie damals, aber immerhin auffallend unangenehm.

„Eine halbe Million Euro?“, fragte Volker aufgebracht. „Ist der Kerl verrückt? Was denkt er, wo wir so viel Geld hernehmen sollen?“

„Ich glaube, er spekuliert darauf, dass wir den ganzen Besitz verkaufen und ihn dann auszahlen“, antwortete Walter ruhig. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee nach. Die letzte, sonst würde er Probleme mit dem Einschlafen bekommen. Andererseits würde er das heute so oder so, dachte er.

„Aber das ist doch völlig unmöglich“, rief Hannah. Ihr ansonsten eher blasses Gesicht hatte rötliche Flecken erhalten. „Hast du ihm gesagt, dass wir die Mühle gerade zu einem Restaurant umbauen? Papa, Eriks ganze Existenz hängt daran, und meine auch.“

„Wir haben alle in das Projekt investiert, nicht nur du und dein Mann“, erinnerte Volker. „Was fällt dem Kerl eigentlich ein? Wir … wir lassen das auf jeden Fall juristisch prüfen. Damit kommt er nicht durch. Ich rufe gleich nachher Robert an. Der wird das für uns erledigen.“

„Vielleicht wartest du damit noch einen Moment“, sagte Walter leise.

Volker blinzelte. „Wieso? Was meinst du damit?“

„Das, was ich gesagt habe“, gab Walter zurück. „Warte damit noch, bis … bis ihr meine Geschichte gehört habt.“

Die beiden längst erwachsenen Kinder tauschten einen kurzen Blick miteinander, bevor sie beide ihren Vater ansahen. In diesem Moment erkannte der alte Mann eine Familienähnlichkeit zwischen den beiden, die man ihnen ansonsten glatt absprechen konnte, wenn man sie zusammen sah. Vielleicht lag es aber auch nur an dem nahezu identischen Ausdruck in ihren Gesichtern.

„Von welcher Geschichte sprichst du, Papa?“, hakte Hannah nach. „Du hast uns früher hunderte erzählt.“

Der Alte schüttelte langsam den Kopf. „Eine nicht. Und vielleicht ist das ein Fehler gewesen.“

Walter Wagenknecht schob die Holzeisenbahn, deren Räder sich nach der langen Zeit nicht mehr drehten, zurück in die Tischmitte. Er sah seine Kinder mit ernster Miene an.

Bitte Vorsicht beim Einsteigen, dachte er.

- 4 -

Unewatt, im Dezember 1945

Es war die Woche vor meinen ersten Weihnachtsferien, als meine Mutter mich nach drinnen rief. Ich war draußen damit beschäftigt gewesen, eine Ritterburg aus Schnee zu bauen. In der Schule hatten wir gelernt, wie so etwas auszusehen hatte. Ich war stolz auf den großen Burghof, den ich mit starken Wehrmauern versehen und mit zwei großen Türmen gekrönt hatte. Nur mit dem Torbogen, unter dem ich ursprünglich eine Zugbrücke hatte befestigen wollen, war ich noch nicht ganz zufrieden. Es wollte schon dunkel werden, als ich mir den zum Teil schon angefrorenen Rotz von der Nase wischte und zur Haustür hereinmarschierte.

Ich riss mir die Strickmütze, die Oma Theodora für mich gemacht hatte, vom Kopf und den Schal, der nass von meinem Atem war. Erwartungsvoll sah ich meine Mutter an, die an diesem Tag, es muss zwei oder drei Tage vor dem Heiligen Abend gewesen sein, tatsächlich lächelte. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen ich sie so sah. Ansatzweise glücklich, meine ich. Und auch jetzt war es nicht viel mehr als ein Anflug, aber ich hatte ihn wahrgenommen und er versetzte mich in Hochstimmung, ahnte ich doch, dass heute etwas Besonderes eintreten würde.

„Herr Gerhard hat dir etwas mitgebracht“, sagte Inge, meine Mutter. Sie wischte sich die Hände in ihrer grauen Kittelschürze ab, die sie so gut wie immer trug. Im Grunde kannte ich sie gar nicht anders. Sie mochte ein oder zwei Kleider besessen haben zu der Zeit, aber getragen hat sie sie niemals. Es mangelte einfach an Anlässen.

Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich mich wunderte, warum Herr Gerhard, das war der für unseren Bereich zuständige Postbote, ausgerechnet mir etwas mitgebracht haben sollte. Das war noch nie vorgekommen. Kinder bekamen keine Post. Und doch war ich heute die glorreiche Ausnahme dieser Regel, nur wusste ich es damals noch nicht.

Ich hörte die Hintertür gehen und reckte neugierig meinen Hals, aber es war nur Oma Theodora, Vaters Mutter, die von außen hereingekommen war, nachdem sie die beiden Kühe im Stall für die Nacht versorgt hatte. Wie immer trug sie die kleine Milchkanne aus Zink am Henkel in die Küche.

Theodora war eine zähe und fast dürre, alte Frau, die ich nur mit verhärmtem Gesichtsausdruck kannte. Sie war gütig und liebevoll, nur schienen sich diese Eigenschaften niemals auf ihrem Gesicht widerzuspiegeln. Aber selbst sie war heute anders. Ein wenig aufgeregt vielleicht. Ein wenig glücklich.

„Weiß er es schon?“, fragte Theodora meine Mutter.

Inge nickte. „Ich habe es ihm gerade gesagt.“

„Und?“

„Er hat es noch nicht geöffnet.“

Langsam wurde ich wirklich neugierig. Dass Weihnachten so kurz vor der Tür stand, hatte ich noch nicht realisiert.