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Schauplätze des Geschehens:

Im Osten Frankfurts wird einem älteren Herrn von Trickbetrügern übel mitgespielt. Zur gleichen Zeit hält ein Supermarkterpresser die Bevölkerung in Atem.

Ein Geldverleiher betreibt auf der Frankfurter Zeil seine dubiosen Geschäfte.

Karlo bekommt nicht nur einen Auftrag von Privatdetektiv Gehring, sondern auch Probleme mit einem generalüberholten Oldtimer, den er bei einem zwielichtigen Autohändler auf der Mainzer Landstraße erstanden hat.

Bisher sind elf Bände der Karlo-Kölner-Reihe
im Verlag Vogelfrei erschienen:

Karlo und der letzte Schnitt

Karlo und der zweite Koffer

Karlo und der grüne Drache

Karlo und das große Geld

Karlo geht von Bord

Geschenke für den Kommissar

Liebe, Tod und Apfelsekt

Miezen, Mord und Malerei

Lottoglück für eine Leiche

Kalte Liebe, heißer Tod

Killerküsse und Karossen

Der Autor

Peter Ripper, Jahrgang 1954, ist selbstständiger Werbefachmann, Gitarrist bei einer Frankfurter Rockband und begeisterter Motorradfahrer und Fotograf.

Er lebt in Langenbieber in der Rhön und in Frankfurt am Main.

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© 2018 bei Vogelfrei-Verlag
36145 Hofbieber
Internet: www.vogelfrei-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggemälde: Sergej Kasakow · www.kasakow-kunstmalerei.de
Lektorat: Stefanie Reimann, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Peter Ripper
Satz: Verlag VogelfreiPlus, Hofbieber, 0177-309 85 36
eISBN: 978-3-9815155-9-6

Peter Ripper

Killerküsse
und Karossen

Kriminalroman

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Inhalt

Der Autor

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Vorwort

Die bemerkenswerte Tatsache, dass sämtliche Karlo-Kölner-Fälle im Zwei-Finger-System geschrieben sind, ergibt sich aus der Erkenntnis, dass ein Autor nicht schneller schreiben sollte, als er denken kann. Sonst steht er irgendwann vor einem Rätsel, für das es keine Lösung gibt.

Ein Rätsel aber kann nur derjenige erschaffen, der die Lösung selber entwickelt. Wobei andererseits ein Rätsel nur ein Rätsel ist, wenn man die Lösung noch nicht parat hat. Vielleicht verhält es sich mit einem Rätsel wie mit einem Butterbrot. Hat man es aufgegessen, ist es nicht mehr relevant. Außer vielleicht kurzfristig für denjenigen, der es gegessen hat.

Doch ist es im Leben mit Rätseln tatsächlich wie mit Butterbroten? Möglich ist das schon. Denn hat man das eine Rätsel gelöst, wartet hinter der nächsten Ecke schon ein neues. Und hat man ein Butterbrot zum Abendbrot aufgegessen, verhindert das nicht den Appetit aufs Frühstück am kommenden Morgen.

So ergibt sich ein ewiger Kreislauf von Dingen, die wir einfach tun müssen. Zumindest wenn wir Polizisten sind. Oder Privatdetektive. Oder Verbrecher. Oder Krimiautoren. Wobei die beiden erstgenannten Kategorien aufgrund ihrer Profession bestrebt sind, die Rätsel zu lösen, die ihnen die letztgenannte aufgibt.

Diese wiederum erschafft mit Mutwillen Rätsel für eine weitere Kategorie: Die Leserinnen und Leser. Die Leserschaft hat den Polizisten und den Privatdetektiven allerdings eines voraus: Sie möchte aus purem Vergnügen hinter die Lösung des Rätsels kommen.

Es ist also auch beim elften Band mit Zufallsdetektiv Karlo Kölner zu hoffen, dass die Leserinnen und Leser viel Vergnügen beim Lösen des neuen Rätsels haben.

Damit das kriminelle Abendbrot auch ganz gewiss Appetit aufs verbrecherische Frühstück macht.

Viel Spaß also mit Karlo Kölners neuestem Fall.

Donnerstag, 31. März
Frankfurt-Fechenheim

1

Die Morgenluft erwies sich als überraschend kühl. Der alte Herr Birngruber schlug fröstelnd den Mantelkragen hoch, als er die Baumertstraße entlanglief. Er zog den Tragegurt der Einkaufstasche über seiner Schulter wieder zurecht, schaute prüfend nach dem Verkehr und überquerte die Straße. Nach einigen Metern bog er in die Pfortenstraße ein. Kurz vor dem Supermarkt stolperte er und geriet ins Straucheln.

„Verflixt nochmal“, fluchte er erschrocken.

Er ruderte wild mit den Armen, die Tasche rutschte ihm von der Schulter und fiel zu Boden. Ein instinktiver Schritt nach vorn bewahrte den Rentner vor einem Sturz.

„Verdammter Bockmist!“, bekräftigte er seinen Fluch und hielt sich sein verdrehtes Knie.

Schon wieder diese verflixten Stufen!

Wütend betrachtete er seine angestoßene Schuhspitze. Vor einigen Wochen bereits hatte er sein bestes Paar Schuhe an dieser vermaledeiten Stelle ruiniert.

Man hatte hier aus unerfindlichen Gründen versucht, die Steigung des Gehwegs mit zwei Stufen auszugleichen. Technisch betrachtet ein Erfolg, waren die Stufen für Rollstuhlfahrer und ältere Leute ein Ärgernis.

Birngruber schalt sich einen senilen alten Tattergreis, weil er wieder nicht an die Stufen gedacht hatte. Er drehte sich um und streifte die Stolperfalle mit einem grimmigen Blick. Dann marschierte er, mit schmerzendem Knie und verdrossen vor sich hin grantelnd, weiter Richtung Supermarkt.

Die gläserne Schiebetür des direkt neben dem 7. Polizeirevier gelegenen Marktes öffnete sich. Ein Schwall warmer abgestandener Luft quoll Birngruber entgegen, als er den Vorraum betrat. Der alte Herr blies die Backen auf, rümpfte die Nase und wühlte in der Einkaufstasche nach der Geldbörse. Seit die Filiale seiner Bank in Alt-Fechenheim geschlossen hatte, war der Geldautomat im Eingangsbereich des Marktes die einzige ortsnahe Verbindung zu seinem Guthaben. Wenn gerade eines vorhanden war.

Nach der Filialschließung hatte Birngruber überlegt, seine wenigen Bankgeschäfte online zu erledigen. Er wusste durchaus mit einem Computer umzugehen. Was ihn störte, war die Unsicherheit des elektronischen Zahlungsverkehrs.

Er war nicht weit über siebzig Jahre alt geworden, um sein Geld an dubiose Hacker-Freaks oder anderes Gesindel zu verlieren. Viel war es ohnehin nicht, was monatlich auf sein Girokonto überwiesen wurde. Seine kleine Buchhandlung im Frankfurter Norden hatte er schon vor vielen Jahren wegen sinkender Umsätze schließen müssen. Anschließend war er kurze Zeit als Angestellter im Laden eines großen Filialisten in der Innenstadt beschäftigt gewesen. Dann kam die Arbeitslosigkeit, und sein Rentenniveau war in den Keller abgerutscht.

Der Geldautomat saugte die EC-Karte ein, und Birngruber tippte die Geheimnummer und den gewünschten Geldbetrag in die Tastatur. Nervös blickte er über die Schulter, als sich die Tür wieder öffnete. Laut lachend betraten zwei junge Burschen hinter ihm den Vorraum. Birngruber verzog den Mund und rückte noch einige Zentimeter näher an den Automaten, um das kleine Display vor neugierigen Blicken abzuschirmen. Misstrauisch schaute er den beiden nach, wie sie den Verkaufsraum betraten.

Sein Kopf flog erschrocken herum, als die Maschine mit surrenden Geräuschen die angeforderten Geldscheine abzählte. Ein dezentes Klackern begleitete die Herausgabe der gewünschten Banknoten.

Nach einem weiteren argwöhnischen Rundumblick stopfte er tausend Euro in Fünfzigern in seine Brieftasche. Das musste ihm einige Wochen reichen.

Über die beiden Männer, die einige Schritte vor dem Markteingang standen und ihn verstohlen beobachteten, machte sich Birngruber keine weiteren Gedanken. Er hatte sie schlichtweg übersehen.

Zufrieden schlenderte er in den Supermarkt. Er nahm sich einen Einkaufswagen, zog seinen Merkzettel hervor, schaute prüfend darauf und begann, das Angebot von Obst und Gemüse zu begutachten.

Er lud einige Artikel in den Wagen und ging weiter zum nächsten Gang. Sein Blick schweifte unschlüssig die Regale entlang, als ihm ein Mann ins Auge fiel. Er stand in gebückter Haltung vor dem Süßwarenregal und hielt einen Karton mit Schaumküssen in den Händen, drehte ihn, studierte konzentriert den Text auf der Rückseite und stellte ihn zurück ins Regal. Dann zog er den darunter befindlichen Karton aus dem Regal, fummelte daran herum und verfuhr damit wie mit dem ersten.

Birngruber schob den Einkaufszettel gedankenverloren zurück in die Manteltasche und rieb sich grübelnd das Kinn. Was in aller Welt war an dieser Szenerie so ungewöhnlich? War es der voluminöse dunkle Schnurrbart des Mannes, der irgendwie aus der Zeit gefallen wirkte? War es die rötlich gefärbte Sonnenbrille auf der großen Nase? Vielleicht aber auch dieses lächerliche rote Baseballkäppi?

Oder handelte es sich etwa – um einen Dieb? Versuchte der Mann etwas zu stehlen?

Birngruber fischte sein Handy aus der Manteltasche und schaltete die Kamerafunktion ein. Als er den Mann auf dem Bildschirm hatte, zitterten seine Hände. Die Aufregung trieb seinen Blutdruck in die Höhe.

Nun stand der Mann mit dem Rücken zu ihm, und es hatte wenig Zweck, ihn zu fotografieren. Wenige Momente später drehte sich der Mann um.

Birngruber löste aus. Um nicht aufzufallen, hielt er das Handy ans Ohr und simulierte ein Gespräch.

Mit einem Mal schämte er sich.

„So ein Quatsch“, brummelte er.

Ein erwachsener Mann stiehlt Süßwaren? Blödsinn. Und außerdem: Was hatte er damit zu tun?

Vielleicht war es ein Mitarbeiter, der das Verfalldatum der Produkte überprüfte.

Der alte Herr schaute sich ratlos um, dann lud er noch eine Packung geschnittenes Brot in seinen Wagen.

Als er wieder in Richtung Süßwarenregal sah, war der Mann verschwunden. Birngruber schüttelte den Kopf. Nein, dachte er, er fing wohl langsam an zu fantasieren. Er steckte sein Handy ein und ging weiter.

Doch die Schaumküsse – die ließen ihn nicht los. Unwillkürlich leckte er sich die Lippen und schob den Wagen Richtung Süßwaren. Vor dem Regal angelangt, blieb er unsicher stehen.

Du lieber Himmel, dachte er, seit einer halben Ewigkeit habe ich keine Schaumküsse mehr gegessen. Das musste zu der Zeit gewesen sein, als das Wort Negerküsse noch nicht verpönt war und auf der schwarzen Liste stand.

Urplötzlich erfasste ihn eine kolossale Begierde auf die süße Spezialität. Wie ferngesteuert griff er zu und lud sich mit verlegenem Schmunzeln drei Pakete in den Einkaufswagen.

„Man gönnt sich ja sonst nichts“, murmelte er und spickte wieder auf seine Einkaufsliste.

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Vor seiner Haustür fast am Ende der Fachfeldstraße angekommen, stellte Birngruber ächzend die schwer beladene Einkaufstasche ab. Der schmale Tragegurt hatte ihm auf den letzten Metern unangenehm in seine rechte Schulter geschnitten.

Schrill quietschende Reifen ließen ihn erschrocken herumfahren. Ein lautes Krachen folgte, das Splittern von Glas verursachte eine Gänsehaut auf Birngrubers Rücken.

Er riss die Augen auf. Ein rostzerfressener Toyota hatte das Heck eines mindestens ebenso klapprigen VW Jetta gerammt.

Einige Sekunden herrschte völlige Stille.

Dann wurden die Fahrertüren aufgestoßen. Zwei aufgebrachte Männer schossen aus den Fahrzeugen und gingen wutentbrannt aufeinander los.

„Haben Sie keine Augen im Kopf?“, brüllte ein vierschrötiger Kerl, dessen knallroter Kopf aus einem hochgeschlossenen schwarzen Lederblouson hervorleuchtete.

„Ich hatte gebremst, Sie Volltrottel! Da sieht man zwei Lichter hinten am Wagen, falls Sie es noch nicht wussten. Die Lichter in Ihrem Hirn hingegen sind schon lange ausgefallen.“

Die Augen seines Kontrahenten verengten sich zu Schlitzen. Sein Mund verzog sich verächtlich. Das schmale Gesicht mit der langen Nase und dem fliehenden Kinn verlieh ihm das Aussehen einer Ratte.

„Verzeihung. Tut mir ja so leid. Ich ahnte nicht, dass Ihre Antiquität überhaupt Bremslichter hat“, blaffte er zurück. „Ich war überzeugt, bei Ihrem Modell funktioniert das mit Rauchzeichen.“

„Das ist ein Oldtimer, Sie Blödmann“, kam prompt die Belehrung. Der stämmige Mann tätschelte das Heck des elfenbeinfarbenen Gefährts liebevoll. „Ein technisch hochwertiger Oldtimer, kein Lagerfeuer.“

„Lagerfeuer?“, quäkte die Ratte giftig zurück. „Da würde die Schaukel aber draufgehören. Halten Sie doch einfach ein Streichholz dran. Oder, noch besser, schaffen Sie ihn zur Schrottpresse!“

„Das könnte Ihnen so passen, Sie Armleuchter.“ Der kräftige Kerl in der Lederjacke ging drohend zwei Schritte auf seinen Gegner zu. „Den Wagen bringe ich heute noch zu einem Gutachter. Sie Vollpfosten kommen mir nicht billig davon. Ihre rostige Schaukel können Sie als Fahrgelegenheit für die Geisterbahn auf der Frankfurter Dippemess abgeben.“

Das Rattengesicht ließ sich nicht einschüchtern.

„Von wegen Gutachter. Ich rufe jetzt die Polizei. Die stellen im Labor fest, ob Ihre Bremslichter überhaupt funktioniert haben. Dann werden wir ja sehen.“

„Aber ja! Ich bitte darum. Machen Sie das. Die Polizei. Rufen Sie die Polizei. Die nimmt Sie dann gleich mit und locht Sie ein. Hat Ihre verrostete Schiffsschaukel überhaupt noch TÜV?“

„Ha!“ Die Ratte spuckte verächtlich aus. „Worauf Sie sich verlassen können. Wir werden schon sehen, wer hier eingelocht wird.“

Der Fahrer des Toyotas griff mit triumphierendem Blick in seine Hosentasche. Plötzlich erschienen Falten auf seiner Stirn und seine Miene verdüsterte sich schlagartig.

Er hielt verdutzt inne. Fahrig tastete er seine Jacke mit beiden Händen ab. Mit verkniffenem Mund schaute er ins Wageninnere.

„Verdammter Mist“, bellte er wütend. „Hab mein Handy zu Hause liegengelassen.“

Der Jetta-Fahrer grinste hinterhältig. „Haben Sie denn überhaupt ein Handy?“, versetzte er boshaft. „Wer auf solch einen Schrotthaufen angewiesen ist, kann sich ganz bestimmt kein Handy leisten.“

Die Ratte riss ihre Knopfaugen auf.

„Dann rufen Sie doch die Polizei, Sie Hornochse. Ist ja auch Ihr wertvoller Oldtimer, der nun so schrecklich ramponiert ist. Allerdings – wenn Sie mich fragen, sieht er jetzt besser aus als vorher.“ Sein Gesicht verzog sich ins Frettchenhafte, als er boshaft fortfuhr: „Ich sollte Ihnen das in Rechnung stellen.“

Der Vierschrötige rang nach Luft und bekam vor Zorn keinen Ton heraus. Erbost zerrte er den Reißverschluss seines Lederblousons auf und wühlte hektisch in den Innentaschen. Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich innerhalb weniger Sekunden von sprachloser Wut ins Grenzdebile.

Der Fahrer des ältlichen Japaners nutzte die Sprachlosigkeit seines Kontrahenten und legte nach.

„Was ist nun?“, schnauzte er frech. „Rufen Sie endlich die Bullen oder haben Sie was zu verbergen?“

Die schäumende Wut des breitgebauten Cholerikers war urplötzlich einem verlegenen Blick gewichen. Etwas schien ihm peinlich zu sein.

„Äh … na ja“, gab er betreten zu, „ich hab mein Handy auch nicht dabei.“

Der alte Herr Birngruber indes lehnte an der Haustür, griff sich an die Stirn und kicherte amüsiert. Kopfschüttelnd wandte er sich ab und drückte die Tür auf. Er stand schon beinahe im Hausflur, als er eine fordernde Stimme hinter sich hörte.

Sein Kichern verstummte. Mit dem Türgriff in der Hand blieb er stehen.

„Hallo, Sie!“, tönte es erneut. „Warten Sie!“

Galt das ihm? Hoffentlich nicht!

Er schaute sich um. Die zwei Männer kamen auf ihn zugelaufen. Mist!

Birngruber glaubte plötzlich, die beiden zu kennen. Irgendwo hatte er sie schon einmal gesehen. Für einen Augenblick erwachte seine Neugier. Dann siegte sein Bedürfnis nach Ruhe und Frieden, und er wandte sich wieder der Eingangstür zu. Er trat ein und wollte die Tür hinter sich schließen, als er erneut angesprochen wurde.

„Ja, Sie da“, rief der Jetta-Fahrer und winkte mit beiden Händen. „Bitte. Warten Sie doch einen Moment.“

Herr Birngruber resignierte. „Was gibt es denn?“, stieß er argwöhnisch aus. Er wollte mit diesem unangenehmen Vorfall und seinen rüpelhaften Protagonisten lieber nichts zu tun haben.

„Könnten Sie uns bitte kurz Ihr Handy leihen? Wir wollen die Polizei anrufen.“

Etwas in dieser Art hatte der alte Mann befürchtet. Er flüchtete sich in eine Ausrede.

„Habe kein Handy“, flunkerte er in schroffem Ton.

„Willkommen im Club“, witzelte der Jetta-Fahrer. „Könnten wir dann bitte von Ihrem Festnetz telefonieren?

Birngruber seufzte und gab auf. Er hatte keine Lust zu diskutieren. „Dann kommen Sie eben mit nach oben, wenn es unbedingt sein muss.“

Die beiden Männer betraten hinter Birngruber die Diele der Wohnung. Birngruber deutete auf sein altgedientes Wählscheiben-Telefon, das auf einem kleinen Sekretär gegenüber der Garderobe stand. Um es weiter in Betrieb halten zu können, hatte er im Elektronik-Markt eine Art Adapter gekauft, der es kompatibel für die neue Übertragungstechnik machte.

Der Jetta-Fahrer inspizierte den alten Fernsprecher skeptisch und lachte. „Da schau mal an, der Apparat ist ja noch älter als mein Jetta“, spöttelte er verkrampft. „Wie man den wohl bedient?“

Birngruber hatte keine Lust auf laue Witzchen. Er wollte die zwei Burschen so schnell wie möglich wieder loswerden. „Wollen Sie vielleicht ein Wochenend-Seminar dafür belegen?“, schlug er gereizt vor. „Oder soll ich die Polizei für Sie rufen?“

Der Kopf des VW-Fans färbte sich purpurrot. „Aber nein. Das war bloß ein Scherz, entschuldigen Sie bitte.“

Fünf Minuten später, die beiden Fahrer waren zu ihren Blechkisten zurückgekehrt, stand Birngruber in der Küche und hantierte an der Kaffeemaschine. Auf dem Tisch stand schon ein kleiner Teller mit einem Stückchen Mohnkuchen bereit. Sein frisch abgehobenes Geld hatte er in einer alten Plätzchendose im Schlafzimmerschrank versteckt. Nachdenklich lauschte er dem leisen Schnorcheln seiner Kaffeemaschine.

Keine zehn Minuten später klingelte es. Birngruber ging an die Sprechanlage. „Hallo?“

„Polizei. Sie sind Herr Birngruber?“

„Warum?“

„Ich komme wegen des Unfalls hier vor dem Haus.“

„Ich hatte keinen Unfall.“

„Ich weiß. Es geht um diese zwei Autos.“

„Ich habe kein Auto. Erst recht keine zwei.“

Birngruber legte den Hörer der Sprechanlage auf.

Es klingelte erneut. Er hob noch einmal ab.

„Was ist denn noch?“

„Bitte, ich habe noch einige Fragen. Sie wurden doch Zeuge des Unfalls.“

Birngruber schnaufte genervt und drückte auf den Summer. Dann öffnete er die Wohnungstür und steckte den Kopf in den Flur.

Stirnrunzelnd schaute er dem Uniformierten entgegen, der die Treppe emporgestiegen kam. Der alte Herr kniff überrascht die Augen zusammen. Die blaue Uniform saß dem Gesetzeshüter stramm am Leib, der Stoff war abgetragen. Die braune Aktentasche unter seinem Arm wirkte seltsam deplatziert. Der Mann rückte seine Mütze zurecht.

„Polizei“, schnarrte er unnötigerweise. „Darf ich kurz reinkommen?“

Der Rentner nahm eine abwehrende Haltung ein. „Muss das sein? Stellen Sie doch einfach Ihre Fragen.“

„Aber ich muss ein Protokoll aufsetzen, und Sie müssten es unterschreiben. Lassen Sie mich doch bitte rein.“

„Ich habe nichts Relevantes gesehen.“

„Die beiden Unfallbeteiligten haben Sie als Zeugen angegeben.“

Birngrubers Verdrossenheit verstärkte sich. „Ich habe bloß gehört, wie es gekracht hat. Da habe ich natürlich hingeschaut. Was da eigentlich passiert ist, weiß ich nicht. Die Fahrer, diese beiden fragwürdigen Gestalten, haben sich zuerst wüst beschimpft. Ich hatte Anlass zu befürchten, der Streit könne in eine Schlägerei ausarten. Doch dann beruhigten sie sich, und fragten, ob sie bei mir telefonieren dürften. Was sollte ich machen? Ich habe es ihnen notgedrungen erlaubt. Sonst wären Sie jetzt nicht hier, oder?“

„Richtig. Und, sehen Sie, das müssen wir protokollieren. Es ist bequemer für Sie, wenn wir das hier und jetzt machen. Allerdings – wenn Sie mich nicht reinlassen, muss ich Sie aufs Revier vorladen.“

Birngruber bekam einen Schrecken. „Vorladen?“, erwiderte er zögerlich. „Wieso denn das?“

„Ich möchte es Ihnen doch nur einfach machen“, beschwor der Beamte den Rentner. „Aber wenn Sie das nicht wollen …“ Er zog die Augenbrauen drohend nach oben und ließ den Rest des Satzes offen.

Der alte Mann war nun völlig verunsichert. Er hob abwehrend die Arme. „Ich …“

„Nun kommen Sie schon“, forderte ihn der Beamte auf. „Dauert nicht lange.“ Er hob die Aktenmappe an. „Ich habe alle Formulare dabei. Es geht ganz flott. Ich verspreche es Ihnen. Aber es muss sein. Der Dienstweg, Sie verstehen?“

Birngruber verstand nicht, machte aber unwillig den Weg frei. „Dann kommen Sie eben rein.“ Trotz seines Unbehagens versuchte er freundlich zu bleiben.

„Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Den habe ich gerade ganz frisch gekocht.“ Er wies auf einen freien Stuhl am Küchentisch.

„Gerne“, gab der Polizist überrascht zurück. „Das ist aber nett von Ihnen.“

Während Birngruber eine zweite Tasse auf den Küchentisch stellte und Kaffee einschenkte, nahm der Uniformierte Platz. Er kramte einige Formulare aus seiner Tasche und breitete sie vor sich auf den Tisch aus.

„So“, forderte er den alten Herrn dann auf. „Wie ist es zu diesem Unfall gekommen?“

Birngruber wiederholte in ausführlicher Form, was er dem Uniformierten schon an der Tür in Kürze berichtet hatte. Der kritzelte fleißig auf seine Formulare.

Die Türklingel unterbrach die Zeugenvernehmung.

„Meine Güte, was ist denn heute nur los?“ Birngruber verlor langsam die Ruhe.

„Bleiben Sie sitzen. Soll ich für Sie nachschauen?“, bot der Beamte aufmerksam an.

„Ja, sicher. Tun Sie das bitte.“

Der Polizist erhob sich eilig, ging zur Tür und öffnete. Nach einer Weile vernahm Birngruber stirnrunzelnd einige unverständlich geflüsterte Worte. Kurz darauf betrat der Polizist wieder die Küche. Hinter ihm streckte der Jetta-Fahrer seinen roten Kopf durch die Küchentür.

„Entschuldigen Sie. Ich habe vorhin die Autoschlüssel auf Ihrem Sekretär vergessen. Bin gleich wieder weg.“

„Irrenhaus“, entfuhr es dem genervten Birngruber.

Der Polizist nahm wieder Platz am Küchentisch, schob Birngruber zwei Formulare hin und drückte ihm einen Kugelschreiber in die Hand.

„So, dann müssten Sie nur noch unterschreiben. Einmal hier“, er deutete mit dem Zeigefinger auf ein Unterschriftenfeld, „und dann nochmal hier. Und dann sind Sie mich auch schon wieder los.“

Zerstreut setzte Birngruber seine Unterschrift auf beide Blätter. Dann schob er die Formulare über den Tisch. Der Beamte schnappte sie sich schnell und steckte sie wieder in die Aktentasche.

Im selben Moment erschien die vierschrötige Gestalt im Rahmen der Küchentür. Birngruber runzelte die Stirn. Der Jetta-Fahrer. Den hatte er ganz vergessen. Was hatte der Kerl so lange in der Wohnung zu tun gehabt?

„Alles klar“, der Mann klimperte mit einem Schlüsselbund. „Hier sind sie. Lagen direkt neben dem Sekretär, waren runtergefallen. Hab sie glatt übersehen.“ Er winkte Birngruber freundlich zu. „Herzlichen Dank für Ihre Hilfe. Und nichts für ungut.“

Birngruber verdrehte die Augen.

Nun hatte es der Beamte plötzlich eilig. Er trank hastig seinen Kaffee aus und rückte seine Mütze zurecht. „Klasse Kaffee, vielen Dank“, brachte er noch heraus, dann war er verschwunden.

Das Lob besänftigte Birngruber. Einigermaßen.

Er goss sich selbst noch etwas heißen Kaffee nach, trank einen Schluck und ließ die letzte halbe Stunde Revue passieren.

Und plötzlich kamen ihm Bedenken.

Starke Bedenken.

Er rieb nachdenklich seine Nase, schob die Tasse beiseite, stand auf und ging eilig ins Schlafzimmer. Dort öffnete er den Kleiderschrank. Mit fliegenden Fingern zog er die Plätzchendose unter einem Stapel Unterhemden hervor und klappte den Deckel auf.

Als er ins Innere der Dose blickte, blieb ihm fast das Herz stehen.

Das Geld!

Sein Geld!

Sein ganzes Geld war weg!

„Hol’s doch der Kuckuck!“, brach es aus ihm heraus. „So eine verfluchte Sauerei.“

Und mit einem Mal verstand er.

Das Ganze war ein abgekartetes Spiel gewesen.

Von wegen Polizist.

Von wegen Unfall.

Kalte Wut beschleunigte Birngrubers Kreislauf. Ein überbordender Hass kochte in ihm. Hass auf die gewissenlosen Menschen, die in der Lage waren, sich solche Gaunereien auszudenken.

Die Ereignisse des Tages flogen an ihm vorüber, er sah sich wieder im Supermarkt am Geldautomaten. Natürlich!, schoss es ihm durch den Kopf. Die beiden Männer vor dem Markt.

Sie hatten ihn ausgeguckt, diese Schweine.

Verzweiflung überfiel ihn. Was sollte er bloß machen? Birngruber schämte sich in Grund und Boden. Mit dieser Geschichte konnte er doch niemals zur Polizei gehen, ohne als seniler alter Trottel dazustehen! Wie hatte er nur auf solch eine miese Tour reinfallen können?

Unsinnigerweise dachte er an die Schaumküsse, die er im Küchenschrank deponiert hatte. Sollte er sie lieber in den Kühlschrank stellen?

Er biss sich auf die Lippen. Wie kam er jetzt nur darauf? War das nicht völlig unwichtig?

Der Gedanke, dass es besser gewesen wäre, im Bett zu bleiben, ließ ihn nicht mehr los.

Heute hatte er wohl nichts richtig gemacht.

Montag, 4. April
Frankfurt-Fechenheim

2

An diesem Morgen saß Karlo Kölner auf dem blauen Sofa in der Wohnung seiner Freundin Jeannette und streckte sich zufrieden. Vor einigen Tagen waren sie aus einem Karibikurlaub zurückgekehrt. Ohne Karlos letzten Fall hätten die beiden sich das niemals leisten können. Ex-Kriminalhauptkommissar Georg Gehring, der nun als privater Ermittler tätig war, hatte Karlo zu einem kniffligen Fall hinzugezogen. Durch detektivischen Spürsinn, viel Glück und einen großzügigen Beteiligten, dem er zum Schluss der Ermittlungen sehr geholfen hatte, war Karlo zu einer beträchtlichen Geldsumme gekommen.

Einen Teil des unverhofften Geldsegens hatten die beiden in der Karibik gelassen. Mit einem Teil der verbliebenen Summe, hatte Karlo überlegt, könnte er sich endlich mal ein Automobil zulegen.

Die Fahrt auf seinem alten MZ-Motorradgespann in die winterliche Rhön, die auf abenteuerliche Weise in die turbulenten Ereignisse des letzten Falls gemündet war, hatte ihm eindrucksvoll vor Augen geführt, dass er kein besonders junger Mann mehr war. Zwei Wochen Urlaub im heilsamen Klima der Karibik hatten seine schmerzenden Knochen allerdings bestens kuriert. Sonne, Meer, gemeinsame Freizeit, exotisches Essen, ausgiebiges Kuscheln mit einer blendend aufgelegten Jeannette und nicht zuletzt das bewusst zu Hause gelassene Handy hatten für Karlo zum schönsten und erholsamsten Urlaub seines Lebens geführt.

Das Dumme war: alles ging viel zu schnell vorbei. Trotzdem fühlte Karlo sich stark genug, um ganze Bäume auszureißen. Nun ja – Bonsais vielleicht.

Jeannette befand sich heute zum ersten Mal auf ihrer neuen Arbeitsstelle in der Innenstadt. Sie verdiente dort nicht schlecht. Probleme finanzieller Art waren für Karlo und seine Lebensgefährtin daher erst einmal Schnee von gestern.

Karlo hatte ein anderes Problem.

Letzte Woche hatte er lauthals verkündet, er wolle beim Dienstagsstammtisch des Motorradclubs im Gartenhaus des Vereins in Oberrad Essen und Getränke auf seinen Geburtstag ausgeben. Mit allem Drum und Dran. Nun musste er sich ausdenken, was er den Freunden kredenzen könnte. Etwas zum Grillen wäre nicht schlecht, das war unkompliziert und traf den Geschmack der meisten, das war sicher.

Nun kam das Problem: Besagter Dienstag war morgen!

Karlo kratzte sich am Kopf. Wenn Paul Perlig aus der Rhön auch zu seinem Geburtstag käme, wäre alles keine große Sache. Paul könnte eine Ladung der hervorragenden Kräuterbratwürstchen aus der Rhön mitbringen. Und dazu die guten Brötchen aus seiner Lieblingsbäckerei.

Ein Dessert, etwas Süßes für danach wäre auch nicht schlecht. Irgendetwas Einfaches, das jeder gerne – ja! Genau! Er würde einige Pakete Schokoküsse auf die Theke stellen. Das war eine gute Idee.

Er sprang auf, zog seine Lederjacke an, schnappte sich die große Einkaufstasche und machte sich auf den Weg zum Supermarkt.

Eine halbe Stunde später stand er mit vier Paketen Black-Sweeties-Schokoküssen im Einkaufswagen vor der Kasse. Er hatte Glück gehabt: Gerade noch vier Kartons hatten im Regal gestanden. Achtundvierzig Küsse – das waren hoffentlich genug. Karlo rechnete mit nicht viel mehr als zwanzig Leuten.

Das sollte auf jeden Fall reichen.

Wieder in Jeannettes Wohnung, legte Karlo zufrieden den Hörer in die Ladestation. Paul hatte sein Kommen bestätigt und sich bereit erklärt, Bratwürstchen und Brötchen aus der Rhön mitzubringen.