Olivier Haralambon

DER
RADRENNFAHRER
UND SEIN
SCHATTEN

Aus dem Französischen
von Christoph Sanders

Für Katia,
die den Schatten vertreibt

…mich packte der Schweiß:
Feuerbälle willst du schauen, rot glühende Boliden?
Da stehen und lauschen, dem Summen von milchig weiß
strömenden Sternen und den schwärmenden Asteroiden?

Arthur Rimbaud, L’Homme juste

Inhalt

Mein Begleitschatten

Flacher Kosmos

Der Finger des ungläubigen Thomas

Wettkampf

Flüssiger Körper

Alles andere als ein Beruf

Das Monster

Intimitäten

Gnade und Ungnade

Mit seinem Körper zum Himmel fahren

Nachts

Formbar

Abdruck

Der Alte

Mein Begleitschatten

Mehr als an jedem anderen Tag geschieht es sonntagmorgens. Zur Stunde der Frühmesse begegnet man diesen kleinen wandelnden Kirchen, die es offensichtlich eilig haben, zum Stadttor hinauszukommen. Gruppen von Rennradfahrern, die noch vor Tagesanbruch und bei jedem Wetter ausfahren. Es ist meist nicht leicht, diese Männer und wenigen Frauen zu verstehen, deren auffällige Aufmachung jeder Körperfalte folgt; ehrlich gesagt liegt sie so eng an, dass sie nur geschaffen scheint, Unvollkommenheiten des Körpers herauszustreichen. Man wundert sich über ihre Silhouetten, die sich über die Fragilität schmaler Felgen beugen. Man weiß nicht so recht, ob ihre Körper den Schatten folgen oder umgekehrt und wer von wem geformt wird. Der Anblick ihrer Kopfbedeckungen und überdimensionierten Brillen belustigt.

Wer nicht vom Radsport ergriffen ist, dem bleibt er letzthin fremd. Häufig ruft die Erwähnung des Begriffes einige berühmte Namen hervor, manchmal ordnet man ihnen sogar antiquierte Spitznamen zu, die körperlos bleiben wie Apostel in einem Gemälde. Jacques Anquetil, Louison Bobet, Raymond Poulidor hatten sicher ein Gesicht, aber das kennt man nicht mehr. Ebenso wenig würde ein Gymnasiast Balzac oder Flaubert auf einem Foto wiedererkennen. Vergessen ist auch, dass Eddy Merckx noch schöner war als Elvis Presley.

Nur der allgegenwärtigen Tour de France gelingt es manchmal, einen hinteren Platz im komplexen Geflecht unserer Erinnerung einzunehmen. Es ist in der Tat nicht möglich, der Imprägnierung durch die Tour zu entkommen, wenn man Französisch zur Muttersprache hat. Doch nicht selten lässt sich das, was man von ihr weiß, in ein paar Floskeln zusammenfassen. Der Radsport und die Tour bilden einen Teil des Juli-Hintergrundes, so wie die Farbe des Himmels oder des Sandes, die lang ersehnte Sanftheit des Windes, der einem um die Nase weht oder lautlos das trockene Gras kräuselt. Hintergrundgeräusch ist der Fernseher, vor dem man sich an den heißen Stunden des Nachmittags in jalousiengefiltertem Licht räkelt. Wem ist es nicht schon passiert, während einer Tour-de-France-Etappe einzuschlummern?

In den Augen vieler bleiben Radrennen ein schrecklich eintöniges Ereignis. Stunde um Stunde der Wiederholung einer immer gleichen Bewegung zuzusehen, die in zehntausendfacher Einförmigkeit abläuft, entbehrt jeden Interesses. Selbst wenn man bemerkt, dass sich der Rhythmus ihrer Beine ändert, dass sie manchmal spektakulär beschleunigen, reihum aus dem Sattel gehen, ein Stück weit im Wiegetritt fahren und sich dann wieder setzen, auch wenn man die Steilheit einiger Anstiege kennt und sich die Pupille angesichts der Geschwindigkeit weitet, mit der sie bewältigt werden, ist man der Anstrengungen doch bald überdrüssig. Hat man lang genug ungläubig staunend, mit zwischen Respekt und Mitleid wechselndem Gesichtsausdruck, am Schauspiel ihrer Qualen teilgenommen, wendet man den Blick ab und widmet sich lieber etwas anderem.

Pedalieren gilt als die mechanischste aller Übungen. Eine Bewegung, die jeder beherrscht, sobald er als Kind gelernt hat, auf zwei Rädern das Gleichgewicht zu halten. Ist es nicht das Rad, das in gewisser Weise die Pedale bewegt, reicht es nicht, der eindeutigen, fast unveränderlichen Bewegungsrichtung zu folgen, die die rotierende Kurbel einmal vorgegeben hat? Man erzählt sich sogar, diese stumpfsinnig dem Räderwerk der Maschine aufgezwungene Arbeit sei lediglich das Werk von Radprofis auf Drogen. Was ist daran noch zu bewundern, worüber sollen wir noch staunen, wenn sogar der Wille mechanisiert wurde und alle Anstrengung nur Täuschung ist?

Tatsächlich gibt es auf diese Fragen auch Antworten. Es sind sogar sehr viele – die aber sind so facettenreich und tiefgründig, dass man unweigerlich vor der Mühe zurückschreckt, sie alle aufzuzählen. Als Kinder einer Epoche, die von der seriellen Reproduktion des Gleichen besessen ist und fast manisch alles einer Objektivierung unterwirft, sind Sportkommentare in einer Reihe von Klischees erstarrt, die den Radrennfahrer in einer zumindest ungelenken Schwarzweiß-Malerei einsperren (hier die Verdienstvollen, dort die Betrüger) und einige schematisierte Rennverläufe katalogisieren, die beliebig wiederverwendbar sind. Diese systemische Komponente erzeugt mit ihrem Jargon einen Code, der darauf zielt, Eingeweihte und Willige zu vereinen, hilft aber nicht im mindesten, die Neugier des Novizen zu wecken – im Gegenteil: Das Resultat ist eine Abschirmung. Da vernimmt man vage etwas von »Sprints«, von »Kletterern« und »Ausreißern«, ja, sogar von »Windkanten« und »Belgischem Kreisel«, und man staunt über die Ausdrucksformen. Von Radrennen versteht man danach immer noch nichts, geschweige denn, dass man im Rennen etwas erkennt und es durchschauen könnte.

Ich dagegen habe den verhängnisvollen Biss schon früh empfangen. Noch vor dem Stimmbruch begann ich, Rennrad zu fahren, und ich bestritt Rennen, bevor der sexuelle Appetit die Welt auf den Kopf stellte. Manchmal habe ich unter den kleinen Verachtungen gelitten, immer aber unter dem Unverständnis, das man meinem Zeitvertreib entgegenbrachte, der bald zum Mittelpunkt meines Lebens wurde, dessen Ausmaß von allem Besitz ergriff und meinen Alltag völlig vereinnahmte.

Jetzt aber, nachdem meine Existenz ein wenig vorangeschritten ist und ich zu den strengen Vorschriften und fast sektiererischen Regeln, die mein Leben damals bestimmten, gewissen Abstand gewonnen habe, will ich diesen Weg noch einmal beschreiten. Ich würde mir gerne etwas bewusst machen, oder vielmehr möchte ich mich noch einmal all der Verzauberungen annehmen, die mir zuteilwurden, während ich über Jahre nur mit Radrennfahrern verkehrte, nur mit ihnen lebte, nur wie sie lebte, um schließlich ad vitam einer von ihnen zu sein.

Merkwürdigerweise hat dieses Rad, das so viel Leiden mit sich bringt, mir gleichzeitig die optimistischste Perspektive aufgezeigt, in der ich mich je einrichten konnte. Natürlich habe ich es geliebt, auf dem Rad zu sitzen und in die Pedale zu treten und mich neben dem Dämon meines Schattens zu verausgaben – er war mein Haustier, das mir in die Waden biss, sobald die Sonne ihm die Gelegenheit dazu gab, und ich habe es wild über zehntausende Kilometer mitgeschleppt, ohne dass es jemals von mir gelassen hätte. Ich habe geschwitzt, gespuckt, geweint und gelacht, genossen, gesabbert und manchmal auf den Asphalt und in die Landschaft geblutet. Ich habe mein Rad und die Radrennen heftig geliebt, weil sie mir eine Art Vertrauen zur unermesslichen Größe des Lebens gegeben haben, ein Vertrauen in die Vertikalität der Zeit. Ohne dies hätte ich sonst niemals die geringste Ewigkeitserfahrung gemacht – nicht die Erfahrung einer mythologischen, sondern die einer gelebten Ewigkeit.

Sicher, im Laufe der Jahre und mit fortschreitendem Training habe ich mich auch von meinen eigenen Fähigkeiten blenden lassen. Nie hätte ich als Kind geglaubt, dass meine Beine eines Tages so viel Glut und Kraft ausstrahlen könnten. Manchmal ging es so weit, dass ich mich für schier unermüdlich hielt und für unempfindlich gegenüber Schmerzen – lange Ausfahrten auf leeren Magen, Steigungen, die man hundertmal bezwingt, sengende Hitze.

Aber gerade weil es genau dort auftauchte, wo ich es am wenigsten erwartete, kann das Rad, von dem ich rede, ein vielleicht unverhofftes Interesse erwecken. Durch das Rennrad, durch eine unermüdliche, fast verzweifelte Ausübung des Radfahrens (nie ist die Hoffnung größer als kurz vor der Verzweiflung), wurden mir die Eckpfeiler des Daseins offenbart. Vieles von dem, was ich eigentlich von den Älteren, meinen Lehrern, der Schule oder den Büchern erwartet hätte, lernte ich durch das Radrennfahren und meine Radfahrerkollegen. Die Vorstellung, die ich mir vom Körper und von der Zeit machte (die Ewigkeit erwähnte ich bereits), meine Fähigkeit, Angst und auch die zersetzenden Folgen der Melancholie niederzuringen, doch vor allem und über allem die Vorstellung, die ich mir von der Intelligenz der anderen machte. Die besten Rennfahrer nämlich – und das ist kaum bekannt und liefert gleichzeitig einen fehlenden Schlüssel – zählen zu den intelligentesten, subtilsten Vertretern der menschlichen Gattung. Selbst wenn sie sich fast immer vom Gegenteil überzeugen lassen und ihre eigene Feinfühligkeit komplett verleugnen. Ich habe mich den Tatsachen gebeugt: Lesen bildet, macht aber nicht schlauer, das Radrennfahren schon. Einem Radrennen ist die Tugend der Enttäuschung eigen. Man denkt, nichts sei einfacher oder selbstverständlicher, als ein Pedal zu bewegen, und Radrennen liefen wie eine Wiederholung von Modern Times ab, nur ohne Chaplin und bar jeder Poesie. Man ahnt beispielsweise nicht, dass schiere Kraft und Geschwindigkeit zwei grundverschiedene Dinge sind. Dass ein Pedal mehr umsponnen und gestreichelt wird, als einfach nur niedergedrückt. Dass man, um diese Anstrengung durchzustehen und den Schmerz ertragen zu können, gelernt haben muss, diesen nur zu streifen; es ist, als lupfe man mit dem Pedal den Deckel vom Schacht des Schmerzes, um ihn dann in der Schwebe zu halten, während diese Bestie dort unten um sich schlägt und alles zu vernichten droht.

Ich wiederhole es: Eigentlich sehen Sie nichts. Sie halten sie für Rohlinge, dabei sind sie sensibel wie Tänzerinnen und feinsinniger als manche Schriftsteller. Denn anders würden sie nicht vorankommen. Nur ist ihre Körpersprache nicht leicht lesbar, da man den Regeln der Erscheinung nach glaubt, ihre Körper würden von ihren Maschinen eingezwängt, weshalb man überzeugt ist, ihr Bewegungsraum sei eingeschränkt und verengt. Als Kinder der Emphase und der weitschweifigen Bewegung erkennen wir nichts, da ihnen die Gestik fehlt. Ich selbst war noch ein Kind, das vor dem Fernseher hockte, als Hinault Weltmeister wurde, indem er sich an der Côte de Domancy geradezu zerriss. Es sollte Jahre dauern und viele Enttäuschungen brauchen, um zu begreifen, wie viel Finesse sich in diesem Körper hinter einem räudigen Blick und der struppigen Haartolle verbarg.

Die Kolosse, die am besten gewappnet sind, dem Wind und dem miserablen Kopfsteinpflaster der Rennen im Norden zu trotzen, sind ballerinesker Zartheit fähig; Paris–Roubaix und die Ballettkleider von Repetto ziehen in die gleiche Schlacht! Aber das scheint niemand zu wissen. Man hat große Texte zum Tanz und zum Körper verfasst – ich denke an Paul Valéry. Auch über Radrennen, sicher, da war der wundervolle Antoine Blondin und viele andere in seinem Fahrwasser. Aber eine zu strahlende Darstellung hat häufig die Schattenseiten überbelichtet und dabei oft das Absolute, das Entgrenzte der radsportlichen Praxis ausgeblendet, bei der das Training eine Form der Askese und die Höchstleistung zu einer Art Gnosis wird. In den meisten Fällen werden die herausragenden Großtaten der Champions im naiven Licht reiner Affirmation gefeiert – schlimmer noch: nur als Erfolge –, ohne zu ahnen, wie sehr sie von ihrem Weltschmerz, ihrem taedium vitae, angetrieben sind. Das Radrennfahren wird nur noch anhand grober moralischer Raster bewertet und, in Verleugnung des Offensichtlichen, mit naiven, pseudowissenschaftlichen Erklärungen abgehandelt: Wenn diese Männer Irrwege beschreiten (besonders im Doping), dann sündigen sie meistens »aus zu heftigem Verlangen, sich mit Gott zu vereinen«, und weil »das Schlechte das korrumpierte Gute ist«. Ironischerweise wird ihnen etwas vorgeworfen, was eigentlich verziehen werden sollte. Kurzum, man liegt meilenweit daneben.

Radrennen sind etwas zu Großes und Lebendiges, um zu einem wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand eingeschrumpft zu werden. Und vor diesem Rätsel will ich mich nun verneigen. Seine Lösung erfordert letztlich nur innere Einkehr, und darum ist alles, was ich, außer ein wenig Nachsicht über meine Selbstgefälligkeit, in der ersten Person zu sprechen, vom Leser verlange, mich zu begleiten; denn ich will vor ihm meinen Schädel öffnen. Die Hirnschale ist der einzige Ort der Leistung, dort wird ihre Welt erzeugt, entworfen und gestaltet.

Tänzer, Artisten und Seeleute, Schriftsteller, Toreros und Poeten, Handwerker und Arbeiter, Mystiker und Asketen, was auch immer Sie wollen, aber keine Sportler.

Vergessen Sie den Sport.